159
Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv Abteilung IV: Vorlesungen Band 10 Theodor W. Adorno Probleme der Moralphilosophie (1963) Herausgegeben von Thomas Schröder Suhrkamp

ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften

Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv

Abteilung IV: Vorlesungen

Band 10

Theodor W. Adorno Probleme der Moralphilosophie

(1963)

Herausgegeben von Thomas Schröder

Suhrkamp

Page 2: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

CI li-M Maw10 U)

Zweite Auf lage 1997 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1996

Alle Rcchte vorbehalten Druck: MZ-Verlagsdruckerei G m b H , Memmingen

Printed in Germany

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Adorno, Theodor W.:

Nachgelassene Schriftcn / Theodor W. Adorno. Hrsg. vom Theodor-W.-Adorno-Archiv. -

Frankfurt (Main) : Suhrkamp. Abt. 4, Vorlesungen.

N E : Adorno, Theodor W.: [Sammlung] Bd. 10, Adorno, Theodor W.:

Probleme der Moralphilosophie (1963). - 2 . A u f l . - 1997

Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie (1963) / Theodor W. Adorno.

Hrsg. von Thomas Schröder. - 2. Auf l . -Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1997

(Nachgelassene Schriften / Theodor W. Adorno : Abt. 4, Vorlesungen ; Bd. 10)

I S B N 3-518-58225-9 N E : Schröder, Thomas |Hrsg. |

Inhalt

Vorlesungen 7

Anmerkungen des Herausgebers 263

Editorische Nachbemerkung 303

Register 309

Übersicht 315

Page 3: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Probleme der Moralphilosoph

Page 4: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

I . VORLESUNG

7- 5- 1963

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In so großer Zahl sehe ich Sie versammelt zu einer Vorle-

sung, deren Themaja fürjunge Menschen nicht gerade primär das Anziehendste sein sollte, daß ich das Gefühl habe, Ihnen zunächst eine kleine Rechenschaft schuldig zu sein und zu-gleich auch mich zu entschuldigen und Sie vor falschen Erwar-tungen zu warnen. Wenn Sie in eine moralphilosophische Vorlesung von jemandem kommen, der ein Buch über das richtige oder vielmehr das falsche Leben geschrieben hat,1

dann liegt es ja sehr nahe anzunehmen, daß Sie von dieser Vorlesung — oder jedenfalls, daß viele von Ihnen von dieser Vorlesung - sich erwarten, daß Sie nun etwas über das richtige Leben erfahren; daß Sie also aus dieser Vorlesung unmittelbar etwas entnehmen können für die eigene Existenz, sei es für die private Existenz oder sei es auch für die öffentliche, will sagen: für die politische Existenz, die Sie führen. Die Frage nach dem moralischen2 Leben selbst wird, so hoffe ich we-nigstens, im Laufe dieser Vorlesung selber gestellt werden. Sie wird gestellt werden in der Form, ob ein solches richtiges Leben heute überhaupt möglich sei, oder ob es bei dem blei-ben muß, was ich in jenem Buch gefaßt habe in dem Satz: >daß es kein richtiges Leben im falschen gibt<3. Ein Satz übri-gens, der - wie ich erst später entdeckt habe - in einer höchst verwandten Formulierung bereits bei Nietzsche einmal vor-kommt.4 Aber ich kann Ihnen in dieser Vorlesung nicht ir-gend etwas wie unmittelbare Anweisungen zum richtigen Leben geben; und Sie dürfen sich für Ihre eigenen unmittel-baren Probleme, seien es die privaten, seien es die politischen -und das Politische hängt mit der Sphäre des Moralischen sehr tief zusammen - , so etwas wie direkte, unmittelbare Hilfe nicht erwarten. Moralphilosophie ist eine theoretische Diszi-plin und ist als solche immer von der Unmittelbarkeit des moralischen Lebens unterschieden worden. Bei Kant etwa in

9

Page 5: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

der Form, daß er gesagt hat, daß man, um ein anständiger oder ein guter Mensch oder ein gerechter Mensch zu sein, nicht etwa die Moralphilosophie studiert haben müßte.5

Oder ich zitiere gerade etwas aus späterer Zeit, das mir dazu einfällt. In dem ja Kant diametral entgegengesetzten Ethik-buch von Max Scheler über den »Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik« wird unterschieden zwischen Ethik als unmittelbarer - wie er es nennt: gelebter - Weltan-schauung, wie sie sich etwa in den Gnomen und Sentenzen und Sprichwörtern niedergeschlagen habe, und der Moral-philosophie, die damit unmittelbar gar nicht zu tun habe. Die Probleme, die ich hier behandele und die ja in den U m -kreis Ihrer philosophischen Bildung gehören, die sind also durchaus und dezidierterweise solche der Moralphilosophie als einer theoretischen Disziplin. Also, wenn ich Ihnen sozu-sagen Steine an den Kopf werfe, dann ist es besser, wenn ich Ihnen das von vornherein sage, als wenn ich Sie in der Erwar-tung lasse, daß Sie Brot bekämen; und wenn das erwartete Brot dann ausbleibt, dann ist es vielleicht so, daß die Steine, wenn sie geworfen werden, entweder Sie nicht treffen oder, und das möchte ich eigentlich hoffen, daß die Steine nicht so schrecklich hart sind. Denn die Theoreme jedenfalls, die Sie erfahren werden, das sind keine rigoristischen Theoreme.

Wenn ich sage, daß die Steine Sie entweder nicht treffen mögen oder daß sie vielleicht nicht so furchtbar hart sind, diese Steine, so denke ich dabei allerdings an etwas Bestimm-tes, was doch die Beziehung zu Ihrem eigenen und lebendi-gen Interesse in einem gewissen Sinn vielleicht wiederher-stellt. Denn so sehr ich mir darüber klar bin, daß eine solche moraltheoretische Vorlesung Ihnen nicht unmittelbar in Ih-rer Existenz helfen kann, so klar bin ich mir andererseits auch darüber, daß Sie ein berechtigtes Interesse daran haben, et-was über das richtige Leben zu erfahren - nur daß ich eben in gar keiner Weise mich für legitimiert halte, darüber etwas Unmittelbares Ihnen zu sagen. Und gerade weil ich weiß, daß sehr viele von Ihnen mir ein großes Vertrauen entgegen-

102 10

bringen, deshalb möchte ich dieses Vertrauen am allerletzten so mißbrauchen, daß ich — wäre es auch nur durch die Form des Vortrags - mich in die verlogene Situation eines Gurus, eines Weisen hineinmanövriere. Das möchte ich Ihnen erspa-ren; aber ich möchte die Unredlichkeit einer solchen Haltung vor allem auch mir selber ersparen. Trotzdem, wenn ich sage, daß eine Beziehung zu Ihnen und zu Ihren lebendigen Interessen, wie ich hoffe, nicht fehlen soll, dann möchte ich an dieses Moment gleich anknüpfen, was ich Ihnen nicht ge-ben werde. Denn so berechtigt auch Ihr Interesse ist, etwas für die eigene Existenz aus einer moralphilosophischen Vor-lesung zu entnehmen, so groß ist doch gerade heute die Ge-fahr dessen, was man vielleicht mit einem Kurzschluß zur Praxis bezeichnen kann. Und Moralphilosophie, um das gleich an den Anfang zu stellen, hat ja mit Praxis etwas We-sentliches zu tun. Man nennt im Aufbau der philosophischen Disziplinen die Moralphilosophie auch praktische Philo-sophie, und das Hauptwerk Kants, das der Moralphilosophie gewidmet ist, führt den Namen einer »Kritik der praktischen Vernunft«. Ich sage Ihnen dabei en passant, daß der Begriff des Praktischen hier nicht zu verwechseln ist mit dem depra-vierten Begriff, zu dem er geworden ist, wenn man heutzu-tage etwa von einem praktischen Menschen redet, das heißt: einem Menschen, der weiß, wie man geschickt die Dinge an-faßt und geschickt mit dem Leben fertig wird. Sondern daß im terminologisch-philosophischen Sinn hier Jigä^tg und jigärTEiv durchaus auf die griechische Bedeutung des Tuns, des Handelns zurückgeht; wie denn auch die Thematik der praktischen Philosophie von Kant - in dem zweiten Teil der »Kritik der reinen Vernunft«, der transzendentalen Metho-denlehre< - in Gestalt der berühmten und Ihnen allen sicher bekannten Frage: >Was sollen wir tun?<7 formuliert worden ist. Diese Frage: >Was sollen wir tun?< - die also nach Kant, der, weiß Gott, nicht der schlechteste Zeuge für das ist, was man sich unter solchen Problemen vorzustellen hat, als die eigentlich wesentliche Frage der Moralphilosophie und, wie

Page 6: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ich hinzufügen darf, sogar als die entscheidende Frage der Philosophie überhaupt, betrachtet worden ist; denn es gibt bei Kant einen eindeutigen Primat der praktischen Vernunft über die theoretische,8 und Fichte war darin gegenüber Kant gar nicht ein solcher Neuerer, wie er geglaubt hat9 diese Frage hat sich heute in einer merkwürdigen Weise verscho-ben. Ich mache immer wieder die Erfahrung, daß man, wenn man theoretische Analysen macht - und theoretische Analy-sen sind ja wesentlich Analysen kritischer Art - , daß man dann gefragt wird: >Ja, aber was sollen wir denn tun?<, und zwar mit einem gewissen Oberton der Ungeduld, mit einem Oberton, der sagt: >Ja, was soll uns denn diese ganze Theorie, das dauert ja alles viel zu lang, wir wissen nicht, was wir real tun sollen, und wir sollen unmittelbar etwas tun!< Ich ver-kenne gar nicht die Motiviertheit dieses Verhaltens angesichts des Ungeheuerlichen, das in der Nazizeit verübt worden ist, aber auch angesichts der Abgeschnittenheit von unmittelba-rer, eingreifender politischer Praxis heute, die die Menschen geradezu zwanghaft in dieses Fragen hereintreibt: >Ja, wenn überall Mauern sind und jeder Versuch zu einer richtigen Einrichtung des Ganzen uns verrammelt ist, ja, was sollen wir denn dann eigentlich tun?< Aber es ist so, daß, j e unge-wisser die Praxis geworden ist, je weniger wir tatsächlich wissen, was wir tun sollen, je weniger verbürgt uns ein rich-tiges Leben ist, wenn es denn je verbürgt gewesen sein sollte, daß dann um so hastiger danach gegriffen wird. Und es ver-bindet sich das dann sehr leicht mit einer gewissen Art von Ranküne gegen das Denken überhaupt, mit einer Art Denun-ziation der Theorie, von der es dann gar nicht weit ist bis zu der Denunziation des Intellektuellen. Golo Mann zum Bei-spiel hat in einer Reihe von Publikationen - auch in einer, die unmittelbar gegen mich gerichtet ist - geradezu gegen den Theoretiker qua Intellektuellen den Vorwurf erhoben, daß man mit Theorie - er zog die Theorie der Halbbildung10 heran, die Frage: >Was ist Halbbildung?< - , daß man damit sozusa-gen »nichts anfangen« könne. 1 1 Und dieser Einwand des

102

Nichts-damit-anfangen-Könnens, diese Hast, sofort zur Pra-xis zu schreiten, die die Theorie abschneidet, die hat in sich selber, teleologisch, wie wenn das in ihr bereits mitgesetzt wäre, eine Beziehung zur falschen, nämlich zur unterdrük-kenden, zur blinden und zur gewaltsamen Praxis.

Meine Damen und Herren, wenn ich Sie also um eine ge-wisse Geduld ersuche gegenüber der Beziehung von Theorie und Praxis, dann ist dieses Ersuchen um Geduld deshalb viel-leicht gerechtfertigt, weil in einer Situation wie der gegen-wärtigen, über die ich nicht die geringsten Illusionen hege und Ihnen nicht die geringsten Illusionen bereiten möchte, es möglicherweise davon abhängt, ob man überhaupt einmal wieder zu einer richtigen Praxis kommt, daß man nicht so-fort jedem Gedanken den Paß abverlangt: was man nun da-mit anfangen könne, sondern daß man sich rücksichtslos und mit aller Kraft des Widerstands dem Gedanken und seiner Konsequenz überläßt und sieht, was dann daraus vielleicht hervorgeht. Ich würde sogar sagen, daß diese Rücksichtslo-sigkeit, die Kraft des Widerstands, die im Gedanken selbst steckt, der nicht sofort im Sinn seiner Verwendbarkeit für wie immer auch geartete Zwecke sich manipulieren läßt -wenn Sie mir diese Paradoxie erlauben - , daß diese theoreti-sche Rücksichtslosigkeit selber eigentlich bereits ein prakti-sches Moment in sich hat; daß heute die Praxis - ich scheue mich nicht davor, auch das so extrem zu sagen - in einem weiten Maß in die Theorie, also in die Sphäre des neuen Durchdenkens der Möglichkeit eines richtigen Verhaltens, hineingeschlüpft ist. Auch dieser Gedanke ist nicht so para-dox und nicht so irritierend, wie er vielleicht klingt, wenn ich Ihnen diesen Gedanken zunächst einmal entgegenhalte, denn das Denken selber ist schließlich auch eine Form des Verhal-tens. Denken ist ja ursprünglich nichts anderes gewesen als die Form, unter der wir versucht haben, die Umwelt zu mei-stern und mit der Umwelt fertig zu werden - Realitätsprü-fung hat die analytische Psychologie diese Funktion des Ichs und des Denkens genannt - , und es ist durchaus möglich, daß

13

Page 7: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

die Praxis in bestimmten Situationen weit mehr auf diese Denkposition zurückgeworfen worden ist als in anderen Zei-ten und als in anderen Situationen. Jedenfalls, glaube ich, ist es schon einmal gut, wenn man diese Frage so aufwirft. Es ist kein Zufall, daß die berühmte Einheit von Theorie und Pra-xis, wie sie die Marxsche Theorie impliziert hat und wie sie dann vor allem von Lenin theoretisch entwickelt worden ist, unterdessen im >Diamat< zu einer Art von blindem Dogma geworden ist, das nur noch dazu da ist, die theoretische Ge-sinnung überhaupt abzuschneiden. Man kann da den U m -schlag des Praktizismus in den Irrationalismus direkt studie-ren und damit auch den Umschlag dieses Praktizismus in eine repressive und unterdrückende Praxis. Das allein dürfte wohl ein hinreichender Grund sein, wenn man an dieser Stelle eine Art von Hemmung einschaltet und auf die berühmte Einheit von Theorie und Praxis sich nicht so verläßt, als ob die ver-bürgt und als ob die zu jeder Zeit gleich gegeben wäre. Sonst kommt man in die Situation dessen, den man auf amerika-nisch a joiner 1 2 nennt, also eines Mannes, der sich immer an irgend etwas anschließen muß, der irgendeine Sache haben muß, für die er fechten kann und der - aus lauter Begeiste-rung, nur daß irgend etwas getan wird, daß irgendwie ein Betrieb gemacht wird, von dem man die Illusion hegt, daß sich die Dinge dadurch verändern - dadurch in eine Art von Geistfeindschaft hereingetrieben wird, die dann notwendig selber auch sich wieder gegen eine richtige Einheit von Theo-rie und Praxis kehrt.

Meine Damen und Herren, es kommt also darauf an, daß Sie zunächst einmal sich dessen versichern, daß der berühmte Satz von Fichte: >daß das Moralische sich von selbst ver-stehe^3, daß der jedenfalls so ohne weiteres, wie er von Fichte vorgetragen worden ist, nicht gilt, obwohl dieser Satz sicher auch sein Wahrheitsmoment hat - und zwar spielt hier ganz gewiß ein geschichtsphilosophisches Moment herein. Das heißt, in einer Welt, in der man sich selber als der Exponent einer aufsteigenden Klasse mit all ihren zu verwirklichenden

102 14

und konkreten Idealen fühlt, wie es bei den großen bürgerli-chen Denkern um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall gewesen ist, da entsteht allerdings der Anschein einer solchen Selbstgewißheit des Moralischen ganz anders als in einer Situation, in der unter anderem jede wichtige Praxis, deren Gedanken man schöpft, in sich selbst bereits die unse-lige und verhängnisvolle Tendenz hat, daß man eigentlich gegen sich selbst - das heißt: gegen die eigenen unmittelbaren und realen Interessen - denken muß. Es kommt also in dem, was ich Ihnen sagen werde, darauf an, daß wir über moral-philosophische Probleme reflektieren — und es kommt nicht etwa darauf an, daß ich Ihnen unmittelbar irgendwelche Normen, Werte oder wie die grauslichen Wörter alle heißen mögen, hinsetze. Man könnte das auch so ausdrücken, daß eigentlich der Gegenstand von Moralphilosophie heute der sei, daß man solche Fragen wie die eines normativen Verhal-tens, wie die des Verhältnisses von Allgemeinem und Beson-derem ^.Verhalten, wie die der Möglichkeit der Verwirkli-chung eines Guten unmittelbar und alle diese Fragen, nicht naiv einfach hinnimmt, wie sie einem dargeboten werden oder wie sie dem angeblichen Gefühl erscheinen, das da oft ein sehr schlechter Steuermann ist, sondern daß, man alle diese Dinge, soweit es nur geht, ins Bew.iiß.TS(?iaJtlfibt. Moral-philosophie in diesem Sinn heißt, daß man sich die Proble-matik der moralischen Kategorien, daß man sich die Fragen, die sich auf das richtige Leben und die Praxis in jenem höhe-ren Sinn beziehen - und zwar unerschrocken und unge-hemmt - , wirklich einmal bewußt macht, anstatt daß man glaubt 1 s y i|jze Zone wäre eben als praktische dem theo-retischen Denken enthoben. Denn wenn man sich so be-nimmi d 1 iuft es im allgemeinen nur darauf hinaus, daß die Praxis, die man für etwas Höheres und Reineres gegen-über der Theorie hält, dann von irgendwelchen autoritären Mächten, sei es von der Tradition des eigenen Volkes oder von irgendeiner verordneten Weltanschauung her, als etwas Fertiges übernimmt, und daß es zu dem, was Kant zufolge

Page 8: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

überhaupt der Ort des richtigen Handelns ist, nämlich zu dem Moment der Freiheit, ohne das so etwas wie richtiges Leben gar nicht gedacht werden kann, dann überhaupt nicht kommt. Eine solche Formulierung der Aufgabe von wie im-mer auch fragmentarischen moralphilosophischen Überle-gungen wie die, die ich Ihnen eben gegeben habe, wäre im übrigen auch in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Stand der fortgeschrittenen - und das will sagen: der psycho-analytischen - psychologischen Erkenntnis, dieja im wesent-lichen darin besteht, daß, >wo Es ist<, also wo Unbewußtes, Dunkles herrscht, >Ich sein soll<, also Bewußtsein sein soll; und daß nur durch Bewußtsein hindurch, also wenn Sie wol-len: nur durch Theorie hindurch, überhaupt so etwas wie richtige Praxis möglich ist.14

Meine Damen und Herren, ich möchte sogleich hier an dieser Stelle Ihnen zeigen - oder besser: ich möchte etwas aussprechen, was in Ihnen selber vielleicht in diesem Augen-blick mehr oder minder artikuliert sich regt —, daß es nämlich ganz so einfach, wie daß man, um zur richtigen Praxis zu gelangen, nur der richtigen Theorie bedürfe, nicht ist. Und diejenigen von Ihnen, die die Freundlichkeit hatten, mir ge-nau zugehört zu haben, die werden bemerkt haben, daß ich eine solche Formulierung auch nicht gebraucht habe, son-dern daß ich nur gesagt habe, daß in der gegenwärtigen Phase es jedenfalls der Zwischenschaltung des theoretischen Mo-ments in einem erhöhten und in einem besonderen Maß be-darf. Auf der anderen Seite aber ist es so - und ich glaube, das muß man an dieser Stelle auch genau so schroff sagen, wie ich zunächst das theoretische Moment hervorgehoben habe - , daß Theorie und Praxis nicht rein ineinander aufgehen, daß sie nicht ohne weiteres dasselbe sind, sondern daß, wenn Sie mir das abgedroschene Bild nicht übelnehmen, zwischen bei-den eine Art von Spannungsverhältnis herrscht. Theorie, die keine Beziehung zu irgend möglicher Praxis enthält-und das gilt übrigens auch für Kunst, mag diese Beziehung noch so vermittelt, noch so indirekt und noch so verborgen sein, aber

16

sie muß da sein - , wird entweder wirklich zu einem leeren und selbstgefälligen und gleichgültigen Spiel, oder, noch schlimmer, sie wird zu einem Element der bloßen Bildung, also zu einem toten Wissensstoff, der für uns als lebendige Geister und lebendig handelnde Menschen völlig gleichgül-tig ist. Umgekehrt ist es so, daß Praxis - und das deutete ich bereits an die im Namen ihrer Übermacht über die Theorie sich nun einfach selbständig macht und den Gedanken von sich wegscheucht, herabsinkt zur Betriebsamkeit. Eine sol-che Praxis verharrt innerhalb des Gegebenen^ sie führt zu sol-chen Erscheinungen wie etwa den organisierfreudigen Men-schen, die glauben, damit, daß man irgend etwas organisiert, irgendwelche praktischen Kundgebungen veranstaltet, wäre schon etwas Wesentliches getan, ohne daß man dabei in die Reflexion aufnimmt, ob denn nun tatsächlich das, was man so organisiert, überhaupt nur die Möglichkeit hat, in die Rea-lität wirklich einzugreifen.!5 Womit ich übrigens ein moral-philosophisches Grundthema bereits berührt habe, nämlich die Frage nach solchen Normen, die sich lediglich auf den reinen Willen als solchen beziehen, wie es bei Kant gelehrt ist, und die nach solchen, die, indem über Moralisches nachge-dacht wird, die objektive Möglichkeit der Verwirklichung einbegreifen, wie es Hegel gegen Kant vertreten hat. Es ist das Problem, das man terminologisch unter dem Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik bezeichnet, und ich glaube, wir werden zu gegebener Zeit darüber auch einiges zu sagen haben.16

Aber wie immer es auch sein mag, und wie immer diese beiden getrennten Disziplinen Theorie und Praxis, weil sieja schließlich doch in der Einheit desselben Lebens entspringen, nicht ohneeinander sein können, so bedarf es doch zur Praxis noch eines Moments - und das möchte ich einmal gleich fest-stellen, weil ich glaube, daß das für die Bestimmung des Mo-ralischen fundamental ist - , das nicht in der Theorie aufgeht und das sehr schwer zu bezeichnen ist, das man vielleicht doch am besten mit dem Ausdruck Spontaneität, mit dem

17

Page 9: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Ausdruck des unmittelbar tätigen Reagierens auf bestimmte Situationen angibt. Wo dieses Moment nicht vorhanden ist, man könnte auch sagen, wo Theorie nicht schließlich doch etwas will, da ist so etwas wie richtige Praxis nicht möglich. Und zur Aufgabe einer Theorie des Moralischen gehört we-sentlich auch hinzu, an dieser Stelle den Umfang der Theorie selbst zu begrenzen, mit anderen Worten: zu zeigen, daß in der Sphäre des moralischen Handelns noch etwas hinzu-kommt, was in dem Gedanken sich nicht erschöpft, was aber nun selber auch nicht wieder verabsolutiert werden darf, was man nun nicht selber wieder so behandeln darf, als ob es das Absolute unmittelbar wäre, sondern was dann doch wieder in einer Relation steht zu der theoretischen Einsicht, wenn es nicht in bloße Narrheit ausarten will. - Meine Damen und Herren, ich kann das Moment, um das es hier geht, außeror-dentlich schwer ausdrücken, und das ist kein Zufall, denn es handelt sich hier wirklich um das Moment im Moralischen, um das theoretisch zu fassende Moment im Moralischen, das eigentlich atheoretisch ist - und es in der Theorie aussprechen zu wollen, hat deshalb von vornherein so ein bißchen etwas Absurdes. Aber ich glaube, daß ein Stichwort dafür in dieser Stunde schon gefallen ist, als ich vorhin einmal Ihnen etwas über den Begriff des Widerstandes sagte, von dem ich aller-dings da meinte, er sei heute viel mehr in der Kraft zur Theo-rie zu suchen. Denn, daß man was tun soll, darüber sind die Menschen sich alle heute einig; aber das eigentlich Bedenkli-che ist, wenn einmal jemand nichts tun will und wenn er sich zunächst einmal so weit zurücknimmt aus dem herrschenden Zusammenhang der Praxis, daß er erst einmal über etwas Wesentliches dabei nachdenken will. Nun, ich meine, im Moment des Widerstands, im Moment des Nicht-Mitma-chens bei dem herrschenden Unwesen, das ja immer ein Wi-derstand gegen etwas Stärkeres ist und das deshalb in sich eigentlich in jedem Augenblick auch das Moment des Hoff-nungslosen hat, in diesem Begriff des Widerstands können Sie vielleicht am ehesten das erkennen, was ich meine, wenn

18

ich davon spreche, daß die Sphäre des Moralischen in der Sphäre der Theorie eben tatsächlich nicht aufgeht und daß das selbst eine philosophische Grundbestimmung der Sphäre der Praxis ist.

Ich darf Ihnen das vielleicht mit einer Erfahrung erläutern, einer ganz einfachen Erfahrung, die ich gemacht habe in den ersten Monaten, als ich - das sind nun fast 14 Jahre her - aus der Emigration nach Deutschland zurückgekommen bin. Ich hatte damals Gelegenheit einen der wenigen maßgebenden Männer des 20. Juli kennenzulernen und habe mich mit ihm unterhalten, habe ihn gefragt: >Ja, Sie haben aber doch genau gewußt, die Chance, daß Sie Erfolg haben mit der Ver-schwörung, ist minimal, und Sie mußten doch auch wissen, daß, wenn Sie erwischt werden, daß Ihnen weit Schreck-licheres als der Tod bevorsteht - unausdenkbar Schreckli-ches. Wie ist es Ihnen möglich gewesen, trotzdem so zu han-deln?< - Und daraufsagte dieser Mann mir - Sie alle werden seinen Namen kennen, ich möchte ihn aber jetzt nicht nen-nen 1 7-: >Es gibt aber Situationen, die so unerträglich sind, daß man sie einfach nicht weiter mitmachen kann, ganz gleich, was dann geschieht, und auch ganz gleich, was bei dem Versuch, es anders zu machen, dann aus einem selber wird.< Er hat mir das ohne jedes Pathos - und ich möchte sagen: auch ohne jeden theoretischen Anspruch - gesagt, sondern einfach so, daß er mir damit erklären wollte, was ihn zu dem scheinbar Absurden jener Aktion am 20. Juli bewog. Ich glaube, genau dieses Moment des Widerstandes - daß es also ein so Unerträgliches geben kann, daß man versuchen muß, es zu ändern, ganz gleich, welche Folgen es für einen und unter Umständen, die man theoretisch sogar vorherzu-sehen vermag, auch für andere haben kann - , das ist genau der Punkt, an dem die Irrationalität, oder lassen Sie mich sa-gen: das irrationale Moment des moralischen Handelns zu suchen ist, wo es lokalisiert ist. Sie sehen dabei aber gleichzei-tig, daß diese Irrationalität deshalb nur ein Moment ist, weil dieser Offizier ja zugleich auch theoretisch sehr genau wußte,

17

Page 10: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

wie schlecht, wie grauenhaft dieses Dritte Reich ist und auf Grund der kritischen und theoretischen Einsicht in die Lüge und das Verbrechen, mit denen er es zu tun hatte, dann dazu gebracht worden ist zu handeln. Hätte er diese Einsicht nicht gehabt, hätte er nicht die Erkenntnis des Schlechten und Schändlichen gehabt, das damals über Deutschland ge-herrscht hat, dann wäre es zu jenem Widerstand ganz gewiß nicht gekommen. Aber es tritt eben dann doch noch dieses andere Moment hinzu, dieses - ganz gleichgültig, wie es ist - : >Das geht nicht weiter, das darf ich nicht erlauben, ganz gleich, was mit mir und anderen dabei geschieht.< - Das gibt Ihnen vielleicht eine erste Vorstellung von dem Zusammen-gewachsensein, von der Konkretion dessen, was man mit Moralphilosophie bezeichnen kann. Durch dieses Moment, das ich Ihnen eben bezeichnet habe, kommt in den Begriff der Moralphilosophie ein Moment jedenfalls des Ungemäßen, des nicht so ganz Adäquaten herein, eben deshalb, weil sie als Theorie sich darüber hinwegsetzt. Es liegt etwas - j a , wie soll man sagen - , etwas die Scham Verletzendes darin, daß man über solche Situationen wie die der Männer vom 20. Juli -und das ist, weiß Gott, der Schauplatz der moralischen Dia-lektik heute gewesen - so nachdenkt, wenn man ganz behag-lich auf einem Katheder steht, und wenn Sie auch mehr oder minder behaglich in Ihren Reihen da sitzen. Gegenüber dem, was hier nun wirklich Praxis heißt - und Praxis ist's halt, wenn's weh tut, und wenn es verteufelt weh tun kann liegt darin ja fast ein Moment des Zynischen, dem man sich schwer entziehen kann. Und dem Begriff von Moralphiloso-phie als einer theoretischen Disziplin, von dem ich zu Anfang gesprochen habe, dem ist also etwas von dieser Art von Z y -nismus doch wohl auch anzuhören, eben deshalb, weil Mo-ralphilosophie notwendigerweise über jenes Moment, das ich versucht habe, Ihnen eben zu bezeichnen - das in Theorie nicht zu erschöpfende Moment - , fast zwanghaft sich ja hin-wegsetzt. Man könnte insofern sagen, daß die moralphiloso-phische Kontemplation, daß das Nachdenken über morali-

21

sehe Fragen insofern, als das Moralische als ein Handeln im-mer auch mehr als ein Denken ist, eigentlich in einen gewis-sen Widerspruch gerät zu dem Gegenstand, über den dabei nachgedacht wird. Und es gibt Situationen - und ich glaube, wir leben heute noch immer in einer solchen Situation - , in denen dieser Widerspruch: über das nachzudenken, was eigentlich nur getan werden könnte, ganz besonders flagrant ist. Auf der anderen Seite ist die Situation aber auch wieder so, daß wir über diesen Widerspruch nicht hinweggehen können. Und wenn ich Ihnen sagte, es kommt darauf an, daß man sich die Dinge bewußt macht - und die Aufgabe einer Moralphilosophie heute ist die Herstellung von Bewußtsein vor allem anderen - , dann habe ich genau solche Dinge damit gemeint, nämlich: daß, wo Widersprüche gelten, wo also Widersprüche in der Sache liegen, die man nicht durch theo-retische Manipulationen und Begriffsbildungen irgendwie wegräumen kann, daß man dann auch dieser in der Sache liegenden Widersprüche sich bewußt wird, daß man die Kraft lernt, ihnen ins Gesicht zu sehen, anstatt daß man sie mehr oder minder durch >auslogisierendes< Verfahren aus der Welt schafft.

Dieses Ungemäße nun, von dem ich Ihnen gesprochen habe, das ist ganz besonders stark in dem Ausdruck Moral und Moralphilosophie enthalten, der ja, wie Sie alle wissen, von Nietzsche aufs vernichtendste kritisiert worden ist, nach dem allerdings das Unbehagen an dem Wort Moral schon viel weiter zurückdatiert. Ich habe gerade jetzt in den letzten Tagen zu meinem größten Erstaunen den Ausdruck >morali-stisch< als einen abwertenden Ausdruck bereits bei Hölderlin gefunden,18 so sehr datiert auch diese Problematik auf die Zeit des sogenannten klassischen deutschen Idealismus zu-rück. Moral hängt ja ab von dem lateinischen Wort >mores<, und mores heißt - ich hoffe, daß Sie das alle wissen - Sitte. Infolgedessen hat man also die Moralphilosophie übersetzt mit >Sittenlehre< oder auch mit der >Lehre von der Sittlich-keit^ Wenn man diesen Begriff von der Sitte nicht von vorn-

17

Page 11: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

herein so entleeren will, daß man sich schlechterdings nichts mehr darunter vorstellen kann, dann muß man dabei ja doch wohl an die Sitten denken, die innerhalb je gegebener Ge-meinschaften, die also innerhalb von bestimmten Völkern herrschen. Nun würde ich sagen, der Grund, warum heute die Fragestellung der Moralphilosophie so radikal proble-matisch geworden ist, ist zunächst einmal der, daß die Sub-stantialität der Sitte, also daß die Möglichkeit eines richtigen Lebens in den Formen, in denen die Gemeinschaft existiert, bereits vorgegeben und gegenwärtig wäre, daß die radikal hinfällig geworden ist, daß es das nicht gibt, und daß man sich heute darauf in gar keiner Weise mehr verlassen kann. Und wenn man so tut, als ob das noch so wäre, dann wird man im allgemeinen nur den Provinzialismus von Lebensbe-reichen erhalten - als ob der nun wirklich selber bereits die Bürgschaft eines richtigen oder eines guten Lebens wäre - , in denen scheinbar von der alten Ordnung noch so ein bißchen etwas übrig ist. Das Widerstreben gegen das Wort Moral qua moralistisch, das Sie alle sicherlich in sich haben, das gründet genau an dieser Stelle; es gründet also darin, daß wir alle füh-len, daß das Enge und das Beschränkende in der Beziehung auf geltende Vorstellungen und jeweils geltende Verhältnisse so unterschoben wird, als ob es bereits das richtige Leben in irgendeinem Sinn wäre.

Meine Damen und Herren, man hat infolgedessen an Stelle dieses Begriffs der Moral schon seit langem den Begriff der Ethik praktiziert, und ich habe einmal formuliert, daß der Begriff der Ethik eigentlich das schlechte Gewissen der Mo-ral sei oder daß die Ethik eine Art Moral sei, die sich des eigenen Moralismus schämt und infolgedessen so gebärdet, als ob sie zwar eine Moral, aber gleichzeitig doch nicht eine moralistische Moral sei.19 Und wenn ich ehrlich sein darf, dann scheint mir die Unaufrichtigkeit, die darin liegt, schlimmer und bedenklicher zu sein als die schroffe Unver-einbarkeit unserer Erfahrung mit dem Wort Moral, die es wenigstens noch gestattet - dadurch, daß man den Inhalt des-

22

sen, was bei Kant etwa oder bei Fichte der Begriff des Mora-lischen meint, weitertreibt und weiterdenkt daß man zu verbindlicheren und härteren Einsichten kommt, während der Begriff der Ethik in sehr vielfacher Hinsicht zu verfließen droht - vor allem dadurch, daß er sich seinem Wesen nach bezieht auf den Begriff der sogenannten Persönlichkeit. Ethos, das griechische Wort tfdog, wovon der Ausdruck Ethik abgeleitet ist, ist ein sehr schwer zu übersetzender Aus-druck, den man im allgemeinen, aber doch wohl korrekt wiedergibt als Wesensart - also: wie einer ist, wie einer be-schaffen ist. Der neuere Begriff des Charakters kommt dem Begriff des fj&og recht nahe, und das griechische Sprichwort fj§og äv§gri)jiq> daißa>vX9i - also: daß das Ethos der Dämon oder, man könnte sagen, das Schicksal des Menschen sei, führt auch auf diese Linie. Mit anderen Worten, durch die Nivellierung der Problematik von Moral auf Ethik wird von vornherein das entscheidende Problem der Moralphiloso-phie, nämlich das Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Allgemeinen, eskamotiert, es wird weggeschafft. Es steckt darin schon das: daß, wenn man nur seinem eigenen Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe - wenn man, wie man so schön sagt: sich selbst verwirkliche oder wie diese Phrasen alle lauten mögen —, dabei schon das richtige Leben herauskomme; was eine pure Illusion und eine pure Ideologie ist. Eine Ideologie im übrigen, die sich mit einer zweiten paart, nämlich mit der Ideologie, daß die Kultur und das Sichanpassen an die Kultur die Selbstveredelung, Selbstkulti-vierung des Individuums eigentlich dort leiste, wo die Kultur selbst gegenüber der Moralphilosophie zur Diskussion steht und eigentlich ein zu Kritisierendes wäre. Aus all diesen Grün-den glaube ich, daß es besser ist, wie sehr auch kritisch an dem Begriff der Moral festzuhalten, als die Problematik von vornherein wegzuwischen und aufzuweichen, indem man sie durch den sentimentalen Kulturbegriff der Ethik ersetzt. -Aber ich glaube, die letzten Erwägungen werde ich in der nächsten Stunde etwas mehr präzisieren müssen, damit Sie alle sehen, was ich damit meine.

Page 12: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

2 . VORLESUNG

9- 5- 1963

Meine Damen und Herren, ich hatte in der letzten Stunde Ihnen versprochen, das, was

ich sehr hastig in den letzten Minuten über die Begriffe Moral und Ethik zusammengerafft hatte, Ihnen doch etwas einge-hender auseinanderzusetzen, weil wir dadurch, daß wir uns zunächst einmal ein wenig über das Bereich verständigen, in dem unsere Betrachtungen stattfinden sollen, vielleicht doch auch das Verständnis der Intention des Ganzen uns etwas er-leichtern können. Sie werden sich erinnern, daß der Begriff der Moral vor allem deshalb problematisch ist, weil er von mores herrührt, also weil er eine Übereinstimmung der öf-fentlichen Sitten in einem Lande mit der moralischen, der sittlich richtigen Verhaltensweise, dem richtigen Leben des einzelnen Menschen postuliert. Und ich hatte Ihnen gesagt, daß eben diese Übereinstimmung oder, wie Hegel es genannt haben würde, diese >Substantialität des Sittlichem, daß also die Normen des Guten unmittelbar und verbürgt in dem Le-ben einer bestehenden Gemeinschaft gegenwärtig sind, heute nicht mehr angenommen werden kann; vor allem auch des-wegen, weil die Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen eine solche Übermacht angenommen hat, weil wir durch unzäh-lige Prozesse in jedem Augenblick so sehr zur Anpassung ge-zwungen werden, daß jene Übereinstimmung unserer eige-nen individuellen Bestimmung mit diesem uns durch die Objektivität des Zusammenhangs Aufgezwungenen gar nicht mehr hergestellt werden kann. Aber wenn ich über das nachdenke, was ich Ihnen in der letzten Stunde zur Kritik dieses Begriffes von Moral gesagt habe, dann finde ich, daß das zunächst aus einem Grunde noch unbefriedigend ist, daß es eigentlich gar nicht recht das hergibt, was jenes Unbeha-gen an der Moral verursacht. Es handelt sich dabei gar nicht so sehr um die wörtlichen, etwa sprachgeschichtlich oder philologisch verbrieften Zusammenhänge zwischen Sitte

25

und individueller Sittlichkeit, sondern es handelt sich dabei -Simmel würde gesagt haben: um das >Cachet< des Wortes Moral. Ein solcher philosophischer Begriff - und es ist viel-leicht gut, wenn Sie sich das vergegenwärtigen - wie etwa der der Moral geht ja nicht ohne weiteres auf in seiner reinen Bedeutung, sondern hat darüber hinaus eine Aura oder eine Schicht, die sich mitteilt, ohne daß man sie auf diese Bedeu-tungen festlegen kann. Und der Begriff des Moralischen ist eben durch eine bestimmte Vorstellung des Rigorismus, der konventionellen Enge und der Anpassung an eine ganze Reihe einfach vorgegebener Vorstellungen gebunden, die problematisch geworden sind. Also, wenn Sie einfach daran denken, daß im unreflektierten allgemeinen Sprachgebrauch die Begriffe moralisch und unmoralisch mit Vorstellungen des erotischen Lebens assoziiert werden, die ihrerseits unter-dessen längst durch die Psychoanalyse und überhaupt durch die Psychologie eigentlich überholt sind, dann werden Sie ungefähr einen Hinweis schon für das haben, worin jenes Be-schränkte des Begriffs des Moralischen liegt, wie es von Ge-org Büchner in einer sehr tiefsinnigen und witzigen Stelle im »Woyzeck« zum Ausdruck gebracht ist, wo der Hauptmann dem Woyzeck vorwirft, diesem grundanständigen Men-schen, daß er ein uneheliches Kind hat und nun immer hin-und herschwankt zwischen der Beteuerung: >er sei unmora-lisch! und der: >er sei ein guter Mensch<. Und wenn er nun erklären soll, warum Woyzeck eigentlich unmoralisch sei, so sieht er sich dabei zu der Tautologie gezwungen zu sagen: >daß man unmoralisch sei, weil man eben keine Moral hat* -und das hat sich bei diesem Hauptmann von der in ihm noch ganz lebendigen Vorstellung des sittlich Guten völlig abge-spalten. Er sieht gar keinen Widerspruch darin, Woyzeck zu attestieren, daß er ein guter Mensch sei, aber gleichzeitig, daß er unmoralisch sei.20 Der gesamte Widerspruch etwa von Nietzsche gegen das, was man so Moral nennt, ist an diesen Vorstellungen orientiert. Wenn ich es in den Nietzscheschen Ausdrücken sagen sollte, so würde es wohl so sein, daß der

17

Page 13: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Begriff der Moral dadurch so schwer kompromittiert ist, daß er bewußt oder nicht bewußt >asketische Ideale< mit sich führt, für die ein Rechtsgrund im Bewußtsein, ein in sehr weitem Maße vernünftiger Rechtsgrund, eigentlich gar nicht aufzufinden ist, sondern hinter denen sich im allgemeinen nur alle möglichen mehr oder minder trüben Interessen ver-schanzen.21 Das also gibt vielleicht wahrhaftiger den Wider-stand wieder, den wir gegen das Wort Moral empfinden, als die Beziehung auf die Sitte, von der ich das letzte Mal ausge-gangen bin und über die ich heute übrigens noch einiges nachtragen möchte.

Aus diesem Widerspruch gegen die Gleichsetzung des Sitt-lichen mit einem beschränkten und engen und überflüssig ge-wordenen asketischen Ideal sind die Bestrebungen hervorge-gangen, den Begriff Moral durch den der Ethik zu ersetzen. Ich habe Ihnen bereits angedeutet, daß in diesem Begriff der Ethik das drinsteckt, daß man sozusagen der eigenen We-sensbeschaffenheit nach leben soll, und daß insofern dieser Begriff der Ethik gegen das von außen Gesetzte, Zwanghafte so etwas wie ein Remedium jedenfalls zu versprechen scheint. Ich hatte Ihnen auch bereits angedeutet, daß es trotz-dem mit diesem Gegengift, das von dem Wort Ethik verhei-ßen wird, eine etwas problematische Bewandtnis hat. Vor allem, um an das Allereinfachste zu erinnern, liegt in diesem ganzen Begriff der Ethik bereits etwas, was heute in dem Be-griff des Existentialismus - der ja wesentlich als eine ethisch-moralische Bewegung, wenn auch im negativen Sinn, sich verstanden hat - erst offen zutage kommt. Es wird nämlich dann eigentlich die Vorstellung des richtigen Lebens, des richtigen Tuns darauf reduziert, daß man so handle, wie man ohnehin ist. Es wird also, indem man seinem Ethos, seiner Wesensbeschaffenheit nach handeln soll, das bloße So-Sein, daß man so und nicht anders >geartet< ist, zum Maßstab des-sen gemacht, wie man sich verhalten soll.22 Die Wurzeln da-von gehen merkwürdigerweise bis auf Kant zurück, bei dem ja der Begriff der Persönlichkeit - der allerdings etwas ande-

102

res bei ihm bedeutet, wir werden darüber noch eingehend zu sprechen haben - als entscheidende ethische Kategorie zum ersten Mal auftritt. Ich möchte gleich hier anmerken, daß bei ihm Persönlichkeit soviel bedeutet wie die abstrakte, die all-gemein begriffliche Einheit dessen, was Person ist, oder man könnte auch sagen: alle die Bestimmungen der handelnden Person, die nicht die Person als ein bloß empirisches, als ein bloß daseiendes, natürliches Wesen betreffen, sondern der Kantischen Lehre zufolge darüber hinaus sein sollen. Persön-lichkeit ist also das an der Person, was überempirisch ist und zugleich die Allgemeinheit, die für jede Person oder, wie Kant es ausdrückt, für jedes vernunftbegabte Wesen über-haupt verbindlich sein soll.23 Daraus ist dann erst im Laufe einer Entwicklung, die zu verfolgen interessant wäre, dieser Begriff der Persönlichkeit als des starken, mit sich selbst identischen, in sich gefügten Menschen geworden, die dann dem Begriff des Ethischen gleichsam die Norm ersetzt, sich an die Stelle der Norm rückt. Das tief Problematische liegt also darin, daß in einem Bereich, in dem es von vornherein um Spannungsverhältnisse, Widersprüche geht, nämlich um die Frage, wie die individuellen Interessen und Glücksan-sprüche mit irgendwelchen objektiven, für die Gattung ver-bindlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen seien, daß dieses Spannungsverhältnis weggeschafft wird, eskamo-tiert wird, und daß es so aussieht, als ob man nur gewisser-maßen man selber und nur mit sich selber identisch zu sein brauche, um auf diese Weise eben ein richtiges Leben zu füh-ren. Und, ich deutete Ihnen auch das bereits an, da nun diese Identität, diese bloße Identität des Einzelmenschen mit sich selbst, nicht ausreicht, so wird dann korrelativ als ein in ganz analoger Weise Vorgegebenes und nicht kritisch Bewertetes der Begriff der Kultur hinzugenommen, und dann ist, im Sinne dieser Vorstellung von Ethik, etwa >der Mensch< - und ich drücke das mit Absicht so phrasenhaft aus, weil man hier im Bereich der Phrase tatsächlich sich bewegt —, dann ist das der Mensch, der aus Identität mit sich selbst, in Übereinstim-

27

Page 14: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

mung mit seinem eigenen Wesen, irgendwelche Kulturwerte verwirklicht. Auch durch diesen Begriff der Ethik wird eigentlich das abgeschnitten, was die Thematik einer jeden tiefergreifenden Besinnung auf moralische oder ethische Fra-gen ausmachen sollte, nämlich die Frage, ob die Kultur und das, wozu diese sogenannte Kultur geworden ist, überhaupt so etwas wie richtiges Leben zuläßt oder ob sie ein Zusam-menhang von Institutionen ist, der in zunehmendem Maß ein solches richtiges Leben geradezu verhindert. Durch diesen Begriff der Ethik wird gleichsam die ganze Problematik, die in die Welt gekommen ist durch die Schriften von Jean-Jac-ques Rousseau und die dann mit besonderem Nachdruck auch von Fichte verfochten worden ist,24 die wird einfach weggeschafft, die wird zugunsten von solchen harmonisti-schen Vorstellungen eskamotiert.

Wenn ich das, was ich Ihnen gesagt habe über diesen Be-griff der Ethik, nun ein wenig anspruchsvoller, philoso-phisch ausdrücken sollte, dann müßte ich wohl sagen - ich habe das letzte Mal den Ausdruck gebraucht - , daß das Wort Ethik das schlechte Gewissen des Gewissens sei. Wenn ich Ihnen diesen Satz interpretieren sollte, so würde das bedeu-ten, daß - da die Moral, wie vor allem Nietzsche dargetan hat, aus verblaßten theologischen Vorstellungen gespeist wird - man den Versuch gemacht hat, nach dem Verblassen der theologischen Kategorien doch irgend etwas Ähnliches herzustellen, und daß man dabei dazu gekommen ist, in blo-ßen Immanenzkategorien, also in Naturkategorien, in Kate-gorien des bloßen Daseins, in dem wir uns befinden, ohne Transzendenz, ohne etwas, was über unsere eigene Natur-wüchsigkeit und Naturbestimmtheit hinausginge, gleich-wohl das Sittliche zu fassen. Das Sittliche wird dann selbst zu einer Naturbestimmung gemacht. Aber genau das, die un-mittelbare, primitive Identität von Naturkategorien, von na-türlichem So-Sein und von Gutem, gilt nicht — und wenn Humanität überhaupt einen Sinn hat, dann besteht sie genau darin, daß sie die Entdeckung ist, daß die Menschen in ihrem

102

Handeln, in ihrer unmittelbar naturwüchsigen Bestimmtheit eben nicht aufgehen. Sie verstehen vielleicht nach dem, was ich Ihnen auseinandergesetzt habe, ein bißchen besser, war-um ich sagen würde - auf die Gefahr hin, daß Ihnen das etwas altmodisch vorkommt - , daß Betrachtungen der Art, wie wir sie hier anstellen wollen, viel eher doch getroffen werden von dem Begriff der Moral als von dem Begriff der Ethik. Nicht etwa, als ob ich die überkommene Moral in ir-gendeiner Weise rechtfertigen oder wieder herstellen wollte; ich glaube, ich bin durch meine Publikationen einigermaßen vor dem Verdacht gesichert, daß ich irgend etwas derartiges im Sinn habe. Aber in dem Begriff des Moralischen, wie er vor allem und mit der äußersten Schärfe in der Kantischen Philosophie formuliert worden ist, wird jedenfalls das Span-nungsverhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen empirischer Existenz und Gutem, das Moment also, daß wir in unserer Bestimmung als Menschen in unse-rem unmittelbaren So-Sein nicht aufgehen, kurz: werden alle die wirklichen Probleme und Schwierigkeiten, die den U m -kreis eines richtigen Lebens, eines richtigen Tuns betreffen, unvergleichlich viel aufrichtiger und viel härter und, wenn ich so sagen darf, unvergleichlich viel reiner dargestellt, als das im Begriff von der Ethik der Fall ist. Und da es mir darum zu tun ist, Ihnen wirklich hier eine Reihe von moral-philosophischen Problemen zu entwickeln, also Ihnen wirk-liche Schwierigkeiten zu entwickeln - denn in der Philo-sophie hat es keinen Sinn über das zu reden, was nicht Schwierigkeiten bereitet - , deshalb, weil es sich also um Schwierigkeiten, um genuine Widersprüche handelt, glaube ich, daß die Dinge, die wir behandeln, besser unter den Titel der Moral gehören als unter den harmonistischen Begriff der Ethik. Hinzu kommt noch ein anderes, nämlich daß ja gerade für die Frage, die man bezeichnen könnte als die Frage nach einem richtigen Leben, der Begriff des Moralischen mit einer großen und sehr unverächtlichen und keineswegs nun klein-lichen und kleinbürgerlichen Tradition behaftet ist, nämlich

29

Page 15: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

der der sogenannten französischen Moralisten, die sich ja zu-rückdatieren bis auf Schriftsteller wie Montaigne, die aber ihren berühmtesten Repräsentanten in dem Herzog La Roche-foucauld haben, von dem man nun sicherlich sagen kann, daß er ein Moralist ist in dem Sinn, daß er die mores, die Verhal-tensweisen und Sitten der Menschen kritisch analysiert hat, der aber sicherlich kein Moralist gewesen ist in dem verrufe-nen Sinn des Moralpredigers oder - um noch einmal Nietz-sche zu nennen: des »Moraltrompeters von Säckingen«25. -Soviel zur Wahl der Nomenklatur, mit der wir es hier zu-nächst einmal zu tun gehabt haben.

Ich habe Ihnen gesagt, daß es, um moralische Probleme, um das Problem des Moralischen, welches das Verhältnis von Gesetz und Freiheit ist, im Ernst als Problem zu fassen, nur darauf ankommt, dieses nicht in irgendeiner Weise zu glätten, sondern sich gerade der Widersprüche bewußt zu machen, bei denen das Gemütliche und das Glättende aufhö-ren. Ich glaube nun, daß ich gerade darin mich in Uberein-stimmung mit der geschichtlichen Fragestellung nach mora-lischen Problemen überhaupt befinde. Man kann nämlich wohl sagen, daß so etwas wie die moralische Problematik überhaupt immer dann entsteht, wenn jene fraglose und selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vor-handen ist. Also Moral als theoretische Disziplin - und ich erinnere Sie daran, daß wir uns ja vorgesetzt haben, über theoretische Dinge nachzudenken - entsteht genau in dem Augenblick — und damit komme ich auf den Begriff der Sitte noch einmal zurück - , wo die Sitten, die Gebräuche, die in-nerhalb eines Volkslebens gelten und eingespielt sind, keine unmittelbare Geltung mehr haben. Der Hegeische Satz, daß >die Eule der Minerva am Abend ihren Flug beginnt26, gilt sicherlich nirgends so sehr wie für das Nachdenken über mo-ralische Fragen, und es ist kein Zufall, daß die Platonische Philosophie, die die erste gewesen ist, von der man sagen kann, daß die moralischen Probleme, in dem Sinn, in dem

102 30

wir eben von ihnen reden, das gesamte philosophische Inter-esse eigentlich beherrschen, ihrem geschichtlichen Augen-blick nach genau zusammenfällt mit dem Zerfall der Atheni-schen Polis. Darüber hinaus, glaube ich, wird man dem Piaton kein besonderes Unrecht tun, wenn man sagt: daß seine Phi-losophie einen restaurativen Charakter hat, das heißt, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls den Versuch darstellt, aus der Reflexion heraus jene Ordnungen für das Verhalten im Le-ben und jene Ideale - wenn man es so nennen will - noch einmal hervorzubringen, die einmal die tradierten Tugenden der attischen Gemeinschaft gewesen sind. Ordnungen, die nun aber nicht mehr gegenwärtig sind, und gegen deren Ab-senz diese Philosophie polemisch - denken Sie nur an die ein Leben lang dauernden Streitigkeiten Piatons mit den Sophi-sten - gemünzt ist.27 - In dem Formalismus-Buch von Max Scheler findet sich, wie ich Ihnen das letzte Mal schon sagte, bereits der Unterschied zwischen Ethik als einem substan-tiellen, gegenwärtigen Korpus von Maximen und Vorschrif-ten, über die nicht reflektiert wird, und Ethik als philo-sophischer Disziplin. Und er sagt sehr drastisch: »Während Ethik im ersten Sinne« - nämlich in dem der Substantialität solcher Vorschriften - »eine konstante Begleiterscheinung alles Ethos zu sein pflegt,« - wie sich das damit verhält, dar-über werde ich gleich einiges sagen - »ist Ethik im letzteren Sinne eine verhältnismäßig selten auftretende Erscheinung.« Nun, ich würde nicht sagen >selten<, aber: eine jeweils in ge-schichtlichen Abläufen spät auftretende - so würde ich es for-mulieren. »Ihr Ursprung«, sagt er, »ist überall an Zersetzungs-prozesse eines bestehenden Ethos geknüpft«, und er macht darauf aufmerksam, daß bereits in der Ethik von Steinthal dieser Gedanke eingehend entwickelt worden ist.28 Das ist aber -und ich glaube, das hat man hier bereits zu ergänzen — nun nicht einfach so zu verstehen, als wäre nun ein Altes, Gutes verloren, nicht mehr substantiell gegenwärtig und als wäre es die Aufgabe der Philosophie, es zu beschwören. An dieser Stelle, glaube ich, ist die Theorie von Scheler selber, wie in

Page 16: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

vieler anderer Hinsicht auch, einfach restaurativ und nicht genügend in sich reflektiert. Man muß wohl hier hinzufügen, daß die Sitten eines Volkes im Augenblick, wo sie sich ge-genüber der freigewordenen, der verselbständigten Refle-xion am Leben erhalten - in Gestalt dessen, was die Nazis Brauchtum genannt haben, wo es also innres gibt, die >fort-wesen<, obwohl das Bewußtsein der Einzelnen und die kriti-sche Arbeit des Begriffs damit nicht mehr einig sind - , nun nicht etwa mehr bloß Relikte eines Alten, Guten und Wahren sind, sondern daß sie dann selber etwas Vergiftetes und Böses annehmen. Wenn Scheler an der Stelle, die ich herangezogen habe, mit einem Ausdruck, der mir wenig sympathisch ist, von >Zersetzung< der ethischen Vorstellungen spricht, die durch die Philosophie gleichsam thematisch gemacht wird -und diese Redeweise ist ja unendlich häufig, und Sie werden sie in ethischen Betrachtungen immer wieder finden - , dann wird dabei unterschlagen, daß wahrscheinlich nichts «er-setzten ist als die. Art von Ethik oder von Moral, die fortlebt in Gestalt von kollektiven Vorstellungen, nachdem - wenn ich es Hegelianisch und einmal sehr abgekürzt ausdrücken darf: der Weltgeist nicht mehr mit ihnen ist. Wenn der Stand des Bewußtseins der Menschen und auch der Stand der ge-sellschaftlichen Produktivkräfte sich von diesen kollektiven Vorstellungen entfernt hat, dann nehmen diese Vorstellun-gen etwas Gewalttätiges und Repressives an; und genau die-ser Zwang, der dann in den Sitten liegt, dieses Gewalttätige und Böse in den Sitten, das sie selber in Gegensatz zu Sittlich-keit bringt - und nicht etwa der bloße Verfall der Sitten, wie etwa die Dekadenztheoretiker ihn beklagen - , das nötigt dann allerdings die Philosophie zu solchen Besinnungen, wie die es sind, die wir hier anstellen wollen.

Es hat wohl zum ersten Mal der bedeutende amerikanische Soziologe Sumner, der in Deutschland kaum bekannt ist und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts, etwa gleichzeitig mit Veblen, gelehrt hat, in seinem Buch »Folkways« auf diesen repressiven Charakter hingewiesen29 - und der repressive

102

Charakter ist überhaupt gerade den Soziologen weniger ent-gangen als den Moralphilosophen. Wenn Dürkheim, der ja das Moralische mit dem Sozialen geradezu gleichgesetzt hat, gesagt hat, daß das Soziale eigentlich immer daran zu erken-nen sei, daß es >weh tue<, also immer daran, daß irgendwel-che kollektiven Normen in Gegensatz zu den Interessen und Ansprüchen der Individuen treten, dann ist das gar nichts an-deres.30 Also wenn es heute noch etwa Volksbräuche gibt wie das sogenannte Haberfeldtreiben oder derartige Dinge in ländlichen Gegenden, wo irgendwelche Außenseiter oder ir-gendwelche Menschen, die den allgemeinen Gebräuchen sich nicht fügen, verspottet oder angegriffen oder molestiert wer-den, so gehört das dahin. Und es führt genau von diesen Sit-ten dann ein unmittelbarer Weg über die Maßnahme etwa, daß man Mädchen, die in den jeweils okkupierten Ländern mit der Besatzungsmacht - sie mag welcher Nation immer angehören - Beziehungen unterhalten, dann die Haare ab-schneidet, bis zu der Verfolgung von Menschen wegen »Ras-senschande* und bis zu all diesen anderen Ausschreitungen. Man kann eigentlich sagen, daß das Grauen, das der Faschis-mus verübt hat, in einem sehr weiten Maße gar nichts ande-res ist als eine Verlängerung von Volkssitten, die eben da-durch, daß sie von der Vernunft sich abgelöst haben, dieses Widervernünftige und Gewalttätige angenommen haben -und das eben nötigt zu den theoretischen Besinnungen.

Sie können bereits an diesem Beispiel - in einer vielleicht sehr krassen und drastischen Weise - das erkennen, was, ja ich würde doch sagen, eigentlich das Zentralproblem jeder Moralphilosophie ausmachen muß: nämlich das Verhältnis zwischen dem Besonderen, den besonderen Interessen, den Verhaltensweisen des einzelnen, besonderen Menschen und dem Allgemeinen, das dem gegenübersteht. Lassen Sie mich Ihnen hier gleich sagen - damit Sie mich nicht falsch verste-hen es wäre ganz schlecht und ganz primitiv gedacht, wenn man in diesem Konflikt von Allgemeinem und Besonderem in den Verhaltensweisen der Menschen nun von vornherein

33

Page 17: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

das Schlechte dem Allgemeinen aufbürden würde und das Gute dem Individuum. Es erscheint allerdings in den gesell-schaftlichen Konflikten fast immer so, daß das Unterdrük-kende, Niederschmetternde das allgemeine Gesetz ist, wäh-rend das Humane sich in den Ansprüchen und Normen des Individuums manifestiert. Aber wir werden Gelegenheit ha-ben zu sehen, daß auf der anderen Seite in dem Allgemeinen auch immer der Anspruch auf eine verwirklichte richtige Ge-sellschaft mit enthalten ist, in der Zwang und Gewalt nicht mehr wären; und wir werden auf der anderen Seite sehen, daß auch im Besonderen, also auch in den Ansprüchen des Individuums und in dem Sich-selbst-Setzen des Individu-ums, genau die gleichen gewaltsamen und repressiven Mo-tive am Werk sind, auf die dann das Individuum in seinem Verhältnis zu der Gesellschaft zu stoßen pflegt. Jedenfalls aber ist dieses Problem, wie Gesamtinteresse und besonderes Interesse im Verhalten der Menschen sich zueinander zu ver-halten haben, eigentlich ja das Grundproblem der Ethik und verkappt auch das Grundproblem der Kantischen Ethik, ob-wohl es Kant nicht mit den Worten ausdrückt, mit denen ich es Ihnen eben ausgedrückt habe. Es ist deshalb das Grund-problem der Kantischen Ethik - Sie müssen verzeihen, wenn ich manchmal zwischen den Ausdrücken Ethik und Moral alterniere, einfach weil mir die ewige Wiederholung des Wortes Moral auf die Nerven fällt, aber ich glaube, nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, bin ich vor Mißverständnis an dieser Stelle einigermaßen geschützt - , weil, wenn bei Kant die moralischen Probleme immer um die Frage des Ver-hältnisses des empirischen, natürlichen Einzelmenschen zu dem intelligiblen Menschen kreisen, der bestimmt ist durch nichts anderes als durch die eigene Vernunft, welche ja we-sentlich charakterisiert ist durch Freiheit, dann steckt darin das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen als ein Zentrales drin. Und da ja das ethische Verhalten oder das moralische oder unmoralische Verhalten immer ein gesell-schaftliches Phänomen ist - das heißt, da es überhaupt keinen

102

Sinn hat, vom ethischen und vom moralischen Verhalten un-ter Absehung der Beziehungen der Menschen zueinander zu reden, und da das rein für sich selbst seiende Individuum eine ganz leere Abstraktion ist - , so steckt darin eben, daß das gesellschaftliche Problem des Auseinanderweisens des Ge-samtinteresses und des Partikularinteresses, des Interesses der einzelnen Individuen, zugleich eben auch das ethische Problem ist, und daß man beide voneinander gar nicht tren-nen kann - wobei die Frage nach der Genese dabei gar nicht einmal so entscheidend ist, wie man vielleicht denken mag. Das Besondere stellt sich im Allgemeinen nun zunächst unre-flektiert, in der ethischen Betrachtung als das Zufällige, das Kontingente, das Psychologische, dar, das die Tendenz hat, eben deshalb, weil es sich auf die Besonderung des Menschen als Naturwesen kapriziert, den normativen Charakter auf-zuweichen und aufzulösen. Während umgekehrt das All-gemeine, insofern als es mit dem Besonderen nicht über-einstimmt, zu einem Abstrakten, das Besondere nicht in sich Aufnehmenden wird und dadurch - dem Besonderen unrechttuend - sich darstellt als ein Gewaltsames und Äußerliches, das für die Menschen selber eigentlich keine Substantialität hat. Und wie das Verhältnis dieser beiden Un-möglichkeiten: die Zufälligkeit des bloß psychologisch ver-einzelten Menschen, der so sehr bedingt ist durch sein Seelen-leben, daß es in ihm zu etwas wie Freiheit kaum kommt, und auf der anderen Seite die abstrakte Norm, die gegenüber den lebendigen Menschen so vergegenständlicht ist, daß sie sie gar nicht lebendig mehr sich zuzueigenen vermögen, im ein-zelnen beschaffen ist, wie es zu durchdenken ist und welche Lösungen von beiden Seiten aus als mögliche sich anbieten, das eigentlich macht den Problemkreis dessen aus, wovon der Begriff der Ethik oder der Moral als eine theoretische Disziplin handelt.

Meine Damen und Herren, soviel möchte ich nur sagen zur allgemeinen Einleitung in die Problematik, mit der wir uns befassen. Ich könnte Ihnen nun so etwas wie eine Liste

35

Page 18: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

oder wie eine Übersieht über das Gebiet geben und könnte nach guter wissenschaftlicher Sitte, also klassifizierend, klas-sifikatorisch verfahren und von einem allgemeinsten Begriff ausgehen und systematisch Ihnen die einzelnen Kategorien entwickeln. Es ist nicht meine Absicht, das zu tun. Die Rechtfertigung, warum ich das nicht so machen will, würde den Rahmen dessen, was ich Ihnen in dieser Vorlesung geben kann und will, überschreiten; es würde das dann nämlich wirklich zu einer erkenntniskritischen und metaphysischen Vorlesung, und es würde mich, weiß Gott, locken, Ihnen das zu sagen, aber wir kämen dann zu den versprochenen Proble-men der Moralphilosophie überhaupt nicht. Ich muß Sie also einfach bitten, mir - wenn ich es so vulgär ausdrücken d a r f -als Arbeitshypothese vorzugeben, daß ich lieber von Ner-venpunkten rede, an denen ich Ihnen etwas von den Proble-men und notwendigen Widersprüchen bezeichne, die die Sphäre des Moralischen ausmachen, als daß ich Ihnen nun eine sogenannte Übersicht über das Problem der Moralphi-losophie gebe. Vielleicht sind manche unter Ihnen, die ihren unmittelbaren intellektuellen Nerven nach bereits so reagie-ren werden, daß sie finden, daß eine solche Übersicht über die Gebiete, über die logischen Hierarchien moralischer Sätze, in der gegenwärtigen Situation etwas leicht Komisches hat. Aber ich möchte nun doch nicht etwa in dem, was wir tun, mich einfach dem Zufall überlassen; und meine Vorliebe möchte nicht einfach so, wie Kant sagen würde, >rhapsodi-stisch< eine Reihe von Problemen herausgreifen, sondern es gibt ja doch ein gewisses Organisationsbedürfnis, das Sie alle fühlen. Ich weiß, daß, so seltsam das klingt, junge Menschen dieses Organisationsbedürfnis, also dieses Bedürfnis nach ei-ner gewissen Art von Systematik, gerade heute stärker füh-len, als ich es etwa fühle, der ich einer Generation angehöre, die im heftigsten Widerspruch gegen den Begriff der philo-sophischen Systematik überhaupt aufgewachsen ist und die in ihren ganzen Denkformen von diesem Widerspruch ge-prägt ist. Sie, bei denen ja überhaupt das Bewußtsein einer

102

jeglichen Ordnung und Sekurität gerade das Problematische ist, während wir von zu viel Ordnung und zu viel Sekurität uns abstoßen mußten, Sie haben, wenn ich mich nicht täu-sche, im allgemeinen ein größeres Ordnungsbedürfnis - viel-leicht ist es auch ein bloßes Sicherheitsbedürfnis, ich weiß es nicht — als ich es verspüre; aber ich glaube jedenfalls, Ihnen die Ehre antun zu müssen, wenigstens über dieses Bedürfnis nicht hinwegzugehen. Da ich selber aber nun nicht etwa ein System der Ethik vortragen kann und will - ich könnte es vielleicht, aber sicher will ich es nicht - , so ist es wohl das Beste, wenn wir uns so verhalten, daß wir uns doch bis zu einem gewissen Grad orientieren an den Fragestellungen des Denkers, bei dem das Moralische als eine im schroffen Ge-gensatz zu anderen Bereichen des Lebens stehende Sphäre am schärfsten herausgearbeitet ist und bei dem deshalb die Anti-nomien, die Widersprüche, von denen ich Ihnen geredet habe, am drastischsten hervortreten. Ich möchte also die Vorlesung doch in einem recht erheblichen Maß an Kant orientieren und an gewissen Kantischen Bestimmungen, die ich dann mit Ihnen erörtere. Und ich werde erst, wenn wir über eine Reihe der Kantischen Kategorien der Moralphi-losophie gesprochen haben, dann in dem zweiten Teil der Vorlesungen, gegen Ende, über eine Reihe von scheinbar un-mittelbareren Problemen wie der Frage nach dem Normen-charakter heute, nach der Möglichkeit eines richtigen Lebens heute oder nach dem Problem des sogenannten Relativismus und Nihilismus Ihnen etwas sagen; dann erst, wenn wir uns in der Auseinandersetzung mit Kant — ein bißchen jedenfalls — Kategorien zunächst einmal vorgegeben haben, die wir dann kritisch reflektieren.

Es wäre in diesem Zusammenhang gut, wenn Sie die bei-den moralischen Hauptschriften von Kant möglichst alle le-sen würden. Ich weiß nicht, ob Ihnen allen das zugemutet werden kann. Die Anforderungen dieser Lektüre sind im Vergleich zur »Kritik der reinen Vernunft« nicht unmäßig. Es handelt sich um zwei Schriften: um die »Grundlegung zur

37

Page 19: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Metaphysik der Sitten« und um die »Kritik der praktischen Vernunft«. Den Unterschied dieser beiden Schriften zu be-zeichnen, ist, wenn man in sie selber eindringt, gar nicht so leicht. Kant selber hat es so dargestellt, als ob die »Grundle-gung« gleichsam zu dem kritischen Standpunkt erst hinfüh-ren solle, während die »Kritik der praktischen Vernunft«, nachdem dieser reflektierende, kritische Standpunkt erreicht ist, nun die systematische Ausführung sei;31 aber man wird finden, daß beides sich überschneidet. Es ist aber auch hier wie sehr häufig in der Philosophie mit sogenannten einfachen Texten; es sieht nämlich dann so aus, daß die einfachen Texte nur zum Schein einfach sind, weil sie über die wirklichen Probleme hinweggehen und einen dann an unzähligen Stel-len ratlos lassen. Ich würde Ihnen also - und ich denke dabei vor allem auch an gewisse Examensgewohnheiten, wo also Kandidaten glauben, daß die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« eine Art von erleichtertem Weg zur Kantischen Moralphilosophie sei - allen doch sehr dringend raten, wenn irgend möglich sich nicht auf die »Grundlegung« zu be-schränken, sondern auch die »Kritik der praktischen Ver-nunft« zu lesen; ja, ich möchte Ihnen beinahe raten, wenn Sie schon nur eines lesen können, dann lesen Sie lieber erst die »Kritik der praktischen Vernunft«, die eben doch das unver-gleichlich viel tiefere und reichere Werk ist. Im übrigen wer-den Sie gerade auch aus der »Grundlegung« eine ganze Reihe von Formulierungen bei mir finden. - Das nächste Mal wol-len wir uns dann ein wenig beschäftigen mit der Ausgangs-bestimmung des Moralischen bei Kant, nämlich mit der For-mulierung: »Was soll ich tun?« und mit den Problemen, die an diese Formulierung, die übrigens aus der »Kritik der rei-nen Vernunft«, aus der »Transzendentalen Methodenlehre< stammt, anschließen. Wir werden darüber nachzudenken ha-ben, ehe wir in die Fragestellungen der sogenannten prakti-schen Philosophie selber eintreten. - Ich danke Ihnen.

102 38

3 . V O R L E S U N G

1 4 . 5 . 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen in der letzten Stunde versprochen, daß wir

die Betrachtungen, die wir hier durchführen, ein bißchen skelettieren wollen dadurch, daß wir sie an die Behandlung der Moralphilosophie bei Kant anschließen, und ich werde dieses Versprechen auch halten. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang doch vielleicht ein paar Worte sagen über die Methoden - und zwar nicht über die Methode im allgemei-nen, sondern mehr ad homines, wobei ich unter den homines ebenso Sie meine wie mich selber, nämlich eine gewisse Schwierigkeit, die offenbar sich gerade bei den Dingen, die ich so vortrage, ergibt. Diese Schwierigkeit drückt sich ganz äußerlich darin aus, daß - ich habe das verschiedentlich ge-hört und beobachtet, und es ist neuerdings sogar, kaum ver-hüllt, in einem Roman diese Tatsache ausgesprochen wor-den32 - man bei meinen Vorlesungen, wie man so sagt, nicht so mitschreiben kann, wie es in anderen Vorlesungen der Fall zu sein pflegt, und daß man infolgedessen also das, was man hier erfährt, nicht ebenso nach Hause tragen kann. Ich möchte eine Sekunde wenigstens auf diesen Punkt doch ein-gehen. Ich verstehe auf der einen Seite sehr gut, daß Sie das Bedürfnis haben, etwas Festes in die Hand zu bekommen, zumal Sie ja, gerade wenn Sie in das Studium hineingeraten, sehr vielfach über den Unterschied zwischen einem bloßen Lernen und dem, Philosophie zu lernen - das ist ja Kant zu-folge nichts anderes, als Philosophieren zu lernen33 - , noch gar nicht so sehr viel nachgedacht haben werden. Auf der anderen Seite aber müssen Sie sich auch darüber klar sein, daß es hier an dieser Stelle wirklich sehr ernste und erhebliche Schwierigkeiten gibt; und Sie können mir glauben, daß das Verfahren, das ich dabei anwende, nicht rhapsodistisch oder zufällig ist, sondern daß - wenn ich hier nicht nach >erstcns<, >zweitens<, >drittens< vorgehe und Ihnen diese und jene Dinge

Page 20: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

nicht definitiv an die Hand gebe - das selber etwas Wesentli-ches zu tun hat mit dem Inhalt dessen, was ich philosophisch vertrete. Und diejenigen von Ihnen, die mit meinen Sächel-chen sich vertraut machen außerhalb dessen, was Sie in der Vorlesung erfahren, die werden auch rasch genug einsehen, warum das so ist und warum das nicht anders sein kann. Aber ich möchte dabei doch auf zwei Dinge hinweisen, vielmehr auf eine ganze Reihe von Dingen. Es ist, glaube ich, gut, wenn diese Dinge zwischen uns zur Sprache kommen, wenn wir also dem einfach ins Auge sehen, als wenn sich das so in einer Sphäre fortsetzt, die, ich möchte sagen, zwischen dem Getuschel und der Faszination in einer Trübe mitten inne-hält.34 Ich meine also folgendes. Zunächst einmal, daß die Philosophie j a überhaupt in der Reflexion von Wissen besteht und nicht in der Übermittlung von Wissensstoff unmittelbar; und daß, wer im Ernst mit der Philosophie sich einläßt - und das setze ich bei Ihnen allen voraus - , sich eben wesentlich doch der Reflexion und zwar der freien, der nicht gegängel-ten Reflexion überlassen muß und nicht von der Philosophie in einer ähnlichen Weise festen Stoff erwarten darf, wie das sonst der Fall ist. Nun gilt das in besonderem Maß in der gegenwärtigen philosophischen Situation, in der ja der Be-griff des sogenannten Systems tief problematisch geworden ist. Ich kann Ihnen die Problematik des Systems hier nicht entwickeln, einfach deshalb, weil wir sonst in dieser Vorle-sung zu nichts anderem mehr kämen, aber ich nehme an, daß Sie alle dieser Problematik irgendwie auch gewahr geworden sind, dieja im übrigen schon bei Nietzsche sehr drastisch sich ausgesprochen findet in der Formel von der »Unredlichkeit des Systems< oder der »Unredlichkeit zum System<35. Aber jedenfalls in einer solchen Lage, und gar, wenn die eigenen Gedanken in besonderem Maß dem Begriff des Systems kri-tisch gegenüberstehen, wäre es unangemessen, wenn man von außen her an die Gedanken eine Form herantragen würde, die in Wirklichkeit nichts anderes wäre, als daß sie ein nicht existentes, nicht vorhandenes System nachäfft. Son-

102 40

dern ich jedenfalls halte es für die Aufgabe auch der philo-sophischen Darstellung, daß sie auch als Darstellung, also auch im Wie, im Modus der Präsentation - so gut es eben gehen will - das auszudrücken versucht, was inhaltlich in ihr gesagt werden soll. Es gehört auch das zur Philosophie hinzu, daß in ihr Form und Inhalt nicht voneinander sich trennen lassen, wie das angeblich in Einzelwissenschaften der Fall ist, obwohl ich sagen würde, daß zum Beispiel ein Ger-manist, der in seinen Texten >in etwa< schreibt, dadurch ebenso sich disqualifiziert wie irgendein sogenannter Philo-soph, der sprachliches Gewäsch von sich gibt und der sich mit Phrasen und Allgemeinheiten begnügt. Ich sagte Ihnen, ich verschmähe es, eine Form von »erstens*, »zweitens* und »drittens* der Darstellung zu geben, die einen systematischen Charakter heucheln würde, der der Sache selber nicht zu-kommt, sondern ich versuche statt dessen über Stock und Stein, mit Ihnen selber die Reflexionen, die Bewegungen zu vollziehen, von denen ich nun einmal meine, daß sie eigent-lich die Bewegung des philosophischen Geistes seien.

Es kommt schließlich noch etwas anderes hinzu, was sich bezieht auf die Form der philosophischen Vorlesungen, der Vorlesungen überhaupt. Ich bin es gewohnt, Formen streng zu nehmen und so auch die Form der Vorlesung, und ich würde sagen: die Vorlesung, die ja entstanden ist in einer Zeit, als längst die Druckerei erfunden war, ist in gewisser Weise - Horkheimer hat das einmal sehr hübsch ausgeführt -»eine archaische Form*36, das heißt, sie ist in gewissem Sinn durch das, was man lesen kann, überholt. Wenn man aber überhaupt an dieser Form noch festhält, wenn man also wirklich Vorlesungen hält, so hat das nur dann einen Sinn, wenn man in den Vorlesungen Dinge sagt, auf eine Weise, die man in einer analogen Weise in der gedruckten Darstel-lung, vor allem auch in den sogenannten autoritativen Tex-ten der Philosophie, nicht vorfinden kann. Also, wiederzu-käuen, was in einem Buch einfach steht, verschmähe ich, und es widerstrebt mir. Es wäre im übrigen auch deshalb sehr

Page 21: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

töricht, weil ja, wenn es sich lediglich um die Kenntnis von Theoremen handelt, von überlieferten, philosophiehisto-risch überlieferten Lehrmeinungen, dann können Sie sich im allgemeinen gerade diese Dinge viel besser aneignen, wenn Sie sie lesen; wobei Sie dann die Möglichkeit haben, irgend-welche schwierigen Stellen - und Philosophie pflegt nun ein-mal nicht so einfach zu sein — sich nach Belieben vorzuneh-men und sich darein verbeißen zu können, als wenn ich sie Ihnen hier notwendig denn doch gedrängt vortrüge und sie dann an Ihnen vorüberrauschten. Das ist auch einer der Gründe, warum ich diese Form wähle, die manche von Ihnen befremdet; aber wie es beim Befremdenden von Formen oft ist, es rühren die Schwierigkeiten ja dann sehr häufig einfach daher, daß man an das Phänomen, dem man konfrontiert wird, mit falschen Erwartungen herangeht; daß Sie also mit der Erwartung herangehen, etwa doch ein System der Ethik oder ein System der Philosophie oder irgend etwas Ähnliches von mir vorgetragen zu finden - und daß Sie dann an dieser Ihrer Erwartung das, was vorgeht, messen und sich dann enttäuscht finden. Dieses Befremden ist ganz ähnlich wie das an der modernen Musik, die von vielen Menschen einfach deshalb nicht verstanden wird, weil sie von ihr etwa Sym-metrien erwarten wie in >Hänschen klein ging allein*, und wenn dann diese Symmetrien nicht vorkommen, dann ant-worten sie: >Ja, das ist dann eben keine Musik.*37 Ich glaube deshalb, wenn ich Ihnen einen Rat zu unserer Verständigung geben darf, an der mir natürlich genausoviel gelegen sein muß wie Ihnen, dann würde es der sein, daß Sie also von vornherein nicht mit solchen Erwartungen an diese Vorle-sungen herangehen, mit irgendwelchen festen Erwartungen, wie Sie sie auch aus dem anderen philosophischen Lehrbe-trieb etwa hegen mögen, sondern daß Sie versuchen, sich einfach der Sache selbst und dem, was ich, so gut oder schlecht wie ich nun einmal kann, Ihnen vortrage, rein zu überlassen und dabei mitzukommen und spontan mitzuden-ken, anstatt nun darauf zu lauern: >Ja, was kann ich dabei nun

102 42

festhalten?* Daß im übrigen, wenn Sie das tun, dabei auch an Stoff genügend für Sie abfallen wird, ich glaube, das kann ich Ihnen doch versprechen, denn ich bin weit davon entfernt, den Stoffhunger zu unterschätzen oder gering zu bewerten. Es ist vielmehr so, daß immer auch in allen geistigen Dingen die bloß stofflichen Momente - also das, was nicht bereits reflektiert ist - so einen gewissen Vitamingehalt, möchte ich fast sagen, haben, an dem dann der Gedanke erst recht sich entzündet; und das Bedürfnis, das danach geht, hat insofern sicher auch noch seine erhebliche Berechtigung. Aber der Kompromiß, den ich suche, ist einer, den im übrigen - »si parva licet componere magnis«38 - Kant selber gewählt hat, der nämlich in seinen Vorlesungen nie seine Philosophie unmittelbar vorgetragen hat, sondern eigentlich im wesent-lichen im Zusammenhang mit den überlieferten Lehrmei-nungen eben jener Leibniz-Wolffischen Philosophie, deren Kritik ja eigentlich ausgedrückt wird durch den Titel »Kritik der reinen Vernunft«. Ich benutze Kant in einer ähnlichen Weise als Vehikel, um auf der einen Seite an seinen Proble-men und den Fragestellungen von ihm Sie in die moralphilo-sophischen Fragestellungen einzuleiten, andererseits aber auch durch kritische und andere Reflexionen, die sich an die Kantischen Texte anschließen, Sie darüber hinauszubringen. Jedenfalls ist das die Absicht, die ich für den ersten Teil der Vorlesung habe, während ich dann - ich glaube, ich habe Ihnen das schon angezeigt - im zweiten Teil der Vorlesung versuchen möchte, wenigstens einige besonders brennende und aktuelle Probleme der Moralphilosophie in der Gegen-wart mit Ihnen zu behandeln.

Wenn wir uns der Kantischen Moralphilosophie zuwen-den, stößt man da zunächst auf etwas recht Erstaunliches, nämlich daß ihr Ansatz sich findet in der theoretischen Philo-sophie, in der »Kritik der reinen Vernunft«. Es hängt das zu-sammen mit dem Kantischen Zug - lassen Sie mich sagen -zum theoretischen System, also mit dem Zug, aus gewissen Grunderkenntnissen, die als solche festgehalten und unum-

Page 22: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

stößlich sein sollen, eben aus den Grundeinsichten der von ihm sogenannten Transzendentalphilosophie mehr oder min-der doch alles andere, was jedenfalls unter dem Namen von Philosophie laufen soll, abzuleiten. Dadurch wird auch die Moralphilosophie in gewissem Sinn bei ihm in Erkenntnis fundiert; und wenn Sie so wollen, steht dadurch der Kanti-sche Ansatz in einem gewissen Gegensatz zu dem, was ich Ihnen wenigstens angedeutet habe in unseren vorgreifenden Betrachtungen, als ich Ihnen nämlich sagte, daß die Sphäre der Praxis, also die von der Moralphilosophie gedeckte Sphäre des Handelns, ihre spezifische Differenz eben gerade darin hat, daß sie in der theoretischen Reflexion nicht rein aufgeht. Nun, dieses zweite Moment äußert sich wenigstens indirekt bei Kant auch, und zwar in der These - in der, bei einem Denker, der den Primat der Vernunft so streng festhält wie er, erstaunlichen, etwas paradoxen Weise, daß er eigent-lich der Moralphilosophie gegenüber der theoretischen Phi-losophie den Primat zuerteilt-: daß die sogenannten obersten Fragen der Metaphysik als einer theoretischen Disziplin, also die Fragen, die sich nach herkömmlicher Liste beziehen auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, eigentlich relevant seien überhaupt nur als Fragen der Praxis, während die theoreti-sche Vernunft an ihnen, ja, ein bißchen desinteressiert sei.39

Das Einheitsmoment, um Ihnen das gleich zu sagen, denn ich glaube, das ist ein Schlüssel für das Verständnis der Kanti-schen Moralphilosophie insgesamt, zwischen der theoreti-schen und der praktischen Philosophie bei Kant besteht nun aber in dem Begriff der Vernunft selber. Und ich glaube, Sie tun gut daran, wenn Sie das vorweg sich klar machen, um Einsicht in die Konzeption von Theorie und Praxis zu gewin-nen, wie sie bei Kant nun einmal vorliegt. Die Vernunft als das Vermögen des richtigen, korrekten Denkens, also das Vermögen richtig Begriffe zu bilden, das Vermögen richtig zu urteilen und das Vermögen exakt zu folgern, wie es in der traditionellen Logik heißt, ist also bei ihm konstituierend gleichzeitig für die Theorie und für die Praxis. Daß es das für

102

die Theorie ist, ist klar, denn diese Vernunft selber ist ja eigentlich die Instanz, die über die Theorie entscheidet, und der Kant, ohne übrigens darin im einzelnen sich so arg viele Gedanken schon zu machen, sogar die Fähigkeit zutraut, sich selbst und ihren eigenen Geltungsbereich zu bedenken und, wenn Sie so wollen, ihn auch einzuschränken. Auf der ande-ren Seite aber ist diese Vernunft, die immer dieselbe ist, die Vernunft in allen Teilen der Kantischen Philosophie, wie verschieden diese Teile auch sind. Die Vernunft, die darin vorkommt, das Organon der Vernunft, das dann zuweilen Urteilskraft, zuweilen Verstand heißt, das - also einfach das Organon des richtigen Denkens - ist bei Kant überall das-selbe. Und es hat nun im Bereich der praktischen Vernunft, mit dem wir es hier zu tun haben, deshalb seine eigentümli-che Vormachtstellung, weil die praktischen Handlungen, so-weit sie Gegenstand der moralischen Reflexion sein sollen, eben diejenigen sind, die lediglich der Vernunft entspringen, die also auf Grund der reinen Gesetzmäßigkeit der Vernunft sich konstituieren - unabhängig von irgendwelchen An-schauungen, von irgendwelchem empirischen Material, von irgend etwas, was dieser Vernunft von außen zukommt.40

Das moralische Verhalten ist in diesem Sinne eines, das im buchstäblichen Sinne rein ist. Der Ausdruck >rein< hat hier bei Kant einen sehr tiefen Doppelsinn, nämlich daß das rein ver-nunftgemäß ist und daß es von irgendwelchem sinnlichen Material unentstellt sein soll, das aber deshalb, weil es eben eigentlich gar nichts anderes ist als das Handeln rein nach Ge-setzen der Vernunft, auch notwendig jenen Charakter des Formalen und Abstrakten hat, den man — wie Sie ja wohl alle wissen - gerade der Kantischen Ethik immer wieder vorge-worfen hat. Das macht Ihnen vielleicht verständlich, warum bei Kant, bei dem der Primat der Vernunft in einer so mächti-gen Weise herrscht wie nur je bei einem aufklärerischen Den-ker, trotzdem der Primat der praktischen Philosophie herrscht: nämlich als derjenigen Philosophie, die rein ver-nunftgemäß ist, ohne daß sie in ihren gesetzmäßigen Bestim-

45

Page 23: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

mungen jedenfalls Rücksicht nehmen müßte auf irgendein dem erkennenden und handelnden Subjekt von außen zu-kommendes Material. Moralisch ist das Material und mora-lisch ist dadurch auch die Folge meiner Handlungen gegen-über dieser reinen Adäquatheit an die Gesetze der Vernunft bei Kant etwas Gleichgültiges. Wenn ich Ihnen sage, daß auf der einen Seite bei Kant die Moral fundiert wird in der Er-kenntnistheorie und zwar in einem sehr exakten Sinn in der Erkenntnistheorie - Sie werden gleich hören, in welchem Sinn - , daß aber auf der anderen Seite sie den Primat auch über das Erkenntnisinteresse der Vernunft hat, dann schlägt sich darin der ganze Doppelcharakter von Kant nieder, von dem ich Ihnen wohl auch schon wenigstens einiges gesagt habe. Man könnte vielleicht zur Charakteristik der Kanti-schen Philosophie insgesamt sagen, daß sie die Paßhöhe bil-det zwischen dem Motiv des erkenntnistheoretisch Aufkläre-rischen und dem Versuch einer metaphysischen Rettung, einer Restitution des metaphysischen Sinnes, der für ihn sich eben wesentlich konzentriert in den obersten Allgemeinhei-ten nicht nur der Erkenntnis, sondern der Ideen und eben damit im wesentlichen der Gesetze der Moral. Das also er-klärt Ihnen vielleicht dieses eigentümliche Schwanken in der Stellung von Theorie und Praxis. Man könnte sicherlich ver-suchen, das irgendwie wegzuerklären und zu sagen, daß die Theorie es zwar fundiere, aber daß dann die Moral trotzdem als das Höhere und Menschliche über der Erkenntnis stünde oder etwas Ähnliches. Aber ich halte es im allgemeinen - um auch darin ein wenig Farbe zu bekennen - für fruchtbarer, wenn man in sehr komplexen Denkgebilden, wie das Kanti-sche System nun einmal eines ist, die Brüche ausspricht, sie bezeichnet und gerade versucht, das Verständnis an die Not-wendigkeit und die Bedeutung dieser Brüche anzuschließen, als wenn man versucht, auf eine mehr oder minder elegante Weise, im Interesse eines nur möglichst einstimmigen Ober-flächenzusammenhangs, diese Brüche und diese Antagonis-men wegzuerklären - und auch darin, glaube ich, befinde ich

102

mich auf ganz gutem Kantischen Boden, denn gerade die Be-gründung der Moralphilosophie bei Kant geht ja vom Be-wußtsein notwendiger und unvermeidlicher Widersprüche ihrerseits aus, nämlich den sogenannten Antinomien.

Nun, das Problem der Moralphilosophie bei Kant ganz all-gemein, und das ist wohl auch das erste, was Sie dazu festhal-ten müssen, ist das der Freiheit, das der Freiheit des Willens, und das heißt zunächst einmal - damit Sie hier gerade bei Kant und bei diesem Begriff der Freiheit zunächst gar nicht mit übertriebenen Vorstellungen an die Sache herangehen -gar nichts anderes als ein Verhalten, das seinerseits nicht in die Naturkausalität fällt. Daß dieses Problem der Freiheit die eigentliche Grundfrage der Moralphilosophie ist, das leuch-tet wohl ohne weiteres ein; weniger ohne weiteres - oder nur mit sehr viel weiterem - leuchtet dann allerdings ein, wie man sich die Bestimmung dieser Freiheit, die Bestimmung von Kausalität und ihr Verhältnis zueinander vorzustellen habe. Aber das wollen wir dann erst behandeln, wenn wir zunächst über diese einfachsten Kategorien, die hier im Spiel sind, uns einmal andeutend verständigt haben. Ich sage, es leuchtet ein: daß das Problem der Moral bei Kant die Freiheit

jst . Sehr einfach; es leuchtet deshalb ein, da ich - und ich brauche den Ausdruck >ich< hier mit einer gewissen kava-liershaften Largesse, deren Kant sich im gleichen Zusam-menhang auch befleißigt, der bei dem, was mit diesem >ich< gemeint sei, zunächst sich gar nicht so furchtbar aufhält, son-dern sich dabei an den vorphilosophischen Sprachgebrauch einfach hält - nur dann, wenn ich frei handeln kann - und wenn ich nicht so blind der Kausalität unterliege wie dieses Buch, das, wenn ich es jetzt loslasse, dann auf den Tisch fallt und womöglich, weil es schon so alt ist, aus dem Leim geht - , von so etwas wie moralischem Handeln, von gutem, von gerechtem, von richtigem oder von sittlichem Handeln, wie immer diese Einzelbestimmungen nun lauten mögen, über-haupt reden kann. Denn wenn ich selber lediglich im Sinn der Kausalität mich verhalte, dann bin ich als der, der über die

47

Page 24: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Handlung zu entscheiden hat, ja dabei eigentlich gar nicht im Spiel; und daß alle Vorstellungen der Sittlichkeit oder der Moral sich beziehen auf ein Ich, welches da handelt, das ist wohl ohne weiteres verständlich. Ich meine, ich erinnere Sie hier nur an etwas, was sogar in der Strafrechtspraxis sich durchgesetzt hat, daß, wenn zum Beispiel ein Mensch gei-steskrank ist und in seiner Geisteskrankheit irgendwelches Unheil anrichtet, aber einfach deshalb, weil er dabei blinden Mechanismen unterliegt, die von seiner Vernunft unabhän-gig sind und an die eine Idee von Freiheit überhaupt nicht mehr herangebracht werden kann, daß man dann sagt, dieser Mensch sei wegen seiner Handlungen nicht zur Verantwor-tung zu ziehen, er sei nicht verantwortlich; er ist dann gewis-sermaßen diesseits der gesamten Problematik von Gut und Böse. Dieses Problem der Freiheit nun ist bei Kant zugespitzt in der Lehre von den Antinomien, und zwar, um das aus-drücklich Ihnen zu sagen, in der dritten Antinomie. Ich füge hinzu, daß es eigentlich in der vierten Antinomie ebenfalls vorkommt, aber daß die vierte Antinomie, wenn man sie ge-nau betrachtet, mit der dritten Antinomie zusammenfällt, gar nicht wesentlich von ihr verschieden ist, so daß es sich empfiehlt, in der Betrachtung der Antinomie von Freiheit und Kausalität sich auf die Behandlung der dritten Antino-mie zu beschränken.

Nach dem, was ich Ihnen über den Doppelcharakter der Kantischen Philosophie gesagt habe, können Sie vielleicht auch schon diese Antinomienlehre von Kant, auf die wir nun doch kurz eingehen müssen, in einem etwas weiteren Zu-sammenhang, nicht ganz so eng verstehen, als sie Ihnen le-diglich an Ort und Stelle erscheinen würde. Diese Antino-mienlehre besteht nämlich im wesentlichen darin, daß der Konflikt dargestellt wird zwischen jener aufklärerisch ver-nunftkritischen Intention, von der ich Ihnen gesprochen habe, und, auf der anderen Seite, von der errettend metaphy-sischen Intention. Weil beide Intentionen Kant zufolge - er spricht nicht von diesen Intentionen, aber die prägen in seiner

102

Philosophie sich aus - jedenfalls in der Vernunft gleich mäch-tig sind, weil sie gleichermaßen in der Vernunft sich geltend machen, deshalb führt die Ambivalenz zwischen diesen bei-den Intentionen zu unauflöslichen Widersprüchen. Sie finden ein ganz schönes Resümee dieser Antinomienlehre insge-samt, eine recht elegante und einfache Formulierung der An-tinomienlehre in dem Kant-Kommentar meines alten Leh-rers Cornelius, und ich darf Ihnen vielleicht gerade die paar einschlägigen Sätze vorlesen, die Ihnen sehr luzid zeigen, worum es eigentlich geht. Es handelt sich hier um den Text innerhalb der »Kritik der reinen Vernunft«, der heißt: »Der transzendentalen Dialektik / Zweites Buch / Zweites Haupt-stück / Die Antinomie der reinen Vernunft«. Ich zitiere also diese Sätze von Cornelius: »Wo immer ein Bestandstück der erfahrbaren Welt sich als bedingt durch eine unsererseits nicht bis zum Ende zu durchlaufende Reihe von Bedingun-gen erweist, verwickelt sich unser Denken in einen unlösba-ren Widerspruch, sobald diese Reihe der Bedingungen als eine an und für sich bestehende« - und, wir müssen ergänzen: nicht als eine von unserem eigenen Bewußtsein je erst produ-zierte — »vorausgesetzt wird. Da dies« — also daß wir die Reihe der unendlichen Ursachen in unserem Problem als eine an und für sich bestehende voraussetzen - »bei Vorausset-zung der gewöhnlichen Weltansicht« - was bei Kant »tran-szendentaler Realismus* heißt - »unweigerlich eintritt, vermag diese Weltansicht keinen Ausweg aus den Wider-sprüchen zu finden, in welche sie sich verwickelt.«41 Nun, Sie können sich das ganz einfach daran demonstrieren, daß, wenn Sie vorphilosophisch denken, also wenn Sie vorkri-tisch denken, wenn Sie also die Kausalität nicht ihrerseits als eine Funktion unserer Vernunft, sondern die Ursache als eine einfach in den Dingen an sich objektiv liegende Tendenz an-nehmen, daß Sie dann immer wieder von einer Ursache zu einer Ursache des Zustandes gelangen, der hier als Ursache angesehen wird und so weiter bis ins Unendliche; und dieser unendliche Regreß führt dann eben zu den Widersprüchen,

49

Page 25: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

von denen Kant in der Antinomienlehre handelt. Die ge-samte Lehre von diesen Widersprüchen in der »Kritik der rei-nen Vernunft« nennt Kant die »transzendentale Antithetik<, als die Lehre der Antithesen, in welche die Vernunft in ihrem naiv realistischen Gebrauch, also in der positiven Setzung ei-nes Unendlichen, das selbst nur vom Bewußtsein hervorge-bracht ist, sich verwickeln soll. Ich lese Ihnen auch das gerade zur Orientierung: »Die Antithetik beschäftigt sich« - das steht im zweiten Abschnitt der »Antinomie der reinen Ver-nunft* - »also gar nicht mit einseitigen Behauptungen, son-dern betrachtet allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ur-sachen desselben. Die transzendentale Antithetik« - und mit der haben wir es zu tun - »ist eine Untersuchung über die Antinomie« - also über den notwendigen Widerspruch -»der reinen Vernunft, die Ursachen und das Resultat dersel-ben. Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß, zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene« - die Verstandesgrundsätze -»über die Grenze der letzteren« - also der Gegenstände der Erfahrung - »hinaus auszudehnen wagen, so entspringen« -wie er es nennt - »vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfah-rung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Wider-spruch ist, sondern so gar in der Natur der Vernunft Bedin-gungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher Weise der Gegensatz eben so gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat.«42

Meine Damen und Herren, ich möchte dabei dieses Motiv der Notwendigkeit der Widersprüche, in welche die Ver-nunft sich entwickelt, unterstreichen. Kant selber ist an die-sem Punkt gar nicht so eindeutig gewesen. Es gibt bei ihm auch in der »Kritik der reinen Vernunft« sehr starke Motive, die mit dem Gedanken der Notwendigkeit der Widersprü-che, in welche sich die Vernunft verwickle, eigentlich nicht recht zu vereinigen sind. Denn wenn es wirklich in einem

102 50

ganz strengen Sinn eine Notwendigkeit ist, dann wäre ja eine solche Auflösung der Antinomien, wie Kant sie versucht, und deren Grundgedanken ich Ihnen ja angedeutet habe, überhaupt gar nicht möglich. Es folgt aus dieser zweiten An-sicht, also daraus, daß die Widersprüche eigentlich ein Weg-zuräumendes wären, daß bei Kant der Name Dialektik - also die Lehre von den notwendigen Widersprüchen oder die Lehre von den Widersprüchen von Grundsätzen überhaupt -ein negatives Wort, ein Schimpfwort ist. Dialektik bei Kant ist immer und notwendig etwas Falsches. Er nennt deshalb auch die Dialektik an einer anderen Stelle »die Logik des Scheins«43 und macht sich anheischig, die Antinomien weg-zuräumen. Natürlich gewinnt diese ganze Betrachtung ihre Tiefe tatsächlich nur durch die Notwendigkeit des Wider-spruchs, in den man hier gerät. Das heißt, nur wenn man diesen Widerspruch selbst versteht als eine Notwendigkeit, dann versteht man auch das eigentliche Problem der Moral-philosophie, das Grundproblem der Moralphilosophie, näm-lich das der Freiheit oder Unfreiheit, als ein wirkliches Pro-blem, das heißt: als etwas, was in der Sache selber entspringt, und nicht als einen losen Trug, den man so wegnehmen kann. Nebenbei bemerkt, ist dieses Motiv von der Notwen-digkeit der Widersprüche, das bei Kant zwar auf der einen Seite aus der Vernunft und ihrer Natur abgeleitet, dann aber in der Behandlung dieser Widersprüche nicht streng durch-gehalten ist, eines der Motive, und ich würde sagen, weiß Gott, nicht das geringfügigste Motiv, an dem der Begriff einer philosophischen Dialektik überhaupt seinen Ansatz-punkt hat. Das heißt, nur wenn die Vernunft in Widersprü-che notwendig gerät und wenn sie fortschreitet im Prozeß der Auflösung dieser Widersprüche, anstatt daß diese Wi-dersprüche ein für allemal und so wie bloße Denkfehler sich wegräumen ließen, nur dann wird ja der Gedanke einer Dia-lektik als des Mediums des Denkens und der objektiven Wahrheit selber überhaupt zureichend motiviert, und des-halb möchte ich gerade auf dieses Moment so einen großen

Page 26: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Wert legen. Es wäre im übrigen eine sehr fesselnde Aufgabe -und eine Aufgabe, die meines Wissens noch gar nicht richtig in Angriff genommen worden ist - , diese eigentümliche Zweisträhnigkeit der Kantischen Dialektik als eines auf der einen Seite Notwendigen und auf der anderen Seite eines bloß Fehlerhaften zu entfalten und zu einer Theorie der philo-sophischen Dialektik in Beziehung zu setzen.44 Ich nenne Ih-nen hier nur dieses Problem, mit dem wir uns, zumindest auf dieser Stufe dieser Vorlesung, natürlich noch nicht abgeben können.

Die Methode, die Kant nun in dieser Dialektik, in dieser Antithetik benutzt, die nennt er selber »die skeptische Me-thode« - und zwar diese skeptische Methode im äußersten Gegensatz zu dem Skeptizismus und Kant begründet das damit, daß die skeptische Methode, also der Zweifel an blo-ßen dogmatischen Setzungen und am bloß dogmatischen, unreflektierten Gebrauch der Begriffe, auf Gewißheit geht. Der zuständige, sehr interessante Satz heißt: »Die skeptische Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie, in einem sol-chen, auf beiden Seiten redlichgemeinten und mit Verstände geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu ent-decken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verle-genheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Beleh-rung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen, zu ziehen.«45 Sie können also auch hier an diesem Ansatz der Moralphilosophie erkennen, daß die Blickrichtung der ganzen Kantischen Philosophie objektiv ist, und daß die Vorstellung von der Transzendentalphiloso-phie als Subjektivismus insofern zu kurz greift, als gerade im Gegenteil die Kantische Philosophie den Versuch darstellt, durch die reductio ad subjectum, durch die Reduktion auf das Subjekt, die objektive Gültigkeit der höchsten und obersten Gesetze und Aussagen zu retten. Das stimmt nun ganz genau und aufs schärfste vor allem auch mit der Intention der Kanti-schen Moralphilosophie überein, die ja darauf hinausläuft, durch Reduktion auf das reine subjektive Prinzip der Ver-

102

nunft selber gleichzeitig die absolute und unangreifbare Ob-jektivität des moralischen Gesetzes zu erretten, so daß man in diesem Sinn sagen kann, daß der oberste Grundsatz der Mo-ral, nämlich der kategorische Imperativ, eigentlich über-haupt gar nichts anderes sei als die subjektive Vernunft selber als ein schlechterdings und als ein objektiv Gültiges. Der äußerste Gegensatz dazu ist die skeptische Betrachtung, die ein solches objektiv Gültiges bestreitet, und Sie mögen be-reits aus dieser Differenz der skeptischen Methode - zu der Kant an dieser Stelle sich bekennt - zu der Skepsis als philo-sophischer Skepsis auch etwas von seiner moralischen Posi-tion wahrnehmen, die nämlich nun nicht wie die Sophistik und die Skepsis daraufhinausgeht, durch Beziehung auf das Subjekt und den Menschen die allgemeine Notwendigkeit und die Verbindlichkeit moralischer Gesetze zu bestreiten, sondern, gerade im Gegensatz dazu, sie wiederherzustellen. Es ist also demzufolge die Aufgabe, den Grund des Mißver-ständnisses in einem falschen Gebrauch der Vernunft zu ent-decken. Und wenn man diesen Grund nun also gefunden hat, dann soll dadurch - und das erinnert nun wirklich sehr an das Verfahren einer dialektischen Philosophie - , indem man die Negativität von These und Antithese bestimmt hat, indem man also das ihnen gemeinsame, Kantisch gesprochen, Miß-verständnis aufgedeckt hat, durch diese Wegräumung des Mißverständnisses, soll dann einfach positiv gewandt, die höhere Wahrheit, in diesem Fall also der Grund eben jenes Widerspruchs in der Vernunft selber, offenbar werden und dadurch auch die Möglichkeit, ihn durch die Vernunft weg-zuräumen. Sie mögen daran bereits sehen, daß Kant von der Dialektik, obwohl er, wie ich Ihnen sagte, in der »Kritik der reinen Vernunft« so wenig freundlich von ihr spricht, in Wirklichkeit, eben vermöge dessen, was hier »skeptische Me-thode* heißt, einen viel positiveren Gebrauch macht, als nach dieser Ansicht von der Dialektik bei ihm eigentlich voraus-zusetzen ist. Dieses vorausgesetzt, werden wir das nächste Mal unmittelbar übergehen zu der dritten Antinomie. - Ich danke Ihnen.

53

Page 27: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

4- VORLESUNG

16. 5. 1963

Meine Damen und Herren, ich möchte heute zur Behandlung der dritten Kantischen

Antinomie übergehen. Da es sich immerhin um einen nicht ganz einfachen Text dabei handelt, den ich Ihnen in einem so verhältnismäßig frühen Stadium der Vorlesung als eine Art von Grundlegung interpretiere, so muß ich Sie dabei um einige Konzentration bitten, nämlich um die Konzentration, die der Kantische Text nun einmal von uns verlangt. Lassen Sie mich zunächst etwas über die Methode sagen, die Kant in der Antinomienlehre insgesamt verfolgt. Diese Methode ist, wie die alte rhetorische Figur lautet, die argumentatio e con-trario. Das heißt, es wird so verfahren, daß sowohl die These wie die Antithese, die einander widersprechen und die beide gleich evident oder nicht evident sein sollen, bewiesen wer-den durch den Nachweis der Ungereimtheiten, auf welche die Antithese zu ihnen führe. Also beide werden negativ, von ihrem Gegenteil her, von dem ihnen kontradiktorisch entge-gengesetzten Satz her bewiesen.46 Das Verfahren, das Ihnen vielleicht zunächst im wörtlichen Sinne etwas überzwerch vorkommt bei Kant, dieses Verfahren ist selber - wie ge-wöhnlich in anständiger Philosophie sogenannte formale Veranstaltungen - inhaltlich motiviert, nämlich dadurch, daß, nach der an einer Stelle der Antithetik aufgeführten An-sicht von Kant, der positive Beweis der beiden Thesen des-halb nicht möglich ist, weil sie eben als Aussagen über ein Unendliches oder als Aussagen über eine unendliche Reihe -nun nicht im mathematischen Sinn, sondern in dem Sinn der vormathematischen Menschenvernunft - auf Unendliches führen, über das positive Aussagen nicht gemacht werden können. Wohl aber ist es Kant zufolge umgekehrt möglich, an der Gegenthese in zeigen, daß sie zu Ungereimtheiten führe, mit der Implikation, daß dadurch die auf diese Weise indirekt herausspringende These auch als gesichert zu gelten

102

habe.47 Ich merke nur gerade en passant an, daß dieser Schluß: daß aus dem Beweis der Untriftigkeit der Gegen-these zu dem je Entwickelten die Gültigkeit der in Rede ste-henden These selbst folgt, logisch keineswegs so unmittelbar hervorspringt. Aber darüber werden wir dann später noch zu reden haben.

Ich muß Ihnen weiter sagen - und das werden wir nun sehr eingehend behandeln müssen, zunächst einmal zur Vorver-ständigung daß, wenn in der Antinomienlehre von Kant die Rede ist von Kausalität, dabei der Begriff der Kausalität zunächst einmal gar nichts anderes bedeutet — ich glaube, Sie stellen sich das am einfachsten jedenfalls so vor - als die Kau-salität, mit der in den Naturwissenschaften im allgemeinen operiert wird. Wobei ich Sie daran erinnern darf oder Sie dar-auf aufmerksam machen darf - eigentlich kann ich Sie nicht daran erinnern, weil wir das hier nicht behandeln - , daß es zu den Eigentümlichkeiten der »Kritik der reinen Vernunft« ge-hört, daß die mathematischen Naturwissenschaften ihrer-seits nicht etwa abgeleitet, sondern in einem gewissen Sinn vorausgesetzt, nämlich als gültig vorausgesetzt werden und dann den Bedingungen ihrer Gültigkeit nachgefragt wird, so daß deshalb der naturwissenschaftliche Kausalitätsbegriff zu-nächst der maßgebende ist. t)as ist nun für den Kausalitätsbe-, griff gar nicht so wesentlich wie zunächst einmal für den Frei-heitsbegriff, der hier dem Kausalitätsbegriff entgegengestellt wird und der, wenn ich mich so unakademisch ausdrücken darf, in der Tat einen ganzen Rattenkönig von Problemen in sich einschließt. Dieser Begriff der Freiheit - und ich bitte Sie, das zunächst einmal festzuhalten, wir werden das dann sehr modifizieren müssen, aber Sie müssen ja zunächst ein-mal in einer relativ einfachen und handfesten Weise wissen, wovon die Rede ist; die schwierigen Differenzierungen, zu denen werden Sie rasch genug kommen - , dieser Freiheitsbe-griffist hier zunächst lediglich negativ bestimmt, nämlich als die Unabhängigkeit in der Folge aufeinanderfolgender Zu-; stände, als die Unabhängigkeit von jener Regelhaftigkeit in

55

Page 28: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

!der Folge, die Kant sonst beansprucht. Ein positiver Begriff der Freiheit, also etwa Freiheit im Sinn der »ursprünglich ab-

> sohlten Erzeugung* - wie man das dann später im deutschen Idealismus genannt hat - , ist zunächst nicht im Spiel; obwohl Sie finden werden, daß in einem bestimmten Begriff, der sehr bald an dieser Stelle bei Kant auftaucht - durch den Be-griff der Spontaneität - , der Übergang zu einem solchen po-sitiven Freiheitsbegriff schon recht früh erfolgt. Ein Begriff, der übrigens, wenn ich Ihnen das sagen darf, an der hier in Rede stehenden Stelle deshalb besondere Schwierigkeiten be-reitet, weil er auf den vorher von Kant verwandten Begriff der Spontaneität, als der Erzeugung von Vorstellungen aus dem Subjekt, so ohne weiteres gar nicht anwendbar ist.48

Aber davon wollen wir zunächst einmal absehen. Ich möchte Sie hier nur, ehe wir zu der Behandlung der Antinomie selber übergehen, wenigstens auf eines aufmerksam machen, damit Sie hier schon etwas von dem Horizont der Problematik se-hen, denn ich habe Ihnen ja versprochen, Sie in Probleme der Moralphilosophie einzuweihen, und das bedeutet nun nicht bloß, daß ich Ihnen hier diesen fundamentalen Kantischen Gedankengang vortrage und ihn, so gut ich kann, erläutere, sondern das beweist eben doch - ich möchte Ihnen zeigen, wie ich das so zu nennen pflege - , daß hinter diesen Argu-mentationen, sie mögen nun einleuchten oder sie mögen nicht einleuchten, aneinander sich abarbeitende, oft sehr schwierige und oft miteinander inkompatible Motive stehen. Ich halte es eigentlich für die Hauptaufgabe des philo-sophischen Verständnisses - und eine jede solche Vorlesung muß ja auf das philosophische Verständnis hinarbeiten - , daß Sie unterhalb der scheinbar logisch plausiblen und in sich ein-stimmigen Theoreme das Kräfteparallelogramm gewahren, das dann eben zu der jeweils vorgetragenen Lehrmeinung vergleichsweise in dem Verhältnis steht wie das Kräfteparal-lelogramm der Physik zu seiner Resultante. Und deshalb möchte ich Sie hier auf das eine aufmerksam machen, daß der von Kant hier bereits in der Antinomienlehre eingeführte Be-

102 56

griff einer Kausalität aus Freiheit, die auf der einen Seite der Antinomie steht, eigentlich dem Prinzip des Kritizismus, dem allgemeinen Prinzip der Vernunftkritik widerspricht, dem zufolge ja die Kausalität eine Kategorie, also nicht etwas! ist, was den Dingen an sich, was der Sphäre des Intelligiblen zukommt; während nun diese Kausalität aus Freiheit ja doch tatsächlich ein Kausalitätsbegriff wäre, der jenseits des Be-reichs der Phänomene, der Phänomenalität gilt, auf welche der Begriff der Kausalität überhaupt zugeschnitten ist. Und das zu verstehen, mit anderen Worten, zu verstehen, wie es zu der höchst merkwürdigen, ja, ich muß sfchon sagen, Syn-kopierung, also dem Ineinanderschlagen des Motivs der Ge-setzmäßigkeit und der Freiheit, kommt, und was Kant eigentlich dazu veranlaßt, das ist nicht nur der Angelpunkt zum Verständnis der Kantischen Ethik, sondern gleichzeitig, möchte ich sagen, auch der zum Verständnis des Gefüges der Kantischen Philosophie insgesamt und wahrscheinlich sogar der Punkt, von dem aus das, was man mit ethischer Proble-matik zu bezeichnen pflegt, überhaupt erst sich enthüllt. Denn dieses Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit und die Auflösung der darin liegenden Widersprüche, das ist ja nun nicht bloß die erkenntnistheoretische, sondern auch die höchst reale Frage, mit der es eine jede philosophische Be-gründung der sogenannten Moral nun einmal zu tun hat.

Dieses vorausgeschickt, ist es wohl das einfachste, wenn ich Ihnen zunächst einmal These und Antithese, wie sie bei Kant einmal vorgetragen und dann bewiesen sind, verlese und einfach an die einzelnen Sätze soviel Erläuterung an-schließe, wie ich es für notwendig halte, damit Sie den Ge-dankengang verstehen, und dabei zunächst die kritische Problematik außer acht lasse und erst dann, wenn ich den Eindruck habe, daß das Gemeinte hinlänglich klargestellt ist, wollen wir in diese Problematik eindringen, dann wollen wir die Reflexion Kants selbst reflektieren. Die Thesis dieses sogenannten »Dritten Widerstreits der transzendentalen Ideen* - und Freiheit und totale Determiniertheit sind deshalb

Page 29: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Ideen, weil ja ihre Behauptung über die Grenzen der Möglich-keit der Erfahrung ins Unendliche hinausgeht, und deshalb gehören sie der Architektonik der Vernunftkritik zufolge zu den Ideen, daher der »Widerstreit der transzendentalen Ideen< - lautet: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausa-lität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen not-wendig.«49 Ich gestatte mir, Sie nur auf die kleine Pointe auf-merksam zu machen, die Ihnen vielleicht beim sorgfältigen Lesen dieser Thesis ebenfalls auffällt, daß nämlich hier so un-ter der Hand zur Einführung gerade des Prinzips der Freiheit der Ausdruck »notwendig* eingeführt wird, der doch seiner-seits der Sphäre der Kausalität abgeborgt ist. Das weist dar-aufhin, daß eben der Kausalitätsbegriff bei Kant so weit ist, daß er verschiedenen Interpretationen Raum läßt und über die naturwissenschaftliche Kausalität hinausgeht, von der ja Kant ausdrücklich handelt. Es zeigt sich aber andererseits eben doch, es ist ein Symptom für die Unausrottbarkeit des Widerspruchs, um den es sich hier handelt, daß es ihm ein-fach nicht möglich ist, das, was hier ausgedrückt werden soll, oder das, was hier bewiesen werden soll, zu beweisen, indem das zu Beweisende, nämlich das Prinzip der Notwendigkeit selbst, in gewissem Sinn bereits vorausgesetzt wird. Diese Struktur ist übrigens eine der Kantischen Philosophie recht allgemeine, und, da ich Ihnen ja angeraten habe, die »Kritik der praktischen Vernunft« zu lesen, und froh bin, wenn sie auch die »Kritik der reinen Vernunft« lesen, so ist Ihnen das vielleicht für das Verständnis dieser Texte eine gewisse Hilfe. Sie werden nämlich gerade Kant - in schroffem Gegensatz zu Denkern vom Typus Spinoza oder Fichte - nur dann gerecht, wenn Sie bei ihm nicht glauben, daß man sozusagen alles ab-leiten kann. Der Begriff des Gegebenen hat bei Kant eine über die sinnliche Gegebenheit weit hinausgehende Bedeu-tung - es wird allerhand bei ihm als gegeben vorausgesetzt und dann nicht abgeleitet oder bewiesen noch expliziert - in-

102

sofern es sich um die Gültigkeit des betreffenden Begriffs für unsere Erkenntnis handeln soll. Das ist zwar, wenn Sie wol-len, gegenüber dem ungeheueren Raffinement der an Kant anschließenden Idealisten, vor allem von Fichte und von He-gel, ein bißchen ein primitives und ein krudes Verfahren, aber es steckt darin doch etwas, was mit dem Wesen der Kan-tischen Philosophie, mit ihrem innersten Anspruch sehr zu-sammenhängt, nämlich eben dieses: daß bei Kant das Subjekt noch nicht das Prinzip ist, welches sich anmaßt, die Totalität überhaupt alles Seienden, auch alles Geistigen, aus sich her-aus entwickeln zu können. Sondern der Inhalt der Kantischen Philosophie, soweit sie einen negativen Inhalt hat, ist ja ge-rade die Begrenzung des Absolutheitsanspruchs des Sub-jekts, und diese Begrenzung drückt sich nun auch aus in einer gewissen Begrenztheit des deduktiven Anspruchs dieser Phi-losophie selber, obwohl sie gleichzeitig wieder als ein deduk-tives System auftritt. Und nun ist das Eigentümliche an Kant, das möchte ich dazu noch sagen, daß dieses merkwür-dige Hinnehmen von Momenten, die ihrerseits nicht rein de-duzibel, also nicht rein aus dem Begriff oder aus irgendwel-chen obersten axiomatischen Setzungen abzuleiten sind, daß sich diese merkwürdige Methode nun nicht bloß, wie man zunächst denken könnte, auf das sogenannte Material unserer Erkenntnis beschränkt, sondern daß sich das ebenso auch er-streckt auf die Formen des Bewußtseins selber, die trotz ihrer Deduziertheit bei Kant in gewisser Weise als solche hinge-nommen, respektiert werden müssen, so daß er also hier von Notwendigkeit — und Notwendigkeit ist ja Kant zufolge ein kategorialer Sachverhalt - gleichwohl so spricht, als ob es sich um eine Art von Gegebenheit handelt. Ich kann Ihnen jetzt im einzelnen nicht belegen, daß das so ist, das würde uns zu weit führen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß in der sogenannten »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe< bei Kant sich eine Reihe von Formulierungen finden, die diese Gegebenheit auch gerade dessen, was eigentlich nun nicht gegeben, sondern was reine Funktion, also reine Tätig-

59

Page 30: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

keit ursprünglicher Erzeugung sein sollte, ausdrücklich be-stätigen.

Nun gehen wir über zu dem Beweis der These e contrario. Also, man nehme das Gegenteil an, »man nehme an, es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur: so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt.«50 - Meine Damen und Herren, Sie haben hier in diesem Satz eigentlich die berühmte Kantische Definition der Kausalität selber vor sich, die Sie vielleicht doch als den nun eigentlich prägnanten Gegensatz zu der Kantischen Lehre von der Freiheit festhalten mögen. Kausalität ist nämlich in dem Sinn, in dem hier von ihr ge-handelt wird, die Aufeinanderfolge von Zuständen nach Re-geln. Dieser Kausalitätsbegriff ist also, Sie werden das be-merkt haben, zunächst von einer ganz außerordentlichen Weite, von einer so großen Weite, daß er den verschiedensten Interpretationen Raum läßt, daß man sogar - ich überlasse das den Naturwissenschaftlern unter Ihnen - sich Gedan-

I ken darüber machen kann, ob nicht sogar die jüngste Kritik der Kausalität in der Naturwissenschaft, nämlich in der

I Quantenmechanik, in diesem allerallgemeinsten Begriff von j Kausalität noch ihren Raum hat; und ob der angebliche | Widerspruch, der hier zwischen Kant und der modernen Na-

turwissenschaft herrscht, nicht bereits auf einer zu materia-len, zu inhaltlichen Auslegung der Kantischen Vorstellung von Kausalität beruht. Aber dies nur für diejenigen, die sich nun gerade über Kausalität besondere Gedanken machen. »Nun muß aber« - fährt Kant fort - »der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde.«51 Das ist sehr scharfsinnig von Kant argumentiert, man könnte fast sagen spitzfindig, aber es ist doch von einer großen Stringenz. Der vorhergehende Zu-stand, aus dem der jetzige kausal folgen muß - nach dem Satz: daß immer, wenn ein Zustand von der Form A ist, dann

102 60

ein Zustand von der Form B auf ihn folgen muß - , muß also Kant zufolge seinerseits selbst ein gewordener, ein entsprun-gener sein. Denn wenn er das nicht wäre, sondern von allem Anfang an dagewesen wäre, dann müßte das jetzige Phäno-men, das aus diesem Zustand erklärt wird, ja ebenfalls ein 1 ursprüngliches und schlechthin seiendes sein, mit anderen Worten, es würde der kausalen Ableitung aus diesem Zu-stand gar nicht erst bedürfen, was offenbar nicht zu denken sei, weil dadurch ja die Beobachtung des Phänomens als eines hic et nunc, als eines jetzt und hier Gegebenen annulliert würde. »Also« - fährt Kant fort - »ist die Kausalität der Ursa-che, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vori-gen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber eben so einen noch älteren voraussetzt u.s.w.«52 fes handelt sich hier um die Bezeichnung des Sachverhaltes",~ner Ihnen allen unter dem Namen der Kausalkette vertraut ist. »Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen.«53 Der Aus-druck >subaltern<, der so ein bißchen qualitativ wertend klingt, der bedeutet hier nichts anderes, wenn man das Wort erweitern darf, als sekundär oder abgeleitet. Es gibt also dann, sagt Kant, überhaupt nichts anderes als sekundäre, als abgeleitete Ursachen, die ihrerseits, ihrem eigenen Sinn nach, notwendig auf eine erste und primäre Ursache zurück-weisen. Und das begründet er dann so, und diese Begrün-dung ist vielleicht nicht ganz zwingend: »Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe.«54 Gemeint ist damit offenbar — und das ist ja wohl der Nerv der Argumen-tation —, daß diese subalterne Ursache, weil sie selber ihrer-seits auch wieder der kausalen Erklärung bedürftig ist, weil i sie also unvollständig ist, eine hinreichend bestimmte Ursa- ! che nicht sei, weil sie eine hinreichend bestimmte Ursache I

Page 31: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

erst dann wäre, wenn sie ihrerseits, ohne daß immer weiter zurückgefragt werden müßte auf eine weitere Ursache, so reduziert werden könnte, daß die Frage nach ihrer Bedin-gung verstummen würde. Und daran schließt er an: »Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur:« - und das glaubt er in der Kategorienlehre abgeleitet zu haben55 - »daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache« - das heißt ' also, würde er hier sagen: ohne daß eine vollständige Be- : stimmtheit der Ursache vorliege - »nichts geschehe.«56 Es würde sonst sozusagen die Naturerklärung in einem Va-kuum enden oder die gesamte Naturerklärung im Sinn einer Notwendigkeit, wie Kant sie ja noch unproblematisch für gegeben gehalten hat, auf ein Moment der bloßen Zufällig-keit zurückführen. »Also« - argumentiert er - »widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei,« - das heißt: der Satz, daß »alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei« (das ist ganz einfach ge-meint und nur ein bißchen verquer ausgedrückt) - »sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden.«57

Nämlich wenn ich diesen Satz so annehme, wie er hier aus-gesprochen wird, bleibt dadurch die von diesem Satz selber eingeführte Forderung der Vollständigkeit der kausalen Be-stimmung notwendig unerfüllt, und er gerät dadurch in Wi-derspruch mit sich selbst. Und nun kommt die Folgerung, die er daran anschließt: »Diesemnach muß eine Kausalität an-genommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorherge-hende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzu-fangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche« - und geben Sie darauf acht, er begründet hier die transzendentale Freiheit gerade aus der Naturkausalität, weil die nämlich sonst selber ungereimt sei — »selbst im Laufe der Natur« — und das faßt das Ganze noch einmal zusammen — »die Rei-

102

henfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen nie-mals vollständig ist.«58 Sie finden hier zunächst schon einmal die erstaunliche Erweiterung des Begriffs Kausalität auf die Freiheit, daß auch Freiheit eine Kausalität, eine Kausalität sui generis sei.

Sie können sich zunächst diesen sehr merkwürdigen und überraschenden Sprachgebrauch aber vielleicht am ehesten dadurch klarmachen, daß Sie an die doch etwas beschrän-kende Formulierung denken, die Kant hier wählt, das heißt: daß es Reihen von Erscheinungen gibt, die von selbst wieder, quasi erneut anfangen, ohne daß sie der Erkenntnis dieser unendlichen Bedingungen der Naturkausalität bedürfen. Ich glaube, es ist gut, wenn ich Ihnen dazu sage, woran Kant allein hier gedacht hat, denn es gehört zu den Prinzipien des philosophischen Verständnisses, daß man auch solche scheinbar so sehr formalen Ableitungen wie die, die ich Ihnen eben vorgetragen habe, eigentlich nur dann wirklich kapiert - und das ist eine Regel, die, nebenbei gesagt, in besonderem Maß für die späteren Idealisten, vor allem für Hegel gilt - , wenn man nun nicht etwa bloß den Gedankengang verfolgt, der zu solchen Konsequenzen führt, sondern wenn man es vermag, irgend doch den Sachverhalt sich vorzustellen, auf den dabei angespielt wird, der gewissermaßen das Modell sein soll. Dieser Sachverhalt ist aber ohne Frage die Selbster-fahrung des Individuums von sich, nämlich ganz einfach das, daß ich zunächst einmal an mir - ganz gleich, wie sich das nun innerhalb eines universalen Determinismus verhalten mag -erfahren kann, daß ich bestimmte Reihen aufeinander gesetz-mäßig folgender Zustände neu stiften kann durch einen Akt, der, wie immer er auch objektiv mit der Naturkausalität zu-sammenhängen mag, zunächst ihr gegenüber ein Moment -wie Kant es hier ausdrückt - von Selbständigkeit hat. Wenn ich also dieses arme Buch wieder einmal in die Höhe hebe und fallen lasse, dann ist ganz gewiß die Tatsache, daß es danach hinfällt, eine Sache der Naturkausalität und die voll-zieht sich ja, da sie sich im Makrobereich abspielt, noch nach

63

Page 32: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

den Regeln der guten alten Kausalität. Aber damit, daß ich, indem ich den wie immer auch törichten Entschluß fasse, dieses Buch in die Höhe zu heben und fallen zu lassen, hier eingreife, wird zugleich in diese Determination noch ein an-deres, ein Selbständiges hereingebracht, es fängt, könnte man sagen, mit diesem Entschluß eine neue Kausalreihe an. Und wie die nun ihrerseits wieder in die Totalität der kausa-len Bedingungen verflochten ist, ja, da würde der Kant sa-gen, vielmehr er würde es nicht sagen, sondern er sagt es tatsächlich: >Das ist eine cura posterior, das gehört dann ins-gesamt zu einer Theorie der menschlichen Wesen, soweit ihre Charaktere ebenfalls der empirischen Welt angehören.*59

Aber jetzt zunächst und unmittelbar für die Selbsterfahrung ist also dieses Moment gegenüber der Kausalkette das Setzen, das Anheben einer zweiten Determinantenreihe, die jeden-falls für die Selbsterfahrung in ihrer Identität mit oder ihrer Abhängigkeit von der allgemeinen Kausalkette nicht ohne weiteres durchgängig empirisch bestimmt ist.60 Das ist also das, was Kant an dieser Stelle im Auge hat, und nun spricht er hier von einer »absoluten Spontaneität der Ursachen*, ohne im übrigen den Begriff der Spontaneität an dieser Stelle zu erläutern. Spontaneität heißt hier aber ebensoviel wie eine ursprüngliche Tätigkeit, eben eine selbständige Tätigkeit, für die weitere Bedingungen zunächst positiv gar nicht ange-geben werden können, wie denn überhaupt in der »Kritik der reinen Vernunft« Spontaneität das Vermögen zunächst ein-mal der Produktion von Vorstellungen und damit eigentlich das produktive Vermögen des Bewußtseins und damit des menschlichen Geistes durchgängig bezeichnet. Kant, der ja, wie Sie in der »Transzendentalen Methodenlehre* nachlesen können, von Verbaldefinitionen wie alle anständigen Philo-sophen nicht so arg viel gehalten hat,61 führt diesen Begriff zwar zunächst in einem relativ engen Sinn, nämlich auf die Vorstellungen bezogen ein; er nimmt sich - weil es sich hier überhaupt um eines der Grundmomente der Subjektivität, man könnte sagen: um das Grundmotiv der Subjektivität

102

handelt - also mit Recht die Freiheit, diese Tätigkeit des Gei-stes über diesen Begriff hinaus auch anzuwenden.62 Das ist die Argumentation, die Kant hier anstellt gegen die univer-sale Kausalität und für Kausalität aus Freiheit und damit also für den Freiheitsbegriff als den Grundbegriff der Ethik.

Die Antithese lautet folgendermaßen: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.«63 Sie sehen hier in der Formulierung der Antithese, daß Kausalität im Gegensatz zur Freiheit ausdrücklich von Kant — wie ich es Ihnen vorher schon angezeigt habe - mit Naturkausalität gleichgesetzt wird. Der Beweis lautet: »Set-zet: es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstände,« -mit anderen Worten also das, was aus dem Beweis der Thesis hervorgegangen ist - »als eine besondere Art von Kausalität, nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könnten, nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen: so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung der Reihe [...]«.64 Nun, ich möchte nur gerade erläutern, daß Freiheit im transzendentalen Verstände hier soviel heißt wie, daß unter dieser Annahme, die er nun kritisiert, Freiheit wie sonst Kausalität eine Kategorie ist, das heißt: Freiheit, also das Handeln und der Verlauf von Dingen unabhängig von Gesetzen, würde dann selber zu einer Grundbestim-mung werden, nach der die Erkenntnis und damit die Orga-nisation der phänomenalen Welt überhaupt organisiert ist. Und der Gedankengang ist nun, um das an diese Erläuterung des Wortes transzendental hier schon anzuknüpfen, ganz ein-fach der: die Kategorien, also die Grundbegriffe, die Stamm-begriffe meines Geistes, durch die ich so etwas wie geordnete Erfahrung überhaupt zustandebringe, die sind allesamt eigentlich nichts anderes als die Bedingungen, durch die ich die Welt nach Gesetzen organisiere und die Welt korrelativ dazu als eine gesetzmäßige erfahre. Würde nun Freiheit - und das ist der nervus probandi - ihrerseits zu einer Kategorie, zu

65

Page 33: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

einem Transzendentalen, also zu einer Grundbedingung meiner Erkenntnis von Gegenständen überhaupt gemacht, dann würde sich daraus ergeben, daß das Gegenteil von Ge-setzmäßigkeit selber zu einer der Kategorien gemacht würde, daß es die Gesetzmäßigkeit begründen und daß Freiheit ih-rerseits der Inbegriff von Gesetzmäßigkeit sein soll, und das wäre ungereimt. Das ist der Grundgedanke. Wenn Sie den festhalten, glaube ich, können Sie zunächst die weitere Argu-mentation verhältnismäßig leicht verstehen — auf die zweite Stufe der Reflexion, wie gesagt, werden wir rasch genug kommen. Also, wenn ich die Freiheit im transzendentalen Verstände, Freiheit als Kategorie, annehmen würde, dann, fährt Kant fort, würde das darauffuhren, daß >die Kausalität schlechthin anfangen würde«, »so daß nichts vorhergeht, wo-durch diese geschehende Handlung nach beständigen Geset-zen bestimmt sei. «65 Es würde hier also ein Prinzip angenom-men werden, das seinerseits mit gesetzmäßiger Erkenntnis und mit einer in der Natur waltenden Gesetzmäßigkeit nichts mehr zu tun haben soll. »Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d.i. auf keine Weise daraus erfolgt.«66 Es würde also diese Ge-setzmäßigkeit, die Kant zufolge hier aus dem Prinzip der Freiheit folgen soll oder die mit dem Prinzip der Freiheit hier eingeführt werden soll, ihrerseits dem Begriff der Ge-setzmäßigkeit widersprechen. »Also«, sagt er, »ist die tran-szendentale Freiheit« - nämlich als die eines absoluten An-fangs der Handlung - »dem Kausalgesetze entgegen, und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung mög-lich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.«67 Wobei er natürlich die alten, von der Scholastik und von Aristoteles überlieferten Vorstellungen von einem letzten, ursprünglich schaffenden

102 66

Prinzip im Auge hat. Die letzte Wurzel ist die Aristotelische Lehre von dem äxivrjiov jtavTa xivovv, von dem unbeweg-ten Beweger aller Dinge,68 der würde dann angenommen werden, der fiele dann, um die Kausalität zu begründen, sei-nerseits aus der Kausalreihe heraus und würde dadurch dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit entgegenstehen. In dieser Argu-mentation hier, in der Argumentation für die Antithese also, spricht Kant durchaus und streng als der Aufklärer, der ver-sucht, die letzten Reste von scholastischen und von letztlich also aristotelisch-ontologischen Vorstellungen aus der Philo-sophie auszurotten, während korrelativ dazu die Argumen-tation für die Thesis die ist, die nun ihrerseits wieder auf die Rettung des metaphysischen Prinzips eigentlich hinaus will. Und wenn ich Ihnen das letzte Mal gesagt habe, daß diese beiden Momente in Kant in einem permanenten Konflikt liegen, dann ist dieser Konflikt in der Antinomienlehre thematisch geworden, das heißt, er spitzt sich eben hier buchstäblich zu dem Verhältnis zwischen der Thesis und der Antithesis zu. Kant fährt fort, nun wieder im Sinne dieses aufklärerischen Prinzips: »Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbe-gebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängig-keit),« - und das ist nun sehr interessant, und ich bitte Sie, genau darauf aufzupassen, das werden wir in der nächsten Stunde eingehend interpretieren müssen - »von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln.«69 Mit anderen Worten, in dem Augenblick, wo ich das Prinzip der Freiheit positiv einführen würde, wo ich des Zwanges mich entäußern würde, den das kategoriale System der Kausalität bewirkt, würde, das steht eigentlich dahinter, die Natur selbst ein Chaotisches sein, und genau dagegen ist ja eigentlich der ganze Anspruch der »Kritik der reinen Vernunft« gerichtet. »Denn man kann nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, son-

Page 34: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

dem selbst nichts anderes als Natur wäre. Natur also und transzendentale Freiheit« - sagt er nun sehr extrem - »unter-scheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, davon jene« - nämlich die Gesetzmäßigkeit - »zwar den Ver-stand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hin-auf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt ist,« - also mit anderen Worten: noch zu einer weiteren Ursa-che führt - »aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, da hinge-gen« - sagt nun wieder der Aufklärer und Determinist in Kant - »das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstände in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt,« - so wie die Metaphysik verheißt, daß man des Absoluten selber sich bewußt werden könne und in ihm Ruhe finde - »indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist,« - und blind heißt hier soviel wie, daß sie selber nicht dem gesetz-mäßigen Zusammenhang der Erkenntnis eingefügt ist - »den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durch-gängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist«70 - mit anderen Worten: die Erfahrung dem Zufall überläßt. - Ich denke, Sie haben das nach meinen Erläuterungen alle ver-standen, so daß wir dann das nächste Mal mit den unter die-sem Text liegenden Schwierigkeiten uns abgeben können.

102

5 . VORLESUNG

2 8 . 5 . 1 9 6 3

Meine Damen und Herren,

ich befinde mich noch im Stadium der Rekonvaleszenz,71 wollte aber trotzdem die Vorlesung heute und am Donnerstag nicht ausfallen lassen, weil ja das Semester sowieso arg kurz ist und viel ausfällt, und bitte Sie deshalb um Ihre Nachsicht, ebenso, was vielleicht die Präzision des Ausdrucks, vor allem auch, was die Deutlichkeit der Aussprache anlangt, denn ich hatte eine Kehlkopfaffektion, und es fällt mir also noch ein bißchen schwer zu sprechen.

Meine Damen und Herren, wir wollen zurückfinden zu der Behandlung der dritten Antinomie, und ich möchte versu-chen, zunächst einmal die Fäden dort aufzunehmen, wo wir sie in der letzten Vorlesung gelassen haben. Der Hauptge-danke dieses Kapitels ist ja sehr plausibel, und ich möchte sogar sagen, verhältnismäßig einfach, nämlich: nimmt man eine letzte und absolute Ursache an, so vergeht man sich ge-gen die im Begriff der Kausalität selber liegende Forderung ihrer Universalität. Das heißt also, man bricht die Reihe der aufzusuchenden Ursachen willkürlich ab und vergeht sich damit gegen das Prinzip der Kausalität selber, daß man für alles, was da überhaupt gegeben sei, eine weitere Ursache angeben müßte, weil es ja nur vermöge der Universalität der Kausalbeziehung überhaupt in so etwas wie einen gesetzmä-ßigen Zusammenhang der Erfahrung fällt. Ist das nicht der Fall, fällt also irgend etwas aus diesem universalen und ge-setzmäßigen Zusammenhang heraus, dann ist das sozusagen eine Störung der von Kant quasi als göttliche oder vielmehr menschliche Weltordnung proklamierten Gesetzmäßigkeit und wirft im Grunde überhaupt die Vorstellung einer geord-neten Erfahrung über den Haufen. Wie Sie denn überhaupt als eines der Motive der »Kritik der reinen Vernunft«, die man vielleicht gewöhnlich gar nicht so richtig hervorhebt,

69

Page 35: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

schon jetzt das festhalten sollten - das ist auch für die ganze Begründung der Moralphilosophie bei Kant sehr wichtig was man >die Angst vor dem Chaos< nennen könnte.72 Also es soll gewissermaßen nichts draußen bleiben, es soll nichts so sein, daß dadurch der gesetzmäßige totale Zusammenhang gestört würde. Umgekehrt aber, nimmt man nun eine solche letzte Ursache nicht an, so gibt es keine vollständige, sondern - wie Kant das ausdrückt, vielleicht erinnern Sie sich an die Passage noch - immer nur >subalterne<, das heißt: abgeleitete Kausalität; und man vergeht sich dann dagegen, daß ohne zureichenden Grund überhaupt nichts geschehe, man bricht also in gewissem Sinn ebenfalls ab, indem man nicht weiter-fragt nach einer solchen letzten Ursache. Beide Male soll also der Fehler der sein, daß dem Sinn des Kausalitätsprinzips selbst nicht genügt werde. Das erste Mal insofern, als in die-sem Prinzip auf der einen Seite die Forderung der Universali-tät liegt: daß man also eine letzte und absolute Ursache nicht finden kann, eben weil man dadurch die Universalität abbre-chen würde, während, auf der anderen Seite, wenn man eine solche Ursache nicht annimmt, es überhaupt nicht etwas wie eine wirklich zulängliche, sondern eine immer nur bloß ab-geleitete Begründung gibt, und der Begriff der Kausalität in sich selbst unerfüllt bleibt. Es ist also wichtig, ich lege darauf sehr großen Wert, und ich möchte das unterstreichen - Sie mögen das zunächst als eine etwas formalistische Betrach-tung ansehen und deshalb ein bißchen in den Wind schlagen, aber glauben Sie mir, daß ich meinen guten Grund habe, dar-auf so herumzureiten - , es kommt mir nämlich darauf an, daß Sie von vornherein sehen, daß der Widerspruch, um den es sich handelt, eben nicht bloß, wie Kant es in der Auflösung darstellt, ein Widerspruch ist, der durch unseren unzulängli-chen Gebrauch der Kausalität sich ergibt, sondern vielmehr ein Widerspruch, der daraus hervorgeht, daß die Sachen selbst, ihrem eigenen Sinn nach, notwendig in diesen Wider-spruch sich verwickeln.73 Und deshalb habe ich Ihnen eben versucht zu zeigen und unter diesem Aspekt die Kantische

70

Beweisführung nach beiden Seiten noch einmal zusammen-gerafft, daß man sich beide Male, also in den Fällen der bei-den antinomischen Thesen beziehungsweise Antithesen, ge-gen den Sinn des Kausalitätsprinzips selbst vergeht. Ich habe mich dabei keiner Sünde gegen Kant schuldig gemacht, weil Kant selber ja, nur ohne es zu sagen, genau so verfährt, wie ich es eben ausgeführt habe. Das heißt, die Methode ist eigentlich die, daß er beide Male das Verfahren mit dem kon-frontiert, was im Sinn von Kausalität selber liegt, und daß er zeigt, daß beide Male gegen den Sinn dieses Begriffs gefrevelt wird. Gleichgültig nun, ob man ins Unendliche weitergeht und dadurch auf ein letztes und damit bündig Verursachen-des verzichtet, oder ob man das nicht tut und damit eben willkürlich abbricht: die Hypostase einer absoluten Ursache ebenso wie die einer absoluten Verursachung führt auf solche Widersprüche.

Kant hat nun geglaubt - und das ist der eigentlich sprin-gende Punkt daß es sich hier in Wirklichkeit sozusagen nur um einen falschen Gebrauch handelt, also darum, daß wir die Kausalität über die Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung hinaus anwenden und daß, wenn wir nur hübsch bescheiden sind und dermaßen unmäßige Ansprüche nicht stellen, wir dann in diese Antinomie nicht hereinkommen. Das ist übri-gens eine Denkgewohnheit, die Kant hier zeigt, die dann nach ihm dem Positivismus eigentlich insgesamt eigen ist, der dann etwa sagt: >Na ja, wenn ihr so unmäßige Ansprüche an die Erkenntnis stellt, dann kommt ihr an allen möglichen Ecken und Enden in Schwierigkeiten; dann bescheidet euch lieber von Anfang an und nehmt also sozusagen mit dem täg-lichen Brot vorlieb; verhaltet euch in geistigen Dingen von vornherein gleich wie Angestellte, die nicht mehr zu tun ha-ben als das, was ihnen in ihrem Ressort zugewiesen ist, dann kann euch nicht so arg Schlimmes passieren.< Wenn aber das zutrifft, was ich Ihnen eben gezeigt habe und was, wie ich denken möchte, im Sinn der Kantischen Interpretation selber liegt, daß nämlich diese Antinomien tatsächlich daraus her-

71

Page 36: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

vorgehen, daß man die Anwendung, die mögliche Anwen-dung der Kausalitätskategorie mit ihrem Sinn konfrontiert, dann würde das allerdings zeigen, daß diese etwas behagliche Auslegung, die Kant der Sache gibt - und die so ein bißchen sich im Rahmen der nun einmal geltenden Arbeitsteilung hält und sagt: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich!* - , daß die eigentlich der Tiefe der Einsicht, die er selber an dieser Stelle gewonnen hat, widerspricht.74 Die stärkste Stütze, die diese Interpretation in dem Kantischen Text selber hat, ist eben die, daß Kant, sozusagen von der Wahrheit weiter getrieben, als es ihm im System recht gewesen wäre, wiederholt davon spricht, daß die Vernunft notwendig in diese Widersprüche hineingerate; und es gibt dann eine spätere Stelle, von der dann im übrigen die ganze praktische Philosophie, also die ganze »Kritik der praktischen Vernunft« abhängt, an der diese Nötigung ins Unendliche, in die intelligible Sphäre hin-einzugehen, von ihm selber geradezu mit der Sphäre des Praktischen gleichgesetzt wird.75 Kant ist hart bis an die Grenze des Bewußtseins dieses Problems gestoßen, von dem ich Ihnen heute spreche, nur hat er sozusagen aus architekto-nischem Bedürfnis, um die beiden Sphären der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft fein säuberlich von-einander getrennt zu halten, die ganze Konsequenz daraus nicht gezogen. Und anstatt diesen Widerspruch selber nun zu reflektieren und von ihm aus weiterzugehen, ist er bei diesem Widerspruch als einem zwischen zwei voneinander prinzi-piell unabhängigen Sphären stehengeblieben. Diese Diffe-renz zwischen einem solchen Verfahren, das Widersprüche gewissermaßen departemental auf zwei verschiedene Sphä-ren verteilt, und einem solchen, das die Widersprüche aus-trägt und durch den Austrag des Widerspruchs selbst in den Sachverhalt zu dringen sucht, ist im übrigen genau der Wi-derspruch zwischen traditionellem Denken - oder wie He-gel das nennt: Reflexionsdenken - und eigentlich dialekti-schem Denken; und wenn Sie sich des Problems versichert haben, auf das ich jetzt versucht habe Sie hinzuweisen, dann

102

werden Sie ohne weiteres darauf stoßen. Es geht also bei Kant um die Konfrontation des strengen Gehalts eines Be-griffs, oder lassen Sie mich lieber sagen: um die Konfronta-tion der Forderung, die in dem Begriff der Kausalität selber gelegen ist, mit der Konsequenz - und gerät beides notwen-dig in Konflikt, so liegt eine Dialektik vor. Kant sagt nun: »Diese Dialektik, die besteht in einem Fehler.*76 Hegel dage-gen würde sagen: »Wenn diese Dialektik, dieser Widerstreit als unvermeidlicher sich ergibt, so wie es im Sinn der Kanti-schen Beweisführung liegt, dann handelt es sich hier nicht um einen Fehler, sondern es handelt sich um einen Wider-spruch dem selbst Notwendigkeit innewohnt.*77 Und das be-deutet eben, daß dem Widerspruch selbst, ebenso in der Wirklichkeit wie auch in dem Fortgang unserer Kenntnis, bei ihm eine ganz andere Dignität zukommt als bei Kant, der ja einfach im Sinn der traditionellen Logik ganz harmlos und naiv sagt: »Wo ein Widerspruch ist, da muß es halt falsch sein*78 - wie wenn es uns verbrieft wäre, wie wenn wir es in der Tasche hätten, daß die Welt a priori so widerspruchslos organisiert ist wie das System der Umfangslogik, das wir über diese ja reichlich chaotische und schwierige Welt zu Zwecken ihrer wissenschaftlichen Beherrschung einmal ge-stülpt haben.

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie hier noch auf etwas aufmerksam machen. Kant ist hier nämlich noch an die Schwelle eines anderen Problems geraten, das man vielleicht bezeichnen könnte mit dem Problem der prima philosophia oder besser noch mit dem Problem des schlechterdings Er-sten. Denn darin, daß er zeigt, daß ebenso die Annahme einer absolut ersten Ursache auf Widersprüche führt, wie umge-kehrt, daß das Problem ohne eine solche Annahme auch nicht aufgeht, liegt ja bereits, daß der Begriffeines solchen absolu-ten Ersten selber auf sehr große Schwierigkeiten führt. Auf der anderen Seite war aber Kant darin ganz und gar Cartesia-ner, also hat, ganz und gar wie Descartes nach einem Resi-duum des absolut Gewissen, ein zweites - freies - gesucht,79

73

Page 37: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

das man fest in der Hand hat und von dem aus alles andere sich ergibt, als daß er nun die Konsequenz gezogen hätte, die eigentlich in der Antinomienlehre selber drin steckt, daß nämlich die Frage nach einem solchen absolut Ersten selber eine Trugfrage sein könnte.80 Sie haben hier wieder den eigentümlichen Januscharakter der Kantischen Philosophie, und zwar gerade am Ursprung der praktischen Philosophie: daß er auf der einen Seite durch seine durchgeführten Analy-sen dazu gedrängt wird, zu sehen, daß eine solche Verabsolu-tierung des Ersten - sei es nun die der Kategorie der Kausali-tät als solcher oder sei es die der Freiheit als solcher, wclche der Kausalität vorausgehen soll - notwendig auf Widersprü-che führt und sich nicht auflösen läßt, daß er aber trotzdem an der Idee eines Absoluten und Primären festhält.81 Und das bringt ihn dazu, deshalb ist das für die praktische Philosophie so wichtig, mit einem Gewaltstreich eben dann doch die Frei-heit als ein Gesetz sui generis zu etablieren, das dann im Sinn des Primats der praktischen Vernunft schlechterdings am Anfang überhaupt stehen soll. Denn Sie werden bald erfah-ren, daß innerhalb des Kantischen Systems schließlich eben doch bereits das herrscht, was dann bei Fichte ganz krass her-vorgetreten ist: daß nämlich der praktischen Vernunft, also der Tat, gegenüber der theoretischen Erkenntnis ein absolu-ter Vorrang zugesprochen wird. Kant ist also auch darin -ganz ähnlich übrigens wie Hegel - in einer prekären Situa-tion, daß er auf der einen Seite, durch die ungeheure Konse-quenz mit der er die Ursprungsphilosophie weitertreibt, auf ihre eigene Grenze stößt, also darauf, daß der Begriff des schlechterdings Ersten antinomisch ist, er auf der anderen Seite aber daran festhält und sich deshalb dagegen sträubt, eine solche Antinomik wirklich auszutragen. Diejenigen von Ihnen, die sich mit Hegel beschäftigen werden, die werden finden, daß dieser Widerspruch, und zwar als ein nicht be-wältigter, als ein einfach so hingenommener Widerspruch, bei Hegel stehenbleibt, bei dem ja schließlich trotz aller Dia-lektik am Ende - ganz ähnlich wie bei Kant — so etwas wie ein

102

absolut Erstes, nämlich das in sich unendliche Subjekt, der absolute Geist eben, herrschen soll.82 Man könnte dem viel-leicht im Augenblick etwas allgemeiner die Wendung geben, daß es zwar ein Erstes als ein Moment von Unmittelbarem gebe, aber wirklich nur als ein Moment - denn das Kausierte, Gewordene ist durch sein Gewordensein immer ja schon ver-mittelt, und ebenso ist die causa vermittelt, denn die causa ist immer nur Ursache, insofern sie Ursache von dem ist, was sie kausiert und nicht von etwas schlechthin —, daß aber dieses Moment von Unmittelbarkeit oder von einem Ersten von Gegebenem nicht als eine absolute und positive Unmittel-barkeit gesetzt werden kann. Und auch diese dialektische Konsequenz könnten Sie aus der Kantischen Antinomien-lehre ziehen.

Aber wenn Sie einmal von diesen Lehren, die ich versucht habe aus der Antinomienlehre abzudestillieren, absehen, so bleibt eben doch ein großes Maß an Schwierigkeiten beste-hen. Zunächst beziehen sich diese Schwierigkeiten auf das Verhältnis der bei Kant zur Diskussion gestellten und zur Konstellation gebrachten Begriffe Kausalität, Gesetz und Freiheit. Und ich glaube, die meisten von Ihnen werden die Schwierigkeiten, die ich hier meine, schon ganz einfach und mit Recht registriert haben an dem absonderlichen Kanti-schen Sprachgebrauch, der daraufhinausläuft, von einer be-sonderen Kausalität, nämlich von Kausalität aus Freiheit zu reden, während doch nach den Vorstellungen, die wir zu-nächst allesamt an diese Begriffe heranbringen, Kausalität, also die strikte gesetzmäßige Determiniertheit durch Ursa-chen, gerade der Gegensatz sein soll zu eben jenem anderen, das wir im allgemeinen mit Freiheit meinen. Tatsächlich ist der punctum saliens - und zwar nicht nur für die Kantische Philosophie, sondern, man könnte sagen, überhaupt für je-den Begriff der Moralphilosophie - wie diese Begriffe von Gesetz und Freiheit miteinander zusammengebracht werden. Zunächst ist — damit Sie nicht glauben, daß in dieser Lehre von Kant, wo mit den Begriffen Freiheit, Gesetz und Kausa-

75

Page 38: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

lität so merkwürdig umgegangen wird, nun die pure Willkür herrsche - daran zu erinnern, daß bei Kant der Begriff der Kausalität außerordentlich weit gefaßt ist. Ich glaube, das ist mit Hinsicht auf das ganze Determinismusproblem in der modernen Naturwissenschaft auch wichtig sich einmal zu vergegenwärtigen. Man hat wohl in den an Kant anschlie-ßenden naturwissenschaftlichen Diskussionen, zum Beispiel bereits in denen über die Einsteinsche Relativitätstheorie und sicherlich gar mit Hinblick auf die Quantentheorie, den Kantischen Kausalitätsbegriff, die Kantische Lehre von der Kausalität immer viel zu eng gefaßt. Auch dieser Begriff der Kausalität ist bei Kant außerordentlich weit, das heißt, er ist außerordentlich formal, und ich würde denken, daß seiner-zeit Ernst Cassirer in der berühmten Auseinandersetzung mit der Einsteinschen Relativitätstheorie gar nicht so Unrecht hatte, wenn er geglaubt hat, daß auf Grund eben dieses for-malen Charakters der Kantischen Philosophie diese auch etwa der Relativitätstheorie Raum lassen würde.83 Sie erin-nern sich vielleicht an die Formulierung, die ich Ihnen verle-sen habe, daß »alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus [setze], auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt«84. Dieses »unausbleiblich nach einer Regel folgt« kann hier gar nichts anderes heißen, als daß uns ein allgemeines Gesetz angibt, daß jedesmal, wenn ein Zustand oder ein Er-eignis von der Form A vorliegt, darauf ein Zustand von der Form B folgen müsse; und Kant würde der erste sein, dem hinzuzufügen - damit sind wir auf ganz strikt Kantischem Boden-: >Wenn das nicht klappt, also wenn etwas anderes geschieht, dann müssen wir nach einer weiteren, höheren Regel suchen, die angibt, warum dies nicht der Fall ist.<

An diesem Kausalitätsbegriff fällt zunächst einmal - und ich appelliere hier sozusagen an Ihr naives, von Philosophie nicht verdorbenes Bewußtsein - eine bestimmte Art der Äußerlichkeit auf. Ich meine dieses Moment der Äußerlich-keit gar nicht kritisch oder polemisch gegen Kant, sondern es ist das eine Intention, die in der »Kritik der reinen Vernunft«

102

sehr stark ist und die man verstehen muß, wenn die Kanti-sche Philosophie überhaupt verstanden werden will. Kant ist kritisch gegen den Rationalismus der Leibnizschen und der Wolffischen Observanz in dem Sinne gewesen, daß er gegen das Prinzip einer inneren Verursachung - also einer Verursa-chung von Dingen an sich oder Gegenständen an sich, unab-hängig von dem Subjekt, das ihnen erst die Gesetzmäßigkeit der Kausalität verleiht - außerordentlich kritisch gewesen ist; und er hat vor allem in dem Kapitel über die > Amphibolie der Reflexionsbegriffe<, in einer sehr wichtigen Anmerkung, ge-radezu gegen den Begriff, daß man das Innere der Gegen-stände und ebenso ihre innere Determiniertheit erkennen könne, aufs heftigste polemisiert.85 Wenn Sie sich eine Se-kunde lang daran erinnern, daß es zunächst einmal eine der Generalthesen der Kantischen Philosophie ist, die Ihnen allen gegenwärtig ist, auch soweit Sie nicht an die dynamischen Kategorien denken, daß die Dinge an sich uns unerkennbar und dunkel seien - und daß wir statt dessen nur vermöge unseres kategorialen Apparates und des Sinnenmaterials diese Gegenstände uns aufbauen, daß wir also auch die Ge-genstände sozusagen von außen her und mit Hilfe unseres eigenen Bewußtseins komponieren und nicht etwa in sie eindringen - , dann wird es Ihnen ohne weiteres auch schon evident sein, daß Kant die Vorstellung, daß man die Verur-sachung oder die Dynamik der Dinge in ihnen selbst wahr-nehmen könne, ebenfalls verworfen hat. Es würde wahr-scheinlich sogar bereits die Reflexion auf diese Kantische Bestimmung des Gegenstands als eines erst von uns konstitu-ierten hinreichen, um auszuschließen, daß wir nun diesen Gegenständen, die selbst unsere Produkte sind und von deren Inwendigem wir gar nichts wissen, ein solches Inneres zu-schreiben könnten, wie das in der vorhergehenden rationali-stischen Philosophie eben der Fall war. Aber genau diese Äußerlichkeit hat nun natürlich auch deshalb ein Moment des Unbefriedigenden, weil unter einem solchen ganz forma-len Zusammenhang von Regelhaftigkeit alles mögliche auch

77

Page 39: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

zu subsumieren ist, was dem, was man sich unter Kausalität vorerst einmal vorstellt, gänzlich widerspricht, und es ist ja doch wohl keine schlechte Regel des philosophischen Den-kens, daß man nicht einfach und ohne weiteres den Begrif-fen, die man verwendet, ganz andere, nämlich nur vom eige-nen System her definierte Bedeutungen unterlegt, als diese in der Sprache haben und die man gewissermaßen von ihnen verlangt. Also, im Sinne eines solchen Zusammenhangs nach Regeln würde die heute in der Quantenmechanik behauptete statistische Gesetzmäßigkeit - an Stelle der einer Folge nach Regeln - in die Kantische Kausalität ebensogut hereinfallen wie alles andere auch.86 Es würde aber dadurch natürlich das, was wir uns alle zunächst einmal unter Kausalität vorstellen, verlorengehen. Die Antwort, die die fortschreitende Wissen-schaft daraufgegeben hat, ist keine andere als die, daß unser Bewußtsein an dieser Stelle gleichsam mythologisch sei, daß wir in unserem alltäglichen Bewußtsein der Entwicklung der wissenschaftlichen Kritik hinterherhinken und immer noch mit einer im Grunde animistischen Vorstellung einer inwen-digen Beseeltheit und inwendigen Determiniertheit der Dinge operieren, die, nachdem man diese Erkenntnisbegriffe einmal so gefiltert hat, wie es in der Erkenntniskritik gesche-hen ist, eigentlich gar nicht mehr gehalten werden kann. Diese sogenannte Äußerlichkeit der Kausalität, die im übri-gen ja die gesamte spätere positive Wissenschaft und vor al-lem der gesamte Positivismus mit Kant gemein hat, und die, wie bei Hume, noch unvergleichlich viel weitergetrieben ist als bei Kant, die rührt daher, daß Kausalität nicht in den Din-gen an sich waltet, sondern ein Ordnungsprinzip ist, nach dem das Subjekt die aufeinander folgenden Zustände mitein-ander vereinigt.87 Es hätte also somit die Kausalität nichts mit der Erklärung der Motivation zu tun, die sich anheischig macht, aufeinander folgende Zustände von innen her ver-ständlich zu machen, nämlich auf Grund unseres inneren Sin-nes, in dem ja Subjekt und Objekt, also unsere Erfahrung von uns selbst und wir selbst als das, was wir erfahren, mit-

102

einander koinzidieren oder koinzidieren sollen, so daß jenes Problem des Gegensatzes von innen und außen dabei gar nicht bestehen soll. Und infolgedessen — und das ist ein Mo-tiv, das besonders von Schopenhauer dann gegen Kant zur Geltung gebracht worden ist88 - hat man als eine besondere und von Kant eigentlich gar nicht berücksichtigte, ausge-zeichnete Art der Kausalität, nämlich einer Kausalität, die doch als eine von innen her möglich sei, eben die Motivation bezeichnet.89 Nun ist aber bei Kant - und deshalb habe ich auf diese merkwürdige Weite des Begriffs der Kausalität Wert gelegt - der Kausalitätsbegriff, das heißt also einfach dieses Aufeinanderfolgen von zwei Zuständen nach Regeln, so ge-artet, daß - obwohl im Sinn dieser naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit dabei an eine solche Koinzidenz von innen und außen nicht gedacht ist - innerhalb dieses Entwurfs von Kausalität eben doch Raum bleibt für das, was man Motiva-tion nennen kann, das heißt, für die Selbstgewißheit oder un-mittelbare Evidenz dessen, warum zwei Zustände aufeinan-der folgen sollen. Darauf, daß das so ist, wird zwar von Kant nicht reflektiert, aber es wird trotzdem bei ihm bis zu einem gewissen Grade daraus die Konsequenz gezogen, indem er nämlich sagt, daß es bestimmte Möglichkeiten von Kausali-tät - man könnte sagen, wenn man in der Sprache der Natur-wissenschaft reden wollte - , einen Spezialfall von Kausalität gibt, in dem diese Art der Äußerlichkeit, von der ich Ihnen gesprochen habe, nicht existiert, sondern eine Kausalität, wo wir selber innerhalb unseres Bewußtseinslebens eine Kausal-reihe absolut beginnen. Kant denkt dabei - er führt das nicht aus, aber das ist ohne alle Frage gemeint - einfach an den elementaren Tatbestand irgendeines Entschlusses.90 Ich erin-nere Sie an das unselige Buch, das ich gelegentlich auf diesen Tisch fallen lasse, wo ich also dadurch, daß ich selber, von mir aus irgend etwas dazwischenschalte, eine neue Kausal-reihe beginne, in die da an dieser Stelle eine Art von Zäsur gelegt wird. — Ich spreche hier sehr vorsichtig,91 denn in die-sem äußerst schwierigen und dunklen Gebiet hat Kant selber,

79

Page 40: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

und zwar mit gutem Grund, alles andere getan denn sich wirklich sehr klar und eindeutig ausgedrückt, weil das tat-sächlich auch sehr schwer möglich ist. Kant hat also offenbar angenommen, daß es im Rahmen dieser allgemeinen Kausa-lität so einen Punkt gibt, wo das Subjekt jedenfalls eingreift und von sich aus primäre Bedingungen setzt, von denen aus die Kausalreihe dann abläuft, und er hat geglaubt, daß in die-sem Bereich der Praxis, des praktischen Handelns, jedenfalls der Punkt, an dem eine solche neue Kausalreihe beginnt, an-zugeben sei, und daß deshalb in der Praxis, nämlich in dem motivierten Verhalten des Menschen, so etwas wie eine Aus-nahmesituation gegeben sei. Kant, der nun ungeheuer red-lich gewesen ist und ebenso scharfsinnig, hat keineswegs das Problem übersehen, das Ihnen an dieser Stelle allen auf den Lippen liegen wird, daß nämlich eine aus Freiheit kommende Verhaltensweise, wie die, daß ich also an einer bestimmten Stelle selbständig eingreife, ihrerseits auch in einen weiteren Kausalzusammenhang hineingeht. Wenn ich also, um noch einmal auf das blödsinnige Beispiel zu kommen, das Buch fallen lasse, so ist mir das zwar zunächst als mein freier Ent-schluß bestimmt, aber es liegen dabei doch eine ganze Reihe von weiteren Bedingungen vor, aus denen man das erschlie-ßen kann. Zum Beispiel, ich sehe mich veranlaßt, Ihnen die-ses Phänomen einer sogenannten Handlung aus Freiheit ir-gendwie zu demonstrieren und habe nichts anderes zur Hand als dieses verflixte Buch, ja, dann laß ich's dann halt eben fallen, und das kann man dann wieder weiter zurückführen auf alle anderen Dinge, die sich auf die Verinnerlichung des Pflichtbegriffs und Gott weiß auf was noch alles beziehen -ich meine, so hängen die großen und die kleinen Dinge halt auf eine etwas sonderbare Weise zusammen.

Kant würde das alles gar nicht leugnen, und es gibt eine Stelle - wir werden zur Behandlung dieser Stelle kommen - , bei der Kant durchaus einräumt, daß es eine solche allgemei-nere Determination auch der sogenannten freien Handlun-gen geben sollte.92 Aber Kant verhält sich in diesem Problem

102

und übrigens auch in einer Reihe von analog gelagerten Pro-blemen in anderen Teilen seiner Philosophie so, daß er dabei, ja, man würde mit einer viel späteren Terminologie sagen, phänomenologisch vorgeht. Das heißt, es kommt ihm dabei gar nicht darauf an, nun etwas über das letzte und absolute Wesen einer solchen Handlung auszusagen - auch darin würde er sich einer gewissen Äußerlichkeit befleißigen, wenn Sie so sagen wollen sondern statt dessen nur darauf, daß ich in diesem Augenblick das so erfahre: jetzt kann ich das Ding fallen lassen - und das ist etwas ganz anderes, als wenn ich einen Wasserhahn aufdrehe, und solange er aufgedreht ist, dann halt das Wasser herausläuft - , das ist zunächst ein-mal ein unmittelbar gegebener Tatbestand. Und ganz gleich-gültig, wie sich das um die absolute Stellung der beiden Ge-schehen innerhalb der totalen oder universalen Kausalität auch verhalten mag, im Sinn der unmittelbaren Erfahrung liegt eben an dieser Stelle ein Unterschied. Es gibt bei Kant eben - ich habe Ihnen das schon gesagt, Sie können hier vielleicht sehen, warum das so wichtig ist für das Verständ-nis der Kantischen Philosophie - keineswegs nur das syste-matische Motiv, aus bestimmten Einheitsmomenten einen möglichst lückenlosen Zusammenhang zu konstruieren, sondern an allen möglichen Ecken und Enden immer auch diesen Respekt vor dem, was gegeben, was - wenn Sie so wollen - selber nicht weiter ableitbar ist. Und er hat tatsäch-lich dann in der praktischen Philosophie die Freiheit oder vielmehr deren oberstes Prinzip, nämlich das Sittengesetz -das nichts anderes erheischt, als daß ich rein vernunftmäßig handle - selbst als eine Gegebenheit behandelt und als etwas, was man in einem gewissen Sinn gar nicht weiter ableiten kann, eben deshalb, weil es nämlich mit dem Prinzip der Vernunft selber identisch ist, welche ja allein eine solche Ableitung überhaupt erst vollziehen konnte. - Meine Da-men und Herren, ich lege deshalb so großen Wert darauf, Ihnen diese etwas verwickelten Dinge hier auseinanderzu-setzen, weil die wirklich für die Begründung einer Moralphi-

81

Page 41: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

losophie wichtig sind, weil, wenn man einfach beharrte zu sagen: es gibt zwar irgendwie im Absoluten so etwas wie Freiheit, aber sobald ich mich in das beschränkte Reich der Erfahrung, in die endliche Erfahrung hineinbegebe, da herrscht nur Kausalität und da ist von der Freiheit gar nichts zu finden, dann wäre mit der Angabe dieses Prinzips der Frei-heit für die Praxis selber überhaupt gar nichts getan. Denn die Praxis ist ja immer auch Praxis empirischer Menschen und Praxis, die sich auf empirische Gegebenheiten bezieht. Kant findet sich auch hier in einem gewissen Widerspruch. Er muß auf der einen Seite die Trennung des Intelligiblen und des Empirischen sehr streng durchhalten, denn es ist natürlich so, daß, wenn er das Intelligible oder Absolute selbst an em-pirischen Bedingungen festmachen würde, es diesen Charak-ter der Absolutheit und der absoluten Verbindlichkeit verlie-ren würde. Wenn aber auf der anderen Seite diese beiden Sphären absolut getrennt sind, absolut nichts miteinander zu tun haben sollten - wie es in manchen Formulierungen von Kant allerdings den Anschein hat - , dann wäre es überhaupt unmöglich, von irgendeiner Sittlichkeit und irgendwelchen Unterscheidungen wie dem richtigen und dem falschen Ver-halten zu reden, weil ja dann alles, was überhaupt auf tatsäch-liches Handeln sich bezöge, vollständig in den empirischen Bedingungen aufginge. Und deshalb muß Kant wie ein Ver-zweifelter danach suchen, etwas wie eine Sphäre zu finden, die, ja ich will nicht sagen, beides gleichzeitig wäre, aber in der ich doch mit einem gewissen Recht von der Gegebenheit eben dessen reden kann, was als ein in sich Unendliches, die Grenzen der Möglichkeit der Erfahrung Überschreitendes, als eine solche Gegebenheit innerhalb der Erfahrung eigent-lich gar nicht vorgestellt werden kann. Und das ist eben jene Möglichkeit, eine Kausalreihe in irgendeinem Sinn, in jedem Fall positiv anzusetzen. Ich sage Ihnen das deshalb und gehe auf diese Punkte im Zusammenhang mit den einschlägigen Kapiteln der »Kritik der reinen Vernunft« ein, weil das dann in der ausgeführten praktischen Philosophie von Kant die

102 82

sehr große Konsequenz hat, daß dann bei Kant die höchst merkwürdige Theorie auftritt - über die wir dann noch zu reden haben werden daß zwar alle meine Handlungen be-dingt seien im Sinn meines Charakters, aus dem sie notwen-dig fließen sollen, daß ich mir aber diesen Charakter selbst durch einen Akt von Freiheit geben soll.93 Mit diesem Akt von Freiheit kann gar nichts anderes gemeint sein als jenes, ich möchte sagen, zunächst rein epistemologische, erkennt-nistheoretische, Verhältnis, daß man als Mensch jedenfalls Fähig ist, Kausalreihen zu beginnen, deren Einbegriffensein in die universale Kausalität nicht ohne weiteres eingeschlos-sen ist. Daß dabei dann wieder die Theorie, daß ich mir mei-nen Charakter selbst gegeben haben soll, angesichts dessen, was wir nun empirisch heute vom Charakter wissen, der in einem weiten Maß durch unsere frühkindlichen Erfahrungen bestimmt und geformt wird, auf die größten Schwierigkei-ten fuhrt, das ist eine Sache für sich. Aber ich wollte zunächst hier gar nichts anderes, als Ihnen zeigen, erstens: warum Kant überhaupt zu dieser Konstruktion einer Kausalität aus Freiheit kommt, und zweitens: in welcher Weise er dann ge-drängt ist und woran er sich anlehnt für die Lösung, die er gibt.

Lassen Sie mich schließen, indem ich Ihnen nur noch mit ein paar Worten vielleicht noch einmal ins Gedächtnis rufe, warum er nun tatsächlich auf einer solchen Kausalität aus Freiheit besteht. Man könnte ja zunächst sagen: >Nun ja, Kausalität deshalb, weil die Kausalität auf Grund der Katego-rienlehre ein allgemeines Gesetz ist, dem schlechterdings al-les unterworfen sein kann und das keine Ausnahme duldet; und Freiheit deshalb, weil es ohne Freiheit ja eigentlich so etwas wie Vernunft und wie Menschheit überhaupt nicht gäbe.< Aber ich glaube, diese Darstellung ist doch noch zu vordergründig, es steht doch wohl in Wirklichkeit das dahin-ter - und das ist angedeutet in einer Stelle aus der Antino-mienlehre, auf die ich vielleicht in der nächsten Stunde doch noch mit ein paar Worten zu sprechen kommen werde - , daß

Page 42: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ein Verhalten, das überhaupt keine Kausalität kennt, das also absolut frei wäre, das ein Verhalten ohne jede Regel wäre, daß ein solches Verhalten das schlechterdings Chaotische wäre, und daß dann tatsächlich die amorphe, ungeformte Natur über jenes Vernunftprinzip triumphieren müßte, das ja von Kant in der »Kritik der Urteilskraft« ganz eindeutig an einigen Stellen gerade als die Kraft bestimmt wird, eben die-sem Chaotischen der Natur zu widerstehen. Ist auf der ande-ren Seite aber das Gesetz universal, so hört dadurch ebenso die Möglichkeit von Übernatur auf, das heißt, dann ist der Mensch seinerseits auch wieder nichts anderes als ein Stück dieser blinden Natur und kann nicht heraus. Die Vernunft fordert also in sich ebenso etwas wie eine universale Gesetz-mäßigkeit, weil sie nur als Gesetzmäßigkeit überhaupt die-sem Blinden und Amorphen zu widerstehen vermag, wie sie andererseits Freiheit fordert, weil Freiheit gegenüber diesem Amorphen der einzig mögliche Gegensatz überhaupt ist. Und diese doppelte Schwierigkeit, daß es so etwas wie die Sphäre des Humanen weder in absoluter Gesetzlichkeit noch in absoluter Freiheit geben kann, die ist eigentlich der tiefste Grund dafür, daß Kant zu dieser paradoxalen Konstruktion einer Kausalität aus Freiheit sich gedrängt sieht.94 - Ich danke Ihnen.

102

6 . VORLESUNG

30. 5- 1963

Meine Damen und Herren,

ich muß zunächst etwas ansagen. Die Vorlesung heute in vier-zehn Tagen muß ich ausfallen lassen wegen der Teilnahme an dem Europa-Gespräch in Wien.95 Der darauffolgende Don-nerstag fallt sowieso aus wegen Fronleichnam, so daß wir uns erst wiedersehen heute in drei Wochen.96

Ich möchte zunächst noch einmal ein wenig die Dinge zu-sammenfassen, die ich vielleicht am Ende der letzten Vorle-sung etwas gar zu hastig formuliert hatte, und möchte dann die Stunde heute wesentlich dazu benutzen, anhand von rela-tiv nahen Interpretationen des Kantischen Textes Ihnen eini-ges zu sagen über das Verhältnis von theoretischer und prak-tischer Philosophie bei Kant. Zunächst ist es also so, daran darf ich Sie erinnern, daß die Schwierigkeit, mit der wir es hier in der Antinomienlehre von Kant zu tun haben, darauf zurückgeht, daß die Kantische Philosophie selbst einen Dop-pelcharakter hat. Dem kritischen Moment, also der Auflö-sung dogmatischer Vorstellungen, die einfach so übernom-men sind und die er durch den Rekurs auf die konstitutive Subjektivität überwindet - wobei er aber zugleich auch die Grenzen bestimmt, die dadurch gesetzt sind, daß Erkennt-nisse, die das naive Bewußtsein als Erkenntnisse von Dingen an sich zu verstehen geneigt ist, in Wirklichkeit solche sind, die eben bloß in Subjektivität selber entspringen und deshalb nicht dem Sein unmittelbar zugeschrieben werden können - , dieser einen Intention Kants steht die andere und mindestens ebenso starke gegenüber, daß er nun versuchen möchte, nicht nur durch diese subjektive Analyse hindurch den objek-tiven Charakter der Erkenntnis zu retten, sondern daß er überhaupt versuchen möchte, das, was man vor ihm Ontolo-gie genannt hat, und was man heute ja wieder Ontologie zu nennen geneigt ist, in einer Sphäre, nämlich der Sphäre des

85

Page 43: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Intelligiblen - und das will bei ihm vorab heißen: in der Sphäre des Moralischen oder der Freiheit - zu erretten. Die-ser Doppelcharakter motiviert eigentlich die seltsame Stel-lung, die Kant dem Problem der Freiheit gegenüber ein-nimmt. Wenn man sagt, daß die Lehre von Kausalität und Freiheit in der »Kritik der reinen Vernunft« antinomisch dar-gestellt sei, so gibt das eigentlich den ganzen Sachverhalt des-halb nicht wieder, weil ja als das Resultat der Analyse der dritten Antinomie nun nicht übrig bleibt: es kann so sein und es kann auch so sein, sondern im Sinn der Analyse der »Kritik der reinen Vernunft« ist es eigentlich so, daß die Frage nach Freiheit und Bedingtheit selber eigentlich abgeschnitten wird, daß gesagt wird, wenn ich überhaupt so frage, dann begehe ich damit bereits einen Fehler, über den ich nicht hin-auskomme. In der Konsequenz heißt das, daß, wenn ich die Frage nicht aufwerfen darf, ich dann eigentlich verbleibe in dem empirischen Bereich, in dem die Kausalität herrscht, und daß ich nur von dieser Kausalität selber nicht behaupten darf, daß sie ein absolut im Bereich der Dinge an sich Gelten-des sei. Aber die Entscheidung ist doch in der »Kritik der reinen Vernunft«, jedenfalls in der Antinomienlehre, im Sinn des theoretischen Vernunftgebrauchs, zugunsten der Kausa-lität eigentlich gefallen - nur mit diesen Einschränkungen, die wir behandelt haben.97 Im Gegensatz dazu nun drückt die andere Seite - die ontologische oder die, wie soll man sagen, rettende oder bewahrende Seite von Kant oder auch die Seite, die der universalen Skepsis des konsequenten Nominalismus sich entgegensetzt - sich nun in einer Lehre aus, die in der Antinomienlehre in dieser Weise eigentlich gar nicht vor-kommt, nämlich in der Lehre, daß die Sphäre des Morali-schen als eine von der Erkenntnissphäre prinzipiell verschie-dene Sphäre nun allerdings positiv die Sphäre der Freiheit sei, oder wie es an einer sehr exponierten Stelle von Kant heißt: >daß im moralischen Bereich die Freiheit ihrerseits eine Tat-sache der Erfahrung sei.<98 Welchen Sinn man dieser sonder-baren These von der Erfahrung der Freiheit zu geben hat, das

102

habe ich ja versucht Ihnen das letzte Mal auszuführen, als ich mit Ihnen Erwägungen über den Begriff der Motivation und über den Doppelcharakter des Gesetzes anstellte. Aber man kann jedenfalls folgendes noch einmal zusammenfassen als den Sinn der Lehre von der dritten Antinomie, also der Anti-nomie von Kausalität und Freiheit. Herrscht Kausalität abso-lut, gibt es also nichts anderes als das Kausalgesetz, so würde man damit die von den Menschen den Dingen an sich, von denen sie eigentlich nichts wissen, auferlegte gesetzmäßige Ordnung, also das, was zu der Beherrschung der außer-menschlichen und auch der innermenschlichen Natur not-wendig ist, zu einem Absoluten machen. Man würde dem Absoluten selbst den gleichen Charakter der Blindheit und der Äußerlichkeit verleihen, der, wie ich Ihnen das letzte Mal unter Bezugnahme auf Kant auseinandergesetzt habe, auch im Sinn von Kant selbst, der Naturkausalität und der Er-kenntnis nach Kategorien überhaupt zukommt. Die Natur-beherrschung — und damit könnte man sagen: als blinde Herrschaft eigentlich bloße Natur - würde dann zu einem Absoluten werden.99 Gäbe es aber andererseits nun nichts an-deres als Freiheit, so wie Kant sich ausdrückt: »Freiheit ohne einen Leitfaden< oder ohne ein Gesetz, nach dem der Zusam-menhang der Erscheinungen konstituiert wird, dann wäre das eine solche Freiheit, der das Moment der Gesetzmäßig-keit ganz abgeht, und ebenfalls ein Rückfall in ein bloßes Na-turverhältnis, nämlich in den chaotischen Zustand der Natur als einer bloßen Beliebigkeit. Und es ist interessant, daß auf der rechten Seite, also in der Kritik der Konsequenzen, die die Lehre von der absoluten Freiheit hätte, Kant gerade von die-ser Möglichkeit den Ausdruck »blind«100 ebenso braucht, wie er ihn gebrauchen könnte, wenn auf der anderen Seite nichts anderes als Kausalität herrschen würde. Und seine Philosophie insgesamt steht gegen beides, also ebenso gegen die Verabsolutierung des mechanischen Prinzips - und die Kritik dieser Verabsolutierung des mechanischen Prinzips ist wesentlich der Inhalt der »Kritik der Urteilskraft« - wie auf

87

Page 44: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

der anderen Seite auch gegen das Amorphe, Zufällige und Beliebige, demgegenüber Kant keine Sekunde abläßt von dem Gedanken, daß die Einheit, die in unserer Vernunft zu finden ist, selber auch den Dingen an sich zugeschrieben wer-den muß, wenn die Dinge an sich nicht wirklich chaotisch, ein Rückfall in das völlig Blinde und Unorganisierte sein sol-len. Über den Gedanken, daß die von der Organisation des vernünftigen Logos der Welt aufgezwungene Einheit not-wendig auch eine Bestimmung der Welt selber sein muß, darüber möchte ich jetzt nicht reden. Es will mir allerdings scheinen, als ob an dieser Stelle in der Kantischen Philosophie selbst ein entscheidender Fehlschluß stecke, der dann in der ganzen nachkantischen Philosophie sehr verhängnisvoll sich geltend gemacht hat, indem nämlich nun doch die Kategorie der absoluten Einheit hypostasiert und dem Absoluten zuge-schrieben wird. Und dagegen haben ja nun gerade die bedeu-tendsten und freiesten der deutschen Idealisten - ich denke da vor allem an das, was man den philosophischen Gehalt von Hölderlin nennen könnte - aufs allerschroffste sich aufge-lehnt, und diesen Gedanken der Verabsolutierung des Einen und der Einheit so interpretiert, daß die wahre Einheit eigentlich die Versöhnung des Vielen sei und nicht eine Identi-tät, die indem sie sich herstellt, eigentlich bereits dem Gewalt antut, worüber sie ergeht.101 Das ist eine Wendung des Gedan-kens, die selbstverständlich auch für die Moralphilosophie von der allergrößten Bedeutung ist, weil sie eben wirklich über jenes Kantische und Fichtesche Motiv hinausführt, daß das, was wirklich ist, eigentlich nichts anderes als ein Rohma-terial für die Verwirklichung der Einheit der bloß menschli-chen Vernunft ist. Aber dieses sehr weit führende moralphilo-sophische Moment möchte ich jetzt nur anführen.

Die Kantische Konstruktion jedenfalls, das können Sie vielleicht jetzt erkennen, ist eine Konstruktion vom terminus ad quem her, das heißt, die ganze Antinomienlehre geht eigentlich darauf hinaus, so etwas wie das Moment von Ge-setzmäßigkeit und Einheit auf der einen Seite und von Frei-

102

heit zusammenzubringen. Und von dieser im Grunde in sich selbst widerspruchsvollen These aus, die bewiesen werden soll, erklären sich dann die Aufweise der Widersprüche, in die die Lehre von Kausalität und Freiheit führt, wobei es aber andererseits das sehr Großartige wiederum an Kant ist, daß er diese Widersprüche vollkommen uneingeschränkt zutage bringt. Daß diese Dialektik tatsächlich nicht nur eine Dialek-tik unseres falschen Vernunftgebrauchs ist, sondern daß sie in der Sache selbst steckt, das nun allerdings zeigt sich dann in einem späteren Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft«, auf das ich auch deshalb eingehen möchte, weil es im allgemei-nen, würde ich denken, in seiner sehr grundsätzlichen Be-deutung für die Kantische Begründung der Moralphiloso-phie außerordentlich unterschätzt wird. Es steht nämlich in der >Methodenlehre< der »Kritik der reinen Vernunft«, im »Kanon der reinen Vernunft«, und dieser ganze zweite Teil der »Kritik der reinen Vernunft« wird sowieso viel zu wenig berücksichtigt, und heißt: »Von dem letzten Zwecke des rei-nen Gebrauchs unserer Vernunft«. Diese Lehre von dem letz-ten Zweck der reinen Vernunft, die trägt deshalb so Ent-scheidendes bei zu der Lehre von dem Widerspruch und der Erkenntnis des Widerspruchs, mit dem wir uns in den letzten Stunden abgegeben haben, weil nun als dieser letzte Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft die Praxis hervor-tritt, weil also der letzte Zweck der reinen Vernunft die Pra-xis, das Handeln und nicht die theoretische Erkenntnis oder, wie es in diesem Abschnitt bei Kant durchgängig heißt, nicht die >Spekulation< sein soll.102 Und dadurch kommt nun das Merkwürdige und wirklich Widerspruchsvolle, das über die Antinomienlehre hinaus Widerspruchsvolle zustande, daß zwar im Sinn der Antinomienlehre, kann man sagen, doch die Kausalität triumphiert, weil wir im Bereich der Erfah-rung nur kausal denken dürfen - weil, wenn wir über das Bereich der Erfahrung hinausgehen, gleich, ob wir da nun Kausalität lehren oder leugnen, wir eben in unauflösliche An-tinomien geraten —, während nun hier unter dem Gesichts-

89

Page 45: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

punkt des Primats der Praxis eigentlich in einer genau so ein-deutigen Weise, wenn Sie mir die strategische Redeweise ge-statten, der Triumph der Freiheit herausschaut. Man könnte also sagen, daß, während Kant zwar die Antinomik der rei-nen Vernunft kritisiert, die Notwendigkeit dieser Antinomik dadurch in der Kantischen Theorie selber doch hervortritt, als seine eigene Philosophie eigentlich daraufhinausläuft, daß er sagt: in dem theoretischen Bereich gilt eigentlich nur Kau-salität und in dem praktischen Bereich gilt also nur Freiheit, ohne daß dieser Widerspruch dann noch einmal von ihm an-ders als in einer fernen und vagen Hypothese aufgelöst würde. So daß also dann doch die zunächst einmal glücklich aufgelösten Antinomien, die scheinbar nur durch einen fal-schen Gebrauch unserer Vernunft sich ergeben, das letzte Wort dadurch behalten, daß in der Konstitution der beiden Hauptsphären der Philosophie überhaupt, nämlich in der theoretischen und der praktischen Philosophie, jeweils die eine und die andere Seite dieser Antinomik sich bekunden.

Dieses vorausgeschickt, darf ich mich nun also diesem Ka-pitel der >Methodenlehre< zuwenden. Da ist also zunächst die Rede >von dem letzten Zwecke des Gebrauchs unserer Ver-nunft^ Kant sagt: »Die Vernunft wird durch einen Hang ih-rer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst blo-ßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden.« 103 Wenn man hier bei Kant von dem »Hang ihrer Natur« liest, dann ist, wenn anders man den Naturbegriff richtig versteht, wie ihn Kant aus dem 18. Jahrhundert und vor allem von Rousseau ja übernommen hat, mit Natur hier nicht etwas bloß Psychologisches gemeint — daß wir halt so >geartet< seien, daß wir unsere Vernunft bis ins Absolute sel-ber treiben - , sondern >Natur< muß man hier doch wohl so streng nehmen, daß damit gemeint ist, daß die Vernunft durch ihr eigenes Wesen dazu getrieben wird, über die Gren-

102

zen der Möglichkeit der Erfahrung hinauszugehen. Dieser Gedanke nun, meine Damen und Herren, ist tatsächlich außerordentlich plausibel und außerordentlich einleuchtend. Wenn Sie sich erinnern an die Behandlung der dritten Anti-nomie, dann läuft ja eigentlich diese Behandlung darauf hin-aus, daß der Fortgang ins Unendliche abgeschnitten wird. Es ist, wenn man sich so volkstümlich ausdrücken möchte, wie Kant es im Zusammenhang mit diesen Problemen zuweilen nicht verschmäht, ein bißchen so, wie wenn er hier - und das ist nun sehr bürgerlich karg, halt so ein Moment von bürger-licher Sparsamkeit - der Vernunft sagen wollte: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich!< und: »Treibe nur gar keinen zu großen Aufwand, denn sonst machst du gewissermaßen Schulden, die du in der Erfahrung nicht einlösen kannst, und dann gehst du schließlich bankrotte Dieses Einschränkende selber hat nun aber objektiv deshalb ein Unbefriedigendes, weil es ja der Vernunft gewissermaßen gewaltsam wider-fährt, das heißt: weil das Abbrechen der Vernunft der Forde-rung der Vernunft, sich nun wirklich nicht aufhalten zu las-sen, sich nicht von einem ihr Äußerlichen sistieren zu lassen, widerspricht — weil die Vernunft ja als ihr Korrelat die Idee der Wahrheit hat. Vernunft ist eben der Inbegriff des Be-wußtseins, das sich auf Wahrheit richtet - so könnte man sie vielleicht im emphatischen Sinn definieren. Und wenn sie nun stillgestellt, abgeschnitten, sistiert wird und ihr gesagt wird: das, was deine eigene Idee ist, nämlich die Wahrheit, darauf mußt du verzichten, dann wird die Vernunft aus lauter Vernünftigkeit, um sie zur Räson zu bringen sozusagen, an dem behindert, in dem beschnitten, was ihr eigener Begriff eigentlich von ihr fordert. Und das ist nun tatsächlich genau das, was in der Antinomienlehre erfolgt, und wenn die Anti-nomienlehre darum doch nicht voll befriedigt, und wenn Kant zu den Erwägungen übergeht, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, dann liegt darin im Grunde nichts anderes als die Erinnerung, daß ein solches willkürliches Abbrechen, ein in der Bestimmung der Wahrheit einen Block setzen,104 dem

91

Page 46: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Begriff der Vernunft, die in sich die Idee der Wahrheit als eines Absoluten meint, eigentlich nicht angemessen ist. Des-halb, meine Damen und Herren, meine ich, müssen wir also gerade diese - bei Kant übrigens wiederholt vorkommende — Formulierung von dem >Hang der Natur< oder von den W i -dersprüchen, in welche die Vernunft sich verwickelt«, außer-ordentlich schwer nehmen. Das heißt, das Abbrechen im Fortgang der Vernunft, das Kant eigentlich fordert, ist mit ihr genau so wenig vereinbar wie auf der anderen Seite ihr unbeschränkter Fortgang, wie er uns sehr plausibel gezeigt hat, mit ihr auch unvereinbar ist, das heißt, auf Widersprüche führt. Und ich glaube, nur wenn man diese andere Seite überhaupt des ganzen Antinomienproblems mitdenkt, nur dann versteht man eigentlich so recht, worum es hier in die-ser ganzen Sache geht.

Er spricht nun hier stillschweigend von dem spekulativen Interesse« der Vernunft dort, wo es sich um das theoretische Interesse handelt, wobei man wohl terminologisch sagen darf, daß bei ihm die theoretische Vernunft immer dann spe-kulativ heißt, wenn sie über die Grenzen der Möglichkeit hinausgeht, wenn sie also transzendent gebraucht wird; wo-bei aber bei ihm nun der Begriff des Spekulativen durchaus schon einen abschätzigen, einen geringschätzigen Charakter hat, während der Begriff des Spekulativen von seinen Nach-folgern wieder zu Ehren gebracht worden ist - und Sie kön-nen vielleicht an dieser Stelle auch verstehen warum - , weil die eben gesehen haben, Fichte und Hegel, daß genau jenes Sichbescheiden, das hier Kant der Vernunft zumutet, eigent-lich mit ihrem eigenen Begriff überhaupt nicht wirklich zu vereinbaren ist. Er fährt dann damit fort, daß er sagt, er wolle »bei Seite setzen,« was »die reine Vernunft in spekulativer Absicht«, also in Absicht auf die transzendenten Ideen, er-reicht hätte und will statt dessen nur sich danach fragen, ob diese letzten Bestimmungen: Gott, Freiheit und Unsterblich-keit eigentlich von einem theoretischen Interesse überhaupt seien oder ob sie das nicht seien. Er bringt nun hier folgende

102 92

Formulierung, die Ihnen vielleicht das zeigt, was ich Ihnen vorhin unter dem Begriff der Hypostase der Einheit bei Kant zu charakterisieren versucht habe: »Ich will das Glück, wel-ches die reine Vernunft in spekulativer Absicht macht, jetzt bei Seite setzen, und frage nur nach denen Aufgaben, deren Auflösung ihren letzten Zweck ausmacht, sie mag diesen nun erreichen oder nicht, und in Ansehung dessen alle andere bloß den Wert der Mittel haben.«105 Und nun sagt er hier einen erstaunlichen Satz, um den er sich dann später nicht mehr kümmert: »Diese höchste Zwecke werden, nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern.«106 Sie sehen also, daß er hier doch das Einheitsprinzip, das in der Vernunft und damit auf der Subjektseite liegt, in Gestalt eines Postulats auf das Absolute, auf die Dinge an sich überträgt, das heißt, im Grunde steckt darin eben doch so etwas wie eine einheitliche und auf einen einheitlichen Schöpferwillen zurückgehende Weltordnung. Es ist das gewissermaßen die Nahtstelle zwi-schen der Kantischen Philosophie und der christlichen Theo-logie, in welche ja in ihren Schluß teilen die »Kritik der prak-tischen Vernunft« bei Kant tatsächlich übergeht. Er sagt also, daß die Endabsicht der Spekulation auf die »drei Gegen-stände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes« hinausliefe, und er fügt daran nun die sehr merkwürdige Konsequenz an, die ich Ihnen doch verle-sen möchte: »In Ansehung aller dreien ist das bloß spekula-tive Interesse der Vernunft nur sehr gering, und in Absicht auf dasselbe würde wohl schwerlich eine ermüdende, mit un-aufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transzenden-taler] Nachforschung übernommen werden, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber zu machen sein möchten, doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d.i. in der Naturforschung, seinen Nutzen bewiese.«107

Diese Stelle ist deshalb so merkwürdig, weil sie in die Kan-tische Philosophie, soweit sie nämlich theoretische Philo-

Page 47: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

sophie ist, einen höchst eigentümlichen pragmatischen Ton bringt, den Sie bei Kant am allerletzten erwarten werden und der vielleicht aber sich damit zusammenreimt, daß ja die »Kritik der reinen Vernunft« ein Motto von Bacon hat, bei dem Sie solche Sätze wie den, den ich Ihnen eben verlesen habe, viel eher gewärtigen würden. Es ist so, und das ist ein bißchen paradox, daß die von Kant als theoretisch bestimmte Sphäre, die ja bei ihm im Grunde in der »Kritik der reinen Vernunft« definiert ist durch die theoretische Physik und durch die Mathematik, also insgesamt durch die mathemati-schen Naturwissenschaften, eigentlich gleichbedeutend ist mit Praxis, in dem nun etwas engeren und beschränkten, wirklich etwas, man muß schon sagen, spießbürgerlichen Sinn des: >Was habe ich davon? Was kann ich damit machen? Wie kann ich dabei in der Technik der Naturbeherrschung fortschreiten?< - ganz ähnlich wie empirische Wissenschaft und die Möglichkeit von Naturbeherrschung in dem »No-vum Organum« von Bacon bestimmt sind, über das ich Sie in diesem Zusammenhang sich zu orientieren bitte. Diese beiden Vorstellungen von Praktizismus und Naturbeherr-schung konvergieren, so daß also - um Ihnen das Paradox zu zeigen - gerade die theoretische Vernunft, insoweit sie es nämlich nur mit Naturerkenntnis zu tun hat, bei Kant an den Maßstab der Praxis in einem gewissen Sinn gebunden ist, nämlich in dem Sinn: >Was kann ich damit anfangen? Wie fuhrt mich das weiter? Was habe ich sozusagen davon?< Und das ist, glaube ich, ganz gut, daß man auch Kant gegenüber die Freiheit gewinnt, solche Konsequenzen sich klarzuma-chen, die zu der höchst sonderbaren These führen - über die man so hinwegliest, und die doch eigentlich etwas Ungeheu-erliches ist daß er sagt: >Also die Existenz Gottes, die Mög-lichkeit der Unsterblichkeit und die Freiheit, ja, da ich damit in der Welt der Erfahrung doch nichts anfangen kann, kann mir das ja nun vollkommen gleichgültig sein.< Diese Ansicht setzt doch zunächst einmal sich ganz einfach darüber hinweg, daß, wenn der Tod das Letzte ist, wenn nichts anderes ist als

94

dieses bißchen Leben, das wir da haben, und wenn wir einem blinden Prinzip oder einem Nichtprinzip, einem Blinden völlig ausgeliefert sind, dadurch unsere ganze Existenz einem Maß an Sinnlosigkeit unterworfen wird, von dem ja nun ge-rade die moderne Philosophie auch in ihren weniger strengen Versionen einen nur allzu ausgiebigen und allzu populären Gebrauch gemacht hat. Ich meine, die Tatsache, daß ich mit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nichts anfangen kann, die kann doch mich und uns, meine Damen und Herren, nicht darüber betrügen, daß unser ganzes Leben, jeder Augen-blick, den wir überhaupt leben, einen vollkommen anderen Aspekt gewinnt, je danach, ob das nun wirklich alles ist oder ob es nicht alles ist. Und es ist kaum zu verstehen, daß ein Denker von metaphysischem Ingenium wie Kant über dieses doch zunächst einmal Allerelementarste sich hinweggesetzt hat, während der böse, antimoralische und antichristliche Nietzsche allein in dem Satz: »Doch alle Lust will Ewig-keit«108 genau auf dieses Moment hingewiesen hat, wie ent-scheidend also nun wirklich von Unsterblichkeit - um es ein-mal so auszudrücken - auch das abhängt, was sich in der Welt hier bewegt, und wie umgekehrt, könnte man hinzufügen, auch die Lehre von diesen Ideen verklammert ist mit dem, was wir hier erfahren. Aber das ist nun wirklich der Nerv dieser ganzen Kantischen Argumentation, daß diese Ideen, weil wir mit ihnen im Sinn der Naturerkenntnis und der Na-turbeherrschung nichts anfangen können, für uns gleichgül-tig sind. Es gibt also bei Kant eigentlich nur auf der einen Seite die Sphäre der Naturerkenntnis im Sinn eines hem-mungslosen Pragmatismus: >Was kann ich damit machen?< und auf der anderen Seite die Sphäre der Moral als die Sphäre der absoluten Gültigkeit von Vernunftgesetzen. Aber diese Dinge klaffen so vollkommen auseinander, daß dadurch selbst solche doch wirklich einfachen und sich aufdrängen-den Fragen, wie die, die ich Ihnen eben genannt habe, einfach durch diesen Schnitt wie in einem Graben versinken und nicht mehr sichtbar werden.

119

Page 48: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Meine Damen und Herren, es ist vielleicht manchem von Ihnen schon so gegangen, daß Sie an die Philosophie nun tat-sächlich mit der Erwartung herangegangen sind, daß Sie hof-fen, auf solche Fragen wie: >Ist denn das nun alles?< oder: >Was wird denn dann?< - ich meine: auf diese Fragen, die von Kant hier als theoretisch irrelevant abgeschoben werden - Ant-wort zu bekommen; und darin werden Sie enttäuscht. Ich maße mir nicht an, Ihnen etwas Besseres hier zu geben, aber ich kann Ihnen wenigstens an dieser Stelle den Mechanismus zeigen, der dazu führt, daß Sie an dieser Stelle enttäuscht werden: nämlich daß selbst bei Kant, als einem der Denker, von dem Sie doch mit Recht hier nun das Äußerste erwarten, durch diese sonderbare Aufteilung in die reine Praxis und die reine Naturwissenschaft als reine Naturbeherrschung einfach dieses wesentliche Interesse eskamotiert wird; daß er es gar nicht sieht und sogar ausdrücklich sagt: >Ja Gott, soweit wir rein theoretisch interessiert sind, geht uns das eigentlich gar nichts an, aber für unser praktisches Verhalten brauchen wir's, na ja, sozusagen als Arbeitshypothese. Aber soweit wir uns praktisch verhalten, handelt es sich ja nicht mehr um die Erkenntnis, sondern nur noch«, wie er dann später sagt, >um die Frage: Was sollen wir tun?< So daß man also wirklich an diesem Punkt, wo nun überhaupt das entscheidendste In-teresse der Vernunft schlechterdings vorliegt, durch die Kon-struktion einer solchen Philosophie einfach enttäuscht und aufs Trockene gesetzt wird. Sie können vielleicht hier, wenn Sie sich schon und mit Recht über die Philosophie beklagen, wenigstens erkennen, durch welche Motive, durch welche Mechanismen innerhalb der Philosophie - ich meine, Kant und Hegel sind schließlich die Philosophie - und warum es zu dieser Enttäuschung kommt. Und deshalb bin ich auf die-sen Punkt so ganz besonders eingegangen, denn es ist etwas anderes, ob man an diesen Dingen nun einfach naiv ent-täuscht wird oder ob man selber noch über diese Enttäu-schung reflektiert und kritisch an der Philosophie erkennt, wieso sie nun hier wirklich einem, um in diesem theoreti-

102 96

sehen Bilde zu bleiben, Steine statt Brot gibt. Kant redet nun ganz im Sinne des Naturwissenschaftlers deterministisch weiter: »Der Wille mag auch frei sein,« - das heißt soviel wie: selbst wenn der Wille frei ist - »so kann dieses doch nur die intelligibele Ursache unseres Wollens angehen.«109 Wobei die »intelligibele Ursache unseres Wollens« ja ihrerseits wieder schon, aber darüber haben wir bereits eingehend gesprochen, mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar ist. »Denn, was die Phänomene der Äußerungen desselben, d.i. die Handlungen betrifft, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grund-maxime, ohne welche wir keine Vernunft in empirischem Gebrauche ausüben können, sie niemals anders als alle übrige Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Ge-setzen derselben, erklären.«110 Ich möchte auch dem doch noch etwas hinzufügen, meine Damen und Herren. Es scheint mir nämlich hier doch in der Struktur der Erwägung, die Kant an dieser Stelle uns vorträgt, ein mechanistisches Moment enthalten zu sein. Er tut so wie: »Naja, selbst wenn ich also an irgendeiner Stelle, sei es in einer ursprünglich freien Handlung des intelligiblen Charakters oder in der ur-sprünglich freien Setzung Gottes, das Moment der Freiheit hereinbringe, bleibt für das ganze Bereich der Erfahrung das Prinzip der Kausalität ja doch lückenlos intakt.< Man könnte doch hier zunächst einmal fragen, ob, wenn wirklich das Prinzip der Kausalität jene Universalität beansprucht, welche Kant ihm zugesprochen hat, dann nicht die kleinste Lücke, die kleinste Ausnahme, die wir gezwungen wären dann zu machen, das Ganze über den Haufen rennen würde. Wenn es nur ein bißchen Freiheit, nur ein ganz kleines Eckchen Frei-heit geben würde, dann bedeutet das doch eigentlich, daß die ganze Geschichte mit der Kausalkette ein Loch hat, dann kann ich der diese Universalität gar nicht mehr zusprechen. Und es ist gar nicht einzusehen, warum dann nicht genauso-gut mit Freiheit an ungezählten anderen Momenten einge-setzt werden kann. Aber diese Frage, die doch nun zunächst wirklich eine Frage der Erkenntnis oder, wie er es nennt, der

Page 49: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Spekulation wäre, die wird hier einfach so vom Tisch herun-tergefegt, indem er sagt: >Die Kausalität bleibt ja doch im Reich der Erscheinungen in Geltung, auch wenn irgendwo -fern in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen111 -im Absoluten, so ein Moment von Freiheit sich finden sollte.< Nun, die moderne Naturwissenschaft scheint ja genau an der Stelle Kant sozusagen die Quittung erteilt zu haben für dieses sonderbare Verfahren, indem sie ihm nun tatsächlich gezeigt hat, daß gerade im Bereich der fortschreitenden Naturer-kenntnis, also genau dort, wo er die Kausalität als schlech-terdings geltend supponiert hat, eben dieser Begriff der uni-versalen Kausalität in der üblichen Weise gar nicht mehr gilt.

Über die Gleichgültigkeit des spekulativen Interesses, die Kant behauptet, habe ich Ihnen bereits einiges gesagt; und ich habe Ihnen dazu auch bereits gesagt, daß, ganz gleichgültig wie wir handeln, nichts für uns wichtiger ist, als eben jene Ideen, von denen Kant behauptet, daß sie wichtig seien nur für unser Handeln. Unter Umständen können sie zum Bei-spiel die Konsequenz haben, daß wir gar nicht mehr handeln, daß der Begriff des Handelns uns dann überhaupt nicht mehr interessiert, wie es etwa bei Mönchen in der verschiedensten Richtung, bei quietistischen Richtungen und auch in der Schopenhauerschen Philosophie der Fall ist. Also das sind Dinge, die so gar nicht mehr zu halten sind. Kant gibt dann weiter an: »Es mag zweitens auch die geistige Natur der Seele [ . . . ] eingesehen werden können,« — und in dem Paralogis-men-Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft« hat er ja nun gerade das sehr bezweifelt, daß das möglich ist - »so kann daraufs] doch, [ . . . ] in Ansehung der Erscheinungen dieses Lebens,« 1 12 und so weiter, nicht irgendwie eine bestimmte Folgerung gezogen werden, nämlich eben deshalb, weil ja die Seele, soweit sie Gegenstand unserer Erkenntnis ist, sel-ber auch ein Stück der raumzeitlichen Welt ist, in die raum-zeitliche Welt verflochten ist, und deshalb als ein Absolutes nicht gedacht werden kann. Nun könnte man aber doch sa-

102 98

gen, es macht einen ungeheueren Unterschied, etwa auch für die theoretischen Aussagen über eine Möglichkeit von Un-sterblichkeit, ob wir nun zu der Einsicht kommen, daß überhaupt die Vorstellung der Seele eine bloße, eine Art Hy-postase ist, daß wir bloß die Vereinheitlichung, die begriffli-che Vereinheitlichung von Phänomenen absolut setzen, oder ob wir dazu kommen, daß eine solche Einheit ihrerseits die notwendige Bedingung der Mannigfaltigkeit des Seelischen selber ist. Von der theoretischen Bestimmung dessen, was Seele heißt, hängen, mit anderen Worten, eben doch diese sogenannten metaphysischen Fragen sehr entscheidend ab, und es herrscht hier gar nicht jene Gleichgültigkeit zwischen den Ideen und der Theorie, diese Gleichgültigkeit von beiden Seiten her, die Kant unterstellt.

Und schließlich sagt er dann noch mit Richtung auf Gott, daß man sich zwar aus einer solchen Idee wie der der »höch-sten Intelligenz«, wie er es etwas schamhaft ausdrückt, >das Zweckmäßige in der Welteinrichtung und Ordnung im all-gemeinen begreiflich machen könnte, aber keineswegs eine besondere Anstalt und Ordnung daraus ableiten oder, wo sie nicht wahrgenommen wird, darauf kühnlich schließen könnte.<113 Nun, diese dritte Annahme ist eine sehr legitime Kritik, die aber hier außer Betracht bleiben kann, weil sie sich wirklich gegen eine sehr beschränkte Form des Rationalis-mus richtet, wie er sie vor allem in der sogenannten Wolffi-schen Philosophie, also in der schulmäßigen, systematischen Zurichtung des Leibnizschen Rationalismus vorgefunden hat, wo nun wirklich aus der Annahme der Zentralmonade und der höchsten Intelligenz die Zweckmäßigkeit aller mög-lichen Einrichtungen der Natur für die Menschen ganz un-mittelbar und naiv und beschränkt abgeleitet worden ist; so, wie denn tatsächlich bei Wolff der Satz sich findet: >daß nachts der Mond scheint, damit die Menschen es in der Nacht nicht so dunkel haben.<114 Wenn also derartige Dinge hier ab-gewehrt sind, dann ist das selbstverständlich von einer gro-ßen Evidenz und einer großen Plausibilität, aber an die Frage,

Page 50: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ob nun für die theoretische Vernunft die Existenz Gottes gleichgültig sei, reicht das selbstverständlich nicht heran.

Wieder müssen Sie das, was hier geschehen ist, vom ter-minus ad quem her verstehen, denn diese ganzen, wirklich etwas sonderbaren und über wahre Abgründe hinwegtän-delnden Ausführungen von Kant erklären sich eigentlich nur daraus, daß er über Stock und über Stein sagen will, daß zu unserem Wissen, also theoretisch, diese drei Kardinalsätze: die Existenz von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht nö-tig seien, mit anderen Worten, daß sie uns auch theoretisch gar nicht so interessieren brauchten, daß sie uns aber gleich-zeitig dringend durch unsere Vernunft empfohlen würden, und so, sagt er nun: »wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen.«115 Und da sind Sie nun an einem der entscheidendsten Angelpunkte der Kantischen Philosophie überhaupt: daß er nämlich die sogenannten me-taphysischen Ideen, von denen er glaubt, daß er die für die Theorie weder retten kann noch daß sie für die Theorie von einer konstitutiven Bedeutung seien, eigentlich nur deshalb einführt, weil sie Postulate der praktischen Vernunft sind. Das heißt also: das Sittengesetz ist der Kantischen Lehre zu-folge mir gegeben, es ist ein Faktum; ich mache die Erfah-rung, daß ich sittlich handeln soll. Aber in dieser Erfahrung selber ist, damit sie nicht auf Ungereimtheiten führt, enthal-ten, daß ich auf die Existenz jener metaphysischen Entitäten setze, so daß also, und das ist eine der großen Paradoxien der Kantischen Philsosophie, ich nicht eigentlich um der Exi-stenz Gottes willen frei handeln kann, sondern daß Gott nur dazu da ist, damit ich frei handeln kann. 1 16 Es hat sich dieses Verhältnis dabei vollkommen verkehrt, und die Praxis er-langt dadurch den absoluten Primat, und das ist die eigentli-che Rechtfertigung für die These, die ich Ihnen entwickelt habe, daß nämlich in der Kantischen Philosophie überhaupt der Vorrang der Praxis über die Theorie eigentlich doch herr-sche. - Aber damit wollen wir dann in der nächsten Stunde fortfahren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen schöne Ferien.

7. VORLESUNG

1 8 . 6 . 1 9 6 3

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen! Ich hoffe, daß jetzt dieses Semester ohne irgendwelche

Unterbrechungen in einer sehr konzentrierten Arbeit zu Ende geht. An mir soll es jedenfalls nicht fehlen. Ich glaube, es ist das Beste - nachdem nun die Pfingstferien dazwischen liegen, und ich eine Stunde zu meinem größten Bedauern dann doch ausfallen lassen mußte, wegen einer Verpflich-tung, die von langer Hand geplant war 1 1 7 —, wenn ich, um anzuknüpfen, aber gleichzeitig doch nicht wiederzukäuen, diese Stunde zunächst einmal dazu benutze, Ihnen noch ein-mal - oder nicht noch einmal, sondern prinzipiell — die Kon-struktion der Kantischen Moralphilosophie klar zu machen in dem Sinn, in dem ich sie hier interpretieren möchte, und mich dabei gleichzeitig zu beziehen auf den Text aus der »Me-thodenlehre*, den wir angefangen haben zu interpretieren, aber noch nicht interpretiert haben - also sozusagen ein Ko-lumbus-Ei zu produzieren, nämlich gleichzeitig das noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt darzustellen, wo-mit wir uns abgegeben haben, und doch dabei weiterzuge-hen. Ich möchte Sie zunächst daran erinnern, daß die drei sogenannten Kardinalsätze, von denen Kant als den eigentli-chen Kardinalsätzen der Ethik redet, sind: die Behauptung der Freiheit des Willens, die der Unsterblichkeit der Seele und die des Daseins Gottes. Diese drei Sätze haben ihre entschei-dende Bedeutung Kant zufolge nicht in der theoretischen Philosophie, mit anderen Worten: nicht in der Erkenntnis dessen, was ist, sondern in der praktischen Philosophie. Das heißt, sie sind der Kantischen Lehre zufolge stringent ver-bunden, notwendig verbunden mit der Frage: >Was wir tun sollen?* und sind überhaupt nur in dem Bezirk dessen, was wir tun sollen, wirklich zu begründen und zu begreifen. Ich habe Ihnen in der letzten Stunde ziemlich eingehend entwik-kelt, daß die Abtrennung dieser Frage von der theoretischen

101

Page 51: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Einsicht mir sehr gewaltsam erscheint, das heißt, daß der Kantische Satz, daß kein theoretisches Interesse an diesen Sätzen bestünde, doch wohl nicht gerade sehr zwingend ist, denn wenn etwas für einen Menschen wichtig ist in seiner eigenen Existenz, ganz unabhängig davon, was er tut, dann ist es ja nun ganz gewiß die Frage, ob mit dem Tode alles zu Ende ist oder nicht. Aber ich möchte diesen ganzen Komplex jetzt nicht noch einmal wiederholen, sondern Sie nur bitten, sich noch einmal zu erinnern, daß ich diese Unterscheidung in der letzten Stunde oder einer der letzten Stunden kritisiert hatte. Kant sagt, daran werden Sie sich erinnern, daß das theoretische Interesse an diesen Sätzen sehr gering sei. Ich möchte nun doch versuchen, auch diese Behauptung von Kant vielleicht etwas loyaler zu interpretieren, als ich es in der letzten Stunde getan habe. Man kann diesen Satz, daß das theoretische Interesse oder das spekulative Interesse an diesen drei Kardinalsätzen gering sei, vielleicht so interpretieren, daß zwischen diesen Sätzen und der wissenschaftlichen Er-fahrung und auch den Grundlagen der wissenschaftlichen Erfahrung kein Zusammenhang eigentlich besteht. Das In-teresse bezieht sich hier also einfach darauf, daß diese Sätze sich dem Zusammenhang der theoretischen Erkenntnis ent-ziehen sollen, daß es für uns tatsächlich gleichgültig sein soll, zu wissen, wie es um diese Dinge bestellt ist. Wozu die For-mulierung von Kant verführt, das kann man zwar in einen gewissen Zusammenhang mit dem Tenor der Kantischen Philosophie bringen, nämlich mit dem Vorrang der Praxis, dem also die Erkenntnis, die zu keiner Konsequenz führt, eitel dünkt. Aber wahrscheinlich würde Kant doch nicht so rigoros gerade zu diesem Punkt geredet haben, wie ich es vielleicht ein bißchen allzu pointiert in der letzten Stunde Ih-nen dargestellt hatte, sondern es soll dabei einfach gesagt sein, daß die theoretische Vernunft, also die Naturerkenntnis an diesen Sätzen relativ desinteressiert sei, weil sie doch keine Hoffnung hat, sie zu ergründen. Es steckt so irgendwie in dieser Kantischen Struktur - von der wir hier geredet haben -

102

auch das, daß man sich um eitle Fragen nicht bekümmern soll, daß man also eigentlich sein Interesse nicht solchen Fra-gen zuwenden soll, die von vornherein sich in dem Bereich dessen, in dem man sie stellt, als unlösbar darstellen. Ich halte diesen Gedankengang für im Grunde sehr problematisch. Er ist es ja eigentlich, der dann im Lauf der Entwicklung der neueren Philosophie dazu geführt hat, daß eigentlich immer mehr von den menschenwürdigen Fragen, von den Fragen, um derentwillen man eigentlich philosophiert, aus der Philo-sophie ausgeschieden worden sind. Und während auf diese Weise - wenn Sie so wollen - die Verwissenschaftlichung der Philosophie immer weiter fortgeschritten ist, hat die Philo-sophie, um den Ausdruck von Kant aufzunehmen, dadurch an >Interesse< selber immer mehr verloren, das heißt: sie wei-gert sich immer mehr, in diesen Richtungen überhaupt etwas über die Dinge zu sagen und über die Dinge zu urteilen, von denen man erwartet, daß die Philosophie zu ihnen etwas zu sagen hätte. Nun bezieht sich diese Abwehr der drei ent-scheidenden Sätze, der drei Kardinalsätze, sowohl auf die Erfahrung selbst wie auf die konstitutiven Formen, die sie organisieren; mit anderen Worten: nicht nur kann uns unsere Erfahrung Kant zufolge keine Antwort auf diese Fragen ge-ben, sondern auch in unserem kategorialen Apparat, also als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, kommen sie ihm zufolge nicht wirklich vor.

Das involviert nun abermals eine gewisse Schwierigkeit, nämlich die, daß auch die praktische Philosophie, indem sie sich auf unser reales Handeln bezieht, das immer mit Erfah-rungsmaterial zu tun hat, nicht von Erfahrung absolut ge-trennt werden kann. Sie alle werden zunächst einmal auch hier den Einwand auf den Lippen haben: >Ja, wenn überhaupt etwas mit Erfahrung zu tun hat, dann ist es doch das, was mein eigenes Handeln betrifft! - und Sie alle wissen ja, daß man auch im Bereich des praktischen Verhaltens, in dem Sinn, in dem man überhaupt so etwas wie eine Unterschei-dung wie die von Gut und Böse macht, von Erfahrung redet.

103

Page 52: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Das heißt, wenn man unerfahren ist, wie man so sagt, so kann man alle möglichen Dinge tun, die sich als recht be-denklich herausstellen, während es zumindest die fable con-venue ist, daß man, wenn man also erfahren ist und alle Inte-grationen übersieht, dann auch richtiger - selbst in einem höheren Sinn - soll handeln können. Ich lasse dahingestellt, ob an dieser populären Weisheit etwas dran ist oder nicht, ich erinnere Sie nur daran, daß Sie sehen, daß an dieser Stelle wie an vielen anderen Stellen auch die Begründung der Moral-philosophie bei Kant uns so einiges zumutet. Aber Kant wäre gegen diese Argumentation. Doch, man könnte etwa den-ken, genauso wie es Form und Inhalt der Erkenntnis gibt, die ja Kant unterscheidet, so gibt es auch Form und Inhalt im praktischen Verhalten. Das heißt, ich kann überhaupt keine Handlung mir vorstellen, die nicht, indem sie Handlung wird, sich auf empirisch Existierendes, seien es Dinge oder Menschen, in irgendeiner Weise bezieht. Ich meine, noch die edelste, erhabenste Handlung ist nur möglich dadurch, daß sie, wenn sie vielleicht ein Opfer des Menschen ist, der sie vollbringt, ein Opfer eben seiner eigenen empirischen Person voraussetzt; und die schlechteste Handlung involviert ebenso Empirisches. Das heißt, wenn irgendjemand einen Mord be-gehen will, dann braucht er dazu erstens ein Objekt, das er umbringen kann, und zweitens einen Hammer oder sonst ir-gend etwas, womit er das macht, dessen er sich dabei be-dient. Also mit der Trennung von Form und Inhalt, mit die-ser absoluten Trennung scheint es zunächst einmal doch auch im praktischen Bereich genauso wenig weit her zu sein wie im theoretischen, wo auch gerade Kant zufolge die Formen der Erkenntnis ja nur so weit gelten, wie sie sich auf Inhalt, also auf Erfahrungsmaterial, auf lebendige Empfindung eben beziehen. Es gibt — um es etwas weniger populär auszudrük-ken und etwas weniger salopp und unverantwortlich, als ich das eben getan habe - auch Form und Inhalt des Handelns. Man kann von Form und Inhalt des moralischen Handelns auch in dem viel ernsthafteren Sinn sprechen, als es ja auch

102

hier den Unterschied gibt zwischen der allgemeinen Gesetz-lichkeit, zwischen den allgemeinen, wie immer auch proble-matischen Normen, nach denen wir handeln, und der spezifi-schen Handlung, die erfolgt und die dann, eben dadurch, daß sie überhaupt zu einer spezifischen Handlung wird, notwen-dig auch das Prinzip von Individuation ist, also irgendwel-ches konkrete Erfahrungsmaterial in sich einbegreift. Wenn diese Erwägung zuträfe, dann wäre der von Kant hier ge-machte Unterschied von spekulativem oder theoretischem und praktischem Interesse gar nicht radikal. Und in diesem Zusammenhang ist es vielleicht gut, wenn ich Sie daran erin-nere, daß Kant auf diese radikale Trennung auch nur wirklich dadurch hinauskommen kann, daß er auf Biegen oder Bre-chen das theoretische Interesse an jenen Kardinalsätzen ein-fach einmal abgestritten hat. Es ist immer gut, wenn man eine solche aporetische Situation zunächst einmal konstru-iert, also wenn man sich klar darüber wird, was die Schwie-rigkeiten sind auf der einen Seite und was das thema pro-bandum ist, also was der Kant eigentlich hier herausstellen, was er dabei eigentlich beweisen will. Ich glaube, das beides haben Sie nach dem, was ich Ihnen jetzt kurz angedeutet habe, doch wohl verstanden.

Das, worauf es nun ankommt, ist, daß Sie verstehen, wie in dieser ganzen Konstellation der Kant sich hilft, und diese Hilfskonstruktion ist nun die, daß Praxis - und Sie müssen hier immer bedenken, daß Kant, wenn er von der Kritik der praktischen Vernunft redet, einen ungeheuer emphatischen und belasteten Begriff von Praxis hat —, daß die praktische Vernunft bei ihm so viel heißt wie die praktische reine Ver-nunft, also das apriorische Vermögen über Richtig und Falsch, über Gut und Böse zu urteilen und nicht das, was wir so meinen, wenn wir davon reden: es ist einer ein praktischer oder es ist einer ein unpraktischer Mensch. In diesem, sage ich, äußerst belasteten Sinn, den das Wort Praxis und prak-tisch bei Kant nun einmal hat, ist bei ihm von vornherein gefordert, gewissermaßen stipuliert, festgesetzt, daß diese

105

Page 53: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Art von Praxis mit Erfahrung nichts zu tun haben soll. Der Ausschluß der Erfahrung, von dem wir hier gesprochen ha-ben und dessen Schwierigkeiten ich Ihnen gezeigt habe, wird von ihm also in der philosophischen Konstruktion so ge-handhabt, daß er, wenn er jetzt hier zugegen wäre und es nicht verschmähen würde, auf derartige Dinge Rede und Antwort zu stehen - und ich glaube, gerade der Kant würde es nicht verschmähen uns dann wahrscheinlich darauf sa-gen würde: >Ja, das, was Ihr hier Praxis nennt, das ist eigent-lich alles überhaupt nicht das, was ich mit Praxis meine, son-dern dieser emphatische Begriff von Praxis, von dem ich eben spreche-ja, lassen Sie mich einmal ganz schlicht sagen - , der wird gerade dadurch definiert, daß er von der Erfah-rung schlechterdings unabhängig sein soll.< Und ich glaube, es ist, damit Sie diese ganze Problematik, mit der wir uns ja nun in diesem Semester wesentlich abgeben, verstehen, wichtig, daß Sie sich einmal kurz Rechenschaft darüber abge-ben, was diese, wenn Sie so wollen, Unterbewertung der Er-fahrung, wie sie sich übrigens bei Kant auch im Bereich der theoretischen Vernunft in einem gewissen Sinn nachweisen läßt, eigentlich besagt, das heißt, welchen Sinn sie in der Konstruktion der Kantischen Philosophie hat. Das Material, die Empfindungen, alles das also, was mir irgendwie von außen zukommt, was nicht ich selber in dem äußerst nach-drücklichen Sinn meiner eigenen Vernunft bin, das ist, im Grunde schon bei Kant, wie es dann viel schroffer und radi-kaler von seinem unmittelbaren Nachfolger Fichte formu-liert worden ist, eigentlich nur ein Anstoß. Die Handlung selbst soll rein aus meiner Vorstellung heraus erfolgen und soll unabhängig sein von irgendwelchem Material, an das sie gebunden ist, und nur, soweit sie davon unabhängig ist, so-weit sie also meine eigene Tat ist, die an nichts gebunden ist, was ich nicht selber als denkendes, vernünftiges Wesen be-stimme, nur insoweit kann ich sie als eine praktische denken. Gesellschaftlich gesprochen bedeutet das soviel wie —und das hilft Ihnen vielleicht, diese zunächst für Sie etwas abstrus

106

klingenden Erwägungen doch ein bißchen zu konkretisieren - , daß aus der Idee der Befreiung des bürgerlichen Individu-ums - und ich gebe nun das Stichwort der Autonomie - so etwas wie ein höchstes metaphysisches Prinzip gemacht wird. Es ist so wie wenn der Kampf der Menschheit des aus-gehenden 18. Jahrhunderts um die bürgerliche Befreiung von der Bevormundung in der Weise von der Philosophie reflek-tiert würde, als ob nun tatsächlich diese Freiheit, diese herzu-stellende Freiheit selber überhaupt das schlechterdings höch-ste Prinzip wäre, in dem die Philosophie eigentlich terminiert und das gleichgesetzt wird mit der Vernunft. Sie können den Kant und die Kantische praktische Philosophie zumal nur dann ganz richtig verstehen, wenn Sie sich darüber .klar sind, daß bei ihm Freiheit und Vernunft eigentlich dasselbe sind. Auch die ganze Konstruktion des kategorischen Imperativs, über die wir dann vielleicht im Zusammenhang heute doch auch noch einiges sagen können, ist nur dann zu verstehen, wenn diese höchst merkwürdige Verkoppelung von Freiheit und Gesetzlichkeit, die in dem kategorischen Imperativ steckt, dadurch abgeleitet wird, daß eben das Prinzip der Freiheit nichts anderes sein soll als Vernunft, als reine Ver-nunft, die ihre Begrenzung nicht findet an irgend etwas, was ihr äußerlich, was ihr fremd, was nicht selbst vernünftig wäre. Der Kern des Kantischen Gedankens ist dabei der, daß eigentlich alles, was ich nicht als reines Vernunftwesen er-kenne, und alle Gesetzmäßigkeit, die ich nicht aus meiner eigenen Vernunft schöpfe, dadurch, daß sie mich an etwas bindet, was nicht in diesem emphatischen Sinn ich selber bin, sondern was heteronom ist, wovon ich mich abhängig ma-che, eigentlich das Prinzip der Freiheit unterbindet. Der so-genannte Kantische Rigorismus, also die ungeheuere und fast unmenschliche Härte und Strenge, mit der Kant aus seiner Moralphilosophie das Glück und alles das ausschließt, was in der philosophischen Arbeit nach ihm seinerseits als ein we-sentliches Moment der Praxis anerkannt worden ist, ge-schieht bei ihm eigentlich nur um der Freiheit willen. Sie ha-

107

Page 54: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ben diese sehr merkwürdige und paradoxe Konstruktion bei Kant, daß in einem gewissen Sinn die beiden einander wider-sprechenden Momente der Moralphilosophie, nämlich die Idee der Freiheit und die Idee der, ja man muß schon sagen, der Unterdrückung, vor allem der Unterdrückung eines jeg-lichen natürlichen Impulses - die Unterdrückung der Nei-gung, die Unterdrückung der Sympathie - eigentlich beide doch wieder nur um der Freiheit willen erfolgen; der ganze Bereich des Triebs und der Interessen, all das wird unter-drückt und zwar mit einer theoretisch sehr grausamen Härte von Kant unterdrückt, eigentlich nur deshalb, damit ich mich nicht von etwas soll abhängig machen, was mit dem Prinzip meiner eigenen Freiheit, meiner eigenen Vernunft unvereinbar ist. Ich mache Sie en passant darauf aufmerk-sam, daß in dieser Konstruktion eigentlich bereits die Vor-aussetzung drinsteckt, daß wir in einer Welt leben, in der die Erfüllung meiner natürlichen Impulse oder was immer man so nennen mag: des Bedürfnisses nach Glück, der Neigung, alles dessen, mit der Vernunft als einem allgemeinen Prinzip unvereinbar ist - ohne daß bei ihm die Frage so recht sich stellt, ob denn die absolute Verwirklichung der Vernunft nicht so etwas wie die Erfüllung genau alles dessen hieße, was bei ihm unterdrückt wird. Und nur in einer höchst indirekten und verklausulierten Weise kommt dieses Problem bei Kant vor, nämlich eben in der Konzeption der Unsterblichkeit,118

welche ja einer der drei Kardinalsätze ist, weil Kant eben doch dann zugesteht, daß die Welt die Hölle wäre, 1 19 wenn es nicht doch eben, und wäre es auch in der Transzendenz, so etwas wie eine Einheit der Vernunft und des von ihr zu unter-drückenden Triebes gäbe, wenn also nicht doch in einem ab-soluten Sinn der Dualismus verschwände, in dem bei Kant selbst die antagonistische, die dualistische Verfassung der Welt, in der wir leben, sich spiegelt. Also wenn wir uns als handelnde Menschen irgend von dem Material abhängig ma-chen, wenn die Handlung nicht rein von meiner Vorstellung, und zwar meiner Vorstellung von dem allgemeinen Gesetz

108

abhängt, so ist die Handlung eigentlich gar nicht mehr prak-tisch, sie ist nicht mehr frei. Und durch diese Konstruktion ist bei Kant die Sphäre der Moral überhaupt gesetzt als die Sphäre der Freiheit, weil sie nämlich sonst im Grunde in die bloße Natur gehörte, in der ja, wie Sie ausführlich gehört haben, Kant zufolge nichts anderes gilt als die Kausalität, in der solche Freiheit nicht ist und die deshalb bloß zur theoreti-schen Vernunft und nicht zur reinen praktischen Vernunft gehört. Dieses vorausgeschickt, meine Damen und Herren, werden Sie vielleicht nun einen Satz aus dem Abschnitt, den wir hier behandeln: »Von dem letzten Zwecke des reinen Ge-brauchs unserer Vernunft«, aus dem i. Abschnitt des »Ka-nons der reinen Vernunft*, besser verstehen, der Ihnen, wenn Sie nicht all das mitdenken, was ich Ihnen jetzt auseinander-gesetzt habe, vielleicht doch gewalttätig vorkäme, der aber, so bilde ich mir ein, nach dem, was wir uns nun erarbeitet haben, vielleicht für Sie ganz durchsichtig sein wird. »Prak-tisch« - heißt es da - »ist alles, was durch Freiheit möglich ist.«120 Wenn Sie all das mitdenken, was ich Ihnen gesagt habe, dann ist Ihnen dieser Satz geradezu als eirPGrundsatz der Kantischen Philosophie überhaupt verständlich. Nun gibt es auch hierbei natürlich gewisse Schwierigkeiten, logi-sche Schwierigkeiten, denn bei Kant ist es ja so, daß auch das Material der theoretischen Vernunft, soweit es bloßes Mate-rial ist, eigentlich ganz unbestimmt sein soll, es wird ja be-stimmt ebenfalls nur durch mich als ein denkendes Wesen, nämlich durch den Apparat der Kategorie. Man kann diesen Widerspruch selber nun eigentlich nur aus der Spannung er-klären, von der ich Ihnen wiederholt gehandelt habe, näm-lich der Spannung zwischen der aufklärerischen Intention von Kant, die den Bereich der Natur möglichst weit aus-dehnt, und der wiederherstellenden Intention in Kant, die versuchen möchte, dem Moment an der Aufklärung Einhalt zu gebieten, in der dann wirklich nichts anderes als blinde Natur und blinde Naturbeherrschung übrig bliebe.

Das ganze Problem, dem sich nun die Kantische Moralphi-

102 108

Page 55: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

losophie gegenübersieht, ist das, jene drei Kardinalsätze oder Prinzipien, von denen ich Ihnen zu Ausgang der Stunde ge-sprochen habe, ihrerseits aus der praktischen Philosophie zu erweisen. Ich mache Sie dabei darauf aufmerksam, daß sich hier geschichtlich eine Tendenz fortsetzt, die schon ihr gro-ßes Vorspiel hatte in Descartes, nämlich, daß das Absolute selber, also das Dasein Gottes, nicht etwa an den Anfang der ersten Philosophie gerückt wird, sondern daß es aus der er-sten Philosophie seinerseits abgeleitet, daß Gott eigentlich bewiesen werden soll; mit der höchst merkwürdigen und für ein unbefangenes Denken außerordentlich paradoxalen Kon-sequenz, daß das, was nun wirklich das TIQWTOV wäre, was nun wirklich das Erste wäre im Sinne der Hierarchie der Ideen, daß das nun zu einem Abgeleiteten und zu einem Se-kundären gemacht wird. 12 1 Wenn Sie hier nun einmal wirk-lich reflektieren auf das, wie ich es vorhin angedeutet habe, was hinter diesem Vernunftbegriff von Kant eigentlich steckt, nämlich die Freiheit der realen handelnden Menschen, dann kann man wohl sagen, daß in dieser gesamten Philo-sophie eigentlich die Existenz der Gottheit von dem mensch-lichen Prinzip, nämlich dem Prinzip der menschlichen Vernunft eigentlich abhängig gemacht wird. Und seit Philo-sophie überhaupt sich damit beschäftigt, ihre obersten meta-physischen Prinzipien zu beweisen, also der Vernunft kom-mensurabel zu machen, so wie das bereits in der klassischen Thomistischen Lehre von der >analogia entis< der Fall gewe-sen ist, seit der Zeit steckt eigentlich in der Philosophie ten-denziell schon dieses drin, daß sie ihr eigenes Erstes und Ab-solutes wieder von einem abhängig macht, das nach dem Sinn dieses Ersten und Absoluten eigentlich ein Sekundäres wäre, denn diese Vernunft ist ja ihrerseits wieder gar nicht zu denken, es sei denn, daß man sie ebenfalls sich vorstellt als ein von den endlichen Menschen Abstrahiertes und jeweils in ih-nen Verkörpertes. Sie können unter diesem Aspekt nun das Programm verstehen, das Kant sich setzt, daß, wenn »diese drei Kardinalsätze uns zum Wissen gar nicht nötig sind, und

n o

uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen [können].«122 Dieser merkwürdige Satz, daß >ihre Wichtigkeit nur das Praktische wird angehen kön-nen!, besagt eigentlich gar nichts anderes, wenn das auch nicht so unverblümt ausgedrückt wird, wie ich es hier tue, als daß sie, weil sie eben für die praktische Vernunft wichtig sind, aus der praktischen Vernunft selbst folgen oder, wie es an einer späteren Stelle desselben Kapitels heißt: daß sie aus ihr sollen »bewiesen werden« können.123 Nun kommt aber Kant jetzt wirklich in eine schrecklich schwierige und unan-genehme Situation, wie es uns Philosophen ja überhaupt zu gehen pflegt, wenn wir uns mit derartigen Dingen herum-schlagen. Erinnern Sie sich daran, daß er diese drei Kardinal-sätze oder Prinzipien ja nicht aus reinem Denken erschließen darf, er darf sie nicht ableiten - und hier müssen Sie nun doch eine Sekunde an den Aufbau des Kantischen Systems sich erinnern, das ja in seinem negativen Teil wesentlich die Kri-tik der Leibnizschen und Wolffischen Philosophie gewesen ist, die sich anheischig gemacht hat, aus reinem Denken, also aus den reinen Prinzipien der Vernunft, die Existenz gerade solcher Entitäten wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit schließlich zu folgern. Nun hat Kant in dem ganzen negati-ven Teil der »Kritik der reinen Vernunft« mit größter U m -ständlichkeit nachgewiesen, daß das nicht möglich ist, daß man dabei auf Widersprüche stößt. Und den entscheidenden Widerspruch, nämlich den, der sich auf die Idee der Freiheit bezieht, habe ich Ihnen ja anhand der dritten Antinomie in der »Kritik der reinen Vernunft« eingehend dargestellt. Auf der anderen Seite aber dürfen diese Prinzipien - und das be-darf kaum mehr eines Wortes - auch nicht aus der Erfahrung entnommen werden, denn es handelt sich ja hier um absolute Prinzipien, und diese absoluten und schlechterdings gültigen Prinzipien aus der Erfahrung abzuleiten, würde ja nichts an-deres heißen, als sie, die als schlechthin dauernd, ewig, not-wendig und beständig vorgestellt werden, von den zufälligen

i n

Page 56: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

und selber bedingten Erfahrungen abhängig zu machen, was im Sinn der ganzen Tradition, in welche diese Philosophie fällt, und auch im Sinne der Kantischen Philosophie selber eine durchaus paradoxale Zumutung wäre, der Kant also un-ter gar keinen Umständen sich stellen darf. U m die Konstruk-tion der Ethik bei Kant als eine aporetische Konstruktion, also als eine Konstruktion, die durch die Schwierigkeiten ih-rer Ausgangssituation gezeitigt wird, sich klar zu machen, müssen Sie versuchen zu begreifen, wie Kant sich hier aus der Affäre zieht. Er gewinnt nämlich das Prinzip der Ethik so -und hier möchte ich vordeutend sagen, dieses Prinzip der Ethik ist ja seinerseits gar nichts anderes als das Sittengesetz, also der kategorische Imperativ - , daß er es weder eigentlich aus der Vernunft ableitet, denn sonst würde er ja wirklich wieder als Rationalist sich verhalten, noch es aus der Erfah-rung nimmt, sondern daß er sagt: >Das Sittengesetz ist eine Tatsache, das Sittengesetz ist ein Gegebenes.*124 Und diese Wendung ist eigentlich das entscheidende Scharnier. Ich habe schon über eine Reihe solcher Scharnierpunkte bei Kant mit Ihnen gesprochen, aber das ist doch wohl das Allerwichtig-ste, das ist der entscheidende Angelpunkt in der ganzen Kon-struktion der Moralphilosophie von Kant; und Sie können die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und auch die »Kritik der praktischen Vernunft« überhaupt nur dann ver-stehen, wenn Sie zunächst einmal sich klar machen können, warum er es als gegeben betrachten muß und mit welchem Rechtsgrund er es als gegeben tatsächlich ansieht. Die wei-tere Konstruktion ist die, daß, wenn das Sittengesetz selber gegeben ist, das heißt: wenn es schlechterdings da ist, jeder Frage nach seinem Ursprung, seiner Herkunft sich über-haupt entzieht, sondern wirklich ein Letztes ist, auf das alle Erkenntnis zu rekurrieren hat, so bedarf es, um gültig zu sein, jener drei Prinzipien oder jener drei Entitäten: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Und das ist eben genau jener Punkt, bei dem ich Sie schon an Descartes erinnert habe, wo ja ebenfalls Gott bewiesen wird wesentlich aus der Idee der

102

logischen Einstimmigkeit der Vernunft, weil es nämlich mit dieser logischen Einstimmigkeit der Vernunft unvereinbar sein soll, wenn wir betrogen würden - und dazu bedarf es eben Gottes. Das ist natürlich nur eine Seite der sehr kompli-zierten Konstruktion des göttlichen Prinzips bei Descartes, der an dieser Stelle auch noch ein anderes Traditionelles, nämlich den ontologischen Gottesbeweis mit aufgenommen hat.125 Aber jedenfalls ist das der Punkt, an dem dann Kant doch wieder in die rationalistische Tradition der Philosophie unmittelbar hineinfällt. Wenn wirklich das Sittengesetz ge-geben ist, wenn es also wirklich eine eindeutige absolute Nö-tigung ist, >so zu handeln, daß das Prinzip oder der oberste Grundsatz meines Handelns zugleich jederzeit zum Grund-satz einer allgemeinen Gesetzgebung soll gemacht werden können*126, dann liegt darin tatsächlich - und ich möchte, daß Sie sehen, daß diese Dinge dann doch auch wieder eine sehr starke Stringenz in sich haben, wenn man sich dieser Kanti-schen Tradition einmal anvertraut - deshalb der Schluß auf die Freiheit in einer sehr stringenten Weise, weil ja diese un-widerstehliche Gebotenheit, nach dem kategorischen Impe-rativ zu handeln, ganz sinnlos wäre, wenn ich nicht zugleich die Möglichkeit hätte, auch tatsächlich so zu handeln, wie es mir von diesem nun einmal gegebenen, schlechterdings da-seienden Sittengesetz abverlangt wird. Es wäre sonst, würde Kant sagen, tatsächlich die Existenz dieses Sittengesetzes, wenn ich nicht die Möglichkeit hätte ihm nachzukommen, dann ja eine dämonische, blinde Zufälligkeit.

Das Problem, ob es - und das ist ein für uns heute sehr ernstes und naheliegendes Problem - nicht möglich wäre, daß zwischen einem solchen Gesetz, daß zwischen der Idee des guten und des richtigen Handelns und der Möglichkeit ihm überhaupt nachzukommen ein wirklicher Widerspruch herrscht, daß also diese Möglichkeit unter Umständen nicht gegeben sein kann, dieser Horizont - wenn man Kafka ein-mal als einen philosophischen Dichter betrachten will, einer der Hauptgegenstände seiner Dichtung ist von dort in die

113

Page 57: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

sogenannte Existentialphilosophie hineingegangen - er-scheint in der Kantischen Theorie überhaupt nicht. Es er-scheint nicht die Möglichkeit des Absurden: daß es zwar die Idee des Guten und die Verpflichtung, das Gute zu tun und das Gesetz zu erfüllen, gibt, daß aber gleichzeitig den Men-schen die Möglichkeit, es zu erfüllen, etwa durch die Totali-tät des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in den sie einge-spannt sind, verweigert ist. Und wenn Kant sagt: >Ich muß, damit das Sittengesetz, das da ist, erfüllt werden kann, frei sein<, so liegt darin ein unbeschreiblicher und ein für uns heute fast naiver Optimismus, eben der Optimismus dieses jungen Bürgertums, wie er etwa auch in der Musik des frü-hen Beethoven wiederzufinden ist, wo also noch dieses: >Ja, es ist alles möglich, und wenn das Gute sein soll, dann muß auch möglich sein, daß es sich tatsächlich verwirklicht^27 da ist. Sie stoßen dabei ebenso auf das Großartige, Faszinierende und man möchte fast sagen, das Begeisternde, das in dieser Kantischen Philosophie gelebt hat, wie auch auf eben jenes Moment der Naivetät, auf jenes Moment der Schranke, das diese Philosophie heute findet, und Sie können hier sehen, wie die allerernsteste Philosophie, und die Philosophie, die es sich selbst am allerschwersten macht, eben trotzdem nun mit der Geschichte in einen furchtbaren Konflikt gerät, der gar nichts mit der billigen Relativierung nun etwa dieser Prinzi-pien zu tun hat, sondern vielmehr damit, daß zwischen die-sen Prinzipien selbst - wie also zwischen dem Prinzip der Freiheit und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit - sich dann eben doch Widersprüche verstärken und reproduzieren, von denen Kant geglaubt hat, daß er sie durch die Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit im Begriff der Vernunft sel-ber ein für allemal aus der Welt geräumt hätte. Er schließt also ab ovo all das, die Möglichkeit aus, daß die Forderung eines richtigen Lebens in unauflösliche Widersprüche uns führen könnte.

Mit dieser Gegebenheit des Sittengesetzes ist es nun eine merkwürdige Sache. Sie werden ja nun, vor allem, soweit Sie

102

schon ein bißchen in Philosophie und gar in Erkenntnistheo-rie erfahren sind, wahrscheinlich alle hier den Einwand auf den Lippen haben: >Du hast uns jetzt erzählt oder vielmehr Du hast den Kant so interpretiert - und glauben Sie mir, ich habe ihn darin loyal interpretiert - , >daß das Praktische das Verhalten ist, das reine Freiheit ist, also ein solches Verhal-ten, das von aller Erfahrung schlechterdings unabhängig sein soll. Ja, aber zum Teufel noch einmal, ist denn der Begriff der Gegebenheit nicht der Erfahrungsbegriff schlechterdings, hat nicht der ganze Empirismus, die ganze empiristische Phi-losophie immer wieder darauf herumgeritten, daß sie aus-geht von den Tatsachen, die mir gegeben sind, den Daten der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung, an die sie sich halten will und denen gegenüber nun gerade das, was nicht gege-ben, sondern vom Subjekt gemacht ist, was erst hergestellt worden ist, so eine Art von Zutat sein soll?< Dieser Einwand drängt sich Ihnen allen auf, und Sie werden also alle hier sa-gen: >Erst wirft der Kant mit einem fürchterlichen Umstand die ganze Erfahrung heraus und dann, indem er nun sagt: daß ein der Erfahrung gegenüber schlechterdings transzendentes Sittengesetz doch wieder ein bloß Gegebenes sei, schmuggelt er sie durch die Hintertür wieder ein.< Und wenn Sie ganz bös' sind, dann werden Sie sagen: >Na, das sind schöne Leute, diese Philosophen, die uns mit derartigen Geschichten auf-warten und uns darüber womöglich hinweg betrügen. < -Meine Damen und Herren, es ist darauf allerhand zu sagen. Es fehlt bis heute noch eine wirklich zureichende Arbeit über den Begriff des Gegebenen bei Kant. Ich glaube, daß bei mei-nem Kollegen Sturmfels128 einmal eine solche Arbeit im Ent-stehen gewesen ist. Wenn ich recht unterrichtet bin, ist diese Arbeit nicht fertig geworden. Es wäre von größter Wichtig-keit, möchte ich hier anmerken - wenn es so etwas wie wirk-liche Kantinterpretation gäbe, die mehr ist als bloße Philolo-gie - , diesem Begriff der Gegebenheit einmal nachzugehen. Schon Schopenhauer hat daraufhingewiesen, daß dieses Ge-gebene ja nicht nur die Daten der Sinne sind, sondern daß in

1 15

Page 58: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

diesem Gegebenen auch immer die Gottheit drinstecken soll, die mir etwas gegeben haben soll.129 Also insofern hat der Begriff der Gegebenheit selbst nicht nur eine empiristische, sondern auch seinerseits noch eine ganz andere Wurzel. Und ich möchte damit schließen, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß dieser Begriff der Gegebenheit hier natürlich nicht der der sinnlichen Gegebenheit in seiner Unmittelbar-keit ist, sondern daß es sich hier um Gegebenheit im Sinn einer ganz anderen Ordnung handelt, ohne daß das eine Spie-gelfechterei wäre, und ich will dann am Donnerstag zunächst versuchen, diesen Begriff der Gegebenheit Ihnen eingehend zu erläutern. - Ich danke Ihnen.

106

8. VORLESUNG

2 0 . 6 . 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich vielleicht, daß wir in der letzten Stunde

wenigstens angefangen hatten, uns über den Begriff der Ge-gebenheit bei Kant und dessen Mehrdeutigkeit zu unterhal-ten und vor allem über das Problem, das sich daraus ergibt, daß das Sittengesetz, das ja bei ihm in einer höchst allgemei-nen Form ausgedrückt ist, als eine Gegebenheit anklingt. Nun erinnern Sie sich vielleicht, daß ich zunächst einmal aus-geführt hatte, daß das, was bei Kant in der Moralphilosophie >gegeben< genannt wird, in Wahrheit gar nichts anderes ist als die Vernunft selber und insofern der Widerpart von Erfah-rung, obwohl ich von der Existenz oder der Gegebenheit die-ser Vernunft nur durch Erfahrung weiß. Das ist das be-rühmte Problem - das ja dann in der Kantischen Philosophie immer wiederkehrt - der Aufspaltung in das zu beobach-tende Bewußtsein, die zu beobachtende Vernunft und die be-obachtende Vernunft; ein Problem, das erst in der nachkanti-schen Philosophie wirklich ganz thematisch geworden ist. -Sittlich handeln heißt bei Kant soviel wie aus reiner Vernunft handeln. Was gemeint ist in dieser Sphäre der Gegebenheit des Sittengesetzes und schließlich der Vernunft, läßt sich vielleicht am besten ausdrücken in Bestimmungen der Sy-stemstruktur als einer Art Zone der Indifferenz zwischen dem Apriori und der Erfahrung. Es ist gemeint dieses Gegeben-sein der Vernunft auf der einen Seite, die Gegebenheit von Vernunft selber als eines Nicht-weiter-zu-Verfolgenden, als eines Irreduziblen, es ist aber auf der anderen Seite eben auch der Versuch gemeint, sie damit zu rechtfertigen, daß ich wie in anderer Erfahrung auch dieser Vernunft und ihrer Gesetz-mäßigkeit unmittelbar soll habhaft werden können. Es ist also sozusagen damit - wenn Sie mir das Bild gestatten - eine Art von Niemandsland zwischen dem Apriori und dem Aposteriori bezeichnet,130 und es liegt darin bereits die ganze

1 17

Page 59: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Thematik des nachkantischen Idealismus beschlossen, der ja versucht hat, das Apriori und das Aposteriori in eins zu set-zen, und der ganz konsequent ebenso versucht hat, die beiden bei Kant voneinander getrennten Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft eben kraft ihrer gemeinsamen Wurzel in dem, was man dann Geist genannt hat, ebenfalls in eins zu setzen. Es steht dahinter bei Kant ein abgründiges Problem, nämlich das des Ausweisens der Apriorität selber, das Problem, woher ich also von der Apriorität weiß. Ein Problem, das dadurch mit einer solchen Schwierigkeit ver-bunden ist, weil ich ja nur durch Erfahrung, also nur durch ein Gewahrwerden irgendeiner Form, von diesem Apriori überhaupt wissen kann, während doch andererseits diese Rechtsquelle des Apriori, nämlich die Erfahrung, eben dem Apriori selber widerstreitet. Man könnte sagen, daß unter den sehr vielen Nötigungen, die es zu einem dialektischen Denken innerhalb der Kantischen Philosophie bereits gibt, diese nicht die geringfügigste ist. Daß also, sage ich, auf der einen Seite der Begriff des Apriori die Erfahrung ausschließt, weil ja die apriorische Erkenntnis eine solche Erkenntnis ist, die von aller Erfahrung schlechterdings unabhängig sein soll, daß ich aber andererseits doch nur durch eine Art von Erfah-rung, durch ein Gewahrwerden, dieses Aprioris soll habhaft werden können. Und es ist ein Widerspruch, der eben nach dem Verfahren der gewöhnlichen traditionellen Logik gar nicht aufzulösen ist, so daß die Philosophie dann eigentlich gar keinen anderen Weg gehabt hat, als diesen Widerspruch selber thematisch zu machen. Dialektisches Denken heißt ja überhaupt, wenn ich es einmal von dieser Seite her versuchen darf zu bestimmen, soviel wie: nicht mit dem Verleugnen oder dem Wegschaffen von Widersprüchen - wenn diese Wi-dersprüche zwangvoll auftreten - sich zu begnügen, sondern statt dessen den Widerspruch zum Gegenstand, zum Thema der philosophischen Reflexion zu erheben - und Sie können hier sehen, wie stark diese Nötigung nun tatsächlich ist.

Es heißt bei Kant sittlich handeln soviel wie aus reiner Ver-

118

nunft handeln; und die oberste Bestimmung von reiner Ver-nunft ist ja bei Kant das Apriori, das synthetische Urteil a priori. Ein synthetisches Urteil a priori und damit also eigentlich die Gestalt, in der wir des Apriorischen überhaupt habhaft werden, die wird von Kant bezeichnet - Sie müssen mir verzeihen, wenn ich hier auf eine elementare Bestim-mung der »Kritik der reinen Vernunft« zurückgreife, aber Sie werden gleich sehen, daß das in einem sehr zwangvollen Zusammenhang mit der praktischen Vernunft steht - durch zwei Qualitäten, durch zwei Merkmale, nämlich durch Not-wendigkeit und durch Allgemeinheit.131 Wenn Sie diese bei-den Prinzipien von Allgemeinheit und von Notwendigkeit auf die praktische Vernunft übertragen, dann kommen Sie gewissermaßen von selbst zu dem, was in der praktischen Philosophie von Kant als der kategorische Imperativ einge-führt worden ist. Der kategorische Imperativ ist unter die-sem Gesichtspunkt also nichts anderes als die Maxime des Handelns, das oberste Prinzip eines jeden praktischen Han-delns, das die beiden Momente der Notwendigkeit und der Allgemeinheit miteinander vereinigt. Allgemein soll er des-halb sein und allgemein ist das Apriori deshalb, weil es durch nichts Individuiertes, durch nichts Einzelnes eingeschränkt werden darf. Wobei man daran erinnern darf, daß die be-stimmte Einzelheit ja ihrerseits eine bestimmte Einzelheit wird nur als ein eben in Raum und Zeit Individuiertes, das heißt als etwas, was Material, was Empfindung bereits in sich hat und was insofern dem Prinzip der Reinheit bereits wider-spricht, als es daran gebunden ist, daß mir irgend etwas Ma-teriales gegeben ist, was von mir als reiner Form des Bewußt-seins unterschieden ist. Der Begriff der Notwendigkeit, der steckt nun in dem Begriff der Gesetzgebung drin. Das heißt, die Vernunft tritt überhaupt mit dem Charakter deduktiver Notwendigkeit auf, mit dem Charakter, daß alle Bestim-mungen aus ihr nach den Sätzen der Logik folgen sollen; und dieses Moment der Notwendigkeit hat in sich bereits eine merkwürdige, lassen Sie es mich vorsichtig sagen, Affinität

119

Page 60: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

zu eben jener Kausalität, die ja nun eigentlich erst in dem Bereich der Erscheinungen herrschen soll. Wenn Kant das Prinzip der Notwendigkeit auf die Vernunft selbst als auf ein Schließen nach Regeln überträgt, dann wird dadurch das Prinzip der Kausalität, das er in der »Kritik der reinen Ver-nunft« auf die Erscheinungen einschränkt, in gewissem Sinn bereits in der intelligiblen Sphäre, also innerhalb der erfah-rungsunabhängigen Sphäre aufgesucht; und das mag dazu helfen, meine Damen und Herren, daß Sie den sonst sehr schwer verständlichen Widerspruch bei Kant richtig begrei-fen können, daß in der Moralphilosophie, in der Moral, die ja von ihm definiert wird geradezu als die Sphäre der Freiheit, trotzdem immerzu von Gesetzmäßigkeit die Rede ist. Und das mag auch helfen, Ihnen verständlich zu machen, daß die ganze Moralphilosophie von Kant eigentlich festgemacht ist an dem Begriff der Autonomie als der, könnte man mit einem späteren Begriff sagen, Indifferenz von Freiheit und Notwendigkeit, insofern als die sittlichen Gesetze zwar Ge-setze der Freiheit sind - weil ich als vernünftiges Wesen sie mir selbst gebe, ohne von irgendeinem Äußeren mich dabei abhängig zu machen - , zugleich aber doch den Charakter der Gesetzmäßigkeit haben, weil vernünftig handeln und nach Vernunft schließen überhaupt anders als gesetzmäßig, nach Regeln schließen und handeln, gar nicht begriffen werden kann. Das also wäre zunächst einmal zu der Interpretation der Gegebenheit des Sittengesetzes zu sagen, die eben zu fas-sen ist als eine Gegebenheit zweiten Grades: nämlich als das Dasein der Vernunft - das Vorhandensein und Registrieren der Vernunft als solcher, und nicht etwa als deren Erfah-rungsinhalt - , das dabei als seine beiden Momente Notwen-digkeit und Allgemeinheit impliziert, und im Begriff der Notwendigkeit sofort auch das Gegenteil der Freiheit impli-ziert, als deren Organon zugleich eben diese Vernunft von Kant bestimmt wird.

Nun hat aber — und das hängt damit zusammen, daß Kant ja nun sagt, es sei diese Freiheit und es sei das Sittengesetz

102

doch etwas Vorfindliches - das Ganze auch bei Kant selbst noch eine andere Seite; es changiert dieser Begriff. Sie wer-den sogleich sehen, daß diese zweite Bedeutung mit der er-sten zusammenhängt, aber sie stellt sich doch wesentlich pro-blematischer dar als die außerordentlich luftige und deshalb auch entsprechend schwer angreifbare Konstruktion des Apriori, die ich Ihnen eben versucht habe ein wenig ausein-anderzufalten. Er stützt nämlich in der praktischen Philo-sophie Gegebenheit auf Nötigung, das heißt: den Zwang, der von den moralischen Prinzipien ausgeht; und wenn er an der entscheidenden Übergangsstelle der »Kritik der reinen Ver-nunft«, mit der wir uns im Augenblick noch beschäftigen, immer wieder solche Sätze gebraucht, wir werden darauf noch kommen, wie >daß wir die Tatsache der Freiheit oder das Grundprinzip der praktischen Philosophie als ein Gege-benes hätten<, so liegt dem nicht nur die Erinnerung an diese Gegebenheit zweiten Grades zugrunde, also daran, daß wir halt so etwas wie Vernunft haben, sondern es liegt dem noch etwas Spezifischeres und etwas Sachhaitigeres zugrunde. Er denkt nämlich dabei doch - ich glaube, er würde es leugnen, und doch, wenn Sie die Texte lesen, werden Sie darum schwer herumkommen - an den Zwangscharakter, der von den moralischen Prinzipien ausgeübt wird, also ganz einfach daran, daß wir als empirische Wesen, möchte ich hier sagen, die Nötigung zunächst einmal erfahren, bestimmte Hand-lungen zu unterlassen und andere Handlungen zu tun. Er denkt dabei einfach an das, was wir uns zunächst einmal em-pirisch-psychologisch mit der Tatsache des Gewissens be-zeichnen könnten. Wenn wir immer wieder von dem Fak-tum des Sittengesetzes reden, dann spielt dabei sicher eine sehr erhebliche Rolle die phänomenologische oder deskrip-tive Entdeckung, daß die Menschen durchweg, sie mögen noch so sehr im Widerspruch zu bestimmten Moralvorstel-lungen oder Ordnungen sich befinden, sich nach irgendwel-chen derartigen Nötigungen richten, daß sie vor etwas Ach-tung haben. Ich brauche Sie hier nur an die ad nauseam und

121

Page 61: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

mit spießbürgerlichem Behagen wiedergekäute Tatsache zu erinnern, daß es selbst in der sogenannten Unterwelt einen bestimmten Ehrenkodex geben soll und daß es für den, der so ein richtiger Verbrecher ist - so liest man es jedenfalls in Bü-chern - , auch bestimmte Verhaltensweisen gibt, die nach sei-nem Kodex schlechterdings ausgeschlossen sein sollen, wor-aus dann jeder Moralist sozusagen eine Rechtfertigung für seinen eigenen Moralismus zieht; denn auch die schlechter-dings Amoralischen sollen eine Moral haben, wie wenn diese Moral eine Rechtfertigung der anderen und erhabeneren lie-fern könnte; aber das nur nebenbei.

Es ist hier zu sagen, da man ja an dieser Stelle in dem Be-reich des Empirischen sich wirklich befindet, daß Kant empi-risch recht hat, wenn er sich auf die Nötigung beruft, wie es in der »Kritik der praktischen Vernunft« immer wieder der Fall ist,132 die ja dann das stärkste Argument dafür sein soll, daß wir das Sittengesetz anerkennen, daß tatsächlich so etwas wie Gewissen vorliegt. Nur ist die Sache so, daß die Faktizi-tät des Gewissens - und hier fängt sich Kant in seiner eigenen Schlinge - und die Faktizität solcher zwanghaften Verhal-tensweisen, wie sie vielfach von dem Begriff des Gewissens gedeckt werden, über die Legitimität dieser Instanz als sol-cher noch gar nichts sagen. Wenn ich Kant an dieser Stelle vorwerfe, daß er sich in seiner eigenen Schlinge fängt, so will ich damit nichts anderes sagen als: wenn er schon jedes Empi-rische ausschließen will aus der Begründung der Moralphi-losophie - und das ist die eigentliche Konzeption - , dann kann er natürlich sich nicht wieder auf die empirische Gege-benheit des sogenannten sittlichen Zwanges im Menschen selber berufen, weil dieser Zwang ja selber auch eine empiri-sche Tatsache, das heißt, weil er, Kantisch gesprochen, eine Sache der bloßen Psychologie ist und deshalb die Dignität nicht hat, die er ihm geben muß. >Geben muß<, weil ja die Tatsache, daß es so etwas wie diese sittliche Nötigung gibt, nun doch das stärkste Argument dafür ist, daß etwas da ist, was ich respektieren muß. Das ist nun eine der Stellen, an der

102

die empirische Wissenschaft Kant gegenüber entscheidende Fortschritte gemacht hat, und er wäre als der Aufklärer, der er gewesen ist, ganz sicher der Letzte gewesen, der diese Fortschritte verleugnet hätte. Die Psychoanalyse in ihrer strengen Gestalt - und ich meine bei Psychoanalyse immer nur ihre strenge Freudsche Gestalt und nicht die Verwässe-rungen, nicht die Verflachung durch Tiefe, die sie dann durch Leute wie Jung und Adler erfahren hat - hat nachge-wiesen, daß diese Mechanismen des Zwanges, denen wir un-terliegen, ihrerseits phylogenetisch sind, das heißt, Verinner-lichungen von tatsächlicher Macht, Verinnerlichungen der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Normen sind, die uns durch die Natur der Familie überliefert werden und die wir im allgemeinen durch Identifikation mit Vaterfiguren uns zu eigen machen. Darüber hinaus aber hat die Psycho-analyse nun etwas gezeigt, was Kant wenig behagt hätte, nämlich daß genau diese Instanz - die die Psychoanalyse mit Zwangscharakter bezeichnet oder wohl auch etwa in der späteren Phase von Freud mit Über-Ich - soweit sie als pa-thogene zu bezeichnen ist, irrational ist, das heißt, daß diese Nötigung eine Tendenz hat, sich auf Dinge zu übertragen, die mit Vernunft gar nicht mehr vereinbar sind; also daß Menschen, was weiß ich, nur noch schlafen können, wenn sie ein bestimmtes Ritual vollzogen haben, wie sie die Kissen glattstreifen, oder die ganzen Zwangshandlungen, wie sie besonders pedantische, sadistische und geizige Menschen un-ablässig im Namen eines möglichst geordneten Lebens voll-führen. 133 Kurzum also, die von Kant stipulierte Einheit der sittlichen Nötigung mit der Vernunft selber ist, wenn man dieser Nötigung nachgeht, gar nicht unproblematisch, son-dern wird im Gegenteil sehr fragwürdig. Kant würde selbst-verständlich an dieser Stelle argumentieren, Kant würde selbstverständlich sagen: >Das alles kann ich zugeben, soweit es sich um die Empirie handelt und soweit es sich nicht eben um die schlechterdings geltende formale Gestalt des Sitten-gesetzes überhaupt handelte Aber diese formale, abstrakte

123

Page 62: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Gestalt des Sittengesetzes ist ja ihrerseits doch wieder abge-zogen von diesen tatsächlichen Nötigungen, und wenn sie bei Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« hinter dem Namen der >Pflicht< schon eine etwas konkretere Gestalt an-nimmt, dann kann man ihr diese Abkunft nur allzu deutlich anmerken. Wenn eine jegliche Beziehung zu den realen Ver-haltensweisen, die durch das Pflichtideal ausgedrückt wer-den, entfiele, dann entfiele damit auch tatsächlich die Sub-stanz dessen, was bei Kant überhaupt unter dem Begriff der Nötigung aufgeführt wird. Andererseits kann man nicht leugnen, daß mittlerweile die bei Kant absolut gesetzte, näm-lich als ein formales Prinzip absolut gesetzte Nötigung, nicht, wie sie bei ihm erscheint, ein Unbedingtes, sondern ihrerseits ein Bedingtes ist, und daß sie deshalb nicht, so wie sie bei ihm erscheint, eine absolute Rechtsquelle des Sittli-chen abgeben kann. Im übrigen sind das Einsichten, die kei-neswegs erst der neuen Psychologie sich verdanken, sondern die mit großem Radikalismus in rein philosophischer Ana-lyse ausgesprochen zu haben, sicherlich nicht das geringste Verdienst von Friedrich Nietzsche gewesen ist, der ja genau gegen diesen Pflichtbegriff das Beschränkende angeführt hat und der ein unbeschreibliches Organ hatte für das Moment des Heteronomen inmitten der sogenannten Kantischen Au-

I tonomie.

Dieses vorausgeschickt, möchte ich jetzt noch versuchen, meine Damen und Herren, mit Ihnen den Text, an dem wir halten, kurz zu Ende zu besprechen. Ich glaube, daß er da-durch Ihnen sehr viel verständlicher werden wird, das heißt, daß ich mich ohne weiteres jetzt auf die durchgeführten Ana-lysen beziehen kann, wenn ich Ihnen die Stellen verlese, um die es sich hier im besonderen Maß handelt. Zunächst wer-den Sie jetzt verstehen, was der Satz heißt: »Praktisch ist al-les, was durch Freiheit möglich ist«135; weil nämlich Freiheit nichts anderes bedeutet als ein Verhalten, das nach nichts an-derem als nach reiner Vernunft sich richtet, und weil Han-deln in nachdrücklichem Sinn eben überhaupt nur dadurch

102

charakterisiert wird; während es so etwas wie Handeln im vollen Sinn des Subjektiven, des bloß von Subjektivität Be-stimmten, in dem Augenblick gar nicht mehr gibt, wo dieses Handeln von etwas anderem als der Subjektivität selber sich abhängig machen soll. Kant fährt nun so fort: »Wenn die Be-dingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empi-risch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als re-gulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z.B. in der Lehre der Klug-heit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Nei-gungen aufgegeben sind [.. ,].«136 Die Stelle ist deshalb nicht ganz leicht zu verstehen, weil man zunächst meinen könnte, es sei dabei daran gedacht - was sehr viel Sinn gibt - , daß >die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür über-haupt empirisch sind<. Denn tatsächlich - und, meine Damen und Herren, das ist der große moralphilosophische Kontro-verspunkt zwischen Kant und Hegel — sind ja die Bedingun-gen der Ausübung unserer freien Willkür empirisch. Das heißt, wenn meine freie Willkür mich dazu treibt, ein Haus anzustecken, dann ist die Realisierung dieser Willkür an empi-rische Bedingungen wie die Existenz des Hauses, die meiner Courage, das Verbrechen auszuführen, das Vorhandensein von Brennstoff und ähnliche empirische Momente geknüpft. Aber Kant wäre mißverstanden, wenn Sie ihn hier so inter-pretieren wollten, sondern es ist gerade das eigentlich der Kern der Kantischen Vorstellung von der moralischen Sphäre überhaupt: daß das Moralische etwas ist, was von empiri-schen Bedingungen schlechterdings unabhängig ist. Kant würde sagen: >Soweit meine moralischen oder unmorali-schen Handlungen bezogen sind auf empirische Bedingun-gen, kann das den Effekt meiner Willkür beeinträchtigend Also wenn ich ins Wasser springe, um einen Menschen aus dem Wasser zu ziehen, der Selbstmord begehen wollte und selbst nicht schwimmen kann, so kann es passieren, daß beide dabei ertrinken. Aber er würde sagen: >Dieser Effekt, der abhängt von den empirischen Bedingungen, ist selber

125

Page 63: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

bloß etwas Empirisches und hängt mit der Tatsache des Mo-ralischen überhaupt gar nicht zusammen, sondern die Tatsa-che des Moralischen ist lediglich eine Sache des reinen Wil-lens^ - also meiner absoluten Autonomie oder wie man das wohl auch, wie Kant selber es genannt hat - >eine Sache mei-ner Gesinnung.< Und daran können Sie verstehen, in wel-chem prägnanten Sinn die Kantische Ethik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, eine Gesinnungsethik ist, im Gegen-satz etwa zu dem, was man dann mit Verantwortungsethik bezeichnet hat, bei der die empirischen Bedingungen einbe-griffen werden müssen, als der Effekt der Handlungen dabei seinerseits zu einem mitbestimmenden Moment des morali-schen Aktes der Freiheit gemacht werden soll. Kant unter-scheidet also in diesem Sinn die pragmatischen Gesetze des freien Verhaltens, also alles das, was man als eine bloße Zweck-Mittel-Relation bezeichnen könnte, von dem eigent-lichen moralischen Gesetz; und die ganze Sphäre des Pragma-tischen, also die ganze Sphäre, in der moralisches Handeln, sei es der edelsten Absicht, sich abhängig macht von empiri-schen Bedingungen und empirischen Zwecken, wird von ihm verworfen. Es darf nur darum gehen, daß das Sittenge-setz als solches erfüllt werde, und der Effekt der dabei heraus-kommenden Handlungen wird in dieser Ethik ausgeschlos-sen von der Betrachtung. Das ist der innerste Grund dafür, nebenbei bemerkt, warum man mit einem gewissen Recht die Kantische Moralphilosophie als eine rigoristische be-zeichnet hat. »Dagegen« — sagt er nun - »würden reine prak-tische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein.«137

Ich glaube, nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, können Sie nun wirklich diese entscheidenden Formulierungen ohne weitere Interpretation verstehen. »Dergleichen aber« - wie solche reinen praktischen Gesetze - »sind die moralischen Ge-setze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrau-che der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon.« 138 Das

102

>sie gehören allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft< ist ein bißchen mehrdeutig, man könnte nämlich denken - in Erinnerung an die früheren Stellen, die wir be-sprochen haben - , sie gehörten im Gegensatz zur theoreti-schen Vernunft allein zur praktischen Vernunft, aber nach dem, was wir jetzt gehört und interpretiert haben, ist etwas anderes damit gemeint. Nämlich, daß die moralischen Ge-setze eigentlich allein die sind, die für den praktischen Ge-brauch der reinen Vernunft gültig sind und deren Kanon er-lauben, nicht gültig sind dagegen die pragmatischen Gesetze des Handelns, die schließlich nur solche der Klugheit und he-teronom sind, weil sie, indem sie uns an die äußeren Bedin-gungen und den äußeren Erfolg binden, uns gewissermaßen unfrei machen, abhängig machen von etwas, was nicht un-sere eigene Vernunft sein soll. Kant Fährt fort: »Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme« - Sie erinnern sich an die Probleme von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit — »gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künf-tige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck« — und der höchste Zweck ist das Sitten-gesetz - »betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet.«139 - Meine Damen und Herren, Sie haben hier die Ableitung eigentlich dessen, was man bereits in der »Kritik der reinen Vernunft« und bei Kant insgesamt mit dem Primat der praktischen Vernunft bezeichnen kann. Nämlich wenn unsere Vernunft überhaupt nur auf das Moralische eigentlich eingestellt ist und alles an-dere nur, ich möchte sagen, einen Anstoß für die Vernunft bietet, dann hat die praktische Vernunft dieser Theorie zu-folge über das Theoretische den Vorrang.

Es wird dabei nun der alte Teleologiegedanke, daß die Welt vernünftig eingerichtet sei, wie er in der Leibnizschen

1 2 7

Page 64: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Philosophie vorkam, in einer merkwürdigen Weise verin-nerlicht, nämlich so, daß daraus der Gedanke wird, daß un-sere Vernunft so eingerichtet ist, daß sie uns zu dem richtigen Tun anleitet, daß sie ausreichen soll, uns zu sagen, was zu tun sei. In einer solchen Weise wird dann in dieser zum ersten Mal radikal nach innen gerichteten, zum ersten Mal in einem radikalen Sinn subjektiven Ethik das teleologische Denken des klassischen Rationalismus umfunktioniert. Dabei gibt es aber nun allerdings eine sehr merkwürdige Unstimmigkeit, über die ich Sie nicht hin wegtragen möchte, ohne daß ich Sie darauf aufmerksam mache. Es wird nämlich plötzlich ge-fragt, was zu tun sei, wenn Gott existiert, wenn ich frei bin, wenn meine Seele unsterblich ist?140 Das steht nun aber in einem wirklichen Widerspruch - der sich nicht wegleugnen läßt — zu dem Kantischen moralphilosophischen Prinzip, denn diese drei Momente sollen ja ihrerseits erst als Postulate der praktischen Vernunft, also wenn man so sagen darf, wie es an einer Stelle der »Kritik der praktischen Vernunft« heißt, als >Garanten des Sittengesetztes<141 folgen. Infolgedessen kann man sie aber nun nicht wieder so behandeln, als ob sie eigentlich die Bedingungen eben des Sittengesetzes selber wären. Sie sind dem Sittengesetz gegenüber das Bedingte, und ich habe Sie ja bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Kant darin sich durchaus in der Tradition des neuzeitlich ra-tionalistischen Denkens befindet, daß er sogar die Existenz Gottes aus der Vernunft, welche eins ist mit dem Sittenge-setz, ableitet und nicht unbedingt setzt. Wenn das aber so ist, dann ist es natürlich wieder nicht einzusehen, wieso denn diese drei Momente etwas Wesentliches darüber besagen sol-len, was ich tun soll, während: was ich tun soll, ja doch von dem Unbedingten, nämlich von dem Sittengesetz herrühren soll und nicht von dem, was dann als dessen mögliches Kom-pensat oder als dessen mögliche Garantie in einer weiteren Entfernung sich erst abzeichnet. Ich glaube nun, daß das einer der ersten Punkte ist, an dem in die Kantische Ethik sich dieses eigentümliche Moment des Heteronomen ein-

1 28

schleicht, denn dadurch, daß die Freiheit selber ja von ihm umgedeutet wird als die Freiheit des losgelassenen und abso-luten Vernunftgebrauchs und zugleich in das Gesetz, dem ich zu entsprechen und nach dem ich zu handeln habe, gerät in diese Philosophie sogleich auch ein autoritäres Moment. Es ist so, als wenn die Berufung auf die Vernunft allein gewis-sermaßen nicht ausreichen würde, das Sittengesetz, das ja mit der Vernunft zusammenfällt, durchzusetzen, und tatsächlich fehlt es in den ethischen Schriften von Kant, vor allem in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, nicht an Stellen, wo er darauf hinweist, daß es, um gut zu handeln, eigentlich der Philosophie gar nicht bedürfte, daß man auch (immer Treu' und Redlichkeit üben kann<, wenn man die »Grundle-gung der Metaphysik der Sitten« nicht studiert hat; wobei man sozusagen an die alte bäuerliche, ländlich brave Tugend-haftigkeit verwiesen wird, und in gewisser Weise die Ratio-nalität wieder eingeschränkt wird, die im Vernunftbegriff liegt. Denn wenn tatsächlich der Vernunftbegriff die abso-lute Instanz ist und nichts sittlich ist als die Vernunft, dann ist alles Handeln, das nicht aus Vernunft erfolgt, tatsächlich un-sittlich - ich spreche jetzt im Sinne von Kant, im Sinn der immanenten Krit ik- , und in dem Augenblick, in dem er das nicht anerkennt, bringt er selber in seine eigene Philosophie, um den Autoritätscharakter des Sittengesetzes zu bewahren, ein Moment herein, das seinem eigenen Begriff der Autono-mie widerspricht. Wenn das aber so ist, dann ist das Sittenge-setz tatsächlich allein nicht zureichend, um die Menschen zu sittlichem Verhalten zu bewegen. Und auch hier wiederum befindet sich Kant, soweit wir pragmatisch, also im Bereich, lassen Sie mich sagen: der sittlichen Erfahrung argumentie-ren, in Übereinstimmung mit der psychologischen Beobach-tung, die uns darüber unterdessen belehrt hat, daß zwar so etwas wie Gewissen in dem vorhin charakterisierten Sinn existiert, daß es alles das gibt, was wir Nötigung nennen, daß aber gleichzeitig die Macht der Triebe gegen dieses uns ja Aufgedrungene, Sekundäre, Abgeleitete des Über-Ichs so

106

Page 65: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

stark ist, daß unsere eigene Haltung so problematisch ist, daß demgegenüber dann doch immer wieder die Tendenz be-steht, auszubrechen. Und Kant ist darin ein richtiger Spre-cher der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Disziplin, vor allem eben der bürgerlichen Arbeitsdisziplin - und wo von bürgerlicher Moral die Rede ist, muß man immer in erster Linie an die Disziplin der Arbeit denken - , daß er nun gewis-sermaßen Hilfskräfte mobilisieren muß, um dieses Sittenge-setz dem Menschen ordentlich einzubläuen, weil der Appell an die reine Vernunft dabei allein nicht genügt. Und deshalb nun kommt die merkwürdige Formulierung zustande, die wahrhaft im Kantischen Sinn heteronome Formulierung: >was zu tun sei unter den Bedingungen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit; was gar nicht so weit entfernt ist von der heteronomen Gestalt der Religion, die das arme Bauern-frauchen dazu ermahnt, nun aber auch ja nicht eine Kartoffel aufzulesen, die ihr nicht gehört, indem sie ihr gleichzeitig glauben macht, daß, wenn sie das tut, sie in die Hölle kommt. Sie sehen also, wie in dieser Philosophie die erha-bensten Motive mit den beschränktesten, und zwar nicht genetisch, das meine ich nicht, sondern ihrem eigenen imma-nenten Sinn nach, eben doch aufs allertiefste sich verschrän-ken. »Freiheit« - heißt es dann weiter - gäbe es eigentlich »nur im praktischen Verstände«.142 Und an der Stelle sagt nun Kant schließlich wirklich das, was Ihnen zunächst höchst paradox klingen mußte, wovon ich aber hoffe, daß ich es Ihnen nun wirklich durch Interpretation völlig deutlich ge-macht habe, wie es dazu kommt, nämlich: »Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden.« Und das führt er nun so aus: »Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Will-kür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schäd-lich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsver-mögen zu überwinden [.. .].«143 Auch hier ist wieder ein ganz wichtiges Moment registriert, nämlich die psychologische

130

Möglichkeit, durch das Ich-Prinzip das Es, die Triebe zu kontrollieren, wenn sie irgendwie mit der Realität in Wider-spruch geraten. »Diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft.«144 Also hier haben Sie ganz klar das ausgesprochen, daß der sogenannte empirische Beweis für unsere Freiheit damit geliefert werden soll, daß eben die Vernunft als das Vermögen der Realitäts-prüfung ein uns Gegebenes ist. Es ist dabei sehr interessant und beweist wieder die großartige Redlichkeit von Kant, daß er an dieser Stelle, wo es nun wirklich hart auf hart geht, daß er da keineswegs die Vernunft irgendwie als ein logisches Vermögen im leeren Raum postuliert, sondern daß die Über-legungen, die er hier anstellt, durchaus die empirischen Überlegungen über den tatsächlichen Gebrauch der Ver-nunft als des Vermögens sind, durch das wir die Realität prü-fen und unter Umständen unmittelbare Befriedigungen dann zurückstellen können, wenn sie mit unserem Interesse insge-samt in Widerspruch stehen. Sie sehen also, daß hier, wo er ja nun wirklich argumentieren muß, um die Existenz der Ver-nunft zu beweisen, daß da der absolute Gegensatz von prag-matischen Gesetzen der Moral und eigentlich moralischen Gesetzen von ihm gar nicht respektiert wird, weil er nämlich tief und wahrhaft genug ist, zu sehen, daß die Vernunft als ein reines Organ der Wahrheit und die Vernunft als ein Organ unserer Selbsterhaltung nicht zwei schlechterdings vonein-ander verschiedene Medien sind, die dann nichts miteinander zu tun hätten, sondern daß die sich verselbständigende und auf die Wahrheit sich richtende Vernunft gleichsam ein dia-lektisches Produkt, gleichsam das Kind eben jener selbster-haltenden, im üblichen Sinn praktischen Vernunft ist, die er in jenem vorhergehenden Abschnitt als bloß >pragmatische< Vernunft ein wenig abgewehrt hat. »Diese [Vernunft]« -fährt er fort - »gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht,« - Sie se-

131

Page 66: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

hen hier die Gleichgültigkeit gegen den Effekt - »und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was ge-schieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.«145 Ich habe Ihnen eigentlich jetzt diese et-was paradoxen Sätze von Kant nur noch vorgelesen gleichsam als pointierte Bestätigungen der Interpretationen, die ich vorangezogen habe. Ich hoffe, daß für Sie alle nun diese Ge-setze so transparent zu werden beginnen und so viel Sinn an-zunehmen beginnen, wie ich es in meiner Interpretation ver-sucht habe, Ihnen anzudeuten. - Ich danke Ihnen.

1 3 2

9. VORLESUNG

2 7 . 6 . 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, vielleicht erinnern Sie sich, nachdem die Vorlesung noch

einmal unterbrochen werden mußte,146 daran, daß wir ste-hengeblieben waren in der Konstruktion des Ansatzes der Moralphilosophie von Kant, und ich möchte einfach da fort-fahren. Zunächst möchte ich Sie erinnern an die Formulie-rung, daß die Vernunft >Gesetze gibt*, »welche Imperativen, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind,«147 wobei in diese eine Formel gleichsam ein Widerspruch zusammengedrängt ist, denn nach den Bestimmungen von Kant ist ja gerade Freiheit das, was nicht Gesetzen unterliegt, und Sie können vielleicht den Ansatz der Dialektik, auf den ich Sie ja in dieser Vorle-sung auch vorbereiten helfen möchte, auch daran sich klar-machen. Ich suche das ja immer wieder und von den ver-schiedensten Ecken her Ihnen zu zeigen, daß die Dialektik einen solchen Widerspruch, der einfach hier in eine Formu-lierung unaufgelöst zusammengedrängt ist, aufzulösen und zu entfalten versucht. Also Sie können der Kantischen Philo-sophie gegenüber, und das ist einer der Gründe, warum ich auf solche widerspruchsvollen und zwar pointiert wider-spruchsvollen Formulierungen bei Kant einen so großen Wert lege, die Dialektik sich daran klar machen, daß sie eben der Versuch ist, solche pointierten und damit freilich stehen-bleibenden Widersprüche zu entfalten, anstatt daß sie, man könnte fast sagen, in einer Art von Synkopierung einfach auftreten. Und diese »Gesetze der Freiheit sind,« - und da ha-ben Sie im Grunde schon die ganze Kantische Moralphiloso-phie wie in einer Nußschale drin - die, »welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was ge-schieht, unterscheiden [. ..].«148 Kant sucht, das ist für den aporetischen Ansatz der Kantischen Moralphilosophie ent-scheidend, diesen Widerspruch von Gesetz und Freiheit hier

130 132

Page 67: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

- und das bitte ich Sie genau zu beachten, denn das ist wirk-lich sozusagen das Scharnier der ganzen Kantischen Moral-philosophie - auf die Weise zu bemeistern, daß er die beiden Momente Gesetz und Freiheit, die in diesem Satz zusammen-treffen, so auflöst, daß die Gesetzmäßigkeit eine Gesetzmä-ßigkeit nicht dessen ist, was geschieht, sondern nur dessen, was sein soll, als solche aber ihm zufolge absolute Stringenz, absolute Bündigkeit besitzen soll. Während gleichwohl es den einzelnen Subjekten, an welche dieser Imperativ ergeht, frei bleiben soll, ob sie nun diesen Imperativ befolgen, so daß - und das unterscheidet ihn eben grundsätzlich von der Na-turgesetzlichkeit - gar nicht ausgemacht zu sein braucht, ob jemals empirisch etwas diesen Gesetzen Entsprechendes ge-schieht; während ja die Gesetze der Natur eben gar nichts anderes waren als die Gesetze, die sich auf das Tatsächliche, auf den Zusammenhang der Natur bezogen haben. Das bitte ich Sie also noch einmal festzuhalten, damit Sie das Weitere nun verstehen. Kant schränkt diese Konstruktion einer Sphäre der Freiheit im folgenden ein und diese Einschrän-kung ist ebenfalls sehr merkwürdig, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens, weil sie wieder zeigt, wie sehr Kant eben doch das Bewußtsein der Probleme, um die es sich hier han-delt, selbst erreicht hat und wie vollkommen offen er sie dar-legt, dann aber auch wegen einer gewissen merkwürdigen Vieldeutigkeit, die in dieser Einschränkung selber enthalten ist. Ich muß Ihnen das auch verlesen, denn, meine Damen und Herren, man kann diesen Dingen nur gerecht werden, wenn man sich an Texte, und zwar meiner Überzeugung nach an relativ knappe, in sich sehr bündige und beschränkte Texte anschließt, die man dann allerdings wie durchs Ver-größerungsglas betrachtet. Ich glaube, daß nur zwischen einer solchen mikrologischen Verfahrensweise und der Kon-struktion des Gedankens ein fruchtbares Zusammen besteht, während das >mittlere< Verständnis sogenannter großer Zu-sammenhänge innerhalb eines Denkgebildes eigentlich von vornherein so die Gefahr der Subalternität hat. Kant fährt

134

also fort: »Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch an-derweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Triebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können.«149 Ich mache Sie zunächst auch hier schon darauf aufmerksam, daß Kant nicht nur die Lösung, die er selber vorschlägt, einer Bedingung des Weiterfragens unter-wirft, darauf werden wir gleich kommen, sondern auch, und das ist nun für Kant außerordentlich bezeichnend, das Wei-terfragen an dieser Stelle abbricht, daß er hier aufhört weiter-zufragen. Auch darüber, über diese eigentümliche Tendenz des Abbrechens von Kant werden wir etwas sagen müssen. Was Kant mit diesen anderweitigen Einflüssen bestimmt, ob das »in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursa-chen nicht [doch] wiederum Natur sein möge«, das läßt zwei Deutungen zu, und zwar zwei einander kontradiktorisch ent-gegengesetzte. Die eine ist die - und ich würde denken, aus dem gesamten Zusammenhang, nach dem Wortlaut allein, ist es nicht zu entscheiden - , die jedenfalls im Sinn der Kanti-schen Argumentation selber liegt: daß er hier an eine entfern-tere Absicht der Natur denkt, die eben doch mit dem Reich der Freiheit derart koinzidieren soll, daß, wenn die Natur vollständig uns bekannt wäre, wenn also die unabgeschlos-sene Erkenntnis einer solchen Erkenntnis wiche, wie sie nur dem absoluten göttlichen Bewußtsein von Kant zugeschrie-ben wird, dann in dieser Art von Erkenntnis das Reich der Zwecke, wie es von der Moral dargestellt werden soll, und das Reich der Ursachen, wie es in der Naturerkenntnis darge-stellt werden soll, miteinander zusammenfielen, weil die Di-vergenz zwischen diesen beiden Momenten für Kant uner-träglich ist. Das wäre, wenn man diese Stelle mit Rücksicht

130 134

Page 68: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

auf das Kantische Gesamtsystem interpretiert, wahrschein-lich das, was gemeint ist. Aber - und das ist oft so - wenn Sie sich an den Wortlaut dessen halten, was hier zunächst einmal steht, dann ist eine andere Interpretation auch möglich, die wir ihrem Gehalt nach schon berührt haben, nämlich die -und das hängt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Natur bei Kant zusammen - , daß ihrerseits diese Gesetze der Frei-heit auch in den Zusammenhang der Natur als eines determi-nierten Zusammenhangs hineinfallen. Mit anderen Worten also: daß das Sittengesetz als ein Gegebenes, so wie wir uns ihm gegenüber finden, seinerseits, wie es Hegel sagen würde, auch ein Gewordenes, ein Entsprungenes ist, das in seinen Ursprüngen doch auch wieder der Kausalität der Na-tur unterliegt; so wie man etwa in der Psychoanalyse das Uber-Ich, die Gewissensinstanz auf Grund der Triebdyna-mik und Triebökonomik, auf Grund eines Identifikations-mechanismus, also durch Kategorien, die selber ins Bereich der Natur hineingehören, erklären könnte. - Es bleibt also hier offen, ob Kant nun gerade dadurch die »Kritik der prak-tischen Vernunft«, ich möchte sagen, nach unten oder nach links öffnet, ob er also bereit ist, hier nominalistisch die All-gemeinheit des Sittengesetzes doch wieder auf ontische, auf tatsächlich seiende Determinanten hin zu öffnen, oder ob er gerade im Gegenteil sich hier vorstellt, daß die Auflösung des Widerspruchs zwischen der Sphäre der Freiheit und der Sphäre der Natur in einem höher gearteten Begriff von Na-tur, nämlich in einer göttlichen und infolgedessen selber gu-ten Natur, aufgesucht werden kann.

Meine Damen und Herren, Sie könnten mich fragen - und ich darf darüber vielleicht, über dieses Methodische, doch ein paar Worte wenigstens verlieren - , warum, wenn für den Kenner des Kantischen Gesamtsystems die Probabilität so groß ist, daß das an Ort und Stelle von Kant Gemeinte das erste ist,150 ich mir dann die Mühe mache, diese zweite Mög-lichkeit überhaupt heranzuziehen. Abgesehen davon, daß immerhin die Problematik der Sache in diese Richtung ja

130

ebenso drängt wie in die andere, möchte ich Ihnen darauf prinzipiell sagen, daß im Gegensatz zu der Anschauung der Philologie - die sicher sehr viele von Ihnen als absolut geltend erfahren und die Sie so stark als Lehre empfangen, daß es Sie eine gewisse geistige Anstrengung kosten wird, davon sich zu emanzipieren - ich nicht der Ansicht bin, daß geistige Ge-bilde sich wesentlich erschließen durch den Rekurs auf den Willen und die Intention ihres Urhebers. Ich glaube, daß da eine ganze Menge von Fehlerquellen im Spiel sind, von de-nen die eine und vielleicht gröbste die ist, daß der Wille und die Intention ja absolut gar nicht sich erschließen lassen, ge-nau so wenig wie etwa im allgemeinen in der juristischen Interpretation der sogenannte Wille des Gesetzgebers sich er-schließen läßt, der, wenn ich recht unterrichtet bin, auch in der Jurisprudenz immer noch herumgeistert. Aber dahinter steckt etwas Tieferes: daß es nämlich bei Argumentationen, in denen es um so außerordentlich ernste und verantwortli-che Dinge geht, wie die, von denen wir eben bei Kant spre-chen, sich ja gar nicht bloß handelt um das, was der Kant gewollt hat, sondern daß die Überlegungen, die er anstellt -und gerade darin, würde ich sagen, besteht die Größe eines Denkers wie Kant - , sich in der subjektiven Meinung nicht erschöpfen, die er dabei verfochten hat, sondern daß ihre Substanz besteht in der objektiven Bewegung des Begriffs, also in der objektiven Stringenz, in der objektiven Plausibili-tät dessen, was verhandelt wird. Ich glaube, daß es überhaupt so ein Vorurteil aus der, wie soll man sagen, guten Stube des bürgerlichen geistigen Haushalts ist, daß die geistigen Ge-bilde das Eigentum der großen Persönlichkeiten, der großen Denker, Dichter und Komponisten und sonst was sind, die da in Gestalt von Gipsbüsten in diesen guten Stuben früher herumzustehen pflegten, aus denen man sie zwar entfernt hat, in denen sie aber dafür unsichtbar wahrscheinlich immer noch um so verhängnisvoller herumgeistern. Sondern es ist doch vielmehr so, daß ein bedeutendes geistiges Gebilde die Resultante ist aus der Anstrengung dessen, der sie denkt, und

137

Page 69: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

dem objektiven Sachverhalt, der dabei gedacht wird, und das ist gleichsam das Ideal der geistigen Anstrengung, die dabei überhaupt geübt wird. Und, meine Damen und Herren, das selber ist ein moralischer Sachverhalt, das selber ist etwas, was ich Ihnen fast als Maxime vor Augen stellen möchte. Die Substanz eines geistigen Gebildes besteht wesentlich darin, daß die Willkür des einzelnen, je Denkenden in der Sache und in dem Zwang der Sache untergeht, daß sie darin verschwin-det. Geistige Gebilde sind nicht der Ausdruck von Intention und dessen, der sie schafft, sondern sie sind das Erlöschen dieser Intention in der Wahrheit der Sache selbst.151 Und des-halb glaube ich, daß diese Sache selbst in den Texten ein Ge-wicht und eine Kraft hat, die gerade in den bedeutenden Fäl-len größer ist als die Kraft dessen, was der jeweilige Autor dabei verfolgt hat. Und infolgedessen würde ich sagen, ist es gerade die Aufgabe einer philosophischen Interpretation eines Textes, dem gerecht zu werden, was die Sache selbst, so wie sie formuliert ist, auf einer Resultante einander wider-streitender Kräfte sagt und nicht dem, was der Autor sich dabei gedacht haben mag, was demgegenüber nur ein parti-kulares und ein gewissermaßen ephemeres Element darstellt. Das ist der Grund, warum ich auf diese Sache hier so eingehe, und vielleicht wirft Ihnen das zugleich auch einiges Licht auf die interpretative Methode, wie ich sie insgesamt verfolge.

Ich habe Ihnen gesagt, was Kant vermutlich meint, näm-lich die höhere Absicht der Natur selbst, die auf die Einheit der beiden dualistischen Prinzipien abzielt. Ich habe Ihnen aber zugleich gesagt, daß auch das andere dabei gemeint wer-den kann. Sie würden dann daraufstoßen, daß, welche dieser beiden Interpretationen man nun wählt, abhängt von der Be-deutung, die man dem Wort Natur gibt. Und es wäre wohl eine außerordentlich wichtige Untersuchung - zunächst nun einmal wirklich philologischer Art, die, soviel mir bekannt ist, noch aussteht - , wenn man einmal die verschiedenen Be-deutungen des Begriffs Natur in der Kantischen Philosophie sehr strikt untersuchen und zeigen würde, was mit Natur

138

überhaupt gemeint ist. Dieser Begriff der Natur ist doppel-sinnig. Ein Leitfaden für diesen Doppelsinn des Begriffes Natur bei Kant ist Ihnen vielleicht der Doppelsinn des Wor-tes Ding bei Kant, das ja auf der einen Seite das Ding an sich als die unbekannte sogenannte Ursache meiner Erscheinun-gen, also ein absolut Transzendentes und mir vollständig nie Gegebenes meint, auf der anderen Seite aber das Ding als Konstitutum, also den Gegenstand meint, wie er als bleiben-der durch das Zusammenspiel meiner Empfindungen, also des Materials, mit meinen Anschauungsformen und mit mei-nen Denkformen zustande kommen soll. Wenn Natur nichts anderes heißen soll als der Inbegriff alles dessen, was im Be-reich der Dinge überhaupt vorkommt, oder wenn Natur ein Weltbegriff ist, wie es in der Arbeit über die Aufklärung von Kant heißt,152 dann würde der gleiche Dualismus, der, wie allbekannt, auf Begriffe wie das Ding an sich bei Kant sich erstreckt, auch auf den Naturbegriff selber sich erstrecken. Die Natur wäre dann in seiner Philosophie so doppelsinnig wie die Welt als die Totalität aller Dinge, die ihrerseits mir ja vollständig nie gegeben ist. Natur ist also bei Kant einerseits das Konstituierte, das Bedingte, der Inbegriff der Erfahrung und ist als ein innermenschliches Prinzip, nämlich als das Be-gehrungsvermögen, schließlich in der Arbeit über »Die Reli-gion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« von Kant ja mit dem radikal Bösen schlechterdings gleichgesetzt wor-den.153 Auf der anderen Seite ist sie aber als Ding an sich auch, wenn Sie mir eine Sekunde lang einmal diesen kitschigen Ausdruck durchgehen lassen, der Seinsgrund, also jenes Ab-solute, das in uns selber walten und uns Hinweise darüber liefern soll, was böse und was gut sein soll. Und diese Hin-weise selber werden dem Guten gleichgesetzt, weil sie ja ih-rerseits aus dem stammen sollen, was das Menschenwesen Kant zufolge charakterisiert, der Vernunft - und Sie müssen in diesem Zusammenhang sich daran erinnern, daß die Ver-nunft selber bei Kant ja eigentlich das Organon des Guten ist und ein anderes Organon des Guten als die Vernunft in dieser

130 138

Page 70: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Moralphilosophie überhaupt nicht vorkommt. Es wäre also danach die Vernunft von der Selbsterhaltung, von der Erfül-lung der Bedürfnisse der Menschen gar nicht zu trennen. Denn die Vernunft, die uns also nun jenes Gesetz liefern soll, das Kant zufolge als unbedingtes und objektives gilt - und darüber konnte Kant am wenigsten sich getäuscht haben, nachdem die ganze Geschichte der Philosophie der neueren Zeit, ich erinnere nur an Spinoza und an seinen Antipoden Hobbes, das ausgesprochen hat - , das Wesen dieser Ver-nunft ist ja Selbsterhaltung. Und noch in dem Kantischen Begriff des >Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll be-gleiten könnend schlägt, aufs äußerste sublimiert zu dem rein logischen Identitätsprinzip, diese Idee der Selbsterhal-tung, des Sich-als-Eines-identisch-Erhaltenden, durch. Auf der anderen Seite wird nun aber von ihm die Selbsterhaltung ja gerade als ein subalterner Grundsatz denunziert. Es gibt eine berühmte Stelle in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, wo er die Bemühung um die Erhaltung des eige-nen Lebens zwar als klug und vernünftig, aber als in einem höchsten und absoluten Sinn nicht moralisch, das heißt, als nicht rein aus dem Sittengesetz folgend, bezeichnet.155 Sie können vielleicht aus dieser Überlegung, aus diesem Wider-spruch, daß auf der einen Seite Vernunft ihrem eigenen Inhalt nach, ihrem eigenen Gehalt nach, von dem Interesse an der Erhaltung des Selbst nicht getrennt werden kann, weil Ver-nunft selber eigentlich die Identität des sich erhaltenden Subjekts ist, daß aber auf der anderen Seite die Vernunft in Gegensatz soll treten können zu den Interessen der Selbster-haltung, sich vielleicht am einfachsten und flagrantesten klar machen, warum Kant den Dualismus der beiden Begriffe von Natur, von denen wir eben handeln, eigentlich nicht er-tragen kann, und warum er dazu gedrängt wird, sie in einem höheren Begriff, wie man später gesagt hätte, aufzuheben. Es spielt dabei gar nicht so sehr das Bedürfnis nach Harmonie oder nach Ausgleich in einem höheren Prinzip oder nach Ein-heit oder nach allen diesen Dingen eine Rolle, von denen die

130 140

Philosophiegeschichten uns dann so alle möglichen Platitü-den zu erzählen pflegen, um dieses Verhältnis uns einleuch-tend zu machen, sondern es geht doch wohl ganz einfach darum, daß die Doppeldeutigkeit des Vernunftbegriffs selber - als etwas, was auf der einen Seite gebildet ist am Modell der Selbsterhaltung, andererseits aber die Partikularität dieser Selbsterhaltung, die auf verhängnisvolle Konsequenzen und Widersprüche führt, einschränken muß - dazu nötigt, über diesen Dualismus hinauszugehen und jedenfalls zu durch-denken, ob dieser ganze flagrante Widerspruch, an dem der Gedanke ganz unmittelbar zu laborieren hat, damit wegge-schafft ist. Ich glaube, mit anderen Worten, für das Motiv der Versöhnung steht gar nicht so sehr das berühmte Bedürfnis nach Harmonisierung oder nach systematischer Einheit oder all das, sondern ganz einfach zunächst einmal, daß ein solcher Widerspruch wie der, den ich Ihnen eben entfaltet habe, so-lange der Gedanke bei ihm stehen bleibt, unerträglich ist, daß er gar nicht geduldet werden kann. Nun aber wehrt Kant, nachdem er diese Spekulation mit einer Notwendigkeit durchgeführt hat, von der ich Ihnen vielleicht gezeigt habe, so hoffe ich wenigstens, woher sie rührt, ab und sagt sozusa-gen: >Bis hierher und nicht weiter* und sagt dabei wieder so ein bißchen, und da kommen Sie an dieses spezifisch bürger-liche Moment an dem Kant heran: >Das geht uns im Prakti-schen nichts an, und deshalb brauchen wir uns darum nicht weiter zu bekümmern.*

Nun möchte ich Ihnen doch ein paar Worte über dieses Abbrechen sagen. Erstens, weil es an allen möglichen Stellen eine Struktur der Kantischen Philosophie überhaupt ist, und weil es genau die Struktur ist, gegen die seine Nachfolger rebelliert haben. Denn ich würde sagen, wenn man den Un-terschied zwischen Kant und Fichte und allen folgenden Idea-listen auf einen Gestus bringen wollte, dann würde dieser Widerspruch genau der sein, daß die dieses Abbrechen, die-ses: >Aber das geht uns hier nichts an*, daß die das nicht haben ertragen können, sondern eigentlich gesagt haben: >Gerade

Page 71: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

wo Du sagst, das geht uns nichts an, da gehts uns erst recht was an!< Dabei ist der Grund, den ich Ihnen damit genannt habe, dafür aber nicht einmal der entscheidende, sondern die Konstruktion der Moralphilosophie selber beruht in einem entscheidenden Sinn auf diesem Abbrechen, das heißt, dar-auf, daß über die Gegebenheit des Sittengesetzes selber nicht weiter hinausgefragt werden soll, sondern daß ich diese Ge-gebenheit schlechterdings zu respektieren habe - und darin erinnert es paradox an die sinnlichen Daten, etwa das >Rot<, über das ich nicht diskutieren kann, wenn es mir als rot er-scheint, eben einfach, weil es da ist. Dieses Moment ist so entscheidend für die gesamte Konstruktion der Kantischen Moralphilosophie, daß wir über diesen Gestus des Abbre-chens uns doch einmal kurz unterhalten müssen, weil auch er sich wieder aus sehr komplexen Momenten komprimiert. Das, was Ihnen dabei zunächst auffällt, nach dem, was ich Ihnen schon auseinandergesetzt habe, ist der autoritäre Zug dabei, der sagt, wenn das Sittengesetz dir gebietet, du mußt deine Pflicht tun, dann ist es nicht gut zu grübeln, oder wie Kant das auszudrücken pflegt, dann sollst du darüber nicht weiter >vernünfteln<, sondern du sollst diese Gegebenheit wie eine jede andere Gegebenheit respektieren, sozusagen: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich!< Das heißt also nicht nur, gehorche dem Sittengesetz und grüble nicht darüber, warum es da ist, sondern daß es da ist, ist eigentlich der stärk-ste Beweis für seine eigene Gültigkeit. Demgegenüber ist selbstverständlich die Frage legitim, daß man nicht nur nach der Vorschrift selber, sondern auch nach ihrem Recht zu fra-gen hätte; und würde ein Psychologe - horribile dictu - sich der Kantischen Argumentation an dieser Stelle nähern, so könnte er nicht ohne Grund sagen, daß an dieser Stelle ein sogenannter Abwehrmechanismus vorliegt, das heißt, daß Kant gerade deshalb, weil ihm selber an der Genese der Pflicht und des Gewissens etwas mulmig ist, weil er selber merkt, daß hier im Zentrum der Autonomie etwas gewisser-maßen Heteronomes sich verschanzt, abwehrt und sagt:

142

>Nur um Gottes Willen nicht weiter, sonst geht mein ganzer schöner Rettungsversuch der Universalien in der Sollens-sphäre und damit eigentlich das ganze oberste Stockwerk meiner so hierarchisch aufgebauten Philosophie kaputt. < Man könnte dann zum Beispiel zur Kritik all der Zwangsme-chanismen gelangen, die bei Kant als geltend einfach suppo-niert werden, und zu der Zeit, wo die Psychoanalyse noch wirklich etwas wie eine radikale Gesellschaftskritik war und nicht eine Art Technik der psychologischen Massage, zu die-ser Zeit ist die Psychoanalyse wirklich auch so weit gegan-gen, daß sie eine jegliche Anerkennung von sittlichen Nor-men nur deshalb, weil sie da sind, anstatt daß sie selber durchsichtig gemacht und vor der Vernunft gerechtfertigt werden, kritisiert hat. Insofern könnte man sagen, daß der psychologistische Freud an dieser Stelle päpstlicher als der Papst und ein konsequenterer Kantianer war als Kant, den er übrigens vermutlich niemals gelesen hat. Damit aber ist die Sache nicht getan, sondern in diesem Abbrechen ist auch ein Wahres. Zunächst einmal hat der Kant - und das ist für die Konstruktion der Kantischen Moralphilosophie wohl sehr relevant - im Gegensatz zu seinen Nachfolgern das gehabt, was ich einmal abgekürzt das Bewußtsein der Nichtidentität nennen möchte. Das Kantische System der Transzenden-talphilosophie - und ich rede jetzt von der Kantischen Philo-sophie insgesamt - maßt sich nicht an, alles abzuleiten, so wie es Fichte in einem ganz strengen Sinn als den obersten Grundsatz ja prätendiert hat, sondern eben deshalb, weil die Erkenntnis sich Kant zufolge zusammensetzt aus einem Nichtableitbaren und aus einem Ableitbaren, deshalb kann auch das Zusammenspiel dieser Momente und der Inbegriff der Erkenntnis und der Inbegriff des Handelns selber nicht rein abgeleitet werden. Also, es steckt in dieser sonderbaren Resignation vor dem Positiven und Gegebenen nicht nur die-ses Heteronome drin, sondern auf der anderen Seite auch das Gefühl der Eingrenzung gegenüber dem Absolutheitsan-spruch der Vernunft selber, insofern die Vernunft selber be-

130 142

Page 72: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

haupten würde, daß alles was ist und ein jegliches Handeln nichts anderes sei als ihr eigenes Produkt, so daß also paradox gerade dadurch bei Kant, der das Heteronome so heftig kriti-siert, das, was Nicht-Ich und in gewisser Weise heteronom ist, in einem gewissen Sinn mehr geehrt wird und mehr zur Geltung kommt als in den idealistischen Philosophien, die zwar das Nicht-Ich viel mehr anerkennen als Kant es tut, aber dadurch, daß sie es ins Ich selber hineinnehmen, seinerseits eben doch wieder in Ich auflösen, und es damit auch als ver-nünftig zu vindizieren, zu rechtfertigen trachten.

Es steckt aber noch etwas anderes, Tieferes in diesem Mo-ment des Abbrechens drin, und das ist das Moment, auf das ich ganz im Anfang der Vorlesung Sie einmal aufmerksam gemacht habe und das hier sozusagen seinen wirklich theore-tischen Ort eigentlich hätte.156 Ich weiß nicht, ob Sie sich dar-auf besinnen, ich hatte es sicher zu früh anklingen lassen, nämlich dieses Moment, daß in der Scheidung der theoreti-schen und der praktischen Philosophie das drinsteckt, daß das richtige Handeln in theoretische Bestimmungen nicht rein aufzulösen ist. Wenn man versuchen würde, etwa ein absolutes Gesetz aufzustellen und aus reiner Vernunft zu de-duzieren, warum in der Welt nicht gefoltert werden soll, dann würde man dabei auf alle möglichen Schwierigkeiten stoßen - zum Beispiel auf jene Schwierigkeiten, die ganz ge-wiß manche Franzosen in Algier erfahren haben mögen, wenn in der furchtbaren Verkettung dieses Krieges ihre Geg-ner Gefangene gefoltert haben. Sollen sie dann ihre auch fol-tern oder sollen sie das nicht tun? Man kommt dann aber wirklich in allen derartigen moralischen Fragen, in dem Augenblick, in dem man sie überhaupt mit der Vernunft konfrontiert, in eine furchtbare Dialektik hinein, und dieser Dialektik gegenüber hat nun das Moment >Halt!<, das Mo-ment: »Darüber sollst du nicht nachdenken!* auch sein Gutes. In dem Augenblick, wo also ein Flüchtling zu einem kommt und Obdach haben will, wenn man in diesem Augenblick dann also den ganzen Apparat der Erwägungen anstellt, der

130 144

dazu gehört, anstatt zunächst einmal ganz einfach so zu han-deln: hier ist ein Flüchtling, der soll umgebracht werden oder irgendeiner Staatspolizei in irgendeinem Land in die Hände fallen und der muß versteckt und beschützt werden - und dem alles andere unterzuordnen. Wenn hier die Vernunft an einer falschen Stelle eintritt, dann wird die Vernunft wider-vernünftig. Und dieses Moment also, daß die Handlung, daß, was man tut, in der Theorie deshalb nicht rein aufgeht, weil es überhaupt zu einem richtigen Handeln gar nicht käme, wenn nicht gerade dem richtigen Handeln immer et-was von dem Bodensatz des Absurden beigemischt wäre, das drückt sich in diesem Kantischen Prinzip eben doch aus, und ich glaube, daß man überhaupt auch über die gesamte Sphäre der Moralphilosophie sinnvoll nur dann nachdenken kann, wenn man eines Doppelten sich bewußt ist: nämlich ebenso, daß diese ganze Sphäre mit der Vernunft durchdrungen wer-den muß, wie des anderen, daß sie dabei trotzdem in der Ver-nunft selber sich nicht rein erschöpft. Das ist ein Moment, wie es etwa in den religiösen Geboten gegenüber der Philo-sophie ausgedrückt ist, und ich würde sagen, das ist es aus rein philosophischem Motiv, nämlich eben deshalb, weil es die Grenze der Vernunft im Bereich des Moralischen bedeu-tet. Daß da in den Religionen - es mag im übrigen mit ihren moralischen Normen noch so problematisch bestellt sein -etwas Richtiges ist, und in diesem: >Gehe hin und folge nach!< steckt jedenfalls der Form nach etwas, was zu der Theorie des Moralischen so wesentlich dazugehört wie die Vernunft, die fordert, daß ich soll angeben können, warum ich an dieser Stelle hingehen und nachfolgen soll. Und ich glaube aller-dings, daß es gerade einem säkularen und aufgeklärten Den-ken ansteht - auch durch die Selbstreflexion auf das Denken

nicht nur solche Momente durch die Befragung auf ihre Autorität kritisch aufzulösen, sondern gleichzeitig diese Mo-mente als ein Ingredienz des richtigen Handelns selber zu ret-ten und in das, was man tut, hineinzunehmen.

Sie können an der Stelle, die ich Ihnen verlesen habe, sehr

Page 73: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

deutlich merken, wie bei Kantjenes Moment, das dann in der »Kritik der Urteilskraft« mit dem Begriff des Erhabenen be-zeichnet ist, nämlich jenes Moment der Erschütterung und der absoluten Selbstgewißheit in der reinen Autonomie, mit einem Moment genau des entgegengesetzten Wesens, näm-lich mit einem Moment bürgerlicher Beschränktheit, bür-gerlicher Enge sich verschränkt. Ich würde fast sagen, daß gerade die Beschränktheit des früheren Bürgertums, dem Kant angehört, als die Einschränkung des Gefühls der Sou-veränität, die in der nachkantischen Zeit die Menschen zu recht oder zu unrecht sich erworben haben, so etwas ist wie die Bedingung von moralphilosophischem Denken, wie die Bedingung des Moralischen selber. Man müßte fragen, ob ohne dieses beschränkende Moment so etwas wie Moralphi-losophie und so etwas wie richtiges Handeln überhaupt mög-lich sei, ohne daß man - und ich hoffe, ich brauche das kaum hinzuzufügen - nun deshalb das Rad der Geschichte zurück-drehen kann und dieses Beschränkende selber, nachdem es von der Bewegung des Geistes, von der »Furie des Ver-schwindens« - wie es bei Hegel heißt157 - einmal aufgelöst worden ist, nun mit Gewalt zitieren und festhalten kann. Wie es zum Beispiel - und das ist nicht der Ruhmestitel von Hegel - die Tendenz Hegels gewesen ist, der, indem er das Ver-hängnis gesehen hat, das in der Hinwegnahme des Beschrän-kenden gelegen war, nun gesucht hat, das Beschränkende aus Freiheit zu apologetisieren und damit in einen Widerspruch geraten ist, den man nicht als einen dialektischen Wider-spruch wird retten können. Ich erreiche also hier den Punkt, den Valery wohl aufs großartigste und prägnanteste bezeich-net hat, mit der Frage: >Ob die Tugend selber veralte?<158, wie ja in der Tat der Begriff der Tugend für uns einen archaischen Klang angenommen hat, den sie bei Kant durchaus noch nicht besessen hat. Und es ergibt sich die Frage, wie über-haupt diese ganze Kantische Moralphilosophie, nachdem nun einmal der Begriff der Tugend dahin ist, eigentlich noch erfahren werden kann. Ich bin Ihnen schuldig, Ihnen den

130 146

Grund für diese geschichtliche Dialektik, der der Begriff des Moralischen selber unterliegt, wenigstens anzudeuten, und ich sehe dabei von dem Selbstverständlichen und für Sie alle Absehbaren ab, nämlich von dem fortschreitenden Begriff der Aufklärung, dem immer mehr vorgeblich ewige, gültige Kategorien zum Opfer gefallen sind; etwa so wie Nietzsche den Begriff des ewigen Sittengesetzes abgeleitet und kritisiert hat.159 Ich glaube, daß deshalb nur in einer begrenzten U m -welt, im Gegensatz zu der ins Grenzenlose gehenden und der Erfahrung inkommensurabel erweiterten Umwelt von heute, so etwas wie Moralphilosophie oder Tugend möglich ist, weil nur soweit, wie die Umwelt begrenzt ist, es so etwas wie die berühmte Kantische Freiheit überhaupt gibt. In der ins Unermeßliche angewachsenen Erfahrungswelt und den unendlich vielen Verflechtungen der Vergesellschaftung, die diese Erfahrungswelt für uns bedeutet, ist die Möglichkeit der Freiheit zu einem solchen Minimum herabgesunken, daß man sehr ernst die Frage stellen kann oder muß, wieweit die Kategorien des Moralischen ihr gegenüber einen Sinn haben. Vor allem auch deshalb, weil, selbst wenn man ganz und gar als ein Individuum im Sinn nun also des Kantischen Impera-tivs leben würde, dabei höchst unausgemacht ist, wie weit selbst ein solches richtiges Leben an die objektive Verfangen-heit und Verstricktheit des heutigen Daseins überhaupt noch heranreicht. Lassen Sie mich das gerade noch zum Schluß mit einem ästhetischen Gleichnis klarmachen. In der Musik ist es so gewesen, daß, solange es noch so etwas wie vorgezeich-nete, feste, gegebene Formen gegeben hat, wie sie den vorge-zeichneten und festen Formen des bürgerlichen Lebens selber entsprechen würden, es die Möglichkeit von Improvisation innerhalb dieser vorgegebenen Form gegeben hat. Je weniger das der Fall war, je weniger es mehr an vorgegebenen For-men gegeben hat, um so mehr ist auch die Freiheit des künst-lerischen Subjekts - gerade in der mir sehr nahe liegenden Musik - , jedenfalls die Freiheit zur Improvisation einge-schränkt worden, und Versuche, sie wieder zu beleben, wie

Page 74: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

wir sie ja in unserer Zeit verschiedentlich erfahren haben, sind demgegenüber ganz ohnmächtig geblieben. Die also heute im Ernst zeitgemäße Musik, die nun nichts mehr an solcher Vorgeformtheit duldet, die also, wenn Sie so wollen, auf der Voraussetzung der absoluten Freiheit beruht, die hat sich gegenüber gar nichts an Bestimmtheit des Objekts mehr, und diese improvisatorische Freiheit, die Freiheit des Verhaltens, ist zu einem Nullpunkt geschrumpft. Und ich glaube, etwas Ähnliches liegt in dem Bereich des Morali-schen auch vor. Heißt doch, Moralphilosophie heute betrei-ben und über diese Dinge nachdenken, zugleich auch not-wendig sich Rechenschaft geben über den geschichtlichen Stellenwert, den die Fragen nach dem richtigen Handeln und nach dem richtigen Leben heute besitzen; und der ist gegen-über dem Stellenwert, den sie in der Zeit der großen Philo-sophie besessen haben, unendlich eingeschränkt. - Ich danke Ihnen.

130

1 0 . VORLESUNG

2 . 7. 1 9 6 3

Das160 Bewußtsein der Paradoxie der Erfahrung sogenannter Freiheit als einer scheinbaren Naturursache ist in der Formu-lierung: >daß also zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen dem Reich der Natur und dem Bereich der prakti-schen Vernunft ein Problem bleibe*161, auch von Kant selber zugestanden worden. Mit anderen Worten, es ist für Kant auf der einen Seite der Dualismus, von dem wir gehandelt haben, unbefriedigend, wie andererseits, nach dem, was Kant ge-zeigt hat, die Auflösung dieses Dualismus unmöglich. Ich glaube, ich habe ein wenig darauf einzugehen, warum dieser Dualismus unbefriedigend ist, denn Sie - oder manche von Ihnen jedenfalls und gerade diejenigen, die ich als meine Schüler betrachten darf - werden ja und zwar mit Recht an dieser Stelle sagen: >Ja, warum ist eigentlich der Dualismus unbefriedigend? Muß das alles in einer Formel aufgehen? Muß denn alles unter einen systematischen Hut gebracht werden? Gibt es nicht wirklich so etwas wie zwei voneinan-der verschiedene Bereiche: auf der einen Seite den Bereich der Erkenntnis dessen, was ist, und auf der anderen den Bereich dessen, wie es sein soll? Und warum soll das nun krampfhaft ä tout prix vereinheitlicht werden? Steht dahinter nicht ir-gendwie der Aberglaube an das System?* Ich glaube, wenn Sie die Problematik, von der wir hier handeln und derer, wie gesagt, Kant selber sich bewußt war, so fassen würden, dann würden Sie doch dem Ernst und der Schwierigkeit dessen, wovon hier die Rede ist, Unrecht tun. Ich möchte doch ver-suchen, Ihnen über diese formale Anzeige hinaus inhaltlich zu sagen, warum nun tatsächlich dieser Dualismus, auf den Kant gestoßen ist, unbefriedigend ist, was an diesem Dualis-mus für die Theorie schwer sich ertragen läßt. Nehmen Sie einmal an, der Determinismus der Natur sei total, also es ginge in der Natur alles determiniert nach der Kausalität, ge-setzmäßig, regelhaft zu, dann würde doch die Kantische For-

149

Page 75: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

mulierung des Sittengesetzes als eines Gegebenen, als eines Appells, als eines unwiderstehlich sich uns Aufdrängenden, selber - wenn ich es extrem formulieren darf - in dem Sinn etwas tief Unmoralisches annehmen, da dann an die Men-schen eine Forderung erginge, die sie, da sie ja doch empiri-sche Wesen sind, gar nicht erfüllen könnten. Und Sie dürfen hier nicht vergessen, daß Kant ja in der Kritik der psycholo-gischen Paralogismen an Stelle der rationalen Seelenlehre, die die Grundbestimmungen der Seele zu einem Außerempiri-schen gemacht hat, die Seele, soweit sie ein in der Verflech-tung der raum-zeitlichen Welt tatsächlich Vorfindliches ist, durchaus auch zu einem Empirischen gemacht hat; und daß es nun nicht etwa so ist, daß es da einen Seelenanteil gäbe, wie bei Piaton, der nun diesem Naturcharakter des gesam-ten seelischen Bereiches an sich entrückt wäre. Es gibt nichts Seelisches, wovon Kant als Wissenschaftler nicht würde zu-gestanden haben, daß es der Wissenschaft und damit der Psy-chologie und damit der Kausalität untersteht. Er würde zum Beispiel, wenn es sich darum gehandelt hätte, etwas wie eine Denkpsychologie zu geben, also selbst die obersten logischen Verhaltensweisen des Subjektes, soweit sie reale Verhaltens-weisen des Subjekts zur Welt sind, in ihren psychologischen Bedingungen zu studieren, sich geweigert haben, nun etwa irgendeine Seelenkraft oder ein Seelenvermögen oder einen Seelenteil als ein positiv Vorfindliches und Gegebenes der in-telligiblen Welt zuzurechnen. Ist es nun tatsächlich so, daß diese beiden Bereiche unversöhnlich auseinanderweisen, dann wäre tatsächlich durch die Gegebenheit des Sittengeset-zes den Menschen etwas aufgebürdet, was sie von vornherein gar nicht erfüllen können, und es wäre dann, ich möchte sa-gen, in dieser Überforderung selbst eine Art von Unvernunft gelegen, die mit dem schlechterdings unvereinbar ist, was ja Kant zufolge überhaupt der Erkenntnisort, der rönog vorjn-xög des Sittlichen ist, nämlich eben die Vernunft selber. Kön-nen aber umgekehrt die empirischen Subjekte wirklich aus Freiheit handeln, so ist, weil sie selber der Natur angehören,

130

die Kantische - durch die Kategorien gestiftete - Einheit der Natur durchbrochen. Die Natur hat dann gewissermaßen eine Lücke, und diese Lückenhaftigkeit widerspräche der Einheit der Naturerkenntnis, auf welche ja die Naturwissen-schaften Kant zufolge abzielen. Und zwar charakterisiert er die Wissenschaften von der Natur mit Recht so, da ja die Na-turwissenschaften auf Vereinheitlichung gerichtet sind, das heißt darauf, eine möglichst große Mannigfaltigkeit von Er-scheinungen durch ein Minimum von Funktionsgleichungen auszudrücken. Lassen Sie mich gleich sagen, daß, wenn ich Ihnen bei der einen Seite von dieser Begründung des Uner-träglichen an jenem Dualismus gesprochen habe, nämlich bei der Seite, wo ich von der Überforderung des Subjekts ge-sprochen habe, daß ich mich bereits da auf einem Boden be-finde, der nun tatsächlich dem Kantischen Boden der Erwä-gung, der Reflexion gar nicht so fern ist. Denn genau diese Art der Überforderung liegt ja in der gesamtprotestantischen Tradition, der, wie man mit Recht immer wieder festgestellt hat, Kant - und zwar gerade der Moralphilosoph Kant - sel-ber zugehört. Der Begriff der Irrationalität der Gnadenwahl und in eins damit die Vorstellung, daß nur durch unbe-schränkte Anstrengung der Pflichterfüllung das Subjekt viel-leicht der Gnade teilhaftig werde, ohne selber etwas Positives darüber ausmachen zu können, das ist gewissermaßen das geheime, unausgesprochene Modell jener Paradoxie, auf die Kant hier stößt. Aber auf der anderen Seite ist er auch in diesem Sinn dann doch wieder Kritiker der Theologie, daß er bei diesem theologisch Paradoxen sich nicht bescheidet, sondern daß er seine rationale Fragwürdigkeit im Sinn von Aufklärung erkennt, wie ja überhaupt die Stellung Kants zur Theologie außerordentlich komplex ist. Denn auf der einen Seite zielt seine Philosophie gewiß darauf ab, die theologischen Gehalte, die durch die fortschreitende Aufklärung entfallen, zu erret-ten, auf der anderen Seite aber doch so, daß er diese Gehalte aus reiner Vernunft retten möchte, also von der Philosophie aus, vom Gedanken aus; und darin allein, daß die theologische

151

Page 76: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Transzendenz von der Analyse der Vernunft abhängig ge-macht wird, liegt in Wahrheit bereits das die Theologie qua Theologie auflösende Prinzip. Über diese sehr komplexe und in sich gespannte Stellung Kants zu der Theologie müssen Sie sich Rechenschaft geben, wenn Sie die Komplexität seiner Moralphilosophie, mit der wir uns in dieser Vorlesung be-schäftigen, einigermaßen richtig verstehen wollen.

Wenn wir uns mit solchen Erwägungen nicht bescheiden wollen, wie denen, die ich Ihnen eben wenigstens kurz ange-deutet habe, dann muß man wohl auf den Erfahrungskern dessen rekurrieren, was Kant in dieser Zweiweltentheorie eigentlich vorgeschwebt hat. Ich bitte Sie dabei den Begriff Erfahrungskern nicht zu pressen und dabei nicht mehr den empiristischen Begriff von Erfahrung zu unterschieben. Was ich damit meine, kann ich Ihnen besser an den Sachen erklä-ren, als indem ich Ihnen ein methodologisches Prinzip gene-rell sage. Ich meine - soviel kann ich vielleicht vorher anzei-gen - eigentlich nichts anderes, als welche Sachverhalte Kant gesehen, gedacht, gemerkt hat, worauf Kant eigentlich ge-stoßen ist und was ihn dazu inspiriert, daß er diese merkwür-dig widerspruchsvolle und dualistische Konzeption nicht nur erschöpft, sondern sie gleichzeitig auch als solche stehen läßt. Wenn Sie diese Erfahrung, das Wort richtig verstanden, die Sie selber unmittelbar von sich als von geistigen Wesen ma-chen - so etwas gibt es ja, ich hoffe es wenigstens; denken Sie eine Sekunde lang, um das zugespitzt zu sehen, wirklich bei Geist an den Geist, den Sie an sich selber als ein Ihnen Inne-wohnendes erfahren, also denken Sie dabei gar nicht an ein vom Individuum absolut losgelöstes Prinzip des objektiven oder absoluten Geistes und nicht einmal an den transzenden-talen Begriff der konstitutiven Faktoren - , dann mag diese Erfahrung von Geist, wie immer auch, in dem Naturzusam-menhang entsprungen sein, trotzdem wird der Geist, so habe ich es einmal in einem Gespräch mit meinem verstorbenen Lehrer Gelb 162 ausgedrückt, um ein ganz kleines bißchen über den Zusammenhang des Natürlichen hinausragen. Der

130

Geist mag nicht ganz vergeblich sein, er mag nicht einfach ein Stück Natur sein, sondern das, was wir überhaupt Natur nennen, bestimmt sich überhaupt selber erst durch den Ge-gensatz zu eben dem, was wir als geistige Erfahrung besitzen. Mit anderen Worten, die Vorstellung, die wir hegen, der In-begriff unserer Vorstellungen kann so beschaffen sein, daß, obwohl alle Elemente der Vorstellungen aus dem Seienden, also aus dem Gesamtbereich der Natur stammen, sie in ihrer Konstellation in diesem Zusammenhang nicht aufgehen; daß wir uns vorstellen können, was nicht bereits ist; daß unsere Vorstellung, trotzdem all ihre Momente aus dem Gegebe-nen, dem Seienden stammen, dadurch, daß sie diese Ele-mente zusammensetzt, dadurch, daß da ein Moment ist, das — wenn Sie so wollen - frei über sie verfügt, in der Gebunden-heit an den Naturzusammenhang nicht aufgeht. Und ich glaube, wenn Sie der Urgeschichte dessen nachgehen wol-len, was bei Kant mit dem Begriff von Freiheit überhaupt gemeint ist, wenn Sie das Modell sehr präzis greifen wollen, das dem Begriff der Freiheit zugrunde liegt, mit dem wir ja im allgemeinen so ein bißchen unbesonnen und unpräzis schalten, dann ist es vielleicht gar nichts anderes als dieses eigentümliche Vermögen, daß wir in unserer Vorstellung, in unserer Imagination mit den von uns imaginierten Elemen-ten der Natur oder des Seienden schalten können, sie in an-dere Zusammenhänge setzen können, als diejenigen Zusam-menhänge sind, in denen wir sie primär erfahren haben und in denen sie eigentlich stehen. Diese Tatsache, diese ganz schlicht zu beobachtende Tatsache, daß zwar, was Geist ist, genetisch und seinem Inhalt nach auf die Natur zurückver-weist, aber zugleich doch nicht in ihr sich erschöpft, ich glaube, das ist eigentlich wohl das, was der Kant mit dieser ganzen Lehre von der Freiheit inmitten des Natürlichen aus-drücken will; und was allerdings adäquat sich wirklich gar nicht in einer Logik der reinen Widerspruchslosigkeit, wie die es ist, die Kant selber vertritt, einer Logik des Entweder-Oder, ausdrücken läßt, denn in der bliebe es ein Wider-

153

Page 77: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Spruch, sondern erst in einer dialektischen Logik, in der das, was entsprungen ist, nicht dem gleicht, woraus es entsprang. Das übrigens, würde ich sagen, ist der entscheidende Unter-schied, der zwischen einem dialektischen Ansatz des Den-kens und einem der prima philosophia oder der Ontologie eigentlich herrscht; und es liegt darin zugleich auch das be-schlossen, daß der Primat des Ursprungs, daß der Primat des Ersten, wenn ich es sehr paradox sagen soll, durch einen sol-chen Ansatz eben in dem Sinn nicht mehr respektiert wird, in dem ich es Ihnen an diesem eigentlich ganz einfachen Modell gezeigt habe. Nun ist aber dieses Entragende, dieses kleine bißchen an unserer Natur, was nicht Natur ist - im Gegensatz zu der Verblendung, die die Kategorie der Naturbefangen-heit schlechthin i s t - , eigentlich eins mit der Selbstbesinnung. Wir sind eigentlich in dem Augenblick nicht mehr selber ein Stück der Natur, in dem wir merken, in dem wir erkennen, daß wir ein Stück Natur sind. Ich glaube, zugespitzter kann man es überhaupt nicht sagen, denn Verblendung ist eigent-lich nichts anderes als jenes sture Vor-sich-hin, das des Prin-zips der Selbstbesinnung überhaupt nicht mächtig ist und das gerade dadurch, daß es nicht selber in seiner natürlichen Be-dingtheit sich erkennt, nun dieser natürlichen Bedingtheit gerade durch die bloße Verfolgung von unmittelbaren Zwecken, von Veranstaltungen der Unmittelbarkeit, eigent-lich verfällt. Nicht umsonst ist Verblendung denn auch eine mythische Kategorie, als die Kategorie schlechterdings, durch die die Menschen, wie es in den Mythen geschieht, dargestellt werden als solche, die im Naturzusammenhang aufgehen. Und das, was sich dem entzieht, was man in einem sehr emphatischen Sinn Subjekt überhaupt nennen könnte, das ist nichts anderes als jene Selbstbesinnung, jene Besin-nung auf das Ich, in der das Ich merkt: ich selber bin ja ein Stück Natur - und gerade dadurch wird es der blinden Ver-folgung der Naturzwecke ledig und zu etwas anderem. Es sind das Sachverhalte, wie sie unausgesprochen und objektiv der Kantischen Ethik zugrunde liegen, wie sie in einer späte-

130 154

ren Stufe des Kantischen Denkens, nämlich bei Schopen-hauer, nun allerdings in einem bestimmten, selber problema-tischen Sinn heraufgekommen sind in der Vorstellung, wel-che die Ethik an die »Verneinung des Willens zum Leben< bin-det. Wie es mit der Verneinung des Willens zum Leben sein mag, darüber möchte ich jetzt lieber nicht reden, ich möchte nur ebenfalls sagen, daß etwas von dem, was der Schopen-hauer damit meint, nämlich das den >Schleier-der-Maya-Wegreißen<, also das sich selber als ein Moment des Blin-den Erkennen und dadurch dem Blinden zu entragen,163 daß das eigentlich dem Sachverhalt außerordentlich nahe kommt, den ich hier meine, ohne daß ich allerdings glaube, daß man die Schopenhauersche Konsequenz einer daraus wieder abzuleitenden positiven Identitätsphilosophie oder Metaphysik teilen müßte.164 Ich möchte Sie dabei nur auf die-ses eine Moment eben hinweisen. Das, was Natur transzen-diert, sage ich, ist die ihrer selbst innegewordene Natur. Kant drückt das in gewisser Weise aus, aber gleichzeitig weiß er davon nichts - und zwar deshalb, weil für ihn Naturbeherr-schung vermöge der Kategorie der Vernunft, welche ja die naturbeherrschende Kategorie schlechthin ist, selber ein Ab-solutes und Selbstverständliches ist, wie denn auch alle Kate-gorien, die er in der Ethik gibt, eigentlich nichts anderes sind als solche der Naturbeherrschung. Man kann sagen, wenn man mit einiger Freiheit und mit einigem Abgehen von dem wörtlichen Text, aber ich glaube, ohne daß man dabei allzu-sehr von dem von Kant Gemeinten sich entfernt, daß der ka-tegorische Imperativ von Kant gar nichts anderes ist, als das ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung selber. Das heißt, wenn ich so han-deln soll, daß ich mich weder von irgendeinem auswendigen noch von irgendeinem inwendigen Gegebenen abhängig ma-chen soll, sondern nur von der Allgemeinheit meiner Ver-nunft, so läuft das ja auf die Totalität der Naturbeherrschung hinaus, ebenso wie Vernunft selber das auf die äußerste Ab-straktion gebrachte Prinzip der Naturbeherrschung tatsäch-

Page 78: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

lieh ist. Und deshalb muß Kant nun doch im Geist - als dem naturbeherrschenden — Geist qua Freiheit verabsolutieren und kann den Schritt, den ich versucht habe, Ihnen zu expli-zieren als eine mögliche Auflösung des Dilemmas, in dem Kant und die Philosophie sich hier befinden, nämlich den der Reflexion oder den der Freiheit als des Innewerdens von Na-tur, eigentlich nicht vollziehen. Das ist gleichsam der Punkt, auf den die Kantische Philosophie, wie es im Märchen heißen würde, verzaubert ist. Wenn sie dieses Punktes inne würde, wenn sie dieses selber wüßte, dann würde das Ganze sich transfigurieren, würde in ein vollkommen anderes sich ver-wandeln. Und deshalb hat bei ihm der Begriff der Selbstbe-sinnung keinen Ort, wie in allen diesen Theorien der Begriff der Selbstbesinnung eigentlich perhorresziert ist, so zum Beispiel noch in der Theorie von Heidegger, der ja auch in dem Begriff der Eigentlichkeit die Reflexion auf das Selbst und seine Bedingtheit, nämlich auf den Tod, als ein bloßes Grübeln oder Hinstarren auf den Tod perhorresziert.165 Und wo die Eigentlichkeit >eigentlich< in einem blinden >Es selbst Sein zum Tode hin< bestehen soll, da fällt gerade Heidegger in einem sehr emphatischen und, möchte ich hinzufügen, höchst fragwürdigen Sinn in die Tradition des idealistischen Denkens hinein.166 Also das ist der Grund, warum nun Kant doch den Geist als das Prinzip der Naturbeherrschung nicht dialektisch vermitteln kann als die Selbstreflexion der Natur im Menschen, sondern diesen Geist - als wäre eben jenes herrschende Prinzip ein selbständiges - quasi besinnungslos, blind verabsolutieren muß, und warum er bei diesem Dualis-mus von Geist und Natur stehenbleibt - man könnte sagen: weil es bei ihm eben die Vermittlung nicht gibt. Vermittlung nicht als ein Mittleres verstanden, sondern in dem Sinn, daß durch die Vermittlung von den beiden einander entgegenge-setzten Momenten das eine dessen inne wird, daß es das an-dere in sich notwendig impliziert. Und man kann insofern also sagen, daß durch diese blinde Naturbeherrschung bei Kant nun gerade die nichtaufgehellte Natur sich reprodu-

130 156

ziert, oder anders gewandt, daß die Kantische Moral ihrer-seits eigentlich nichts anderes ist als Herrschaft.

Meine Damen und Herren, nachdem ich mit Ihnen die vielleicht etwas schwierigen - aber ich glaube doch, zu dem tieferen Verständnis dessen, womit wir uns hier zu beschäfti-gen haben, notwendigen - Erwägungen angestellt habe, möchte ich vielleicht nur ein Wort noch dazu sagen, wie ich es versprochen habe, warum ich mich bis jetzt an die Texte so streng angeschlossen habe. Ich glaube nämlich, daß es eine Art von fruchtbarer Spannung gibt zwischen der Konstruk-tion einer Philosophie, wie ich sie eben betrieben habe, und der wörtlichen Interpretation oder der Interpretation wörtli-cher Stellen, die eben für sich oft sehr viel mehr und anderes sagen, als sie sagen würden, wenn man sie so in einen allge-meinen Zusammenhang verflüchtigt. Ich möchte sagen, daß gerade diejenige philosophische Spekulation, die wirklich über den sogenannten geistesgeschichtlichen Zusammen-hang hinausführt und die die Denkgebilde, die man zu unter-suchen hat, selber zum Sprechen bringt, nicht eine ist, die sich von der Wörtlichkeit der Texte entfernt, nicht also eine, wie man so sagt, die den allgemeinen Geist eines Denkers wiedergibt, wie es in schier unerträglichem Maß bei Dilthey geschieht, aber etwa auch in dem sonst so schätzbaren >Histo-rismus-Buch< von Troeltsch,167 sondern daß gewissermaßen eine wirklich genau angesehene, aus der Nähe betrachtete Formulierung oder Stelle wie das Kapitel von Kant, mit dem ich Sie nun so lange aufgehalten habe, viel eher den Zugang zu den sogenannten großen und über die Besonderung hin-ausgehenden Spekulationen eröffnet als nun einfach so ein Gesamtreferat dessen, was in der Kantischen Ethik drinsteht. Ein Referat, das ich Ihnen im übrigen nicht ersparen will, denn ich sehe ja durchaus auch Ihr legitimes Bedürfnis ein, daß Sie, wenn auch nur nebenher und sozusagen spielender-weise, in dieser Vorlesung allesamt genau lernen, was eigent-lich die ethische Doktrin von Kant ist.

Page 79: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Nun möchte ich übergehen zu der Darstellung der Kanti-schen Moralphilosophie selber. Das heißt, ich möchte nun, nachdem ich Ihnen die prinzipiellen Dinge doch glaube, ziemlich eingehend entwickelt zu haben, mich mehr auf kon-krete Teilbemerkungen zu der Kantischen Moralphilosophie konzentrieren und Ihnen - und ich glaube, das ist der Augen-blick, wo wir das am besten können in dieser Vorlesung -auch einmal erklären, warum ich fast gegen meinen Willen in dieser Vorlesung mich so sehr auf die Kantische Moralphi-losophie konzentriert habe. Man kann nämlich sagen, daß die Kantische Moralphilosophie eigentlich überhaupt die Mo-ralphilosophie par excellence, die Moralphilosophie schlech-terdings ist. Dadurch, daß sie die Empirie ausschaltet, also gerade durch diesen Chorismos, diese extreme Trennung zwischen den Bereichen des Moralischen und der Natur, ist so etwas wie eine in sich durchgebildete und konsequente Moralphilosophie eigentlich möglich. Es ist kein Zufall, daß die Nachfolger Kants allesamt - mit Ausnahme von Scho-penhauer, den ich Ihnen schon nannte — so etwas wie eine explizite Moralphilosophie dadurch nicht hatten, daß sie den Dualismus, mit dem wir uns beschäftigt haben, nicht geson-nen waren hinzunehmen, sondern daß sie die Schwierigkei-ten, die ich Ihnen skizziert habe, dazu veranlaßt haben, diese dualistische Konstruktion zu verlassen; dadurch ist für sie eigentlich doch die Konstruktion einer moralischen Sphäre qua moralischer Sphäre in der Philosophie selber unmöglich geworden. Es ist das in einem späteren Stadium Hegel von Kierkegaard ganz besonders vorgeworfen worden, der darin sozusagen einen Makel gesehen hat, ohne daß er erkannt hätte, daß eben diese Vermittlung der Bereiche, wie sie in dem totalen Idealismus liegt, so etwas wie Moralphilosophie in einem eigentlichen Sinn nicht mehr zuläßt. Doch das hat dann auch das sehr Bedenkliche, daß in der Folge gerade die Tradition des Idealismus einem Relativismus sich verschrie-ben hat, der dann schließlich zu sehr finsteren Konsequenzen das Seine beigetragen hat. Während die Repristinationsver-

130

suche der Kantischen Ethik, die Sie finden in dem Neukantia-nismus, eben als solche Repristinationsversuche das Mal der Ohnmacht haben, und im übrigen, indem sie sich etwa bei Hermann Cohen wesentlich an die Konstruktion des Rechts anschließen,168 gegenüber der Kantischen Konstruktion der Autonomie bereits einen Schatten des Heteronomen in sich enthalten. Wenn bei Kant im übrigen die Empirie so radikal ausgeschlossen wird, wie ich es Ihnen dargestellt habe, so dürfen Sie auch darin nicht nur so etwas wie die Monomanie eines auf den Begriff des Reinen, wie er ihn in der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelt hat, des Apriorischen schlech-terdings und des allgemein Geltenden versessenen Mannes sehen, sondern Sie müssen sich klar darüber sein, daß der Empirismus seiner Grundhaltung nach eins ist mit Skepsis. Wenn Sie Geschichte der Philosophie lernen, wenn Sie sich etwa darauf vorbereiten, in einem Examen über Hume Aus-kunft zu geben, da werden Sie alle irgendwie auch darauf geraten, daß also die Humesche Philosophie eine wesentlich skeptische Philosophie sei. Aber ich glaube, es ist doch gera-ten, daß Sie sich eine Sekunde lang einmal klar machen, was der Begriff der Skepsis in seinem Zusammenhang mit Empi-rismus bedeutet: daß nämlich, je mehr an empirischen Bedin-gungen zugelassen wird, eben gleichzeitig auch desto mehr an Möglichkeiten einer objektiven Bestimmung dessen, was richtiges Leben und richtiges Verhalten sei, entfällt, nicht mehr möglich ist. Es ist also zum Beispiel so, daß, wenn man etwa im Sinn eines vulgären Empirismus zeigt, daß so etwas wie die Heiligkeit des menschlichen individuellen Lebens in irgendwelchen empirisch gegebenen Kulturen, bei den be-liebten Trobriandern oder sonst irgendwo in der Südsee, nicht gilt, daß daraus dann also die Folgerung gezogen wer-den kann: >Ja, wenn alle diese Normen ihrerseits bloß empi-risch sind, dann hat man ihnen gegenüber im Grunde gar keine Instanz auf ihrer Gültigkeit schlechthin zu bestehen.< Und der Kantische Formalismus, den man Kant immer wie-der vorgeworfen hat, hat zum Teil auch einfach den Grund,

159

Page 80: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

daß er die Möglichkeit einer Allgemeinheit der Formulie-rung des Sittlichen trotz dieses anstürmenden Empirismus und trotz der damit verbundenen Skepsis hat bewahren wol-len, indem er sie eben auf einen so hohen Allgemeinheitsgrad gebracht hat, daß dagegen das skeptische Argument der blo-ßen empirischen Bedingtheit, der je in Rede stehenden Nor-men, nicht mehr gelten soll. Nun könnten Sie daraufhin sa-gen: >Wenn er nun schließlich als Inhalt der Ethik oder als Ethik überhaupt nichts anderes formuliert, als daß ich im Sinne einer von mir als allgemein vorauszusetzenden Gesetz-mäßigkeit handeln soll, dann ist das doch eine furchtbar dünne Geschichte, mit der man in der Praxis, auf die die ganze Kantische Philosophie abzielt, wie man in solchen Fäl-len zu sagen pflegt, keinen Hund hinter dem Ofen hervorlok-ken kann.<

Sie können vielleicht nun unter diesem Aspekt einen ande-ren Zug besser verstehen, den man dem Kant kaum weniger und jedenfalls schon früher als den Formalismus zum Vor-wurf gemacht hat, nämlich den sogenannten Rigorismus, der, wenn ich so sagen darf, korrelativ dazu ist. Die Kanti-sche Ethik hat ja den Charakter des Rigorosen in dem Sinn, daß ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zwar keine der faktischen Natur sein soll, daß aber auf der anderen Seite das sittliche Gebot schlechterdings keinen Nachlaß dulde, und daß alles, was demgegenüber auf Neigung zurückgeht, als heteronom, wenn nicht schlechterdings verdammt, so doch zum mindesten von den ethischen Bestimmungen ausge-schlossen worden ist. Und es ist genau dieses Moment an der Kantischen Ethik gewesen, das am frühesten schon Anlaß zu Anstoß geboten hat. Wie Sie wahrscheinlich alle wissen, be-zieht sich ja die Abweichung von Schiller, des Kantianers Schiller, der ja sonst ein treuer Kantianer gewesen ist, genau darauf, und es ist bei ihm nun der bei Kant nur visierte Ge-danke einer Vereinigung der voneinander unterschiedenen Prinzipien der Natur und der Freiheit in dem Sinn ausgeführt - und das vollzieht sich sogar noch, wenn Sie so wollen, auf

130 160

Kantischem Boden - , daß auch die Natur selbst, wenn der Endzweck der Natur die Freiheit sein soll, dann im sittlichen Verstände nicht das radikal Böse sein kann, daß es auch etwas wie gute Natur gibt; und daß diese gute Natur, und zwar in Gestalt der Kunst, auf die Menschen veredelnd und insofern auch sittlich wirken kann, mit anderen Worten: daß der Na-tur selbst auch ein Sittliches zugeschrieben wird. Eine These, die nun allerdings von Kant schroff abweicht, der darauf ja geantwortet hat, und das ist nun wirklich Kantischer Rigo-rismus, >daß in dem Gefolge der Grazien< - die gegen ihn von Schiller verteidigt worden sind >das Laster und das Böse nur allzuleicht sich einschlichen. <169 - Mit den Trivialitäten, daß dieser Kantische Rigorismus - der ihm ja nun ganz be-sonders von Nietzsche angekreidet worden und seitdem zu einer Art von Kinderspott geworden ist - mit dem asketi-schen Ideal des Protestantismus zusammenhängt und außer-dem eine Reflexionsform der sogenannten Beamtenmoral ist, wie dann die Wissenssoziologie an dieser Stelle Kant ge-genüber eingewandt hat, möchte ich weder Sie noch mich langweilen. Es mag damit sich verhalten wie es will. Ich glaube, es führt weiter und ist fruchtbarer, wenn man diesen sogenannten Rigorismus selber nun abzuleiten versucht -wie ich es mit all diesen Bestimmungen versuche - aus der Komplexion des Kantischen Denkens selbst. Wenn Sie sich eine Sekunde lang daran erinnern, daß ich Ihnen den Forma-lismus Kants, also die äußerste Reduktion auf Allgemeinhei-ten, als eine Art Rettungsversuch vor der Skepsis dargestellt habe - sozusagen als den sehr bürgerlichen Versuch, so etwas wie ein moralisches Minimum in Händen zu halten, daß da vor aller Relativität geschützt sei - , dann war das philo-sophische Ingenium in Kant ganz sicher dessen sich bewußt, daß eine solche Bestimmung wie die, die er an dieser Stelle gibt, ein bißchen dünn bleibt. Und dazu ist nun der Rigoris-mus komplementär. Das heißt, das einzige, wodurch diese formalen Bestimmungen über ihren Formalismus hinaus-kommen, wodurch sie, ja, ich möchte fast sagen, Kontur ge-

Page 81: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

winnen, ist eben dieses Moment, daß sie eine Ausnahme schlechterdings nicht dulden sollen, und daß ihnen eben die-ser Charakter des, wie Kant es nennt, Kategorischen, der schlechterdings nicht zu überhörenden Aufforderung, zuge-messen wird. Wenn Sie hier an den Begriff der Pflicht den-ken, der ja sozusagen der Ausdruck des Sittengesetzes in sei-ner Rigorosität ist, dann werden Sie sogleich merken, daß durch dieses Moment des Unabdingbaren, dessen, dem ich mich nicht entziehen kann, tatsächlich diese äußerste Forma-lität des Sittlichen eine Art von Konkretion jedenfalls ge-winnt, nämlich die, daß es sich jeweils bestimmt durch den Ausschluß all der Neigungen, Impulse, alles dessen, worauf nun diese Norm trifft. Die Formalität des Sittlichen emp-fängt dann gewissermaßen ihren Inhalt negativ durch all das, was vermöge dieses Verbotes alles Heteronomen dem Sitten-gesetz entgegentritt, und was es selbst konkret ist, das merkt es dann sozusagen immer an diesem ihm entgegengesetzten Moment. Die Abstraktheit oder der Formalismus, von dem wir hier gehandelt haben, das möchte ich schließlich noch sagen, ist selber der Ausdruck der radikalen Trennung des Prinzips der Freiheit und der Vernunft von der Natur. Dieser Formalismus hat selber also einen Grund in dem Inhalt der Doktrin. Es ist kein formalistisches Denken, sondern der Formalismus entspringt seinerseits aus dem Inhalt der Theo-rie, denn die Theorie selber schließt ja jeden besonderen mo-ralischen Inhalt, weil er aus dem bloß Daseienden, dem bloß Empirischen kommt, als ein, man könnte sagen, Moralfrem-des, als ein von außen Kommendes, als etwas, was seinen Ort nicht lediglich in der Freiheit meiner Vorstellung hat, von sich aus. Und da schlechterdings nichts vorzustellen ist, nichts Bestimmtes vorzustellen ist, was nun nicht seinerseits in diesem Sinn auf die empirische Realität zurückwiese, so wird vermöge jenes Chorismos, jenes dualistischen Prinzips in der Kantischen Ethik, das ich Ihnen eingehend entwickelt habe, es nun selber notwendig, daß dieses Prinzip selber le-diglich als ein ganz formales aufgestellt werden kann, das

1 6 2

heißt: daß es im Grunde gar nichts anderes ist als die reine Identität der Vernunft mit sich selber. Auf der anderen Seite aber ist es dann doch so - und das ist das höchst Merkwürdige und ein Phänomen, auf das ich Sie jetzt nur noch hinweisen kann-, daß gerade vermöge der Verflechtung mit dem Rigor der Kantischen Theorie, also mit der Strenge und Unaus-weichlichkeit des Pflichtbegriffes, diese Bestimmungen ge-gen Kants Willen negativ dann doch fast eine Art von Kon-kretion annehmen, die am Schluß dazu führt, daß diese Ethik gar nicht so formal ist, wie sie eigentlich aussieht. Es ist das ein Punkt, auf den von Julius Ebbinghaus mit Recht hinge-wiesen worden ist;170 nur, daß er nicht genügend Rechen-schaft sich davon gegeben hat, daß es hier zwischen dieser Konkretion und dem streng formalen Charakter der Kanti-schen Ethik eine eigentümliche Dialektik gibt, aber auf die kann ich nun nicht mehr eingehen. - Ich danke Ihnen.

130 162

Page 82: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

1 1 . VORLESUNG

4- 7- 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, ich habe wiederholt versucht, Ihnen klarzumachen, daß

das Prinzip des sittlichen Handelns bei Kant eigentlich gar nichts anderes ist als die Vernunft selber, das heißt: eine Ver-nunft, die von allen Beschränkungen noch partikularer Zwecke sich befreit hat und die überhaupt nach nichts ande-rem verfährt als nach ihrem allerallgemeinsten Inhalt. Nun hat das selbstverständlich eine lange Tradition und damit auch eine Reihe von Implikationen, über die wir doch wenig-stens einige Worte verlieren sollten. Die wichtigste der Tra-ditionen, die darin auf eine freilich gar nicht so unmittelbar zutage liegende Weise sich ausdrückt, scheint mir doch die zu sein, die der gesamten Überlieferung nach Sokrates zuge-schrieben wird, von dem wir ja, wie Sie wissen, keine Texte haben und dessen Doktrin im einzelnen äußerst kontrovers ist und die dann immerhin, vermutlich im Anschluß an Pla-tonische Theoreme, in der Form formuliert worden ist, daß das richtige Wissen zugleich das richtige Handeln bestimme, was dann von Piaton umgeformt worden ist zu der Lehre, daß die Tugend oder das richtige Verhalten lehrbar sei.171

Diese Theorie, die man gewöhnlich die rationalistische Be-gründung der Moralphilosophie nennt, ist in Kant bewahrt, und wenn irgendwo, dann ist er an dieser Stelle - ich würde sagen, an ihr allein - in einem genauen Sinn als ein rationali-stischer Denker zu verstehen. Diese These insgesamt ist nun außerordentlich in Verruf geraten, weil sie der Lehre von dem reinen Herzen, dem Gefühl, das für sich selber spricht, zu widersprechen scheint, jener besonders bei uns in Deutschland sehr virulenten Auffassung, daß eigentlich das richtige Handeln gerade ein Handeln ist, das durch unmittel-bare Impulse gegeben und von der Vernunft abgeschieden ist, eine Anschauung, die ihren letzten, schäbigen Abhub in dem grauenvollen Begriff der >Herzensbildung< findet, den

130

einem früher allenfalls Verwandte vorgehalten haben, wenn man in irgendwelchen Dingen zu sehr auf der Vernunft be-standen hat, und der wohl heute nur noch in Heiratsannon-cen sich finden dürfte. Was im übrigen darunter eigentlich zu verstehen sei, das zu ergründen, ist mir nicht gelungen; es wäre eine hübsche Aufgabe, freilich mehr eine für die empiri-sche Sozialforschung als eine für die Philosophie, einmal an einem repräsentativen Querschnitt zu ermitteln, was diese Herzensbildung eigentlich sein soll. Es ist von größter Wich-tigkeit, daß Sie sich darüber klar werden, daß an diesem zen-tralen Punkt Kant der gesamten deutschen, wahrscheinlich auf den Pietismus zurückdatierenden Überlieferung, daß das richtige Verhalten eine Sache des reinen Herzens, der reinen Unmittelbarkeit sei, entgegengetreten ist, obwohl schon sein nächster Nachfolger, sein nächster ebenbürtiger Nachfolger, nämlich Fichte, in der Formulierung, daß das Moralische sich immer von selbst verstehe, in gewisser Weise wieder auf die-sen Standpunkt zurückgefallen ist. - Meine Damen und Her-ren, Sie wissen ja, daß Fichte sich nicht nur für den Nachfol-ger Kants, sondern für den strengsten Kantianer gehalten hat und eigentlich geglaubt hat, daß er den Kant besser verstan-den hätte als dieser sich selbst, was im übrigen gar kein so absurder Anspruch ist, wie er dem gemeinen Menschenver-stand dünkt, denn in vieler Hinsicht ist ja Fichte tatsächlich der zu sich selbst gekommene, das heißt, ganz konsequente Kant. 172 Und es würde sich lohnen, einmal darüber nachzu-denken, ob diese beiden, scheinbar einander so kontradikto-risch widersprechenden Sätze, auf der einen Seite also der, daß die Vernunft die Garantin und die alleinige Garantin des Guten sei, und auf der anderen der, daß das Moralische sich immer von selbst verstehe, einander tatsächlich so radikal widersprechen. Ich möchte, nachdem ich Sie durch die etwas engpaßähnlichen Zugänge zu der Kantischen Moralphiloso-phie zu geleiten versucht habe, das Gedankenexperiment wa-gen, Ihnen zu erklären, daß diese beiden Prinzipien, wenn man nun wirklich auf den Kant näher hinblickt, gar nicht so

165

Page 83: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

unbedingt sich ausschließen, wie das aussieht. Denn auf der einen Seite ist das Kantische Prinzip des Moralischen ja eben die Vernunft, das absolut und uneingeschränkt vernunftge-mäße Handeln, das dabei aber auch von der Partikularität der besonderen Zwecke des je einzelnen absieht und sich auf die allgemeinste Struktur der vernunftgemäßen Gesetzmäßig-keiten beschränkt. Weil aber auf der anderen Seite ja die Ver-nunft als das Allgemeine, das heißt, als das Vermögen, das in allen Menschen als ein identisches gegeben ist, vorgestellt wird, deshalb kann auch gesagt werden, daß diese Vernunft und ihre Gesetzmäßigkeit, von der wir ja gehört haben, daß sie Kant zufolge unmittelbar selber gegeben sein soll, auch wiederum als ein Unmittelbares verstanden wird. So daß es eigentlich nicht der Reflexion auf die Vernunft, sondern des unmittelbar vernunftgemäßen Verhaltens und der Konse-quenz der Vernunft bedarf, um richtig zu handeln; so daß, wenn Sie wollen, nach der einen Seite hin, Kant auch jener Auslegung von der Selbstverständlichkeit des Moralischen fähig ist. Ich möchte annehmen, daß er bei all seinem Wider-stand gegen die Erkenntnislehre Fichtes gerade an dieser Stelle nicht Einspruch gegen ihn erhoben hätte. Es ist mir auch historisch nicht bekannt, daß er einen solchen Ein-spruch etwa soll erhoben haben.

An dieser Vorstellung von der Identität von Tugend und Wissen ist natürlich das problematisch, daß in ihr - und ich glaube, das muß man auch aussprechen, auch wenn man nicht die Absicht hat, die Herzensbildung damit zu vereini-gen - dabei ein Entscheidendes, das das richtige Handeln aus-macht, verschwindet, nämlich das Moment des Übergangs von dem richtigen Bewußtsein zu dem richtigen Handeln. Es kann soviel mit Grund gegen diese Identifikation des Morali-schen mit der Vernunft eingewandt werden, daß gesagt wird, daß daraus, daß ich das richtige Bewußtsein habe, noch in gar keiner Weise folgt, daß ich diesem richtigen Bewußt-sein gemäß überhaupt handle. Und je mehr in der Gesell-schaft sich ein Antagonismus herstellt zwischen den Interes-

166

sen und Zwecken des je einzelnen Individuums und den In-teressen und Zwecken des Ganzen, um so weniger wird man eine solche unmittelbare Identität mehr unterstellen können. Es ist kein Zufall, daß am Anfang des bürgerlichen Zeitalters in dem Drama, kann man wohl sagen, in dem die Kategorie der bürgerlichen, der autonomen selbständigen Individuali-tät überhaupt zum ersten Mal gestaltet worden ist, in Shake-speares »Hamlet« nämlich, eine Figur gezeichnet worden ist, bei der das richtige Bewußtsein und das Handeln in einen unversöhnlichen Gegensatz miteinander treten: nämlich Po-lonius, der seinem Sohn die weisesten Ratschläge mit auf den Weg gibt - wenn es freilich auch weise Ratschläge, wie Kant sagen würde, nur im Sinne der Klugheit und nicht im Sinn des kategorischen Imperativs sind - und der gleichzeitig doch wie ein Tor handelt. Man kann überhaupt sagen, daß diese Divergenz, dieses Auseinanderreißen von Bewußtsein und Handeln das Zentralthema des »Hamlet« bildet, das in der Gestalt des Polonius gleichsam wie in einem Hohlspiegel dargestellt ist, während Hamlet selber ja nun die Gestalt ist, die - zwischen dem Bewußtsein des ihm Auferlegten, des-sen, was nach den Gesetzen, den sittlichen Gesetzen der Zeit, in die er versetzt ist, ihm kategorisch geboten ist, und der Möglichkeit der Ausführung der Tat - in diesem Konflikt zwischen Wissen und Tun zerbricht.173 Ich möchte damit sa-gen, daß das berühmte Problem von Theorie und Praxis, das ja heute wieder von einer ungeheueren Aktualität ist, weil man an allen Ecken und Enden, wo man das richtige theoreti-sche Bewußtsein hat oder zu haben glaubt, auch sich daran verhindert findet, daraus, daß dieses Problem selber seine ge-schichtsphilosophische Implikation hat, die volle Konse-quenz zu ziehen. Das heißt, daß erst in einer Welt, in der das Individuum als ein Für-sich-Seiendes von der objektiven ge-sellschaftlichen Realität, in der es steht, sich so nachdrücklich und antithetisch gesondert hat, wie es eben in den großen künstlerischen Zeugnissen der Renaissance uns überliefert ist, daß erst in diesem Augenblick das Problem des Ausein-

167

Page 84: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

anderweisens von Bewußtsein und Handeln sich stellt und damit auch alle jene Probleme des Leidens unter dem Wissen, die sicherlich unter den Wurzeln des späteren gesamteuropäi-schen Irrationalismus nicht die unwichtigsten sind. Daß nämlich die Menschen deshalb unter ihrem Wissen leiden, weil sie die Erfahrung machen, daß von diesem Wissen ein unmittelbarer Weg in die Praxis nicht mehr führt, sondern es dabei noch eines Dritten bedarf, eben jenes Einschusses von Irrationalität, von auf Vernunft nicht rein Reduktiblem, von dem ich Ihnen in dieser Vorlesung ja verschiedentlich ge-sprochen habe. Aber dieses Problem, wie gesagt, eröffnet sich überhaupt erst mit der Neuzeit, also mit der beginnen-den Antithesis zwischen dem individuellen Bewußtsein und der Gegebenheit einer Gesellschaft, in die das Bewußtsein hereintritt. Auf der anderen Seite ist dabei zu bemerken, daß dieses Problem - von dem ich denken möchte, daß es die meisten von Ihnen nun wirklich sehr ernst beunruhigt, weil Sie nämlich wirklich in den unzähligen Dingen nicht wissen: >Was soll ich nun eigentlich tun?< und es nicht wissen können - eben seine lange Vorgeschichte hat, und daß es selber in unserer Gesellschaft und in der Struktur unserer Gesellschaft entspringt; und daß erst in einer versöhnten Gesellschaft wahrscheinlich dieses Problem verschwinden würde. Daß ich dabei unter Versöhnung nicht so eine Art von Frieden oder Kompromiß zwischen den ihrem Wesen nach notwen-dig antagonistischen Interessen meine, das ist Ihnen wohl mehr oder minder deutlich. Auf der anderen Seite ist aber daran festzuhalten, daß an dieser Kantischen Vorstellung von der Rationalität des richtigen Handelns - trotzdem da dieser blinde Fleck ist, dieses Moment, das sich gar nicht absolut beseitigen läßt - doch soviel Wahres ist, daß nur das Erhellte, das Nichtblinde, daß, wie ich es Ihnen in der letzten Stunde versucht habe zu entfalten, nur die Selbstbesinnung das ist, was die Subjekte über den bloßen Naturzusammenhang hin-aus erhebt.

130 168

Ich wollte noch eines sagen.174 Dieses Moment des Nicht-identischen zwischen dem Bewußtsein von dem richtigen Tun und dem richtigen Tun selber, das findet nun allerdings auch in der Kantischen Philosophie selber seinen Ausdruck und zwar in einem Theorem, das wir in anderem Zusam-menhang schon gestreift haben, das ich Ihnen aber hier doch noch einmal deutlich machen möchte. Es zeigt sich hier näm-lich, daß die Kantische Unterscheidung des Reiches der Frei-heit und des Reiches der Natur an etwas außerordentlich Richtiges gemahnt.175 Das Moment des Nichtidentischen findet nämlich, spezifischer gesprochen, darin seinen Aus-druck, daß in der praktischen Philosophie, also in den moral-philosophischen Schriften von Kant, nun das Sittengesetz zwar als eine ganz strenge Gesetzmäßigkeit erfaßt wird, aber als eine Gesetzmäßigkeit, die lediglich vorschreibt, was sein soll, aber nicht das mindeste über das, was nun tatsächlich ist, so daß also in der Theorie selber zwischen dieser Gesetzmä-ßigkeit und der Praxis genau jene Lücke bleibt, die ich im Augenblick versucht habe, als ein notwendiges Moment der Theorie Ihnen darzustellen. Das liegt in den Formulierungen der Kantischen praktischen Philosophie, die den kategori-schen Imperativ und überhaupt die moralische Gesetzmäßig-keit als eine Nötigung beschreiben. Das heißt, diese Gesetze haben zwar den Charakter des Dritten, die Form der Not-wendigkeit,176 indem sie uns in einer solchen Weise, das ist die Kantische Auffassung, gegenübertreten: daß wir als ver-nünftig Handelnde gar nicht anders handeln können, denn sie befolgen, und insofern ist der Gesetzescharakter streng ge-wahrt. Aber, sagt Kant immer wieder, da es ja nicht Natur-gesetze, nicht Gesetze über Seiendes, sondern Sätze über Sein-Sollendes sind, so geht daraus in gar keiner Weise her-vor, ob wir nun diese Gesetze wirklich befolgen oder ob wir das nicht tun. Und gerade, daß darüber keine Vorentschei-dung gefallen ist, sondern das, ob wir dieses Gesetz nun be-folgen oder nicht, von einem Dritten, von etwas nicht auf die Gesetzmäßigkeiten der Natur Reduktiblem abhängt, das ist,

Page 85: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

wenn Sie so wollen, der Sachverhalt, rein phänomenologisch gesprochen, deskriptiv gesprochen, der dem Kantischen Be-griff der Freiheit eigentlich zugrunde liegt. Und ich glaube, Sie können erst unter diesem Aspekt die Rolle der Lehre von der Freiheit und die Konstellation zwischen den Momenten der Freiheit und der Gesetzmäßigkeit bei Kant richtig verste-hen.

Wenn wir dabei von solchen Momenten reden wie dem Aufforderungscharakter der Vernunft, dem Charakter eines Imperativs etwa, dann müssen Sie sich dabei darüber klar sein, daß eben doch gegenüber dem antiken Vernunftbegriff - an den ich Sie erinnert habe in Beziehung auf den Piaton -sich etwas Entscheidendes gewandelt hat. Daß nämlich nun die Vernunft nicht mehr bloß das Vermögen der richtigen Begriffsbildung und der Gliederung der Begriffe nach der Natur der Sache ist, so wie sie in der Platonischen Dialektik in engerem Sinn dargestellt wird, sondern daß bei Kant die Vernunft selber ein - wie soll man sagen - produktives Ver-mögen, eine Art Tätigkeit ist. Und der gesamte Gedanke der Autonomie der Gesetzmäßigkeit setzt insofern dieses Mo-ment der Tätigkeit der Vernunft voraus, als ich ja aus meiner Vernunft heraus diese Gesetze nicht passiv hinnehmen soll, sondern sie zugleich aus mir heraus produzieren soll. Auch darin ist die Lehre von dem Sittengesetz eine Art Indifferenz-begriff, als das Sittengesetz - wie ich Ihnen gesagt habe - auf der einen Seite eine Gegebenheit ist, aber nicht in dem pri-mitiven Sinn wie etwa die Lehre von den sinnlichen Wahr-nehmungen, von den >sensations< oder >impressions<, den Begriff der Gegebenheit faßt, sondern >gegeben< in dem Sinn, daß es ein von mir selbst notwendig Geschaffenes, von mir selbst Produziertes sei; was im äußersten Gegensatz zu dem Wissen bei Piaton steht, das ja eigentlich gar nichts ande-res ist als das Bewußtsein von einem objektiv Vorgegebenen, nämlich den Ideen. Dieses Ansichsein der Ideen, die dann von der Vernunft quasi passiv ergriffen werden sollen, ist in dieser Weise bei Kant gar nicht vorhanden, sondern während

130 170

die Ideen gegeben sind, sind sie ihm zufolge zugleich immer ein von mir selber Geschaffenes, gleichsam das Produkt die-ser aktiven Vernunft. Und darin nun liegt eigentlich auch die Affinität dieses Vernunftbegriffs bei Kant zur Praxis. Es ist dann also nicht mehr einfach so, daß ich auf Grund eines rein rationalen Vorgangs, eines mehr oder minder in schon vor-gegebenen Bestimmungen sich abspielenden Schlußverfah-rens, zu der Erkenntnis des richtigen Tuns gelangen soll, sondern diese Erkenntnis muß - das heißt: ich muß - die Prinzipien, auf die sie zurückgeht, eigentlich selber schaffen. Und wenn bei Kant der Begriff des Willens, auf den wir bald zu sprechen kommen werden, eine so zentrale Stelle ein-nimmt, dann müssen Sie von vornherein darüber sich klar werden, daß dieser Wille seinerseits nun nicht etwa eine an-dere Kraft, ein Drittes ist, das hinzukommt, sondern selbst -metaphysisch gesprochen — identisch ist mit der Vernunft, insofern die Vernunft selber Kraft, ein Tun, ein eigentlich Erzeugendes ist, wie es übrigens bereits in der »Kritik der reinen Vernunft« in der Theorie von der ursprünglichen Ap-perzeption als einem ursprünglichen Erzeugen enthalten ist.177 Insofern also kann man sagen, daß tatsächlich in ihrem zentralsten Punkt die Kantische Philosophie die spätere Lehre von Fichte antezipiert hat, in der ja das praktische und das theoretische Wesen nun miteinander - man muß wohl sagen: unmittelbar gleichgesetzt sind. Daher bedeutet nun aber diese Vernunft bei Kant etwas ganz anderes, als was sie in der Antike bedeutet. Nämlich sie bedeutet doch, und das ist das Rousseausche Erbe in der Kantischen praktischen Philo-sophie, die Möglichkeit einer richtigen Einrichtung der Welt, wie sie in dieser Weise radikal von der Antike, soweit ich das zu überblicken vermag, außer vielleicht in gewissen Spekulationen der linken Sokratik, niemals aufgetreten ist, weil die Vernunft in der Antike ja von vornherein viel zu sehr doch ein Ordnen von objektiv Vorgegebenem ist, und weil der Gedanke, daß rein aus Vernunft heraus die gesamte Be-schaffenheit der Wirklichkeit zu setzen, zu produzieren wäre,

Page 86: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

der Antike außerordentlich fremd ist, die ja die Gestaltung der Wirklichkeit dazu noch viel zu sehr im Sinn einer säkula-risierten Naturreligion als etwas durch die Beschaffenheit der vorgegebenen Strukturen Prädeterminiertes gefaßt hat.178

Selbst die Konzeption des Weltstaates, zu der die mittleren Stoiker, Panaitios vor allem, sich erhoben haben,179 dürfte eben doch von dem Kantischen Traktat »Zum ewigen Frie-den« in bezug auf die Struktur, die ich Ihnen eben auseinan-dergesetzt habe, wie durch einen Abgrund des Sinns getrennt sein. Es ist eben in all diesen Dingen doch so - und ich glaube, das muß auch einmal gesagt sein —, daß das Christentum oder die gesamte christlich-jüdische Vorstellungsweise mit dem Begriff der Nachfolge, mit all dem, was das impliziert, selbst solche Gedanken, die ihrer bloß rationalen Gestalt nach mehr oder minder wörtlich aus der Antike überliefert scheinen, bis in ihre innerste Zusammensetzung so verändert haben, daß also noch ein Begriff wie der des Xoyog oder des sidog XoyiOTixöv, des Denkvermögens, und alle Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, dann in der christlichen Welt einen vollkommen anderen Charakter haben, daß sie etwas ganz anderes besagen als an Ort und Stelle, und zwar auch dann, wenn - wie es bei Kant der Fall ist - aus der Moralphi-losophie explizit die überlieferten christlichen Vorstellungen ausgeschlossen sind. Es wäre eine sehr wichtige Aufgabe, einmal dem nachzugehen, wie die Tradition der neueren Phi-losophie gerade in den Stücken, in denen sie sich an die An-tike anschließt, die ja in das ganze Christentum entscheidend hereingewirkt hat, trotzdem eben durch diese Motive die antiken völlig verändert hat. Zum Beispiel die antike Vor-stellung des summum bonum, als eines sozusagen passiv, ge-genständlich uns Gegenüberstehenden, ist bei Kant der abso-luten Verinnerlichung des Guten, des Sittlichen gewichen, und diese Verinnerlichung ihrerseits setzt eigentlich die ge-samte christliche Glaubenslehre als das Medium der Innerlich-keit implizit voraus. - Auch auf diese Dinge muß wenigstens einmal hingewiesen werden, damit Sie nicht der Ansicht

172

sind, daß die Spekulationen über die Moralphilosophie in einer Art von leerem Raum sich abspielen, sondern damit Sie sehen, daß noch die subtilsten begrifflichen Differenzierun-gen tingiert sind von gewissen religiösen und metaphysi-schen Gehalten, die im Lauf der Jahrtausende dann eben in die Begriffe eingesickert sind.180

Nun muß aber doch gesagt sein, daß es mit dieser Lehre von dem Vernunftgemäßen des Sittlichen so ganz ernst - ich sage etwas schrecklich Ketzerisches - denn Kant doch nicht ist. Und das ist nun genau der Punkt, an dem das Negative, das Enge und Dogmatische der Lehre von der Selbstver-ständlichkeit des Moralischen hervortritt. Denn ich glaube, jeder Mensch, der in diesen Dingen einigermaßen bewußt sich selber kontrolliert, wird ja erfahren, daß das Moralische keineswegs selbstverständlich ist, sondern daß es innerhalb der Komplexitäten des modernen Lebens — und in diesem Sinn war es in der Zeit Kants nicht um einen Deut anders bestellt als in unserer eigenen - ungezählte Situationen gibt, in denen eine solche Selbstverständlichkeit nicht besteht, und daß man immer wieder in Situationen kommt, wo man der angespanntesten Reflexion bedarf, nicht etwa, um dem kate-gorischen Imperativ zu gehorchen - ich möchte, weiß Gott, den Mund nicht voll nehmen - , sondern wo man, ich möchte sagen, seinen ganzen Kopf dazu braucht, um auch nur wie ein leidlich anständiger Mensch sich zu verhalten, und dieses Moment fällt bei Kant hier unter den Tisch. Und indem es unter den Tisch fällt, sieht es natürlich dann doch immer wie-der so aus, als ob man dabei den jeweils geltenden morali-schen Normen mehr oder minder verpflichtet wäre. Das heißt, das Problem der Differenz zwischen den kulturell ap-probierten Normen und den Normen, die aus dem kategori-schen Imperativ entfließen, diese Unterscheidung würde Kant zwar in der Theorie uns, wie wir hier versammelt sind, selbstverständlich konzediert haben, aber sie bleibt für ihn vollkommen ohne Konsequenz, und das hat auch einen Grund, ich weiß nicht, ob ich Sie darauf hingewiesen habe.

130 172

Page 87: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Die ganze Kantische Ethik ist, wie Lukacs es einmal zu der Zeit genannt hat, zu der er über diese Dinge noch selbständig nachdenken durfte, eine private Ethik, das heißt, es ist eine Ethik in der eigentlich das Problem möglicher Konflikte zwi-schen den Normen, die den einzelnen Individuen auferlegt werden, und den objektiven Normen, wie sie, sei es aus einer gegebenen Gesellschaft oder aus der Forderung einer Verän-derung der Gesellschaft sich ergeben, überhaupt nicht be-steht.181 Im Grunde ist die Welt, auf die diese außerordentlich sublimierte Ethik zugeschnitten ist, gar nicht soviel anders wie die agrarische Welt, sagen wir, von Johann Peter Hebel oder von Jeremias Gotthelf, in der also jeder einzelne da-durch, daß er in einer traditionellen, in sich festgefügten und nicht problematischen Welt steht, so einigermaßen wirklich in jedem Augenblick weiß, was er zu tun hat. Und wenn Sie die Beispiele nehmen, die Kant zur Erläuterung seiner sittli-chen Prinzipien nimmt, dann sind das eigentlich immer so die Beispiele des ehrlichen Kaufmanns, der zwar seinen Vor-teil wahrzunehmen hat, dabei aber einfach solcher, wie soll man sagen, vorbürgerlicher, im schlechten Sinn traditionali-stischer Mittel wie des Betrugs, des Tricks der Übervortei-lung sich zu enthalten habe. Es ist sicherlich eine der konkre-ten Seiten der Rationalität der Kantischen Ethik - also der in der Kantischen Ethik gelegenen Aufforderung sich streng vernunftgemäß zu verhalten daß nach dem Modell der bürgerlichen Vernunft, nämlich nach dem Tauschgesetz, streng zu handeln sei, daß man im Tausch dem anderen das Seine gibt und für sich auf das Seine dringt, ohne ihn zu über-vorteilen und ohne sich dabei übervorteilen zu lassen. Da nun in der Tat dieses Prinzip als das vom gleich und gleich einer aufgehenden Rechnung sehr nahe an dem Urbild vernunft-gemäßen Handelns selber ist, da, wie man auch sagen könnte, der Kalkül das Modell vernunftgemäßen Handelns ist, so wird Kant ganz selbstverständlich darauf gelenkt, daß er diese, ich möchte sagen, kaufmännischen Tugenden einer noch wesentlich agrarischen Gesellschaft mit dem eigentlich

130 174

sittlichen Handeln gleichsetzt, oder etwa auch die Beamten-tugenden der Pflichterfüllung, der Pünktlichkeit, der Unbe-stechlichkeit, all diese Tugenden, die natürlich deshalb ein besonderes Gewicht hatten in der Zeit, in der die Kantische Philosophie konzipiert worden ist, weil die auf der Paßhöhe steht zwischen dem kameralistisch-bürokratischen Staat des Merkantilismus und einer voll entwickelten bürgerlichen Gesellschaft, deren Normen Kant nun für die selbst noch weitgehend irrational organisierte Gesellschaft geltend macht. Aber, wie gesagt, Kant ist an dieser Stelle insofern inkonsequent, als er lehrt, daß man, um gut zu sein, nicht der Philosophie bedürfe. Eine These, wie sie nun wieder der So-krates oder der Piaton, bei dem jener radikale Bruch zwischen der Theorie und der praktischen Gestaltung der Wirklichkeit noch gar nicht bestanden hat, niemals erhoben hätten, son-dern Sokrates hätte, wenn wir es uns richtig vorstellen, in aller Unschuld wahrscheinlich seinen Schülern auf dem Markt von Athen erzählt, daß sie gut handeln können nur dann, wenn sie Philosophieren gelernt haben. Er hätte an dieser Stelle den Gedanken der Vernunft viel ernster, viel schwerer genommen, während bei Kant hier eben doch be-reits der Übergang ist zu dem, daß man im Lande bleiben und sich redlich nähren soll.182

Trotzdem ist natürlich - und auch das möchte ich an dieser Stelle Ihnen klarmachen - in dieser Lehre von Kant: daß man wegen der unmittelbaren Gegebenheit des Sittengesetzes der Philosophie nicht bedürfe, auch ein Moment der Wahrheit. Die griechische Identität, von der ich Ihnen gesprochen habe, setzt ja eine relativ in sich homogene Gesellschaft voraus. Eine Gesellschaft, in der es jedenfalls unter den Freien und Gleichen - und an andere haben diese griechischen Philo-sophen im allgemeinen nicht gedacht - solche Differenzen des Bewußtseins gar nicht gegeben hätte, daß, durch die For-derung: daß man philosophieren müsse, um gut zu sein, das Gute zu einer Sache des Bildungsprivilegs geworden wäre, wie es in unserer eigenen Zeit und in der Kants schon vor 200

Page 88: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Jahren ohne alle Frage der Fall gewesen ist. Es steckt also hierin auch ein, ich möchte sagen: bürgerlich revolutionäres, ein sehr rousseauistisches Element, daß nämlich die Unmit-telbarkeit des Guten der konventionell gegliederten hierar-chischen Welt entgegengesetzt wird, und daß das Gute nicht von der Bildung als einem Privileg und nicht von dem, was, wie es bei Schiller heißt, »die Mode streng geteilt hat«,183 ab-hängig gemacht werden soll. Während auf der anderen Seite an dieser Stelle schon bei Kant die seltsame Einschränkung der Vernunft sich zeigt - die dann für den ganzen Idealismus charakteristisch ist, in dem ja an dieser Stelle eine seltsame Ambivalenz herrscht, die man einmal ganz grundsätzlich aufrollen sollte-, daß nämlich, je größer das Pathos der Ver-nunft wird, also je mehr der Versuch gemacht wird, eigent-lich alles was ist, auf das konkreteste aus der Vernunft selbst zu entwickeln, um so mehr wird gleichzeitig die Vernunft selber eingeengt, diffamiert. Und gerade deshalb, weil das Gegebene selber schließlich auch ein Produkt der Vernunft sein soll, wird es dann ganz leicht zu fordern, man solle nach dem Gegebenen sich richten, weil das Gegebene an sich ja vernünftig sei. Also die späteren, ich muß schon sagen, Hetz-reden, die sich bei Hegel dann gegen das Räsonieren, gegen den Weltverbesserer, gegen die bloße Reflexion, gegen alle diese Kategorien finden — und das ganze Werk vor allem des späteren Hegel ist von solchen Invektiven durchwachsen - , die finden sich bis in die Terminologie hinein bei Kant bereits vorgebildet - bei dem >Vernünfteln< ein bloßes Schimpfwort ist184 - , vor allem eben deshalb, weil er die Widersprüche, in die die Vernunft in ihrem partikularen Gebrauch gerät, nun nicht als notwendig erfährt, sondern nur als eine Art Aberra-tion, von Mißbrauch der Vernunft geißelt, während die Ver-nunft an sich davon ausgenommen sei, weil sie den Charak-ter der reinen Gesetzmäßigkeit besitzen soll.

Das Grundproblem der Kantischen Ethik ist Autonomie, und der Gegensatz dazu ist Heteronomie. Ich glaube, ich muß Ihnen die beiden Begriffe kaum mehr lange erläutern.

130 176

Autonomie ist also das Gesetz, das ich mir selbst gebe, wobei aber unter diesem Gesetz nicht etwa das zu verstehen ist, was wir alle irgendwie an uns erfahren, wenn wir uns von den allgemein geltenden Gesetzesvorstellungen der überkomme-nen Ethik emanzipieren, aber zugleich doch richtig handeln wollen, indem wir - und ich glaube, jeder Mensch macht diese Phase durch - sozusagen für uns einen eigenen Kode setzen, nachdem wir uns richten wollen. Das ist mit Autono-mie nicht gemeint, sondern im Begriff der Autonomie bei Kant steckt nun allerdings die Idee der Allgemeinheit von Anbeginn in einem höchst belasteten Sinn drin, nämlich so, daß dieses Gesetz, das ich mir selbst gebe, nicht einfach ein-geht auf meine individuellen Bedürfnisse oder Neigungen oder auf die Zufälligkeit meiner eigenen Individualität, son-dern daß es allgemein sein muß, was dann den konkreten Inhalt bei Kant hat, daß dieses Gesetz, das ich mir selbst gebe, zugleich so sein muß, daß ich es mir vorstellen kann als die Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung, also einer Ge-setzgebung, die nicht die Freiheit und die Autonomie anderer Individuen verletzt. Und der Gegenbegriff dazu, und das ist nun der Inbegriff dessen, was von Kant als Rechtsquelle der Ethik abgelehnt wird, ist die Heteronomie, das heißt: das Ge-setz, das von einem anderen mir gesetzt ist, das ich bloß emp-fange, ohne daß es ein Gesetz meiner eigenen Vernunft sei. Und Freiheit heißt nun - um das noch einmal mit allem Nachdruck Ihnen in der Kantischen Philosophie zu unter-streichen - sich selbst Gesetze geben. Wenn ich mir selbst nicht Gesetze gebe, wenn ich nicht nach dem Gesetz der eige-nen Vernunft handle, dann mache ich mich abhängig eben von dem Heteronomen, von Gesetzmäßigkeiten, die jenseits von mir herrschen, und werde dadurch unfrei. Dieser Begriff der Heteronomie ist bei Kant nun nicht bloß die Unfreiheit im politischen Sinn, also das Sichrichten nach blind mir vor-gegebenen Normen, sondern er bezieht sich auf alles, wo-durch überhaupt die Vernunft eingeschränkt wird, also ebenso auf den eigenen Trieb und das eigene Bedürfnis wie

Page 89: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

auf die Fesselung der bürgerlichen Freiheit durch irgendwel-che von außen an mich herangebrachte Faktoren. Gerade an dieser Stelle, meine Damen und Herren, ist Kant in voller Übereinstimmung mit der antiken Tradition. Schon in der Aristotelischen Ethik sieht es nämlich so aus, daß der Begriff der ekev&EQia, also der Freiheit, gefaßt wird in den doppelten Sinn der Freiheit von Bevormundung, wobei bei dem früh-hellenistischen Denker Aristoteles natürlich an die Bevor-mundung durch die rvgavvig, die Tyrannis seines eigenen Schülers Alexander, gedacht wird, wie auch an die durch die Abhängigkeit von den eigenen Affekten. 185 Von der sich frei-zumachen, ist ja in der älteren griechischen Philosophie von den Kynikern und dann in dem klassischen Zeitalter von der älteren Stoa gelehrt worden. Also diese doppelte Wendung des Freiheitsbegriffs als eines Freiheitsbegriffes nach außen und nach innen ist etwas, was, man kann fast sagen, die ganze Geschichte der Philosophie durchwaltet, durchherrscht und worin die einander aufs heftigste widersprechenden Denker miteinander übereinstimmen. Wenn Sie den >Exkurs über Ju-liette< aus der »Dialektik der Aufklärung« einmal nachlesen, dann werden Sie finden, daß wir da Belege gerade für dieses Motiv aus Autoren zusammengetragen haben, die wirklich nichts anderes miteinander gemein haben als diesen Gedan-ken, daß die Freiheit in der Unterdrückung der Affekte be-stehe. Zugleich aber liegt darin an dieser Stelle immer schon das Potential einer außerordentlich verhängnisvollen Dialek-tik, daß nämlich im Namen der Freiheit, also im Namen der Kontrolle über die Affekte durch das Bewußtsein, die Befrie-digung der Instinkte, überhaupt also schließlich jede Art von Glück, einer Art von Tabu verfällt und von dem Denken ver-bannt wird, und diese Intention ist Kant, weiß Gott, auch nicht fremd, indem er aus seiner Ethik zum Beispiel - und auch das hat sein Modell, es gibt dasselbe schon bei Spinoza -schon die Sympathie, das Mitleid, das unmittelbare Mitge-fühl ausschließt, weil alle derartigen Regungen als solche der bloßen Natur, als solche gleichsam triebmäßiger Art, mit der

130

reinen Vernunft, mit dem Vernunftprinzip unvereinbar sein sollen. Also diese Überspannung des Freiheitsbegriffs da-durch, daß er auf die absolute Unabhängigkeit von allem Seienden, von aller Natur sich gründet, droht zugleich in Unfreiheit dadurch umzuschlagen, daß den Menschen Ver-sagung aufgezwungen wird und vor allem, daß sie ja im all-gemeinen nicht das eigentlich wiederbekommen, worauf sie nach diesem Imperativ verzichten müssen; aber das möchte ich in der nächsten Stunde behandeln.

179

Page 90: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

N A C H S C H R I F T DER 1 2 . VORLESUNG

VOM 9 . 7. 1 9 6 3 1 8 6

Zu Autonomie und Heteronomie als Zentralbegriffen kanti-scher Ethik. Im Autonomie-Begriff sind Freiheit und Gesetz unmittelbar synkopiert, ineinsgesetzt. avrög, ich selber als Subjekt, gebe mir frei meine Bestimmung. Diese Bestim-mung soll zugleich vöjuogGesetz sein. Heteronomie: das Ge-setz stammt von anderen, wobei nicht nur, wie in der Antike, an andere Personen gedacht ist.

Der Begriff des Wertes hat keinen Raum bei Kant. Es ist kein Zufall, daß die berühmteste Kritik von Kants Ethik, die von Max Scheler, geglaubt hat, Werte haben zu sollen, wäh-rend Werte im Sinne Kants heteronom und darum unver-bindlich sind.187 Der Kultus der Werte ist reaktiv zu verste-hen aus der Desorientiertheit und Entstrukturierung einer Gesellschaft, in der zwar die traditionellen Normen nicht mehr bestehen, aber die Individuen sich auch nicht selbst be-stimmen, sondern nach etwas greifen, woran man sich halten kann. Dabei stammt dieser Kultus wesentlich aus der Sehn-sucht nach einer Orientierung, die Normen rechtfertigen sich nicht vor der Vernunft, sondern sind von der Sehnsucht herbeigezogen. Dies spricht sich auch in den Werten aus. Einmal sind sie willkürlich gesetzt, zum anderen spricht sich darin die Schwäche von Menschen aus, die nicht vermögen, sich wahrhaft selbst zu bestimmen und ihrem Gesetz zu fol-gen, sondern nach etwas suchen, >was da käme und sie mit-nähmen Das Resultat halten sie sich dann auch noch als >Ge-diegenheit<, >Kernigkeit< zugute.

Zurück zum Autonomie-Begriff. Man könnte sagen, selbst das bißchen Freiheit, das bei Kant schließlich heraus-schaut, wird einem in der Bestimmung der Freiheit als dem Vermögen, sich selbst das Gesetz zu geben, gleich noch weg-genommen. Aber das ist ernster zu nehmen; die abstrakte Beteuerung, das Gesetz sei die Negation der Freiheit, wird dem Sachverhalt nicht gerecht. Denn ein absolut gesetzloser

130 180

Zustand wäre zugleich absolut unfrei, denn darin wäre jeder der Unterdrückung aller durch alle ausgesetzt. Es wäre das >bellum omnium contra omnes< der Hobbes'schen Staatsphi-losophie. Die rein gesetzte, absolute Gesetzlosigkeit und Freiheit ist unmittelbar eins mit Unfreiheit. Dasselbe gilt in-nerlich. Folgen die Menschen ihren Bedürfnissen ohne Reali-tätsprüfung und Ich-Kontrolle, so werden sie abhängig von sich selber und damit unfrei. Der süchtige Mensch ist der Extremfall, er kann sich Bedürfnisse nicht versagen, die un-mittelbar der Selbsterhaltung widersprechen. Der Gedanke, daß die absolute Freiheit, die nicht auch in sich bestimmte Freiheit ist, der Negation der Freiheit gleichkommt, ist keine Erfindung puritanischer Schulmeister, sondern hat ein Wahrheitsmoment. Kants Verschränkung von Freiheit und Gesetz hat man schwer zu nehmen; sie ist nicht bloße Ideolo-gie. Andererseits liegt in der Idee des Gesetzes immer schon ein Potential gegen die Freiheit. Das Gesetz als umfassende Bestimmung, die keine Ausnahme duldet, hat in sich selbst etwas Totalitäres, tut den Menschen auch dort Zwang an, wo der Zwang kein Moment von Vernunft hat. Indem Frei-heit eingeschränkt wird, ist sie auf des Messers Schneide, ganz zu verschwinden. Die Sphäre des Rechts, auch da, wo sie formaliter unter der Idee steht, Freiheit zu schützen, zu garantieren, hat in sich die Tendenz, Freiheit abzuschaffen. Das Verhältnis Freiheit-Gesetz ist kein wohlbalanciertes, kein vernünftiger Ausgleich, sondern auf beiden Seiten sind dynamische Momente im Spiel. Was vom Gesetz erfaßt wird, ist die Triebenergie des Menschen, die notdürftig zu bändigen, aber nicht restlos zu sublimieren ist. Andererseits hat eine psychologische Instanz, die von abgetrennten Ener-gien wie dem Über-Ich gespeist wird, in sich die Tendenz, sich zu verabsolutieren, Freiheit abzuschneiden, also keine Balance. Da das Gesetz die Tendenz hat, sich stärker geltend zu machen als die Freiheit, kommt es darauf an, aufzupassen, aufs äußerste wachsam zu sein gegenüber einer Fetischisie-rung des Gesetzes, der Rechtsnormen, etwa im Namen der

Page 91: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Unwiderruflichkeit einmal gefaßter Beschlüsse. Man kann sich nicht bei einer sogenannten Ordnung bescheiden, denn sobald eine solche Ordnung da ist, pflegt es um die Freiheit geschehen zu sein. Zwischen beiden waltet keine statische Proportion.

Kant hat eine geniale Form gegeben, um die apriorische Konstruktion des Verhältnisses von Freiheit und Gesetzlich-keit zu gewähren. Die Freiheit eines jeden einzelnen sei durch Gesetz nur soviel, aber auch nur soviel einzuschränken, wie sie die Freiheit eines anderen einschränkt.188 Das ist zwar for-mal, stellt aber doch einen Kanon bei, nach dem man sich orientieren kann. Der Funktionszusammenhang der Gesell-schaft und das Prinzip der Moralphilosophie hängen zusam-men. Der absolut für sich seiende einzelne ist Funktion. U m existieren zu können, sind die Menschen zusammenge-schlossen durch den Prozeß der Vergesellschaftung. Freiheit ist nicht isoliert fürs Individuum, sondern mit Rücksicht auf das gesellschaftliche Ganze, in dem die Menschen leben, ge-geben. Die Konkretisierung des Sittengesetzes ist nur am Funktionszusammenhang zu gewinnen, nicht am Modell eines Robinson.

Der Unterschied zwischen der »Kritik der praktischen Ver-nunft« und der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« ist nicht leicht zu fassen. Die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« geht vom sogenannten natürlichen Bewußtsein aus.189 Demgegenüber gilt die »Kritik der praktischen Ver-nunft« als schwieriger. Aber vor solchen Bewertungen ist zu warnen, denn die einfacheren Schriften unterschlagen ge-wöhnlich die triftige Argumentation. Hegels »Propädeutik« ist dafür das eklatanteste Beispiel. Die »Kritik der prakti-schen Vernunft« ist in Analogie zur »Kritik der reinen Ver-nunft« geschrieben, insofern als sie versucht, das Vermögen der praktischen Vernunft zu zergliedern, wobei gewisse Wi-dersprüche, die Antinomien der praktischen Vernunft ent-wickelt werden, die dann ihre Auflösung erfahren; eine Me-thodenlehre schließt sich an. Hingegen ist die »Grundlegung

1 8 2

zur Metaphysik der Sitten« ein origineller Versuch, vom na-türlichen Bewußtsein aufzusteigen zu den Kategorien der Moralphilosophie, von einem sozusagen vorkritischen Aus-gangspunkt her den Standpunkt der Moralphilosophie zu er-reichen. Ihrem inhaltlichen Kern nach stimmen beide Schrif-ten weitgehend überein.

Daß Kant vom natürlichen Bewußtsein, das heißt, den moralischen Anschauungen, wie sie uns nun einmal gegeben sind, ausgehen kann, ist deswegen weniger anstößig, als man zunächst denken sollte, weil Kant das Sittengesetz als ein Ge-gebenes ansetzt, das also auch im natürlichen Bewußtsein vorhanden ist, aus dem es sich herausschälen lassen muß. Wie dem nun auch sei, ob das Sittengesetz eine Gegebenheit ist oder nicht - etwas Wahres steckt darin. Man kann ja eine Ethik nicht erfinden, kann sich nicht selbst, im Gegensatz zu den mores einer Epoche, einen Kode geben. Das führt not-wendig dazu, daß man einerseits sich selbst von vielen sonst geltenden Normen dispensiert, zugleich aber die Tendenz hat, bei anderen das vorauszusetzen, wovon man sich ausge-nommen glaubt. In den Normen steckt das Moment des All-gemeinen, darum hat das Absehen von der Allgemeinheit immer etwas Eitles und Vergebliches. Andererseits kann ein sogenannter verantwortlicher Mensch sich nicht einfach mit den im Milieu geltenden Normen bescheiden. Es gilt viel-mehr - und das ist fruchtbar an der Grundlegung der Sitten im natürlichen Bewußtsein - die Normen dem eigenen Be-wußtsein zu konfrontieren, beides aneinander zu messen. Das geht aber nicht, indem man glaubt, Normen erfinden zu können. Meist ist das bloße Sich-hinweg-Setzen über etwas, was ist, ohne daß die Schwere dieses Seienden mit hineinge-nommen wird in die Erwägungen, nur ein Rückfall hinter das Bestehende. Ignoranz ist nicht das Medium der Freiheit. Man wird erst frei von den Normen, wenn man sie in sich selber reflektiert. Kant geht hier so vor, daß er durch zuneh-mende Abstraktion zum kategorischen Imperativ geleitet. Vorausgesetzt ist, daß man nach Grundsätzen überhaupt ver-

130 182

Page 92: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

fährt. Kant kann sich kaum vorstellen, daß man anders lebt als nach Grundsätzen. Vorblick, Sorge für die Zukunft, die zur bürgerlichen Existenz gehört, bedarf der Grundsätze. Heute ist die Selbstverständlichkeit des Handelns nach Grundsätzen nicht mehr so da. Wer traut sich das noch zu? Die Realität hat heute solche Übermacht, daß sie Wendig-keit, Beweglichkeit und Anpassung verlangt, wodurch das Handeln nach Grundsätzen unmöglich wird. Kants Grund-sätze haben ein festes, sich durchhaltendes Ich zur Vorausset-zung, das heute so nicht mehr da ist. Wer heute nach Grund-sätzen handelt, käme einem unbeschreiblich pedantisch vor. Ähnlich wie in der Antike, zur Zeit des beginnenden Helle-nismus, besteht eine Krisis der Individualität. Aristoteles, der sich zu Piaton verhält wie vergleichsweise ein Angelsachse zu Kant, trägt dem Rechnung: was bei Kant absolut uneinge-schränkt ist, der Gesetzesbegriff, ist bei Aristoteles einge-schränkt durch sogenannte >Billigkeit<.190 Heute ist das ver-blaßt. Die Aristotelische Billigkeit besagt, daß man nicht nur nach dem Gesetz sondern zugleich in Ansehung der Person und der besonderen Umstände handeln soll. Bei Kant wäre das Heteronomie. An einer Stelle wird von ihm Konsequenz als allein philosophiewürdig hingestellt. Billigkeit wäre da-gegen allemal inkonsequent. Die Forderung, nach Regeln, Gesetzen, Maximen zu handeln, ist die Umsetzung des Pri-mates der Vernunft in die praktische Sphäre, wobei Vernunft der Inbegriff der allgemeinen Grundsätze ist. Soweit über die merkwürdige Voraussetzung der Grundsätze, wo Kant sonst doch die Heteronomie kritisiert. Die Möglichkeit, daß je-mand nicht nach Grundsätzen handelt, was doch sehr unver-ächtlich ist, daß er sich frei der Situation stellt, nicht aber die Situation an festen Grundsätzen mißt, zieht Kant nicht in Be-tracht. »Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfah-

130

rcn, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.«191 Der Begriff des Willens ist hier außerordentlich formal gefaßt. Mein Begehrungsvermögen, aus dem meine Handlungen entfließen, soll sich nach Zwek-ken aus Vernunft richten; Wille ist eingeschränkt auf ein an Zwecken orientiertes, von Zwecken gesteuertes Begeh-rungsvermögen. Diese Definition ist wichtig, weil dieser Willensbegriff vom allgemeinen Sprachgebrauch sehr ent-fernt und dem tatsächlichen Willensphänomen weitgehend unangemessen ist. >Ich soll so handeln, daß die Maxime mei-nes Willens Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung wer-den kann.<192 - Erläuterung des Begriffs der Maxime: jeder Bürger handelt nach Grundsätzen. Maxime, abgeleitet vom Superlativ von >magnus<, der Höchste, Größte, ist die ober-ste Regel, zum Beispiel: >Üb' immer Treu und Redlichkeit. Soweit eine solche oberste Regel lediglich ein Gesetz der Le-bensklugheit ist, das meinem eigenen Fortkommen letztlich dient, ist sie nur empirisch. Andererseits ist ein solcher Grundsatz die Form, an der mein Handeln als an einer nor-mativen Struktur sich orientiert. Das Problem, das im kate-gorischen Imperativ steckt, ist, wie kommt die Norm, die ich mir selber gegeben habe, zum Charakter absoluter und höchster Verbindlichkeit? Nur dann, wenn diese Regel koin-zidiert mit einer schlechterdings allgemeinen und notwendi-gen Regel, ist der Imperativ kategorisch. Nun sind aber die in der Wirklichkeit geltenden Gesetze das auch nicht, sie spiegeln Machtverhältnisse und sind so empirisch wie meine eigenen Gesetze. Deshalb wird ein Drittes gebraucht, eine Instanz der Vernunft, durch die ich meine Lebensregel hin-durchfiltriere. So gelangt Kant zum kategorischen Impera-tiv. >Kategorisch< meint schlechthin gültig im Gegensatz zu >hypothetisch<, nur bedingt gültig. Aber es handelt sich um kein Naturgesetz, sonst gäbe es ja keine Freiheit. Der kate-gorische Imperativ ist nur eine Aufforderung; trotzdem soll ich als vernünftiges Wesen mich ihm nicht entziehen kön-nen. Durch Abstraktion gelangt Kant zum Übergang vom

185

Page 93: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Individuellen zum Subjekt im Sinne der Allgemeinheit, die als transzendentales Subjekt in der »Kritik der reinen Ver-nunft« und als Bewußtsein überhaupt in den »Prolegomena« auftritt.193 Der oberste Grundsatz der reinen praktischen Ver-nunft, weil schlechterdings gegeben, ist nicht in derselben Weise deduzibel wie die transzendentale Einheit der Apper-zeption - dahingestellt, wieweit die Deduktion wirklich eine ist oder nicht vielmehr Entfaltung der Momente einer Ein-heit.194

130 186

1 3 . VORLESUNG

I I . 7. 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, ich möchte immerhin noch ein Moment nachtragen zu

dem Problem der Undeduzierbarkeit des kategorischen Im-perativs. Es meldet sich da eine Sache, die dann sicherlich unter den latenteren Impulsen der modernen Philosophie, denen der Phänomenologie, nicht der letzte war, und der schon, ehe die phänomenologische Bewegung in der Philo-sophie so recht wirksam geworden ist, von Georg Simmel formuliert worden ist in dem Satz: »daß alles, was sich bewei-sen läßt, sich auch widerlegen läßt, daß nur das Unbeweis-bare unwiderleglich sei.<195 Man stößt da auf das Phänomen der Müdigkeit am Argument. Diese Müdigkeit hat auch ihre dialektische Struktur. Es liegt in ihr etwas von der aufgesta-pelten Erfahrung des Unschlichtbaren, den sogenannten Schulstreitigkeiten in der Philosophie, und von dem Bedürf-nis, da herauszukommen durch eine Art des Philosophierens, die dem Argument als dem immer auch der Widerlegung und dem Diskurs Zugänglichen entrinnt. Dieses Bestreben der Philosophie sich in Lehre zu verwandeln, also der Relati-vität des >Es ist so - Ja, aber< sich zu entwinden, hat als Idee sicher etwas Legitimes, aber zugleich auch zwei Gefahren. Nämlich auf der einen Seite, die Philosophie wirklich herunterzubringen auf das bloße Akzeptieren sogenannter Gegebenheiten, also wirklich den eigentlichen Gedanken auszuschließen und aus Philosophie positivistische Tatsa-chenforschung zu machen - wie dann der Positivismus seiner-seits versucht hat, diese in eine Philosophie zu verwandeln —, oder auf der anderen Seite, nun willkürliche Gebote einfach zu setzen, den Menschen anzubefehlen. Beides schwingt auch in diesem Kantischen Imperativ mit, obwohl in all dem auch ein Moment der Wahrheit ist, daß nämlich, wenn die Wahr-heit nicht auch die Tendenz hat, sich dem Hin und Her des Arguments zu entziehen, wenn in ihr nicht etwas ist, was über

Page 94: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

diese schlechte Unendlichkeit hinausreicht, daß sie dann ge-nausowenig ihrer mächtig ist wie umgekehrt, wenn sie bei dem Dekret oder bei der bloßen Gegebenheit sich bescheidet.

Wir hatten uns dieser ersten Fassung des kategorischen Im-perativs zugewandt, wie sie in der »Grundlegung zur Meta-physik der Sitten« formuliert ist, und ich möchte darauf nun doch noch etwas näher eingehen. Ich folge dabei wieder mei-ner Gewohnheit, daß wir uns den Wortlaut sehr genau anse-hen. »Ich soll«, heißt es da, »niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines

Gesetz werden.«m Es ist interessant, daß hier dieses ein-schränkende »auch« dabeisteht, was man ja fast so interpre-tieren könnte, als ob es ihm nur darauf ankommt, daß diese Maxime mit einem allgemeinen Gesetz nicht in Widerspruch steht, ohne daß er dabei aber nun selber verlangte, positiv verlangte, daß jede einzelne Handlung unmittelbar aus dem allgemeinen Gesetz entspringe; worin doch vielleicht ein Zu-geständnis an die Art von Bedingtheit des Handelns liegt, die ja eben darin besteht, daß eine solche reine Transparenz auf allgemeinste Gesetzmäßigkeiten von ihr gar nicht erwartet werden kann. Und da es ja Kant nun doch darauf ankommt, den kategorischen Imperativ nicht in der Luft zu lassen, son-dern für die realen Subjekte geltend zu machen, wie wenig im übrigen auch diese in ihm aufgehen mögen, so könnten sol-che Erwägungen immerhin hineinspielen. Das steckt nun aber tatsächlich wohl noch mehr in dem Begriff des Wollens, den er hier hat, in dem Begriff des Willens. Ich möchte Ihnen doch noch einmal sagen, daß der Willensbegriff bei Kant eine sehr spezifische Bedeutung hat, die man im allgemeinen ver-gißt, wenn man so von dem moralischen Vermögen, oder wie man das nennen will, als dem Willen redet. Es gibt eine Stelle in der »Kritik der praktischen Vernunft« - und zwar in dem zweiten Hauptstück aus der Analytik: »Von dem Be-griffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft«

wo es heißt: »Vernunft allein ist vermögend, die Verknüp-fung der Mittel mit ihren Absichten einzusehen, so daß man

130

auch< - und nun kommt die Definition - >den Willen durch das Vermögen der Zwecke definieren könnte, indem sie je-derzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens nach Prinzipien sind,< und so weiter.197 Der Wille wäre also demnach das Begehrungsvermögen, soweit es seine Bestim-mungsgründe in Zwecken hat. Die Formulierung ist deshalb sehr auffällig, weil sie eine jener zahllosen sehr subtilen Selbstkorrekturen darstellt, die das Kantische System, ja, ich möchte am liebsten sagen, ausmachen. Man könnte es so aus-drücken, daß die Kantische Philosophie, die ja in ihren we-sentlichen Motiven objektiv auf Dialektik drängt, aber im Sinn und nach den Regeln der traditionellen Logik vorgetra-gen wird, dem dadurch Rechnung trägt, daß sie das, was eigentlich nur durch die Dialektik der Begriffe, also durch das Hineinnehmen des Widerspruchs in den Begriff selbst, geleistet werden könnte, durch einen immerwährenden Pro-zeß der Revision und der Selbstkorrektur leistet. Und wenn ich Ihnen diesen Tip für Ihre eigene Kant-Lektüre geben kann: Sie werden Kant insgesamt, vor allem auch die »Kritik der reinen Vernunft« und die »Kritik der Urteilskraft«, wahrscheinlich nur dann ganz verstehen, wenn Sie vonein-ander abheben die durchlaufenden, sozusagen offiziellen Gesamtintentionen und die unzähligen Korrekturen, durch die dann Kant versucht, die dialektischen Verhältnisse, auf die er stößt, doch geltend zu machen - wohlverstanden, da-mit Sie mich nicht falsch verstehen, ohne daß er dabei etwa einen Begriff von Dialektik hineinnähme. Was ich an der Stelle meine, ist nichts anderes, als daß ja das Begehrungs ver-mögen nach der alten Platonischen Einteilung der eidr], der Vermögen des Menschen, eben gerade das auf Sinnliches Ge-richtete ist und damit eigentlich das, was prinzipiell der Hete-ronomie überantwortet ist. Wenn aber nun der Wille defi-niert wird als das Begehrungsvermögen, das durch Zwecke bestimmt ist - und Zwecke sind ja jeweils zu verstehen als Zwecke der Vernunft so liegt darin doch auch so etwas wie: daß dies prinzipiell als sinnlich gedachte Vermögen da-

189

Page 95: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

durch, daß es abermals sehr formal gefaßt ist, in dem Augen-blick, in dem es eben nach Vernunftzwecken sich ordnet, den Vernunftzwecken untergeordnet ist, trotzdem zu der Ver-nunft selbst vermittelt sei. Und diese Vermittlung ist, wie alle Vermittlungskategorien, deshalb so ungeheuer wichtig bei Kant, weil nur dadurch, daß so etwas wie dieses ursprüng-lich sinnliche Vermögen des Begehrens, der Absicht, - von dem ja sonst das moralische Verhalten gerade unterschieden wird - in sich die Möglichkeit hat, auch durch Vernunft be-stimmt zu sein, wir uns überhaupt vorstellen können, wie das Sittengesetz, der kategorische Imperativ und unser Ver-halten als empirische Wesen zusammenkommen; deshalb also diese eigentümliche Zwischenbestimmung, die bei ihm vorliegt, diese Zwischenbestimmung des Willens als des Be-gehrungsvermögens, aber als eines Begehrungsvermögens, das gleichzeitig von Vernunft gelenkt wird. Im übrigen eine Theorie, die von der Psychologie, von den Einsichten der Psychologie gar nicht so absolut entfernt ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht. Diese Vermittlungskategorie des Willens ist bei ihm nicht, wie der Wille bei Aristoteles gefaßt wird, die Vermittlung zwischen innen und außen, sondern er ist die Vermittlung im Innern, das heißt: die Kraft, durch welche das Moralische ohne jede Rücksicht auf Empi-risches sich zu realisieren vermag, nämlich - wenn Sie mir einmal an Kants Konzession anschließend, dann auch die Konzession an die Sprache der Psychologie gestatten - da-durch: daß die Vernunft in Gestalt des Willens den Trieb -daß das Ich, wie die Psychologie sagen würde, in diesem Mo-ment das Es - in Beschlag nimmt. Der Wille wäre also dem-nach das Moment der verfügbaren Energie, der verfügbaren Triebenergie, das gewissermaßen abgezweigt und dem be-wußten Willen unterworfen ist, und im Begriff des Willens steckt ja"etwas derartiges tatsächlich auch immer drin.198 Es ist nicht das letzte Zeugnis für die Größe Kants, daß auch, wo er solche Verbaldefinitionen wie die des Willens gibt, die ich Ihnen verlesen habe - und deshalb ist es gut, wenn Sie sich

130

solche Verbaldefinitionen bei Kant genau ansehen - , diese nicht jenes Moment der Willkürlichkeit und Zufälligkeit ha-ben, das etwa instrumenteile Definitionen heutzutage so leicht gewinnen, sondern daß sie immer zugleich auch, ja, man könnte sagen: phänomenologisch sind, das heißt, daß sie immer, ganz im Sinne der alten Platonischen Forderung, soweit wie nur möglich sich bestreben, der Natur des je defi-nierten Phänomens sich selber anzumessen. Das, was das Moralische nun eigentlich darstellt, ist, daß diesem Willen jede Rücksichtnahme auf irgendwelche Absichten fernliegt. Das heißt, es kommt Kant lediglich darauf an, daß ich im Sinne dieses Sittengesetzes selber mich verhalte, ohne daß da-bei die Frage nach dem Effekt, wenn ich es einmal so aus-drücken soll, eine wesentliche Rolle überhaupt spielt. »Eine Handlung aus Pflicht« - heißt es in der »Grundlegung« - »hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prin-zip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.«199 - Was ja wieder konvergiert mit dem, was ich Ihnen eben gesagt habe, daß nämlich der Wille das Begehrungsver-mögen insoweit ist, wie es dem Primat der Vernunft, also dem Primat des Sittengesetzes selber, unterworfen ist.

Ich möchte nun wenigstens, da wir hier vom Willen reden, einschalten, daß der Begriff des Willens selber bei Kant, wenn Sie so wollen, ein Rudiment ist. Das heißt, er wehrt sich zwar dauernd gegen die Psychologie, kommt aber dann doch - und auch das ist eine Grundstruktur, die man an der ganzen »Kritik der reinen Vernunft« nachweisen kann da-mit er überhaupt etwas sagt, also um überhaupt ein Substrat für seine Gesetze, für seine Grundsätze, seine Forderungen zu besitzen, ganz ohne Psychologisches nicht aus. Und da schleicht sich nun in seine eigene Philosophie, ich möchte das wenigstens andeuten, etwas ein, was, in dem extremen Sinn

191

Page 96: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

seiner eigenen Philosophie, sich gar nicht einschleichen dürfte, nämlich die Vorstellung von solchen fixierten Ver-mögen der Seele, die in letzter Hinsicht hinauslaufen auf eine ontologische Interpretation der Seele von der Art, daß sie aus irgendwelchen Wesenheiten an sich sich komponiere; wie ja etwa auch die Theorie des begehrenden oder des logischen Vermögens bei Piaton - auf den diese ganze Anschauung zu-rückgeht: die sogenannte Platonische Psychologie - durch-aus an die Platonische Ontologie, an die Ideenlehre gebunden ist. Das heißt, die Vermögen, in welche bei Piaton die Seele des Menschen verlegt wird, die sind solche objektiven, an sich seienden Wesenheiten im Sinne der Idee, so wie es in einer Stelle des »Phaidon« dann ausdrücklich heißt: >daß die Seele durch ihre Unkörperlichkeit selber bereits ein der Idee Verwandtes sei.<200 Kant durfte das deshalb nicht sagen, weil ja im Sinn seiner eigenen Kritik an der sogenannten rationalen Seelenlehre die Vergegenständlichung oder Ver-dinglichung irgendwelcher seelischer Fähigkeiten, Kräfte, Vermögen - als ob sie ein An-sich-Seiendes und nicht ein Funktionales in bezug auf den Inhalt wären, der aus der Er-fahrung stammt, auf welchen diese Kategorien des Seeli-schen jeweils sich beziehen - gerade ausgeschlossen werden soll. Indem er aber einen solchen Begriff wie Willen verwen-det, und es ist interessant, daß er ohne so etwas nicht aus-kommt, daß er sich dessen gar nicht ganz entäußern kann, redet er im Grunde dann doch noch so, wie wenn die Seele als ein Ansich in solche Vermögen wie Verstand, Begehrungs-vermögen, Willen und dergleichen zerfiele. Wobei zu sagen ist, daß gerade in diesem Begriff des Willens natürlich unend-lich viel ineinander geht, und daß man ihn nicht hypostasie-ren kann, als ob er ein Selbständiges wäre. Es ist so, und ich muß hier, da schon der Wille eine psychologische Kategorie ist, doch noch einmal auch auf Psychologie rekurrieren, daß man immer wieder die Erfahrung machen kann, daß gerade die Hypostase des Begriffs des Willens - also etwa die Rede davon: daß ein Mensch willensstark oder willensschwach se i -

130

gegenüber der Wirklichkeit des Seelenlebens, gegenüber den tatsächlichen Verhaltensweisen der Menschen, etwas ganz Willkürliches und Schwaches hat. Es ist nicht die letzte der Pointen des Romans von Marcel Proust, an dem man ja in all diesen Dingen eine unbeschreibliche Differenzierung lernen kann, von der sich die Philosophen so etwas abschneiden könnten, daß es da eine Rolle spielt, und das hat eine tiefe Ironie, daß der Vater ihm unablässig vorwirft, daß er willens-schwach sei, daß es ihm an Willen eigentlich gebreche, wäh-rend das ganze Werk, ohne daß darüber ein Wort verloren würde, das Zeugnis eines ungeheuer starken Willens ist; nur daß die Stärke des Willens unter Umständen gerade sich in dem kundtun kann, was nach den Convenus, an denen der Vater orientiert ist, gerade als Willensschwäche sich zeigen kann, das heißt: daß der Wille etwa darin besteht, daß er sich an einem vollkommen anderen Zweck, an vollkommen an-deren Zwecken orientiert als an denen der Selbsterhaltung, die ja im Sinn der herkömmlichen Auffassung dem Willen zugeschrieben werden. Jedenfalls möchte ich wiederholen, daß Kant sehr richtig in seiner Theorie des Willens gesehen hat, daß dieser Begriff des Willens nicht etwas Einsinniges und Primitives ist, sondern daß in ihm die Triebenergie, der Triebimpuls und dessen rationale Steuerung miteinander zu-sammengehen. Und insofern er diese Vermittlung leistet -und ich glaube, das ist auch wichtig, daß man das festhält - , ist eigentlich bei Kant der Wille das Gute. Wenn am Anfang in dem berühmten ersten Satz der »Grundlegung« steht, daß es überhaupt nichts Gutes gebe, es sei denn den reinen Willen - »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein einguter Wille«201 - , so steckt darin, wenn man die Obertöne von Kant richtig liest, daß der Wille selber, insofern er das rein aus Vernunft ge-lenkte Begehrungsvermögen ist, das Gute sei; und daß eigent-lich das Böse das ist, was keinen Willen habe: das Willenlose, das Diffuse, das, was sich dieser zentralisierenden und ord-

193

Page 97: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

nenden Instanz gegenüber treiben läßt. Und man kann inso-fern sagen, daß in der Kantischen Moralphilosophie das bürgerliche Prinzip der Naturbeherrschung durch die Zen-trierung der Triebenergien auf das Ich, das sie dirigiert, sozu-sagen in der Philosophie selbst, auf ihrer Höhe, sich reflek-tiert, sich widerspiegelt und in diesem allerhöchsten Prinzip zusammenfaßt. Man könnte fast sagen, so etwas wie schlech-ter Wille ist eigentlich bei Kant gar nicht vorstellbar, weil der Wille als das ganz konsequent vernunftgemäße Begehren sel-ber eigentlich das ist, was das Gute ist; Vernunft und Gutes fallen miteinander zusammen. Wenn Sie sich den >Exkurs über Juliette< aus der »Dialektik der Aufklärung« ansehen, werden Sie diesen Gedanken recht eingehend darin weiter-verfolgt finden.202 Man könnte das auch so ausdrücken, daß nun, wenn der Wille tatsächlich die vermittelnde Kategorie ist zwischen dem Begehrungsvermögen und der Vernunft, daß dann die Vernunft selber auch Affinität zum Willen hat, daß sie selber auch dem Willen verwandt ist, und wenn man sich die Kantische Philosophie, die Kantische Erkenntnis-theorie genau ansieht, dann wird man das tatsächlich bestä-tigt finden. Man wird dann finden, daß tatsächlich der zen-trale Begriff der Erkenntnislehre und damit die eigentliche Bestimmung von Vernunft bei Kant selber ein dem Willen sehr Ähnliches ist: nämlich der Gedanke von der ursprüngli-chen Apperzeption, das heißt, von der rein erzeugenden Kraft. Denken, Vernunft ist bei ihm - und das ist eine der entscheidenden Innovationen der Kantischen Philosophie -nicht eigentlich gemessen an dem bereits Vergegenständ-lichten der Logik und der objektiven logischen Gesetzmäßig-keiten, sondern ist schon von vornherein als das Tun, das Hervorbringen gedacht, aus dem dann die logischen Gesetz-mäßigkeiten eigentlich entspringen sollen. Und man könnte insofern wirklich sagen, daß die Lehre von dem Primat der praktischen Vernunft über die theoretische, den ich Ihnen bei Gelegenheit der Interpretation jenes Kapitels aus der »Kritik der reinen Vernunft« erstmals entwickelt habe, daß der noch

130 194

weit darüber hinaus eigentlich insofern gilt, als die Vernunft selber auch gar nichts anderes als der Wille ist, nur eben nun wirklich der reine Wille, das heißt: eine Art von Tun, von ursprünglichem Tun, das von aller Abhängigkeit von ihm vorgegebenen Objekten sich gänzlich gereinigt hat. Insofern können Sie also sehen, wie in der Kantischen Philosophie und gerade in der Kantischen praktischen Philosophie, in der Kantischen Moralphilosophie, die gesamte daran anschlie-ßende Entwicklung der Philosophie und insbesondere die Fichtesche Philosophie angelegt ist, daß wirklich der be-rühmte und berüchtigte Anspruch von Fichte, daß er den Kant besser auslegen könne als jener sich selbst, daß der so vermessen, wie er zunächst und angesichts von Kants eigener Haltung zunächst scheint, gar nicht gewesen ist. Man könnte, wenn man den Sachverhalt, den ich Ihnen eben zu bezeichnen versucht habe, gesellschaftlich ausdrücken wollte, wohl sagen, daß Kant eigentlich darin - und auch das ist eine Verinhaltlichung der sogenannten abstrakten oder formalen Kantischen Ethik - das Arbeitsethos der bürgerli-chen Gesellschaft, also die Norm des Produktionsprozesses von Gütern, unter dem die gesamte bürgerliche Gesellschaft ja steht, gleichsam zu einer eigenen höchsten philoso-phischen Norm gemacht habe, daß dies gesellschaftliche Verhältnis der Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeit als der obersten und verpflichtenden Norm bei ihm zum ab-strakten Prinzip geworden sei, und daß das radikal Böse bei ihm eigentlich gar nichts anderes ist, ja, man müßte fast sa-gen, als die Faulheit, also als das, was mit diesem Desiderat der bürgerlichen Gesellschaft durchaus nicht mitgekommen ist.

Lassen Sie mich jetzt noch ein paar Worte sagen über den Kantischen Pflichtbegriff, und zwar so, wie dieser Pflichtbe-griff auch in seiner elementaren Form eingeführt ist in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Da heißt es: »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs

Gesetz.«203 Ich mache Sie darauf aufmerksam, wieder durch

Page 98: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

das Mikroskop lesend, daß in diesem Satz zweimal Äquiva-lente von Gesetzmäßigkeit vorkommen, nämlich Notwen-digkeit und Gesetz; es ist also sozusagen zweierlei Notwen-digkeit hier prädiziert. Einmal darin nämlich, daß das Gesetz ja objektiv gültig sein muß - und diese objektive Gültigkeit ist, wie ich Ihnen wiederholt schon im Sinne der Kantischen Philosophie dargelegt habe, eins mit Allgemeinheit und Not-wendigkeit - , dann aber auch in dem Sinn, daß es mich nö-tigt, so und nicht anders zu handeln, daß es mich gleichsam nicht ausläßt, und daß ich selber insofern auch subjektiv in einem gewissen Sinn dieser Gesetzmäßigkeit, dieser Not-wendigkeit unterstehen soll. Die Vermittlungskategorie zu dieser Notwendigkeit, die in dem Aufforderungscharakter, dem imperativischen >Du mußt so und nicht anders handelnd bei ihm besteht, das ist die Achtung. Diese Achtung ist bei Kant eine sehr große Kategorie, und er hat sich ungeheure Mühe gegeben, diesen Begriff der Achtung zu entwickeln -auch das auf eine eminent geistreiche und zugleich phänome-nologisch angemessene Weise. Wie es in einer Fußnote kurz nach der verlesenen Stelle nämlich heißt, ist die Achtung zwar ein Gefühl, und würde also als ein Gefühl im Sinne der üblichen Vermögenslehre, der psychologischen, dem Primat der Vernunft gegenüber, aus dem Primat der Vernunft her-ausfallen, ihm entzogen sein, aber ein Gefühl, das sich selber wesentlich eben auf Vernunft bezieht. Hier heißt es in der betreffenden Stelle - ich will Ihnen auch das vorlesen: »Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen [. . .] , die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch un-terschieden.«204 Er versucht also auch hier, und zwar wieder in sehr enger Fühlung mit dem untersuchten Phänomen, ein Auszeichnendes dieses Gefühls zu setzen, indem es, wenn Sie mir die paradoxe Formulierung durchgehen lassen, ein ratio-nales Gefühl ist, das heißt, ein solches Gefühl, das nur dort erweckt wird, wo ich der Vernunft, wo ich der Rationalität

130 196

selbst gegenüberstehe - gleichsam im Affektleben der Reflex oder die Spiegelung des Vernunftprinzips selber. Und inso-fern ist also dieser Begriff der Achtung nun bei ihm wie-derum ein Vermittelndes zwischen meiner Freiheit und der Gesetzmäßigkeit sowohl des Gesetzes an sich, seiner eigenen Rationalität, wie des von ihm an mich ausgehenden imperati-vischen Charakters, der sich vermöge dieser Achtung bei mir durchsetzt.

Nun können Sie hier fragen und werden das sicher mit Recht fragen, wie gegenüber einem Vexierbild: >Ja, Du hast uns nun stundenlang davon geredet, daß der Zentralbegriff der »Kritik der praktischen Vernunft« und der Kantischen Moralphilosophie überhaupt die Freiheit sei, wo ist nun ei-gentlich die Freiheit hingekommen?< Mit dieser Frage und mit diesem Einwand, wenn Sie ihn an mich richten, haben Sie verteufelt recht. Sie haben bemerkt, daß also zunächst einmal der Imperativ selbst den Charakter der Notwendig-keit hat, dann, daß er sich mir gegenüber in Gestalt eines Ge-botes als notwendig darstellt, und schließlich, daß ich in Ge-stalt der Achtung, die ich davor haben soll, auch noch einmal diese Möglichkeit reflektieren soll. Die einzige Möglichkeit, die innerhalb dieser Konstellation der Freiheit bleibt, wäre nun, und das ist sehr seltsam, eigentlich die, daß ich mich dieser Achtung, daß ich mich dieser Gesetzmäßigkeit, daß ich diesem Gebot mich entziehe. Mit anderen Worten, der Raum der Freiheit in der Kantischen Philosophie ist dann tat-sächlich, wenn Sie diese Bestimmung sehr ernst nehmen, überhaupt nur auf die Negativität beschränkt. Ich bin dann eigentlich frei, wenn ich mich wirklich frei verhalte, wenn ich davon absehe, daß das Sittengesetz in seiner Allgemein-heit selber mit dem Prinzip der Freiheit harmonieren soll. Wenn ich nun an die Ausführung denke, daran, wie ich mich konkret verhalten soll, dann ist von dieser Freiheit nichts an-deres übrig, als daß ich die Möglichkeit habe, ein Schwein zu sein. - Dazu kommt aber noch etwas anderes, daß ich näm-lich durch diese ganze Batterie von objektiver Vernünftig-

Page 99: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

keit, von imperativischem Charakter, von Achtung, die ich all dem zu zollen habe, so eingeengt bin, daß demgegenüber also nun wirklich meine eigene Freiheit, selbst diese armse-lige Freiheit, das Falsche zu tun und wie ein Schwein zu han-deln, daß selbst die dabei bis auf ein Minimum sich reduziert, daß von dieser Freiheit dann eigentlich gar nichts übrig bleibt. Und das, meine Damen und Herren, hat nun doch, glaube ich, eine sehr entscheidende Bedeutung, die man zur Kritik der Kantischen Ethik, die wir ja nicht unterschlagen wollen, doch heranziehen muß: daß nämlich diese Philo-sophie zwar an ihren Anfang die Freiheit setzt und aus diesem Begriff der Freiheit ein ungeheures Pathos zieht, daß aber dann, in ihrer Ausführung, diese Freiheit eigentlich vollstän-dig verschwindet, und diese Philosophie - und zwar auf eine rein formale Weise, ohne daß dabei sichtbar und unmittelbar irgendwelche obrigkeitlichen oder hierachischen Vorstellun-gen sichtbar hineinspielen würden - dieses Moments der Freiheit sich eigentlich vollkommen begibt. Und von den beiden Momenten, die in dieser Philosophie im Einstand ge-halten werden, von dem Moment der Notwendigkeit oder der Gesetzmäßigkeit und von dem Moment der Freiheit, frißt eigentlich das Moment der Notwendigkeit das der Freiheit ungefähr so auf, wie etwa im wirtschaftlichen Prozeß jedes einzelne wirtschaftliche Subjekt auch die Freiheit hätte, irra-tional zu handeln. Also, der Unternehmer kann sein Geld herausschmeißen, und der Arbeiter, der kann seine Arbeits-zeit verschlafen und braucht nicht hinzugehen, diese Freiheit hat er schon, aber der Unternehmer macht dann bankrott, und der Arbeiter wird herausgeschmissen - er soll's also nur mal mit der Freiheit probieren! Also dieses Moment, daß dann doch der Zwangscharakter der Realität, der gesell-schaftlichen Realität in der wir leben, gegenüber der Freiheit sich durchsetzt, während die Freiheit ganz an den Horizont, >hinten weit in der Türkei, wo die Völker aufeinanderschla-gen<205, verbannt wird, das ist dann eben doch dieses repres-sive Moment, das in der Gestalt der Konstruktion der prakti-

130

sehen Vernunft drinliegt, so daß dann also doch, und zwar vermöge ihres eigenen formalen Charakters der Gesetzmä-ßigkeit, das repressive Moment gegenüber dem Moment der Freiheit unendlich überwiegt. Was sich dann eben in der vul-gären Konsequenz gespiegelt hat, die aus der Kantischen Ethik gezogen worden ist, dort, wo dann wirklich vom Im-perativ nichts anderes übrig geblieben ist, als daß auf die Pauke geschlagen wird und gesagt wird: >Du sollst, Du mußt, Du mußt, Du mußt!<, wie Sie es etwa unübertroffen dargestellt finden in der Gestalt des Gymnasialdirektors Wu-licke aus den »Buddenbrooks«, der immerzu vom kategori-schen Imperativ redet und dabei seine Schüler in Wirklichkeit damit ununterbrochen schikaniert und quält. Also die Paro-die, die die Kantische Philosophie dann in dem Festredner-Idealismus erfahren hat, diese Parodie ist doch nicht ganz so unverdient, wie sie uns erscheint, wenn wir die großartig nüchternen Formulierungen von Kant mit der abscheulichen Phrase vergleichen, zu der sie dann im Zeitalter des deut-schen Imperialismus geworden sind.

Ich glaube, das müssen wir uns also doch bei Kant auch eingestehen, daß das so ist. Die Achtung weist zurück auf die Gültigkeit des Gesetzes, ist also selber in dem Gesetz fun-diert. Kant sieht natürlich das Problem der Heteronomie, die mit der Achtung hereinragt, und deshalb versucht er nun diese Phänomenologie der Achtung als eines rationalen Ge-fühls - ganz analog dazu, wie der Wille rationales Begeh-rungsvermögen ist. Ich fasse das also so zusammen, daß sich bei Kant in der Ausführung der praktischen Philosophie eine Tendenz zeigt, dann doch das Moment der Freiheit soweit wie nur möglich zu reduzieren. Es steht so emphatisch am Anfang, daß es ihm ein bißchen ähnlich ergeht wie dem lie-ben Gott im Deismus, der auch am Anfang steht und das Ganze geschaffen hat und dem deshalb ungeheurer Respekt gezollt wird, der aber, wie man heutzutage sagen würde, nach oben abgeschoben wird. Das heißt, deshalb, weil die Freiheit so glorios der Ursprung des Gesetzes selber ist, des-

199

Page 100: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

halb wird dann in der Ausführung dieses Gesetzes selber auf sie eigentlich gar keine Rücksicht mehr genommen. Die Frei-heit wird eigentlich potentiell eliminiert; und es zeigt sich da-bei, daß, wenn Kant dazu tendiert, im Unendlichen doch so etwas zu stipulieren wie die Einheit des Natürlichen und des Sittlichen, die Einheit der natürlichen und der geistigen Welt, er sich dabei dann doch im Grunde vorstellt, daß das Geset-zesideal der Natur auch das Modell der Ethik ist, daß die Welt selber an sich, daß das Ding an sich eigentlich das Gesetz sei, wie es dann ja auch in der Lehre vom intelligiblen Charakter bei Kant wiederkehrt. Aber indem nun dieser Gesetzesbe-griff, der ja in der »Kritik der reinen Vernunft« nur auf die Phänomene sich bezieht und von dem das Ding an sich gerade ausgenommen sein soll, auf diese Weise Totalität er-langt, dadurch behält in der Kantischen Ethik der Zwangs-charakter der Natur, von der jener Gesetzescharakter ent-lehnt ist, eigentlich das letzte Wort. Das heißt, die Kantische Ethik bleibt eben doch, dadurch, daß sie als die absolute Na-turbeherrschung sich selber deklariert, daß ihr eigentliches Kernprinzip ist, Natur zu unterdrücken und im Sinn ihrer Identität ihre Einheit zu kontrollieren, selber naturhörig. Das heißt, das blind Zwanghafte der Gesetzmäßigkeit, der die au-ßermenschliche Natur untersteht, das setzt auf diese Weise auch in der Kantischen Ethik sich fort, etwa so, wie man mit Fug sagen kann, daß die Gesellschaft, in der wir leben, die scheinbare Welt der Freiheit, in der wir leben, in Wirklichkeit nur fortgesetzte Naturgeschichte ist, weil wir selber dabei in einer ganz ähnlichen Weise von blind gewachsenen Notwen-digkeiten abhängen, wie es sonst diejenigen sind, mit denen die außermenschliche Natur von uns jedenfalls besetzt wird, die wir darauf projizieren.

Meine Damen und Herren, ich glaube, ich habe damit eigentlich das Entscheidende Ihnen auseinandergesetzt, was ich Ihnen in der Kantischen Ethik auseinandersetzen wollte. Ich werde dann dazu übergehen, vor allem über das Problem der Gesinnungsethik in ihrem Verhältnis zur Güterethik und

200

zur Verantwortungsethik zu reden, ein Problem, das sich ja anschließt unmittelbar an die Formulierungen von Kant dar-über, daß die Ethik ein von jeder Absicht Freies sei. Ich möchte Sie nur noch, und das werde ich dann vielleicht in der nächsten Stunde ein bißchen näher entwickeln, darauf auf-merksam machen, daß die Kantische Ethik in ihrer rigorosen Form sich auch unabhängig machen will von der Wohlfahrt der gesamten Gattung, daß also auch die Herstellung etwa einer glücklichen Gesellschaft jedenfalls an emphatischen Stellen der Kantischen Moralphilosophie ausgeschlossen wird, während allerdings dann doch am Schluß der »Kritik der praktischen Vernunft« der Begriff der Menschheit wie-der hereinkommt. Man könnte also auch das Prinzip der Kantischen Ethik so formulieren, daß man sagt, daß es sich in ihr lediglich um eine objektive Vernunft handele, völlig un-abhängig von einer subjektiven, menschliche Zwecke und menschliche Ziele erreichenden Vernunft, und daß diese Ob-jektivität der Vernunft sich schließlich noch bis auf den End-zweck dessen erstreckt und fortsetzt, wozu die Vernunft überhaupt erst da ist. Aber damit berühre ich nun ein außer-ordentlich komplexes und in sich antinomisches Verhältnis, und ehe wir die Kantische Moralphilosophie verlassen, werde ich doch gezwungen sein, zu diesen Dingen noch eini-ges wenigstens nachzutragen, dann aber überzugehen zu dem, was ich Ihnen nun selbst zu dem Komplex Gesinnungs-ethik, Verantwortungsethik, Güterethik sagen möchte.

128

Page 101: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

14 - VORLESUNG

1 6 . 7. 1 9 6 3

Ich will206 noch ein paar Punkte nachtragen zu den Fragen der Kantischen Moralphilosophie, die wir bis jetzt behandelt ha-ben, und von dort allmählich übergehen zu einigen modellar-tigen sogenannten Hauptproblemen der Moralphilosophie, auf die wir zunächst noch nicht gekommen sind, die aber in einem sinnvollen Zusammenhang mit der Kantischen Pro-blematik stehen, mit der wir uns vorwiegend beschäftigt haben. Ich erinnere Sie daran, daß wir das Sittengesetz qua Vernunftprinzip bestimmt hatten als das reine Prinzip von Naturbeherrschung, und zwar von Beherrschung der inne-ren ebenso wie der äußeren Natur, und Kant hat auch darin, so habe ich festgestellt, eine alte Tradition aufgenommen, die einerseits auf den Aristoteles zurückdatiert und auf die Stoa andererseits. Es ist eine der erstaunlichsten Tatsachen, die einem begegnen, wenn man sich mit der Geschichte der Phi-losophie beschäftigt, wie sehr in diesem Punkt — also daß die Triebe etwas seien, was zu beherrschen und zu unterdrücken ist — die Philosophen der verschiedensten und oft der kontra-diktorisch einander extrem entgegengesetzten Richtung mit-einander übereinstimmen. Ob das nun Descartes oder Bacon ist, ob das Kant oder Nietzsche ist, also diejenigen, die so in den offiziellen Philosophiegeschichten als Todfeinde ver-zeichnet sind, die sind in diesem Punkt einander merkwürdig einig. Wie es denn überhaupt eine seltsame Sache ist, daß die meisten der Konflikte der Philosophie, wie sie von der Ein-teilung der Philosophiegeschichte nach Schulen verzeichnet werden, im allgemeinen, wenn man dann die Texte selber sich vornimmt, sich reduzieren, will sagen, die sogenannten Grund- und Ausgangspositionen der Philosophen sind für die Folgerungen, die sie ziehen, relativ gleichgültig; sie predi-gen, soweit sie predigen, soweit sie also irgendwelche Nor-men aufrichten, immerzu dasselbe. Und das macht nicht nur gegen die differierenden Grundpositionen ein wenig skep-

130 202

tisch, sondern eben vor allem auch gegen diesen Habitus der Philosophen selber, die im allgemeinen, das kann man wohl sagen, doch sich einfach zu Sprechern der stärkeren Tenden-zen innerhalb der zivilisatorischen Entwicklung machen. Diese Idee des Trieb Verzichtes, wie sie also auch in jüngster Zeit von der Psychoanalyse formuliert worden ist, die steht, sagte ich Ihnen, in Übereinstimmung mit der zivilisatori-schen Tendenz, man kann auch sagen, mit den Grundtenden-zen einer im weitesten Sinn bürgerlichen, nämlich auf Arbeit gestellten, städtischen Zivilisation. Wenn ich hier eine Se-kunde auf die Psychologie eingehen darf - deren Trennung von den sogenannten moralphilosophischen Problemen in-sofern immer etwas Prekäres hat, als ja die Menschen, von denen erwartet wird, daß sie als gute, richtig lebende sich verhalten, eben immer zugleich psychologische Wesen sind, von deren psychologischer Beschaffenheit ihr Verhalten we-sentlich abhängt - , dann ist es ja merkwürdig, daß Freud, der ja anfing als Kritiker der sogenannten Verdrängung, also als Kritiker gerade des Triebverzichtes, sich selber dann doch zum Sprecher des Triebverzichtes gemacht hat. Und zwar, ich kann im einzelnen hier natürlich darauf nicht eingehen, deswegen, weil er zu der Erfahrung gelangte, daß ohne ein Maß an Triebverzicht, also durch die reine unmittelbare Be-friedigung des Triebes, und dabei dachte er vor allem an den Sexus, so etwas wie Zivilisation, ein einigermaßen geordne-tes Zusammenleben der Menschen eben überhaupt nicht solle vorgestellt werden können. Der Unterschied, den er da-bei machte, war nun der zwischen dem Triebverzicht als Verdrängung - das heißt, ein Verhalten, das diesem Trieb-verzicht nicht ins Auge sieht, sondern die Triebe ins Unbe-wußte schiebt und statt dessen irgendwelche Ersatzbefriedi-gungen prekärer und problematischer Art produziert - und andererseits dem bewußten Triebverzicht, also daß auch das triebmäßige Verhalten der Menschen unter den Primat ihrer Vernunft gerückt werde. Ganz ähnlich, wie das nach all dem in der Kantischen Ethik auch ist, so daß Sie also an dieser

Page 102: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Stelle beobachten können, daß in einem Entscheidenden, nämlich in der rationalen Kontrolle der Triebe, die extrem anti-psychologische Kantische Ethik und die extrem psycho-logische oder, wenn Sie wollen, psychologistische Lehre von Freud miteinander übereinstimmen.207

Worin ist aber dann diese Rationalität des Triebverzichtes, diese Vernunft des Triebverzichtes zunächst einmal zu su-chen? Wenn wir diesem Begriff der Vernunft den Sinn ge-ben, den Kant ihm selber an einer entscheidenden Stelle der »Kritik der Urteilskraft« und zwar der »teleologischen Ur-teilskraft gibt, wo er nämlich sagt, daß die Organismen so eingerichtet erscheinen, als ob ihre Einrichtung dem Zweck der Selbsterhaltung diene,208 dann wird man daraufgeführt, daß dies vernünftige Verhalten der Menschen vernünftig sei insofern, als es dem Prinzip dient, das schon bei Spinoza als das eigentliche Grundprinzip eines jeglichen Seienden gefaßt ist: >sese conservare<209, sich selber erhalten. Also die Ver-nunft bestimmt sich, wie bei Spinoza, so bei Kant, doch auch als eine sich selbst erhaltende Vernunft, und trotz des Kanti-schen Rigorismus ist dieses Motiv so stark, daß Kant dann in der ausgeführten Sittenlehre, der »Metaphysik der Sitten«, wo er ein System der Pflichten, die wir haben, gibt, unter diesen Pflichten auch die Pflicht gegen uns selbst, eben jenes Gesetz der Selbsterhaltung, auffuhrt;210 wie im übrigen auch in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sich eine Stelle findet, an der er ausdrücklich davon spricht, daß wir das Recht und sogar die Pflicht hätten, unser eigenes Glück zu verfolgen.211 Darauf soll also im Sinn all dieser Moralphi-losophien in einem gewissen Sinn verzichtet werden. Aber dieser Verzicht steht unter einem Vorbehalt, wie er auch in der Kantischen oder der Schopenhauerschen Unterschei-dung des Charakters als eines Ganzen von den einzelnen Handlungen des Individuums gemeint ist. Mit anderen Wor-ten, die Triebverzichte, die den einzelnen zugemutet werden, sollen deshalb vernünftige Triebverzichte sein, weil sie sich, wenn Sie mir die ordinäre Redeweise durchgehen lassen, für

130 204

das Individuum rentieren, weil es sozusagen, quantitativ ge-sprochen, das Maß an Glück oder an Lust, auf das es jetzt und hier momentan verzichtet, eben vermöge der rationalen Or-ganisation seines Lebens dann mit Zinsen zurückbekomme. Es ist also eine Art Sparwirtschaft des Glücks, die all diesen moralischen Lehren in irgendeinem - natürlich bei Kant nicht ausdrücklichen - Sinn zugrundeliegt. Aber wenn er schließ-lich als den Endzweck doch das Glück der ganzen Gattung der Menschheit ins Auge faßt, so spielt etwas derartiges bei ihm herein, und an diesem Punkt nun, meine Damen und Herren, stoßen Sie auf eine der tiefsten Fehlerquellen, ich würde sagen, gesellschaftlichen Fehlerquellen der Moralphi-losophie. Und Sie mögen hier erkennen, daß die übliche Trennung von Gesellschaftswissenschaft und sogenannter reiner Philosophie deshalb so wenig triftig ist, weil die gesell-schaftlichen Kategorien bis ins Innerste der moralphilosophi-schen sich hinein erstrecken. Es handelt sich nämlich um den Tatbestand, daß, ganz schlicht gesagt, die Rechnung nicht aufgeht, daß, gesellschaftlich gesprochen, insgesamt die Kompensation, die uns durch unsere Zivilisation und durch unsere Erziehung für die Triebverzichte verheißen wird, nicht eintritt. Freud selber, der ja in dem Prinzip der Herr-schaft des Ichs über das Es die, wenn Sie so wollen, gesamt-philosophische Doktrin des Triebverzichts sich zu eigen ge-macht hat, ist auf diesen Tatbestand gestoßen und hat ihn zwar nicht in seinen theoretischen und philosophischen oder, wie man das zu nennen pflegt, metapsychologischen Schrif-ten ausgesprochen, wohl aber in den sogenannten techni-schen Schriften zur Psychoanalyse, auf die ich Sie in diesem Zusammenhang sehr aufmerksam machen möchte, weil nämlich in diesen sogenannten technischen Schriften außer-ordentlich viel von dem Entscheidenden sich findet, das in den großen theoretischen Entwürfen gerade verschwiegen ist.212 Er hat darin also konstatiert, daß das Prekäre des Trieb-verzichtes, das den Triebverzicht immer wieder auch proble-matisch und hinfällig macht - und zugleich das Prekäre der

Page 103: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Psychoanalyse selber - , darin liegt, daß das Lustquantum, wenn ich einmal so grob rationalistisch reden darf, auf das die Individuen jeweils verzichten sollen, keineswegs so, wie es in dem dabei zugrundeliegenden Prinzip der Vernünftigkeit liegt, Ihnen dann später an anderer Stelle zurückerstattet wird, sondern daß diese ganze Ermahnung eigentlich nur er-folgt, damit das Ganze sozusagen sich erhält, ohne daß das Individuum - mit Ausnahme von ganz wenigen Menschen und auch bei denen ist es mehr als fraglich - jeweils also von dem, worauf es verzichtet, nun tatsächlich profitieren würde. Wenn Schopenhauer im vierten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« sagt, daß die >Bilanz des Lebens< schlecht sei, so können Sie den Sinn dieser sehr tief bürgerli-chen Metapher von der Bilanz sich hier fast wörtlich daran klarmachen, daß eben eine solche Äquivalenz von momenta-nem Triebverzicht und später Kompensation nicht vor-liegt,213 mit anderen Worten also, daß die Gesellschaft selbst unvernünftig eingerichtet ist, daß in ihr die von ihr zugleich immer versprochene und verheißene Äquivalenz nicht ein-tritt und deshalb also tatsächlich in einem sehr tiefen und ra-dikalen Sinn das Interesse des einzelnen und aller einzelnen Menschen und das Interesse der Gesamtheit, der Totalität auseinanderweist.

Das wirft ein merkwürdiges Licht auf die Verabsolutie-rung des Triebverzichts zum kategorischen Imperativ bei Kant. Sie können von hier aus vielleicht am besten jene merk-würdige Loslösung des Imperativs von jeder möglichen Er-füllung, den sogenannten Rigorismus und Formalismus des Imperativs in einem, verstehen. Wenn nämlich diese gesamt-zivilisatorische Forderung der rationalen Kontrolle über uns selber und über die äußere Natur in der Welt, in der wir le-ben, eben ihre vernünftigen Kompensate nicht findet, aber trotzdem im Interesse der Aufrechterhaltung von Zivilisa-tion gefordert werden soll, dann muß sie eben deshalb, weil sie als ein solches Für-Anderes, als ein Vernünftiges im Sinne der Klugheit sich nicht ausweist, zu einem Absoluten und zu

130 206

einem An-sich-Seienden überhöht werden. Und tatsächlich ist diese Art Überhöhung genau das, was bei dem kategori-schen Imperativ von Kant stattfindet. Und daß es sich wirk-lich dabei um etwas dergleichen handele, können Sie am ein-fachsten daraus entnehmen, daß ja nun die Reinheit dieses Imperativs in nichts anderem besteht als eben darin, daß das sittlich gute Handeln von jeder nur möglichen, auch nur noch so entfernten Gratifikation losgerissen wird, daß gleichsam jene Bilanz, auf der diese ganze Rechnung des Triebverzichtes und der Naturbeherrschung beruht, niemals präsentiert werden darf, weil, wenn sie eben präsentiert würde, das Moment der Unvernunft an jener Art der Ver-nunft selber zwingend hervorträte. Man könnte sagen - und das scheint mir eigentlich doch das entscheidende Moment zur Kritik der Kantischen Moralphilosophie zu sein es liegt ein Modellfall von Fetischismus vor, will sagen, die Lehre vom kategorischen Imperativ fetischisiert den Verzicht, das heißt: sie macht ihn von seinem Kompensat, von seinem ter-minus ad quem unabhängig und zu einem An-sich-Seienden, zu einem An-sich-Guten. So wie ja tatsächlich das dumpfe und naive, sogenannte moralische Bewußtsein, das gerade darin in besonderem Maß trügerisch ist, den Menschen vor-gaukelt, daß auf etwas zu verzichten an sich bereits gut sei; ohne daß dabei eigentlich durchsichtig wird, worin dieses Gute des Verzichts eigentlich bestehen soll, vor allem, wenn die Menschen dazu tendieren, Verzichte dann für gut zu hal-ten, wenn Nicht-zu-Verzichten ein Böses oder ein Schlechtes oder Zerstörendes keineswegs involviert. Dieses Moment ist nun allerdings der Philosophie von früh auf auch bewußt ge-wesen - und gerade in den verketzerten Richtungen. Also in dem eigentlichen, dem radikalen Hedonismus ist es ausge-sprochen worden etwa in der Theorie des Aristipp, die ge-drungen hat auf die unmittelbare, nicht vertagte Befriedi-gung der Begierde, auf das Glück jetzt und hier. Gemäßigter Hedonismus ist eigentlich bereits schon keiner mehr, son-dern in dem Augenblick, wo man, wie es dann etwa bei Epi-

Page 104: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

kur geschieht, zwar im Prinzip das Glück oder die Lust aner-kennt, aber dann die unmittelbare zugunsten etwa der Lust der Erkenntnis oder solcher Momente vertagt und subli-miert, in dem Augenblick ist die Moralphilosophie schon be-reits in jenen großen, und fast hätte ich gesagt, trüben Haupt-strom der offiziellen Philosophie hereingeraten, dem jene verketzerten Richtungen immerhin, wenn auch schwach, weil sie die zivilisatorisch ohnmächtigeren waren, opponiert haben. Diese Art des Fetischismus, von der ich Ihnen gespro-chen habe, drückt sich bei Kant nun darin aus, daß er prinzi-piell jedenfalls - und die einschlägigen Formulierungen ste-hen gerade in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« - das sittliche Verhalten als das rein vernunftgemäße nicht nur unabhängig macht von dem Glück des Individuums, sondern auch von der Wohlfahrt der Gattung als solcher. Es wird also auch in diesem Sinn, daß nicht einmal das Glück der Menschheit eigentlich visiert werden darf, die Vernunft ge-genüber jedem möglichen Inhalt verselbständigt, obwohl andererseits, und an diesem Widerspruch können Sie sehen, wie vertrackt dieses Problem ist, bei Kant die Menschheit als Endzweck der Vernunft erscheint. Es ist wiederum leichter, über diesen Widerspruch sich zu mokieren und an ihm herum zu mäkeln, als des Sinns gerade eines solchen Widerspruchs innezuwerden. Denn auf der anderen Seite hat Kant ganz recht. Im Sinne seines reinen Vernunftprinzips wäre dessen Fixierung an einem, sei's auch noch so fernen Gesamtzustand der Menschheit schließlich die an einem Gut, an einem Empi-rischen; sie würde das Sittengesetz genauso von einem bloß Seienden abhängig machen wie irgendeine Tugendlehre, die sich auf das momentane Verhalten bezieht. Scheidet aber auf der anderen Seite ein jeder solcher Gedanke an die Verwirkli-chung der Vernunft ganz aus, dann wird eben der Vernunft-begriff in diesem strengen Sinn, in dem ich versucht habe, es Ihnen zu entwickeln, fetischistisch. Das heißt, die Vernunft selber erweist sich durch das Falsche ihres immanenten Kal-küls als ein Irrationales, und dieser objektiv antinomische,

130 208

dieser objektiv in sich widerspruchsvolle Zustand, der schlägt sich eben - und es ist das Großartige, daß solche Wi-dersprüche bei Kant nicht geglättet werden, sondern zum Ausdruck kommen - darin nieder, daß Kant auf der einen Seite sagt, daß das Sittengesetz rein um seiner selbst willen verfolgt werden soll, daß aber auf der anderen Seite dann doch so etwas wie die Menschheit als Zweck des Sittengeset-zes angesehen wird, und daß er dabei doch auch um etwas wie Vermittlung sich bemüht hat. Wenn dabei die Mensch-heit als Endzweck der Vernunft erscheint, so dürfen Sie dabei zunächst überhaupt nicht diesen Begriff der Menschheit bei Kant kontaminieren mit dem in Raum und Zeit seienden em-pirischen Faktum Menschheit als dem Inbegriff der Men-schen, sondern was Kant hier mit Menschheit meint, ist gar nichts anderes als das, was er vielfach in seinen Schriften um-schreibt durch den Begriffeines mit Vernunft begabten We-sens überhaupt.

Darin, daß also dieser Endzweck des sittlichen Verhaltens mit der Vernunft, die ihm dienen und die zugleich selber das Absolute sein soll, gleichgesetzt wird, eröffnet sich so etwas wie eine Idee der Konvergenz eines solchen inhaltlichen Zie-les, eines solchen inhaltlichen Telos von richtigem Leben mit den formalen Vernunftbestimmungen, die Kant gegeben hat, und ich muß Ihnen diese Möglichkeit als die dem gesun-den Menschenverstand zunächst einmal plausibelste Lösung der Schwierigkeit, mit der wir hier befaßt sind, ganz einfach einmal entwickeln. Man könnte nämlich sagen, daß das zur Totalität erhobene partikulare Vermögen zur Selbsterhal-tung, also jene von Kant als Klugheit ein wenig pejorativ be-handelte selbsterhaltende Vernunft der je einzelnen, wenn sie so realisiert ist, daß sie sich auf die gesamte Gattung bezieht, dann eins wäre mit der objektiven Vernunft des Sittengeset-zes, daß die dasselbe wäre. Und wenn Sie wollen, können Sie in der Formulierung des kategorischen Imperativs dieses Motiv ja auch insofern finden, als gesagt ist, daß ich muß wollen können, daß die Maxime meines Handelns, also die

Page 105: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Zusammenfassung einmal unter diesem Gesichtspunkt mei-ner subjektiven Klugheit, zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung soll gemacht werden können, das heißt, so er-weitert werden können soll, daß sie nicht bloß auf meine par-tikularen Zwecke und Interessen und auf die partikularen Zwecke und Interessen aller einzelnen sich bezieht, sondern daß sie die Interessen aller Menschen gleichermaßen in sich einbegreift, und daß darin also, in diesem Einbegreifen der Partikular-Interessen aller und der Objektivität des Sitten-gesetzes selbst, nun eigentlich jene Vermittlung zwischen subjektiver und objektiver Vernunft, wenn Sie es so wollen, liegen soll. Der Kantische Grundsatz, den ich Ihnen neulich einmal genannt habe: daß man die Freiheit eines jeden Men-schen nur genau soweit einzuschränken habe, wie an ihr die Freiheit anderer Menschen sich begrenze,214 der gehört ja ge-nau an diese Stelle. Das wäre also die Idee der Einheit zwischen dem empirischen Bereich und der empirischen Menschheit und ihren Zwecken mit dem rein formalen, rein apriorischen Prinzip des Sittengesetzes, das ja bekanntlich bei Kant so rein ist, daß er es sogar für überflüssig hält, den Begriff einer rei-nen Vernunft auf die praktische Vernunft anzuwenden, weil es überhaupt eine andere praktische als die reine praktische Vernunft gar nicht gäbe. Kant verwirft nun diese Einheit aus-drücklich zwar für das Individuum, und zwar auf Grund sei-ner theologisch bestimmten Lehre von der individuellen Be-schaffenheit des Menschen als einer radikal bösen, er sucht sie aber für die Gattung. Und die Kantische Geschichtsphiloso-phie, an die wir in diesem Zusammenhang doch denken müssen, wie sie niedergelegt ist in der kleinen Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, die setzt sich ja ausdrücklich jene Vermittlung zwischen der subjektiven und der objektiv geltenden Vernunft zum Ziel. Auf die Weise, daß er darin lehrt, daß schließlich die Antago-nismen zwischen den Interessen der einzelnen Menschen dar-aufhinarbeiten, daß sich ein Gesamtzustand herstellt, in dem doch so etwas wie Freiheit und Vernunft verwirklicht ist.

130

Aber diese Möglichkeit ist eine hypothetische Möglichkeit, und ich glaube, das ist nun sehr wichtig und von Kant richtig gesehen worden: sie kann nicht unmittelbar etwa als eine Norm meines Verhaltens vorausgesetzt werden. Mit ande-ren Worten, ich kann nicht etwa unmittelbar aus den Vorstel-lungen, die sich auf die Herstellung einer gerechten Gesamt-gesellschaft, eines gerechten Gesamtzustandes beziehen, mein eigenes Verhalten jetzt und hier und in jedem Augen-blick deduzieren. Vor allem deshalb nicht, weil ja jener ge-rechte Gesamtzustand, Kantisch gesprochen, nicht gegeben, sondern lediglich aufgegeben ist, und ich ihn auch nicht als einen gegebenen verwenden kann, wenn ich nicht dabei ein Unendliches verendlichen, fetischisieren will; was dann zu solchen Konsequenzen führt wie etwa jenen, daß dann Men-schen dazu kommen, zu sagen, gut sei das, was ihrem Volk nutzt, oder gut sei das, was eine Partei ihnen anordnet, ihnen befiehlt, weil die Partei oder das Volk sozusagen Organon des Weltgeistes sei, was sie in dieser durchsichtigen und un-mittelbaren Weise ja nun also doch niemals sein kann. Gutes, hic et nunc, jetzt und hier richtiges Verhalten ist nicht unmit-telbar identisch mit dem Guten im Sinn der Gattung. Und wenn Kant sich geweigert hat, diese beiden Bestimmungen -wie es ja nach dem, was ich Ihnen gesagt habe, nicht nur plausibel, sondern auch verlockend ist - zusammenzubrin-gen, dann hat ihn auch dabei ein sehr tiefer und richtiger In-stinkt geleitet, der in seiner Philosophie insgesamt am Werke ist, nämlich der der Distinktion, also nicht der, durch Her-stellung falscher Identitäten, das, was in der Welt, in der wir leben, real getrennt ist, wie mit einem Gewaltstreich nun eben doch zu vereinen. Ich darf Sie vielleicht in diesem Zu-sammenhang darauf hinweisen, daß ein moderner Dichter und einer, von dem Sie es gerade wegen seiner politischen Affiliationen vielleicht gar nicht ohne weiteres erwarten würden, nämlich Brecht, für dieses Problem ein außeror-dentlich feines Organ gehabt hat, daß er also schärfer viel-leicht als jeder andere jenes Auseinanderweisen des personal

211

Page 106: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

oder subjektiv Moralischen und des Objektiven gesehen hat. Die Art, in der er dabei das objektive Interesse hypostasiert hat und dabei nun über die Freiheit der Menschen hinwegge-gangen ist, vor allem in Stücken wie der »Maßnahme«, die darin schauerlich sind, braucht uns hier nicht zu beschäfti-gen. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, daß er dieses Pro-blem als eigentlich das heute überhaupt moralphilosophisch zentrale und aktuelle Problem gesehen hat. Es ist besonders in zwei gleichsam kontrapunktisch zueinander stehenden Stücken behandelt worden, die ich Ihnen beide unter diesem Aspekt zur Lektüre empfehle. Das eine von ihnen ist »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«, in der sich zeigt, daß ein Mensch, der nun im Kantischen Sinne wirklich absolut rei-nen Willens ist, der also eine reine Gesinnungsethik prakti-ziert und sich nun buchstäblich und real so verhält, wie der kategorische Imperativ es will, daß der gerade dadurch ob-jektiv zum Handlanger der schlechtesten und gefährlichsten Interessen wird, und daß das, was Johanna tut, sich also in das Gegenteil dessen verkehrt, was sie will, und daß noch schließlich ihr Opfertod genau jenen Interessen der Herr-schaft und der Ausbeutung zugute kommt, der sie subjektiv zu widerstehen meint. Das andere Stück, das nun dieselbe Problematik genau umgekehrt hat, ist »Der gute Mensch von Sezuan«, in dem es sich darum handelt, daß ein Mensch, der ebenso wie Johanna das Gute unmittelbar rea-lisieren will, in einer als tief fragwürdig erfahrenen Ge-sellschaft das nur dadurch vermag, daß er, wie es in einem Gedicht von Brecht einmal heißt, die >Maske des Bösem an-legt,215 daß er sich selbst böse macht, weil er anders dazu überhaupt nicht käme. Aber damit sind wir eigentlich be-reits bei einem Problem, mit dem wir uns heute vermutlich nicht mehr abgeben können, sondern mit dem wir dann noch eingehend uns zu beschäftigen haben, nämlich mit je-nem Problem der Differenz einer sogenannten Gesinnungs-und einer sogenannten Verantwortungsethik, das ja als das entscheidende der Kantischen Moralphilosophie und der an

212

Kant anschließenden Diskussion überhaupt wohl anzuspre-chen ist.

Es ist aber nun doch zu sagen, daß auch bei diesem Pro-blem, also der Konvergenz des subjektiven und des objekti-ven Moments in der Moral, ein Gefahrenmoment der aller-schwersten Art vorliegt, das auch bei Brecht nicht gemeistert ist, und das ich hier einmal als das Problem des Jesuitismus bezeichnen möchte, ohne daß ich dabei im mindesten an den historischen Orden denke, sondern einfach, weil es sich in einem Prinzip zusammenfaßt, das man, mit welchem Recht auch immer, nun einmal mit dem Begriff des Jesuiten zusam-mengebracht hat, nämlich das Problem, daß der Zweck die Mittel heiligen soll. Diese Lehre erkennt, wenn Sie so wol-len, in gewisser Weise die Divergenz des Guten jetzt und hier und des objektiv Geforderten, des total Guten an, glaubt aber, damit fertig werden zu können dadurch, daß das To-tale, daß der Endzweck gegenüber dem Besonderen und Ein-zelnen den Vorrang gewinnen soll. Wir haben in unserer Zeit, so plausibel auch dieser Gedanke zunächst in vielem sich darbietet, die furchtbarste Probe daraufmachen können, was das nun tatsächlich bedeutet, was das heißt, daß im Na-men eines solchen Vorrangs des Endzwecks oder des Ganzen Unrecht begangen wird; daß das dann also tatsächlich dazu fuhrt, daß der Begriff des Guten selbst überhaupt eines jeden faßlichen Inhalts sich begibt und daß er auf nichts anderes als auf die abstrakte Herrschaft dessen, was nun einmal die grö-ßere Macht hat, hinausläuft, die sich dann verschanzt hinter jener Idee des objektiv Höheren, das da angeblich bloß sub-jektive Interessen und Legitimationen in sich aufhebe. Man kann das, moralphilosophisch gesprochen, vielleicht am ehe-sten auf die Formel bringen, daß man gegenüber all diesen Theoremen - und etwa auch der »Maßnahme« von Brecht, die ich Ihnen eben genannt habe und die ja gleichsam diesem Furchtbaren die Ideologie gemacht hat - einwenden muß: daß die Beziehung zwischen dem Allgemeinen, das gefordert ist, und den Opfern oder dem, was jetzt und hier geschieht,

213

Page 107: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

durchsichtig sein muß; daß es also nicht bei der abstrakten Beteuerung bleiben darf, daß es so sei, sondern daß die Bezie-hung in dem Sinn durchsichtig sein muß, daß in ihr das Ein-zelinteresse der Menschen hic et nunc genauso zur Geltung kommt wie jenes Gesamtinteresse - und diese Synthesis dürfte allerdings wohl kaum der Fall sein. Jedenfalls darf der Zweck nicht dogmatisch gesetzt und als ein nun selber Fi-xiertes und Vergegenständlichtes den Menschen gegenüber gesetzt werden, weil er sonst eben dem Begriff der menschli-chen Vernunft, in dem ja auch die Erhaltung des Selbst, der je einzelnen Menschen eingeschlossen ist, notwendig wider-streitet. In diesem Sinn - ich glaube, das kann man wirklich sagen - ist die Kantische Moralphilosophie trotz ihres immer wieder berufenen Formalismus, der also mit einem bestimm-ten Moralkode nichts zu tun haben kann, mit der Gestalt der totalitären Moral, die ja nur gleichsam den mehr spieleri-schen Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, in bluti-gen Ernst übersetzt, mit der totalen totalitären Umwendung der Moral unvereinbar. Der Grund dafür liegt nun, wenn Sie so wollen, im Objekt, nämlich darin, daß Gesellschaft und Individuum in jedem einzelnen Fall auseinanderweisen, und daß, indem die Moralphilosophie sich, wie es in jenen Mo-dellen geschieht, unmittelbar, ungebrochen auf die Seite der Gesellschaft schlägt, sie dadurch notwendig zum Unrecht gegen das Individuum wird, das zwar einerseits ein freies nur in einer richtigen Gesellschaft sein könnte, das aber gleichzei-tig bis heute doch auch immer wieder die gesellschaftliche Verfassung als ein ihm Entgegengesetztes, Konträres, als ein Heteronomes erfährt. Und eine Moralphilosophie und eine moralische Praxis, die über diesen Antagonismus zwi-schen den höchst berechtigten Interessen des Ganzen und des Einzelnen, des Allgemeinen und Besonderen sich hin-wegsetzt, von der muß man allerdings sagen, daß sie not-wendig in die Barbarei, in die Heteronomie zurückschlagen muß. Die Moralphilosophie muß diese Antinomie ausdrük-ken, so wie die Kantische großartig sie ausgedrückt hat, und

130

darf nicht etwa danach trachten, sie ihrerseits zu harmonisie-ren.

Schließlich aber wäre doch auch über den Gedanken der Vernunft als eines Endzwecks der Menschheit selber noch etwas zu sagen. Wenn Sie das ä la lettre nehmen, das heißt, wenn Sie dabei von der Vernunft ausgehen, so wie in der Geschichte deren Begriff etabliert ist, und diesen Begriff der Vernunft nicht in sich selbst reflektieren, dann ist diese Ver-nunft ja die reine naturbeherrschende Vernunft und insofern auch das unterdrückende Prinzip und selber etwas wesentlich Partikulares. Es ist aber äußerst fragwürdig, ob man dieses unterdrückende, partikulare, auf die Selbsterhaltung der Gattung Menschheit abzielende Prinzip nun als das einer ob-jektiven moralischen Vernunft überhaupt ohne weiteres set-zen kann. Schopenhauer hat seinerzeit es als das besondere Verdienst seiner Moralphilosophie angesprochen, daß in ihr auch das Verhalten zu den Tieren inbegriffen ist, das Mitleid gegenüber den Tieren, und man hat das oft so als eine Schrulle des Privatiers behandelt. Ich glaube, daß sich an sol-chen exzentrischen Zügen gerade ungeheuer viel erkennen läßt. Das heißt, der Schopenhauer hatte wahrscheinlich den Verdacht, daß die Etablierung der totalen Vernunft als des obersten objektiven Prinzips der Menschheit eben damit jene blinde Herrschaft über die Natur fortsetzen könnte, die in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck hat. Er hat da-mit sozusagen den wunden Punkt des Übergangs der subjek-tiven selbsterhaltenden Vernunft in das oberste moralische Prinzip bezeichnet, welches für die Tiere und für das Verhal-ten zu Tieren keinen Raum läßt. Und insofern ist gerade diese Exzentrizität von Schopenhauer Zeichen einer sehr großen Einsicht. Wenn man sich so etwas wie die Institutionalisie-rung der Vernunft als des obersten Prinzips der Menschheit ausmalt, dann hätte man wahrscheinlich doch viel eher sich vorzustellen, daß in ihr dieses herrschaftliche Prinzip: so muß es sein, so muß es zugerichtet werden, kontrolliert werden,

215

Page 108: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

organisiert werden, aufhört und sich löst, als daß es sich ad calendas graecas perpetuiert und dann am Schluß im Namen des Moralischen die Gesellschaft selbst als eine unermeßliche Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur sich etabliert. Das scheint mir eigentlich das Tiefste zu sein, was gegen den Versuch spricht, die subjektive Klugheit der Selbsterhaltung mit dem obersten allgemeinen sittlichen Prinzip gleichzuset-zen, und vielleicht war auch das eines der Motive, die Kant zu ihrer Trennung bewogen haben. Wird Vernunft dagegen rein objektiv, also unabhängig von den Interessen der Sub-jekte, ihrer Selbsterhaltung, wie es nun im Kantischen Mo-ralprinzip liegt, so wäre das ein ebenso Problematisches; es wären dann die Menschen bei der Einrichtung einer sittlichen Welt, mit Hegel zu reden, nicht dabei, sondern sie schlüge abermals in bloße Heteronomie um.

130 216

1 5 . V O R L E S U N G

1 8 . 7. 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, die Frage, zu der wir in der letzten Vorlesungsstunde ge-

kommen waren, nämlich ob die Moralphilosophie bei Kant und Moralphilosophie überhaupt an der Menschheit, an ih-rem Fortbestand und ihrem Glück sich orientieren solle, weil ja in dem Begriff der Vernunft selber als dem der Menschheit diese Elemente enthalten seien, fuhrt nun auf ein Grundpro-blem der Moralphilosophie überhaupt, das ich nun in einiger Unabhängigkeit von dem Kantischen Text mit Ihnen erörtern möchte, weil es eben eine jener Fragen ist, die im Anschluß an den Kantischen Text, wo sie gewissermaßen erledigend behandelt werden, gar nicht sich konkretisieren lassen; während ich andererseits das Gefühl hätte, Sie über einen der allerzentralsten Aspekte dieses ganzen Problemkomple-xes im Dunkeln zu lassen, wenn ich darauf nicht irgend ein-gehen wollte. Das ist das Problem der sogenannten Gesin-nungsethik, wie Kant sie darstellt, nun nicht einfach in dem Verhältnis zu der sogenannten Güterethik, die Ihnen ja my-thologisch und a priori veraltet dünken mag, sondern im Verhältnis zu jener Konkretisierung der Ethik, die man wohl, um sie gegen Kant ebenso wie gegen die Dogmatik des summum bonum abzuheben, mit Verantwortungsethik be-zeichnet hat. Denn an die Menschheit in einem solchen in-haltlich bestimmten Sinn denken, das wäre ja nun wesentlich eine Frage der Verantwortung, nämlich der Verantwortung gegenüber der empirischen Existenz, der Selbsterhaltung, der Erfüllung der Gattung, zu der wir nun - tant bien que mal - einmal gehören. Und eben das ist von Kant als Prinzip der Ethik grundsätzlich verworfen, dafür ist in der Kantischen Moralphilosophie eigentlich kein Raum. Sie wissen, daß Kant den Begriff der Freiheit aus der antiken Ethik übernom-men hat, aber ihn außerordentlich radikalisierte. Daß ohne Freiheit, ohne die Idee der Freiheit hereinzuziehen, so etwas

Page 109: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

wie Moralphilosophie überhaupt keinen Sinn hätte, ich glaube, das ist Ihnen evident, weil ja im Stande eines voll-kommenen, lückenlosen Determinismus Kriterien des Gu-ten und des Bösen eben vollkommen sinnlos wären, sich da-nach überhaupt nicht fragen ließe. Aber auch der Begriff der Freiheit ist von Kant in sehr zentralem Maß modifiziert wor-den. Er war schon bei Aristoteles, ich erinnere daran, defi-niert nicht nur als Freiheit von äußerem Zwang, sondern als der von Affekten, also als der Freiheit von Triebregungen, und das sittliche Verhalten wurde ebenso wie in der Stoa mit der Herrschaft über die Affekte gleichgesetzt. Ein Motiv, das dann, ich habe auch das schon gelegentlich erwähnt, die ge-samte sogenannte Moralphilosophie mit den ganz wenigen Ausnahmen der radikalen Hedoniker charakterisiert hat. Bei Kant wird das nun dadurch in ein äußerstes Extrem getrie-ben, daß der Begriff der Freiheit schließlich nur noch das ist, was als eine nicht weiter bedingte Ursache angesprochen werden kann. Die Kantische Moralphilosophie bezeichnet sich dadurch nun eben wesentlich als eine Gesinnungsethik, daß, indem diese Bestimmung der Freiheit zu einem so voll-kommen Formalen oder, wenn Sie wollen, Erkenntnistheo-retischen gemacht wird, nicht nur jede konkrete Abhängig-keit eliminiert ist, sondern damit auch jede Beziehung auf irgendein Sachhaltiges, das auf die Ethik selber Einfluß haben könnte. Denn es erhellt ja ohne weiteres, wenn frei das Ver-halten sein soll, das auf keine wie immer auch geartete andere Ursache zurückführbar sein soll, daß dann ein Verhalten, das als seine Ursache zum Beispiel die Unzulänglichkeit be-stimmter gegebener Verhältnisse oder auch nur die konkrete Bestimmung von bestimmten Verhältnissen hat, an denen ich mein Verhalten orientieren muß, um überhaupt etwas zu erreichen, ausgeschlossen würde als ein heteronomes, als ein Verhalten, das ja doch wieder das Moment der Kausalität in die Freiheit hereinbrächte. Dadurch wird also die Kantische Philosophie zu einer extremen Gesinnungsethik, und Kant hat nun das Eigentümliche seiner eigenen moralphilosophi-

130 218

sehen Leistung genau an dieser Stelle erblickt, er hat, wie man das auch nennen kann, das Moralische, den Ort des Mo-ralischen, rein in die Innerlichkeit des Subjekts verlegt. Wenn ich dabei den Ausdruck Innerlichkeit gebrauche, so dürfen Sie sich dabei nicht Innerlichkeit in dem psychologischen Sinn vorstellen, wie er Ihnen etwa geläufig ist aus Reden von der Verinnerlichung äußerer Gebote, der Verinnerlichung des Über-Ichs oder solcher Prinzipien, sondern da ja hier überhaupt von dem Ich nur als einem vernunftbestimmten, allgemeinen die Rede ist, so ist der Ort dieser Innerlichkeit -ja man muß, wenn Sie mir das problematische Bild durchge-hen lassen, schon sagen - eigentlich ein Nullpunkt. Das heißt, diese Innerlichkeit ist eigentlich gar nichts anderes als der abstrakte Bezugspunkt der Vernunft selbst, aber negativ bestimmt als etwas, was von allem wie immer auch gearteten Auswendigen radikal sich unterscheidet. Es soll also die Mo-ralphilosophie aus dem reinen, man könnte sagen, Bei-sich-selbst-Sein der Vernunft begründet werden, soweit sie sich nicht entäußert und soweit sie von einem jeden ihr auswendi-gen Moment unabhängig ist. Und ein solches ihr auswendi-ges Moment wäre im Sinn dieser Philosophie vor allem auch das Glück des je einzelnen. Aber, und auch darauf habe ich Sie hingewiesen, in einem strengsten Sinn müßte dieses Ver-halten sogar vom Glück der Menschen unabhängig sein216, so wie es bei einem späteren, sehr radikalen Denker der In-nerlichkeit geschehen ist, nämlich bei Kierkegaard, der eigentlich sagt, daß etwa Handlungen des Mitleids - und darin unterscheidet er sich von Kant, bei dem das Mitleid eine schlechte Presse hat217 - eigentlich nur um des Mitlei-dens willen und nicht um der Änderung des Zustands des-sentwillen zu erfolgen haben, dem das Mitleid gilt, so daß also hier ausdrücklich der Standpunkt der radikalen Inner-lichkeit sich mit der Idee verbindet, daß man an die Beschaf-fenheit der Realität nicht rühren und daß man die Beschaf-fenheit der äußeren Realität auch in das eigene Verhalten nicht einbegreifen soll.218 Das Motiv erscheint in gewisser

Page 110: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Hinsicht auch bei Piaton in objektiver Blickrichtung, näm-lich durch die Absolutheit der Ideen, wie sie nur einem rein logischen Verhalten, dem rein logischen Vermögen sich er-schließen. Aber Kant würde selbst das noch als heteronom verworfen haben, und er hat tatsächlich die gesamte antike Ethik als heteronom kritisiert, weil die Gerechtigkeit bei Piaton, die bei Piaton ja das höchste Gut ist, nicht etwa aus reiner Vernunft hervorgebracht, sondern als ein An-sich-Seiendes von uns angeschaut werden soll, und als ein sol-ches An-sich-Seiendes nimmt sie als ein uns zugleich Ge-genübertretendes ein Moment der Undurchsichtigkeit, der Irrationalität, oder wie Kant sagen würde, der Heteronomie eben an. Die entscheidende Differenz der Kantischen Gesin-nungsethik von der Ideenethik des Piaton liegt also darin, daß von Kant überhaupt als Bestimmungsgrund des morali-schen Handelns nichts geduldet wird als das allgemeine Prinzip von Subjektivität selber, ohne jede Rücksicht auf ein Objektives, außer dem Allgemeinsten, das halt überhaupt ein Objektives sein muß, ein Gegenständliches, damit daran Handeln möglich werde; also insofern ist die Kantische Ethik mit der Fichteschen Philosophie tatsächlich in Über-einstimmung.

Das hat bei Kant eine doppelte Spitze; es geht nämlich nicht nur gegen die Heteronomie des sinnlichen Begehrens in einem weitesten Sinn, sondern ebenso auch gegen die Theo-logie, und ich glaube, Sie müssen sich immer darüber klar sein, daß Kant in dem Sinn wirklich Metaphysiker ist, daß er in Doppelstellung gegen den Empirismus - und damit also auch gegen die sinnlichen Momente, wo immer sie ihm be-gegnen - und auf der anderen Seite gegen Heteronomie in Gestalt der Theologie steht. Das Sittengesetz darf nicht ge-dacht werden als von Gott gegeben, sondern ist nichts ande-res als die auf ihren reinen Begriff gebrachte Subjektivität sel-ber. Wenn Gott überhaupt ins Spiel kommt in dieser Moral, dann nur als Garant des aus reiner Vernunft folgenden Sitten-gesetzes, als das, woran - könnte man, nach Analogie einer

130

Formulierung, die in diesem Zusammenhang in der »Kritik der reinen Vernunft« vorkommt, sagen - das Sittengesetz festgemacht wird.2 '9 Das heißt nichts anderes, daß Kant zu-folge ohne Gott und ohne die Hoffnung auf Unsterblichkeit die Welt die Hölle wäre. Es darf aber nicht so sein, denkt Kant. Diese Bestimmung der Welt als Negativität steht nun in tiefstem Zusammenhang mit seiner Verwerfung der Em-pirie, das heißt, dieser Verwerfung der empirischen Motive überhaupt entspricht die Kantische Ansicht, daß in der Welt, und zwar - und das ist nun selber sehr theologisch, wenn Sie so wollen - prinzipiell, das Böse herrscht, daß die Welt das Bereich des Bösen ist.220 Und wenn man sagen kann, daß der Kantische Rigorismus kritischer ist, also den bestehenden Verhältnissen unversöhnlicher gegenübersteht als die schein-bar humaneren und ansprechenderen Bestimmungen zur Moralphilosophie, welche die Hegeische Philosophie gibt, dann ist das genau die Stelle, an der dieser Radikalismus be-heimatet ist. Damit aber kommt man nun wirklich auf die entscheidende Frage nach der sogenannten Gesinnungsethik im Gegensatz zur Güterethik und eben zu der Verantwor-tungsethik, von der wir nun einiges sagen wollen. Gesin-nungsethik ist diejenige, die auf den reinen Willen rekurriert, also die Innerlichkeit des moralischen Subjektes als die ein-zige Instanz anerkennt. Während die Güterethik und die Ver-antwortungsethik im Gegensatz dazu von einem von diesem Subjekt aus gesehen An-sich-Seienden, wenngleich auch unter Umständen Geistigen, ausgehen, das dem Subjekt ge-genübergestellt wird; also eine Ethik, die von einem An-sich-Seienden in intentio recta ausgeht, genau wie die Erkenntnis-theorie der alten Zeit intentione recta war, ohne daß die Reflexion auf das konstituierende Subjekt sich dabei voll-zöge. Und durch diese gegenständliche Richtung der intentio recta wird das jeweils sittlich höchste Gut nun auch verge-genständlicht, man könnte sagen, verdinglicht, und das Ding-hafte ist ja gegenüber der reinen Handlung, gegenüber dem actus purus, immer ein Heteronomes, ein Gut für uns - und

221

Page 111: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

insofern als es dann etwas für uns wäre, fällt es doch wieder unter die Kritik des Hedonismus.

Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden zu-nächst meinen, das sind so die Sorgen der Philosophen; wenn die nichts Wichtigeres haben, worüber sie sich den Kopf zer-brechen, dann sollten sie doch ihren Laden zumachen, denn es sieht ja so aus, zunächst einmal, als ob das ein bloßer Schul-streit wäre. Man müsse also, könnte man sagen, nur den Be-griff des höchsten Gutes selber hoch genug spannen, wie es bereits in der Platonischen Lehre von der Gerechtigkeit der Fall sei, so käme dann ja von selbst bereits etwas heraus, was von empirischen und ephemeren, hinfälligen Motiven unab-hängig wäre, und dadurch würde dann der Unterschied zu der rein formal bestimmten Gesinnung in nichts zergehen. Tatsächlich hat man auch immer wieder bis zu den Marbur-ger Neukantianern, ich erinnere hier besonders an das Pla-ton-Werk von Paul Natorp, auf die Übereinstimmung der Kantischen und der Platonischen Ethik hingewiesen,221 und auch Schopenhauer, der der Kantischen Ethik ja außeror-dentlich weitgehend gefolgt ist, hat diese Meinung von der Identität dieser beiden Moralkonzepte eigentlich vertreten.222

Es ist nun aber für die Kantische Insistenz auf der genauen Distinktion der Begriffe überaus charakteristisch, daß er sich damit nicht zufrieden gibt, sondern daß er sagt, daß auch die-ses höchste Gut, wie immer es bestimmt sein mag, trotz al-lem mir als ein Fremdes, Äußerliches entgegentritt; es würde als ein so Entgegentretendes die Identität meines moralischen Wollens mit dem Prinzip von Subjektivität überhaupt, mit dem Prinzip des reinen Ichs, hinfällig machen. Es kommt also für ihn dabei echt idealistisch gar nicht darauf an, was bei dieser Moralphilosophie herauskommt, also ob etwa in der Verwerfung des in einem weitesten Sinne Sinnlichen seine Moralphilosophie mit der Platonischen übereinstimmt, das ist ihm dabei ganz gleichgültig, sondern es interessiert ihn, und das ist das eigentlich Idealistische, dabei nur die Frage nach dem Prinzip, also die Frage nach dem, worin eine solche

130

Theorie schließlich sich ausweist, das heißt, ob sie in Ver-nunft selber sich ausweisen soll oder ob sie der Vernunft als ein ihr Fremdes entgegentrete. Er hat sogar, möchte ich ein-fügen, dann inhaltlich gar nicht so fürchterlich rigoros ge-dacht; es geht ihm gar nicht in dem Sinn wie dem Piaton nun wirklich um die Verdammung der Sinnlichkeit nach dem Satz: >daß der Leib das lebendige Grab der Seele sei<223; son-dern indem er unter die Bestimmung der Pflicht auch die Pflicht zur eigenen Glückseligkeit mit aufnimmt, hat er darin inhaltlich sogar eher eine gewisse Toleranz gezeigt. Nur an dem Prinzip, von dem ich Ihnen gesprochen habe, möchte er allerdings nichts nachlassen. Es ist hier darauf hinzuweisen, daß in dieser Wendung zunächst einmal die Erbschaft der Anschauung steckt, daß die Innerlichkeit soviel wie die Seele als das Unsterbliche, das Höchste zu wollen sei. Der Ge-danke, daß das Prinzip der Subjektivität selber für sich das sein soll, was sonst höchstes Gut heißt, ist selber nicht nur im äußerlich historischen, sondern in einem sehr tiefen Sinn christlich, das heißt, es steckt dahinter die Vorstellung von der absoluten Substantialität der Seele, die eben geknüpft ist an die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele, von der Seele, die durch Christus gerettet sei - und das wird dann eben säkularisiert und abstrahiert zu diesem Ansichsein des Sittengesetzes. Weiter steckt darin aber auch das bürgerliche Ethos der unbeschränkten Anstrengung, welches auf eine be-sondere christliche Tradition, die von der Gnadenwahl, zu-rückgeht, die im Luthertum und vor allem im Calvinismus immer bestimmender wurde, daß nämlich kein Mensch wisse, ob er gerettet sei, und daß es deshalb der unbeschränk-ten Anstrengung bedürfe, um jene Hoffnung überhaupt möglich zu machen. Daß die Hoffnung eigentlich nur fern auftaucht, daß die Hoffnung etwas sehr Dünnes und fast nur so etwas wie eine Erinnerungsspur ist, das hat Kant mit dem Protestantismus gemeinsam, und gerade pietistische Reprä-sentanten des Protestantismus, die an dieser Seite der allge-meinen protestantischen Religion sich gestoßen haben, ha-

223

Page 112: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ben gegen Kant diesen Vorwurf, daß seine Philosophie Hoff-nung nicht kenne, auch immer wieder erhoben; auch die be-rühmt gewordene Reaktion von Kleist auf die Kant-Lektüre fällt ja genau in den selben Zusammenhang.224 Dieses Mo-ment hat natürlich eine ungeheure Wahrheit, nämlich das Ungewisse, das in dem Begriff der Hoffnung tatsächlich steckt. Aber er antwortet nun darauf, und das ist die Haltung, die er mit Beethoven etwa gemeinsam hat: diese Hölle, als die wir das irdische Leben erkennen müssen, die kann nicht alles sein; es liegt irgendwie in der Natur des Menschen selber so etwas wie ein Versprechen, daß das nicht alles sei und daß es doch etwas anderes geben müsse. In dieser Weise, würde ich sagen, lebt bei Kant der ontologische Gottesbeweis, den er selbst vernichtend kritisiert hat, denn doch schließlich noch nach. Die Vermittlung zwischen unbeschränkter Anstren-gung und reiner Gesinnung ist in der Kantischen Ethik da-durch vollzogen, daß sie zu der Konstellation der obersten Begriffe bei ihm und vor allem auch zum Begriff der Pflicht gehört, der in einer völlig abstrakten Weise mit dem Begriff unbeschränkter Anstrengung überhaupt übereinkommt. Denn als absolutes Prinzip kennt die Pflicht schlechterdings keine Grenze, weil sie ja als Absolutes gilt, ohne in irgend-welchen ihr vorgegebenen Ordnungen lokalisiert zu sein, und sie hat vermöge ihrer eigenen Unendlichkeit oder Unbe-grenztheit genau jenes Moment des Nicht-zur-Ruhe-kom-men-Lassens. Eine Philosophie wie die Kants, möchte ich hier sagen, wiederholt nun natürlich nicht einfach das, was in der gesellschaftlichen Realität vorgeht, sondern hat die Ten-denz, an der bestehenden Gesellschaft Kritik zu üben und ihr ein anderes Bild des Möglichen oder ein bilderloses Bild des Möglichen entgegenzuhalten. Das ist nun in einer sehr genia-len Weise mit dem Prinzip des Formalismus vereinigt; das Korrektiv der Realität wird nämlich bei ihm gesucht in dem Verhältnis von Zwecken und Mitteln. Kant hat in der herauf-kommenden hochkapitalistischen Gesellschaft — und das Al-ter Kants fällt ja immerhin mit der beginnenden industriellen

130 224

Revolution in England zusammen - die Tendenz zur totalen Fungibilität erkannt, daß also alles, was überhaupt in diesen gesellschaftlichen Zusammenhang fällt, nur noch einen Funktionswert hat für anderes, für das es als Mittel da ist. Die Kantische Moralphilosophie nun hat ihr Pathos daran, einen Zweck zu suchen, der der Tendenz dazu, daß alles bloß Mit-tel sei, entgegengesetzt ist. Das steckt bereits in seiner Kritik der Absicht, von der ich Ihnen gesprochen habe. Sie werden aber von hier aus auch einer Antithese eine recht reale Bedeu-tung geben können, die ich bis jetzt Ihnen noch nicht genannt habe, die aber von großer Wichtigkeit in der Kantischen Mo-ralphilosophie ist, nämlich der von Preis und Würde. Daß nämlich alles das, was fungibel ist, also um eines anderen wil-len ist, was, wir könnten wohl wirklich sagen, tauschbar ist, seinen Preis hat - wie ja der Begriff des Preises tatsächlich am Tauschverhältnis gebildet ist - , während das, was nun in einem strikten Sinn wirklich um seiner selbst willen da ist und um seiner selbst willen geschieht, wie es dem Kantischen Sittengesetz zufolge die richtige Handlung soll, eben das ist, was bei ihm mit Würde bezeichnet wird, und nur das. Der Begriff der Würde hat also bei ihm eine ganz andere Farbe, als er dann im 19. Jahrhundert gewonnen hat, wo diese Idee her-untergekommen ist zu der schäbigen Prätention, daß irgend-ein Mensch deshalb, weil er sich als bedeutend oder wichtig in der Welt aufspielt, sich selbst eine solche Würde zu-schreibt. Dieser, ich möchte sagen, empirische Begriff der Würde, dem Sie ja auch heute wohl gelegentlich noch begeg-nen können, ist nichts anderes als der Hohn und die völlige Verkehrung dessen, was mit diesem Begriff bei Kant ur-sprünglich einmal gemeint gewesen ist.

Ich gehe auf diese gesellschaftlichen Dinge nun hier nicht ein, um dadurch die Kantische Philosophie zu relativieren; Kritik an Philosophie ist immer nur möglich als eine an ihrer eigenen Wahrheit, und der bloße Verweis darauf, daß sie mit irgendeinem gesellschaftlichen Zustand positiv oder negativ etwas zu tun habe, hat ihr gegenüber keine kritische Kraft.

Page 113: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Andererseits aber gewinnen selbst die abstraktesten Bestim-mungen, wie wir sie in der Kantischen Moralphilosophie ge-troffen haben, in der realen gesellschaftlichen Konstellation, aus der sie entsprungen sind, ihren Stellenwert, und man kann auf diese Weise sozusagen den abstrakten Begriffen der Kantischen Moralphilosophie etwas von einer Konkretheit verleihen, die unmittelbar an ihnen gar nicht wahrnehmbar ist, die aber in ihrer Substanz eben doch steckt. Dabei ist auf zwei Momente hinzuweisen. Einmal, daß die Kantische Mo-ralphilosophie, in dem überaus positiven Sinn eines unbe-schreiblich erstarkten Selbstbewußtseins, bürgerlich heißen darf. Der Gedanke, daß das Subjekt sich aus Freiheit selbst das Gesetz zu geben habe, daß seine reine Gesinnung das Gesetz der Welt sei, ist ein Prinzip, das einem jeglichen Tradi-tionalismus und einer jeglichen ständischen, feudalen und ab-solutistischen Ordnung entgegengesetzt ist. Ja, man könnte sagen, daß die Abstraktheit der Kantischen Moralphilosophie selber gegenüber der beschränkten Positivität gegebener, gleichsam naturwissenschaftlicher Verhältnisse ein Gesell-schaftliches ist; daß also der Übergang gerade zu dieser Ab-straktheit, den wir bei Kant beobachtet haben, selbst konkret ist, insofern als in ihm die zunehmende Abstrahierung, Ra-tionalisierung und, wenn Sie so wollen, auch Befreiung der Gesellschaft von blind natürwüchsigen Momenten, an denen sich das Verhalten der Menschen orientiert, sich ausdrückt. Gerade diese Einsicht, daß das Abstrakte nicht ein allen Epo-chen gemeinsamer Urgrund ist, sondern daß Abstraktheit selber eine geschichtliche und, wenn Sie wollen, eine gesell-schaftliche Kategorie ist, das ist von Marx mit dem größten Nachdruck ausgesprochen worden, und die Kantische Philo-sophie ist auf dieses Theorem von Marx vielleicht eines der großartigsten Exempel, eine der besten Proben, die es dafür gibt. Bei Kant läßt sich sehr deutlich etwas von dem Pathos, dem Selbstbewußtsein der jungen bürgerlichen Klasse füh-len, die sich jeglicher Bevormundung entziehen will. Dieses Pathos macht sich bei ihm an den Stellen nun vor allem gel-

130 226

tend, wo er die Theologie als Begründung einer Moralphi-losophie kritisiert, und wo also diese Moralphilosophie durchaus im Sinne des Satzes von >der Befreiung der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit steht.225 Und wenn Sie dieses Motiv nicht sogar in den re-pressiven Bestimmungen des Kantischen Gesetzesbegriffs doch mitschwingen fühlen, dann haben Sie die in Wirklich-keit unendlich komplexe und differenzierte Zusammenset-zung der Kantischen Moralphilosophie nicht richtig verstan-den. Weiter aber ist seine Moralphilosophie in dem Sinne spezifisch bürgerlich, daß sie in einem sehr weitgehenden Maß grundsätzlich den Einfluß von Rousseau verrät. Das ist allgemein bekannt, daß sie aber nun doch den Rousseauschen Gedanken, daß die menschliche Vernunft es nicht vermocht habe, im Sinne einer fortschreitenden Glückseligkeit die Welt zu gestalten, in einer sehr merkwürdigen und originalen Weise gewandt hat, weniger. Und ich finde, es ist interessan-ter zu sehen, was bei Kant aus den Rousseauschen Motiven geworden ist, als immer wieder auf sie hinzuweisen, wie Sie es in jeder Philosophiegeschichte ja finden können. Kant lehrt nämlich, daß in der Tat die menschliche Anlage der Vernunft nicht angemessen dazu sei, den Menschen jene im-mer höhere Glückseligkeit zu verschaffen, nur zieht er, wenn Sie wollen, die entgegengesetzte Konsequenz daraus, näm-lich: daß man nun nicht etwa versuchen solle, beides in Über-einstimmung zu bringen, sondern daß, jedenfalls soweit wie es sich um das individuelle Verhalten, also um die private Ethik handelt, es darum geht, daß man die Bestimmung der Vernunft überhaupt in einer anderen Dimension suchen solle als in der der ständig verbesserten Wohlfahrt. Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß - indem ich in der letzten Stunde Ihnen gezeigt habe, zu welchen Schwierigkeiten der verabsolutierte Vernunftbegriff führt, auch dann, wenn man dabei die Sphäre des subjektiven Interesses und die Sphäre des objektiv Richtigen identifiziert - nämlich dann die rich-tige Gesellschaft zu einer der universalen Unterdrückung der

Page 114: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Natur würde. Das wird Ihnen vielleicht zeigen, an welcher Stelle hier das Wahrheitsmoment Kants zu suchen ist. Und übrigens gerade in diesem Moment der Skepsis gegen das unterdrückende Prinzip, das naturfeindliche, naturunter-drückende Prinzip der Vernunft, darin steckt ja nun wirklich in dieser Kantischen Moralphilosophie in einem sehr positi-ven Sinn das Rousseausche Motiv drin. Die Folgerung, die er nun daraus zieht, ist, daß die Menschheit oder jedenfalls das einzelne Individuum - mit der Menschheit ist es ein bißchen anders und komplizierter bei ihm - keinen anderen Zweck habe, als dem Gesetzesbegriff nachzuleben, der nichts ande-res sei als die oberste Einheit aller von der Vernunft gesetzten Bestimmungen.

Ich möchte noch hinzufügen, da ich heute auf diese Seite der Gesinnungsethik, also auf den Zusammenhang von Pri-vatheit, Innerlichkeit und bürgerlicher Gesellschaft zu spre-chen gekommen bin, daß man im allgemeinen viel zu undif-ferenziert verfährt, wenn man solche Begriffe wie bürgerlich überhaupt benutzt. Zunächst ist einmal dabei zu sagen, daß die Verinnerlichung ja innerhalb der bürgerlichen Gesell-schaft selber reaktiv, also dialektisch und nicht unmittelbar als ein Bürgerliches zu verstehen ist; ich sprach Ihnen bereits von der universalen Fungibilität, und dieser Fungibilität ent-spricht natürlich als eine Art von Protest gegen die über-mächtige Mechanik des Auswendigen, in das wir verstrickt sind, die Tendenz der Selbstrücknahme der Subjekte auf sich selber; die Innerlichkeit wird dann zur Retraite, auf die sich das Einzelindividuum antithetisch gegen die Übermacht der Auswendigkeit zurücknimmt. Und nur in diesem antitheti-schen Sinn, kann man sagen, ist die Kategorie der Innerlich-keit eine Funktion der fungiblen Welt, während ebenso auch natürlich dazugehört, daß erst durch den Zerfall des theolo-gischen Kosmos jener radikale Bruch zwischen Innen und Außen, jener unvermittelte, durch keine Vermittlungskate-gorien mehr überbrückte Bruch, sich vollzogen hat, der ei-gentlich die stillschweigende Voraussetzung dafür ist, daß

130 228

die Kategorie der Innerlichkeit sich gebildet hat. In soge-nannten geschlossenen Kulturen — also in Kulturen, wie sie in der Hegeischen Terminologie substantiell heißen würden, in denen, was zu tun sei, mehr oder minder unproblematisch für die Menschen sich von selber versteht - hat der Begriff der Innerlichkeit keinen Raum; und ich glaube nicht, daß ich zuviel sage, wenn ich Ihnen erkläre, daß in der Antike der Begriff eigentlich gar nicht vorkommt, obwohl ich gewärtig bin, daß ein klassischer Philologe unter Ihnen ist, der mir dann doch irgendeine Stelle aus einem antiken Schriftsteller zeigen kann, die man also im Sinn von Innerlichkeit interpre-tieren kann. Ich will das auch gar nicht leugnen. Methodolo-gisch würde ich nur dazu sagen, selbstverständlich kommen in der Antike alle solche Motive schon vor, aber der Äther, in dem sie stehen, das Klima ist so völlig anders als das Klima der christlichen Welt, daß selbst Kategorien, die ihrem reinen Bedeutungsgehalt nach miteinander identisch sind, inner-halb dieses ganz anders gearteten Klimas - nämlich eben demjenigen, das eigentlich so etwas wie Subjekt-Objekt-Probleme noch gar nicht kennt - eine vollständig andere Be-deutung gewinnen. Wenn man also Autoren wie Homer, wie Tacitus liest oder Boccaccio oder Chaucer oder den »Don Quixote« oder die frühen englischen Romane des 17. Jahrhunderts, so wird man da überall auf einen gemeinsamen Kern mit dem stoßen, was wir auch heute bürgerlich nennen, nämlich die immanente Beziehung auf eine organisierte städ-tische Marktwirtschaft. Andererseits darf aber nun gerade hier nicht vergessen werden, daß zu Zeiten Kants in Deutsch-land die bürgerlichen Verhältnisse nicht im selben Maß ent-faltet waren wie in den westlichen Ländern. Zwar waren in der damaligen deutschen Gesellschaft alle bürgerlichen Kate-gorien und Gedanken in der Sphäre des Gedankens ge-schöpft, angedeutet und lebendig, aber es kann keine Rede davon sein, daß das Selbstbewußtsein des Bürgertums mit der ökonomischen Realität übereingestimmt hätte, daß es also bereits die Machtpositionen eingenommen hätte, die es

Page 115: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

in England und in Frankreich einnahm. Der B e g r i f f - und das ist etwas für die deutsche Situation überhaupt sehr Charakte-ristisches - war der realen Entwicklung voraus; darum war er gleichzeitig radikaler als in den westlichen Ländern, wo ge-wissermaßen die entwickeltere Realität den entwickelteren Gedanken immer desavouieren kann, hatte aber zugleich auch etwas Beschränkteres dadurch, daß das Bewußtsein der Realität selber in einem viel geringeren Maß in ihn eingegan-gen ist, und in diesem Sinn kann man wohl sagen, daß wie in dem Gedicht von Morgenstern der Mond, so in einem geisti-gen Sinn die Moral ein völlig »deutscher Gegenstand« ist,226

das heißt: daß es Moral oder vor allem Pflicht in diesem enge-ren Sinn eigentlich überhaupt nur in dem Bereich des deut-schen Denkens gibt. Wenn Sie etwa Hume lesen, um einen Zeitgenossen von Kant zu nennen, die Moralphilosophie von Hume lesen, dann ist das Klima so vollkommen anders, daß Sie kaum das Gefühl haben, daß von derselben Sache die Rede ist. Es ist davon jedenfalls, daß das sittliche Verhalten der Einzelperson die äußere Realität entscheidend bestimmen könnte, bei Kant nichts zu fühlen. Und dieses Moment der realen Ohnmacht des Individuums gegenüber der äußeren Realität ist sicher unter den inneren Bedingungen für die reine Konstruktion der Innerlichkeit bei ihm sehr wesentlich. Dadurch, daß von vornherein der Aspekt des moralischen Subjekts gar nicht der der Gestaltung der Welt sein kann, weil er nämlich auf die Welt sowieso keinen Einfluß hat, es sei denn in außerordentlich abstrakten Erwägungen über die Gestaltung der Geschichte, in die aber das Verhältnis des mo-ralischen Subjekts zu den konkreten, geschichtlichen Kräften gar nicht eingeht, wird das Moralische notwendig zu einer Sache der Gesinnung gemacht, im Grunde zu der Form des Handelns dessen, der stillschweigend und vorweg sich des-sen versichert weiß, daß sein Handeln unmittelbar jetzt und hier an dem Lauf der Welt doch nichts zu ändern vermag. Diese Ohnmacht ist in der gesamten Moralphilosophie des deutschen Idealismus zu spüren. Die Gesinnung ist eine le-

130 230

diglich für sich seiende Bestimmung, die in sich selbst Erfül-lung findet, die konsequenzlos bleibt für die Einrichtung der Gesellschaft, die aber auch in gewisser Weise von der Gesell-schaft selber gar nicht so arg bedroht ist. Das Pathos ist zwar das, eine Gesellschaft zu kritisieren, in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr Zweck bleibt, auf der anderen Seite aber wäre dieser Gedanke dialektisch zu ergänzen zu dem, daß umgekehrt nun das moralische Bewußtsein, die sich selbst gesetzgebende Vernunft, sich zum Selbstzweck wird und damit, das sagte ich in der letzten Stunde schon, zum Fetisch wird, weil sie in der Wirklichkeit daran verzwei-felt, außerhalb ihrer selbst irgendwelche Zwecke in der Rea-lität verwirklichen zu können. Das ungeheure Pathos des be-freiten Bürgers verschränkt also in dieser Moralphilosophie sich mit dem Gefühl von Ohnmacht, und diese Doppel-schlächtigkeit ist der Kantischen Moralphilosophie aufs tief-ste eingesenkt. Ich glaube, meine Damen und Herren, ich habe damit schon ein bißchen vorbereitet, was zu der Proble-matik der Gesinnungsethik und dann ebenso zu der Proble-matik der Verantwortungsethik führt. Nämlich dieses Ge-fühl der Ohnmacht, das hier sich ausdrückt, das berechtigt ja nun der Gesinnungsethik gegenüber zu dem Vorwurf, daß sie in concreto nichts biete, mit anderen Worten, daß sie keine Kasuistik, also keine Vermittlung zwischen dem kon-kreten Einzelfall und dem allgemeinen Prinzip gebe, wäh-rend andererseits, ich muß Ihnen das nicht ausführen, gerade die moralische Kasuistik, wie sich immer wieder gezeigt hat, ja unter dem Prinzip der Heiligung der Mittel durch den Zweck der Relativität preisgegeben ist und dadurch eben zu dem Negativen und Schlechten führen kann. Kant würde ge-gen die Kasuistik halten, daß die Reflexion auf den Allge-meinheitscharakter der Maxime ausreichen kann. Das heißt, wenn ich wirklich in jedem Augenblick das Urteil darüber soll vollziehen können, ob ich das Prinzip meines Handelns zugleich zu einem allgemeinen der Weltgesetzgebung ma-chen könnte, dann wäre das gelöst. Aber ich glaube - und es

Page 116: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ist doch vielleicht gut, daß ich in den letzten Sekunden dieser Vorlesung Ihnen das noch sage: überlegen Sie sich einmal ganz einfach, ob man in dem Sinn nach dem kategorischen Imperativ handeln kann, ob man sich überhaupt vorstellen kann, daß man sich in jedem Augenblick und bei jeder Hand-lung klarmacht: erstens, ob sie einer Maxime folgt - also in Gottes Namen, unterstellen Sie das einmal, obwohl ein Mensch, der so handeln würde, wohl mehr ein Monstrum als ein Mensch wäre, aber unterstellen Sie es einmal - , und dann sich zweitens in allen Fällen klar macht, ob die Maxime zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung taugt. Das setzt ja nun wirklich, wenn ich einmal ein Kantisches Argumen-tations-Schema anwenden darf, im Grunde voraus, daß die unendliche Verzweigung der gesellschaftlichen Totalität, also ein Unendliches, mir positiv gegeben ist, so daß ich diese Verbindung zwischen meiner Maxime und dieser allgemei-nen Gesetzgebung überhaupt herstellen kann. Mit anderen Worten: eigentlich steht der kategorische Imperativ auf dem Papier, ist aber in dem strengen, innerkantischen Sinn nicht gültig, als dabei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß ich durch mein Urteil verifizieren kann, ob meine Maxime zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung geeignet sei, wäh-rend das eben doch zahllose Reflexionen voraussetzt, deren der einzelne Mensch gar nicht mächtig ist und zu der auch unendlich Vieles einfach an Wissen und Kenntnis gehört, was gar nicht als eine Art von moralischer Selbstverständlichkeit stipuliert werden kann.

130 232

1 6 . VORLESUNG

2 3 . 7. 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen das letzte Mal gesagt, daß mit Rücksicht auf

den kategorischen Imperativ ein Problem besteht, das ganz einfach so sich ausdrücken läßt, daß der Weg von der ober-sten Allgemeinheit des Sittengesetzes zu dem spezifischen Fall nicht so unproblematisch ist, wie es in der Kantischen Moralphilosophie erscheint. Es ist sehr merkwürdig, daß Kant selber auf dieses Problem eigentlich explizit gar nicht rekurriert, während im Bereich der Erkenntnis diese Frage für ihn eine große Rolle spielt. Sie tritt dort auf unter dem Namen der Urteilskraft - im prägnanten Sinn des Wortes -als das Vermögen, das Besondere als unter dem Allgemeinen befaßt zu denken, und Kant gibt dabei zwei Möglichkeiten. Nämlich einmal die, vom Allgemeinen zum Besonderen fortzuschreiten: die sogenannte bestimmende Urteilskraft, die ihm allerdings nicht weniger problematisch ist, und die reflektierende Urteilskraft, die sich der Frage gegenüber-sieht, wie man von der, wenn ich so sagen darf, ungedeckten, noch nicht selber vom Allgemeinen zusammengefaßten Er-fahrung, nun zu dem Allgemeinen sich erheben könne - und diesem zweiten Problem ist ja das gesamte dritte Hauptwerk von Kant gewidmet.227 Per analogiam würde es sich in der »Kritik der praktischen Vernunft« um das erste handeln, also sozusagen um etwas wie die bestimmende moralische Ur-teilskraft, aber es finden sich darauf nicht einmal Hinweise, und ich hoffe, mich keiner Respektlosigkeit schuldig zu ma-chen, wenn ich zumindest den Verdacht äußere, daß Kant selber sich gehütet hat, hier auf das Problem der Verbindung, auf das Problem der Beziehung von Allgemeinem und Be-sonderem einzugehen, weil ihm diese Sache selber mulmig vorgekommen ist und weil er gewußt hat, daß er dabei in die allergrößten Schwierigkeiten geriete. Natürlich würde er das uns, wenn wir ihn hier als Zeugen zitieren könnten, nicht

Page 117: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

zugestehen, sondern wahrscheinlich sich auf das unmittelbar vorfindliche moralische Bewußtsein eines jeden einzelnen beziehen, das er ja, wie Sie sich erinnern werden, in einem gewissen Gegensatz zu der Deduktibilität des Sittengesetzes eingeführt hat. Aber, meine Damen und Herren, genau an dieser Stelle sitzt tatsächlich ein sehr ernstes und ein sehr schweres Problem. Das heißt, das Moralische versteht sich tatsächlich nicht von selbst, sondern die reine sittliche Forde-rung kann durch ihre eigene Reinheit in das Böse übergehen, und zwar in dem prägnanten Sinn, daß sie das Objekt oder, man müßte ja wohl besser sagen, das Subjekt vernichtet, demgegenüber diese Forderung dann geltend gemacht wird.

Da wir uns nun in den letzten Vorlesungsstunden befin-den, und es sozusagen nur dem zuzuschreiben ist, daß wir selber irgend den kategorischen Imperativ befolgen, daß wir uns heute keine Hitzeferien genommen haben und uns da-durch um ein altes Kinderglück betrogen haben, so gestatte ich mir, an dieser Stelle vielleicht auf ein literarisches Beispiel einzugehen. Wobei ich vorausschicken möchte, daß ich mir der Problematik der Beziehung von Kunstwerken auf moral-philosophische Fragen durchaus bewußt bin - also der Frage, inwieweit auf Menschen, die notwendig Bildcharakter ha-ben, überhaupt moralische Kategorien angewandt werden können. Ich begnüge mich also statt dessen mit dem Hin-weis, daß das Produkt, von dem ich Ihnen einiges sagen werde, selbst jedenfalls ausdrücklich unter der Vorausset-zung der Gestaltung eines moralischen Problems steht, und zwar eben des moralischen Problems, mit dem wir uns im Augenblick befassen. Es handelt sich dabei um ein Stück von Ibsen, das den Titel »Die Wildente« trägt. Es ist noch in mei-ner Jugend eines der berühmtesten Stücke von Ibsen über-haupt gewesen, und es gehört zu den nicht gerade erfreuli-chen Entwicklungsphänomenen, daß dieses Stück heute -wie die meisten Stücke von Ibsen - wohl überhaupt kaum mehr als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt wird; und wenn ich an Sie eine Bitte richten darf, dann wäre es die, daß

130

Sie alle in den Ferien dieses Stück sich ansehen und im Zu-sammenhang damit vielleicht auch einige vorausgehende wie etwa »Die Gespenster« oder den »Volksfeind«. Ich glaube, wenn Sie etwas von moralischer Dialektik erfahren wollen, und das ist schließlich der Gegenstand unserer Vorlesung, dann werden Sie nirgends Konkreteres und zugleich im Ge-danken Konsequenteres finden als in diesen Werken von Ib-sen. »Die Wildente« behandelt die Frage, wie ein Mensch da-durch, daß er das Sittengesetz - oder wie er es fast Kantisch nennt: die sittliche Forderung in ihrer Reinheit - vertritt, sel-ber unmoralisch wird, das heißt, zur Vernichtung des, wenn Sie die krude Redeweise mir durchgehen lassen, wertvollsten Menschen aus dem ganzen Umkreis gelangt - jedenfalls des einzigen Menschen, der in den Schuldzusammenhang, der ja in diesem Stück sich entfaltet, nicht verstrickt ist. Gerade die-ser nicht verstrickte Mensch wird in sein Schicksal um so tiefer verstrickt und geht zugrunde - es ist ein vierzehnjähri-ges Mädchen, ein Backfisch. Die Geschichte ist einfach die. Ein Großunternehmer hatte einen Kompagnon, das ist die Vorgeschichte - wie immer bei Ibsen werden ja die eigentli-chen zentralen Gegebenheiten in die Vorgeschichte verlegt, und das Drama selbst, die Gegenwart, ist eigentlich in gewis-ser Weise nur ein Epilog. Das hat selbst ästhetisch einen sehr tiefen Sinn und hängt geradezu mit der Metaphysik dieser Art von Dramatik zusammen, aber darauf kann ich jetzt nicht eingehen. Jedenfalls in der Vorgeschichte sind zwei Großunternehmer miteinander verbunden gewesen, der eine heißt Werle, der andere Ekdal; der Ekdal war ein flotter Of f i -zier. Die beiden haben irgendwelche sehr unkorrekten Ma-növer finanzieller Art begangen, die ja in den späten Stücken von Ibsen überhaupt eine große Rolle spielen, und die Ge-schichte ist aufgeflogen. Dabei aber ist nun der Werle unge-schoren herausgekommen und hat sich ein riesiges Vermö-gen angeeignet, während sein Kompagnon gefaßt und ins Zuchthaus geschickt worden ist. Dieser alte Ekdal, der in dem Stück selber als ein entlassener Zuchthäusler und als eine

235

Page 118: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

völlig gescheiterte Existenz, als ein halbvertrottelter Trinker auftritt, der hat nun einen Sohn, der heißt Hjalmar Ekdal, und dieser Hjalmar Ekdal ist seines Zeichens ein Photograph; um den dreht sich eigentlich das Ganze, der ist, man müßte sagen, der passive Held oder der Bezugspunkt, an den die sogenannte sittliche Forderung sich richtet. Der alte Werle hat nämlich diesem Hjalmar Ekdal nicht nur eine bescheidene Existenz verschafft, indem er ihn den Beruf des Photogra-phen hat erlernen lassen - den übrigens dieser Ekdal selber nicht im Ernst ausübt, sondern von seiner von ihm ausgebeu-teten Frau ausüben läßt - , er hat ihn weiter mit seiner abge-legten Geliebten Gina verheiratet, die von ihm, dem alten Werle, bereits ein Kind erwartete, das dann aber in dieser Ehe eben diesem etwas aufgeblähten, wichtigtuerischen und ver-logenen Hjalmar Ekdal zugeschoben wird. Und nun baut sich also zwischen dem Hjalmar Ekdal, dieser - im übrigen keineswegs antipathisch geschilderten - Gina und ihrem Kind, der Hedwig, eine Art von Idyll, ein idyllisch kleinbür-gerliches Leben auf, über dem zwar die schwersten Schatten der Vergangenheit und auch der dürftigen Existenz liegen, aber es ist eine Existenzform, in der alle drei sich ganz wohl fühlen; und die Hedwig sogar in einer vielleicht schon puber-tären Liebe an ihren vermeintlichen Vater Hjalmar gebunden ist. Nun hat der alte Werle einen Sohn, der heißt Gregers, und dieser Gregers Werle, der vertritt also in dem Stück den kategorischen Imperativ. Er möchte in heftigem Gegensatz zu seinem eigenen Vater stehen, diese Verhältnisse nicht mit ansehen, und zwar nicht etwa, weil er sich besonders darüber entrüstete, sondern weil er, der intimste und einzige Freund des Hjalmar Ekdal, nicht erträgt oder jedenfalls glaubt, nicht ertragen zu können, daß dieser in einer Welt der Lebenslüge existiert, also in einer Welt, die ihren realen Voraussetzungen nach gänzlich dem widerspricht, was alle Beteiligten von sich selbst und von dieser Welt meinen. Ich möchte Ihnen nicht die ganze, sehr komplizierte Handlung erzählen. Jedenfalls läuft die Sache darauf hinaus, daß dieser Gregers Werle - der

130

sich im übrigen aus, man kann sagen, abstrakter Moral mit seinem eigenen Vater überwirft, das Angebot, Teilhaber der großen Firma zu werden, ablehnt und eine dürftige Existenz vorzieht, also für sich selbst durchaus die volle Konsequenz zieht - die Familie Ekdal, die junge Familie Ekdal: Hjalmar, Gina, über alles was geschehen ist, aufklärt, und die kleine Hedwig das auch erfährt. Die einzige Konsequenz daraus ist, daß der Hjalmar sich dem jungen Mädchen gegenüber auf-spielt, als ob er, weil sie nicht sein richtiges Kind ist, zu ihr das Vertrauen verloren hätte, ihr nicht mehr glauben würde, daß sie ihn gern hat, und sie also mit moralistischen Vorwür-fen bedenkt, worauf dieses junge Mädchen sich selbst das Le-ben nimmt. Das ist der Inhalt der Handlung. Eine Handlung also, in der, und das muß ich wohl noch hinzufügen, die Fa-milie Ekdal sich in ihrer Lebenslüge - der Ausdruck Lebens-lüge stammt aus diesem Stück, heute ist er ja wohl vergessen, obwohl die Sache so wenig inaktuell ist, wie sie es damals war - ganz wohl gefühlt hat; und die Familie wird, wie ein zynischer Räsoneur in dem Stück, ein verkommener Arzt na-mens Relling, es ausspricht, aller Wahrscheinlichkeit nach, sobald Gras über dem Grab von Hedwig gewachsen ist, auch genauso glücklich und zufrieden in dem Sumpf der mittleren Existenz wieder dahinleben, wie das vorher auch der Fall war.

Meine Damen und Herren, ich möchte von dem einen pro-blematischen Punkt in der ganzen Sache absehen, nämlich davon, daß, nach den Anschauungen der achtziger Jahre, die Tatsache, daß die Gina dieses voreheliche Kind in die Ehe mitgebracht hat - was übrigens vermutlich der Hjalmar auch erraten hat - , die Gewichte im Stück alle etwas anders ver-teilt, während wir darin etwas so Fürchterliches und Schok-kierendes nicht zu sehen vermögen. Das, worauf es in der ganzen Konstruktion ankommt, ist tatsächlich nichts ande-res, als daß die moralische Reinigungsaktion, also der Ver-such eines selber integren Menschen, eben des Gregers Werle, die Verhältnisse zu bereinigen - oder wie man heute

237

Page 119: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

so gern und schön sagt: klare Verhältnisse zu schaffen - , daß die eigentlich zu nichts anderem als Unheil fuhrt; wie es in einem anderen Stück, eben in den »Gespenstern« von Ibsen heißt: »Ja, das Gewissen - das ist manchmal eine eklige Ge-schichte.«228 Wenn man also rein der Forderung des Gewis-sens folgt, dann kann man dabei unter Umständen etwas Gewissenloses tun, nämlich einen übrigens mit unbeschreibli-cher Anmut und Zartheit gestalteten Menschen in Wirklich-keit umbringen. Nun ist Ibsen auch darin ein sehr bedeutender Künstler, daß er nun nicht etwa die Partei des zynischen Rä-soneurs, jenes Relling, selber ergreift, sondern daß er eigent-lich darstellt, daß das Problem der Gesinnungsethik in ihrem Verhältnis zur Verantwortungsethik unlösbar ist. Das heißt, auf der einen Seite sind die Verhältnisse und die Menschen, an die sich der Gregers Werle wendet, tatsächlich abscheulich verlogen, konformistisch und in jeder Weise unerträglich. Auf der anderen Seite aber ist der Versuch, der Moral nun nachzukommen, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern schlägt in sich selber eben in das Unrecht um.

Es steht hinter der Konstruktion bei Ibsen noch ein anderes Moment, wie es in anderen Stücken von ihm viel stärker her-vortritt: nämlich daß die Moral gleichgesetzt wird mit einer gewissen puritanisch protestantischen Enge gegenüber der Weite der bürgerlich befreiten Produktivkräfte von Industrie und Finanzkapital, mit denen offensichtlich - einfach im Sinn des geschichtlich Fortgeschritteneren - Ibsen sympathisiert. Er ist im übrigen in seiner Jugend von der Hegeischen Philo-sophie, die im Norden ja eine große Rolle gespielt hat, nicht unberührt gewesen, und man wird gerade in diesen Momen-ten wohl einen Nachhall seiner hegelianischen Bildung er-blicken dürfen. Was er nun in der »Wildente« tut, ist - ich zitiere dabei einen sehr einsichtigen Satz von Paul Schienther, der über Ibsen überhaupt ungemein klug und verständnisvoll sich geäußert hat - : >daß die Wildente nicht den Widerspruch löst, sondern daß sie statt dessen die Unlösbarkeit des Wider-spruchs selber gestaltet.*229 Nun ist es so, daß der Gregers

130

Werle, also der Mann mit der sittlichen Forderung, durchaus als eine Ressentiment-Figur gestaltet ist, also als ein Mensch, würde man heute sagen, der offensichtlich einen ungelösten Ödipus-Komplex hat, der in heftiger Ranküne gegen seinen zugleich korrupten, aber erfahrenen und in gewisser Weise sehr reifen Vater steht. Zudem ist er ein ungewöhnlich häßli-cher, staksiger, ungeschickter Mensch, der sich selbst als »der Dreizehnte am Tisch«230 empfindet, also durchaus schon einer jenes Typus der Mißratenen, denen, etwa um die gleiche Zeit, zu der »Die Wildente« geschrieben wurde, Nietzsche ja die Vergiftung der Welt durch die Moral aus Ressentiment zugeschrieben hat. Aber - und das ist nun das sehr Großartige an Ibsen - es bleibt nicht bei dieser Negativi-tät der Figur; der Gregers ist außerordentlich gerecht darge-stellt. Trotz dieser ressentimenthaften, und ich möchte fast sagen, antipathischen Züge in der Sphäre des Natürlichen oder in der Sphäre des Charakters, ist es nämlich so, daß er selbst wirklich ein integrer Mensch ist, daß er die Forderun-gen, die er an andere richtet, auch an sich selber richtet, und daß er zu einer jeden Konsequenz bereit ist. Also man könnte sagen, der Widerspruch, den ich Ihnen in diesen Vorlesungen angedeutet habe, der Widerspruch nämlich zwischen der Be-dingtheit des moralisch Handelnden und den Kategorien des Moralischen selbst, der Objektivität, der Verbindlichkeit der moralischen Kategorien selber, der ist noch einmal in der Ge-stalt dieses sehr konkreten Individuums seinerseits gestaltet. Und das Ideal, das er vertritt, ist - und auch das ist nun wirk-lich sehr Kantisch, wenn Sie wollen - einfach das der Wahr-heit, also man könnte sagen, das Ideal der abstrakten Ver-nunft; im übrigen ein Ideal, das bei Ibsen schon insofern sehr in die moralischen Vorstellungen des zeitgenössischen Exi-stentialismus hinüberspielt, als dieser moralische Rigorismus der abstrakten Wahrheit hier eigentlich gar nichts anderes mehr besagt, als daß die Menschen identisch sein sollen mit sich selbst. Wahr sein heißt bei Ibsen schon soviel wie: keine Lebenslüge - sich zu dem stellen, zu dem bekennen, was man

239

Page 120: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ist, mit sich identisch sein. Und in dieser Identität, in dieser, wie soll man sagen, Reduktion der moralischen Forderung auf nichts anderes als auf das bloße Man-selbst-Sein, beginnt natürlich jeder bestimmte Inhalt, wie man nun zu sein habe, zu verschwinden, und man könnte schließlich also nach die-ser Ethik ein richtiger Mann sein, wenn man nur ein richti-ger, das heißt, ein sich selbst bewußter und durchsichtiger Schurke ist. Es wird hier durch die Reduktion des reinen Ver-nunftprinzips auf die bloße Identität gewissermaßen dem Vernunftideal schon dadurch die Quittung erteilt, daß es auf eine Art Relativismus hinausläuft. Aber das ist nun nicht das, was uns hier und in diesem Zusammenhang eigentlich be-schäftigt, sondern das, wovon wir zu reden haben, ist ja nun wirklich das Verhältnis von Gesinnungsethik und Verant-wortungsethik. Man kann hier ganz leicht sagen, daß der Gregers unverantwortlich gehandelt hat; so wie man auch sagen kann, daß dieses verbohrte, eitle Auf-der-Forderung-Bestehen selber, ein psychologisch bedingtes ist; daß er sel-ber, wie Kant sagen würde, in Wahrheit mehr von einer Absicht motiviert war als von jenem Vernunftideal, das ihn seinem eigenen Bewußtsein nach leitet. Und infolgedessen sieht es so aus, als ob das, was hier Ibsen - und darin ist er ganz und gar der Erbe Hegels - gegen den Kant und gegen die reine Gesinnungsethik vertritt, die Ethik der Verantwortung ist, das heißt, eine Ethik, die daraufhinausläuft, daß man bei jedem Schritt, den man tut - bei jedem Schritt, in dem man glaubt, einer Forderung des Guten und Richtigen genügen zu sollen - , gleichzeitig auch bedenkt, welchen Effekt dieser Schritt hat, ob er sich verwirklicht; daß man also nicht aus reiner Gesinnung handelt, sondern daß man dabei das Ziel, die Absicht und schließlich eben doch die Gestaltung der Welt als ein Positives mit hineinnimmt. Und das ist nun das, was in dem Stück von dem Zyniker Relling vertreten wird, der das auch ganz gescheit ausdrückt. Aber die dramatische Gerechtigkeit, und damit, wenn Sie so wollen, das eigentlich dialektische Moment, liegt nun darin, daß bereits in diesem

130 240

Stück diese Verantwortungsethik und die Welt, der sie als eine Art Apologetik zugute kommt, nun ihrerseits auch als etwas so Problematisches, Schlechtes, vor allem als so sehr mit dem Bestehenden Verschworenes dargestellt werden, daß dann ihnen gegenüber der Gregers Werle, der als Reprä-sentant der abstrakten Moralität unrecht hat, zugleich auch wieder recht hat. Kurzum, wenn ich Ihnen sagte, es wird die Unlösbarkeit des Widerspruchs gezeigt, dann bedeutet das, daß hier bereits die Einsicht nicht nur erreicht, sondern mit der äußersten Konkretion gestaltet ist, daß - wenn Sie es mir durchgehen lassen, wenn ich eine alte Formulierung von mir zitiere - >es im falschen Leben eben kein richtiges gibt<231. Ich sagte Ihnen schon, daß dieses Moment, auf das ich sie hinge-wiesen habe, dieses Moment der Kritik an dem scheiternden Gregers Werle - der sagt, das sind seine letzten Worte, er werde nie etwas anderes als >der Dreizehnte bei Tisch< sein -identisch ist mit der Art von Kritik an der Kantischen Moral, die von Hegel gefuhrt worden ist. Die Verantwortungsethik wäre danach eine solche, welche die Rücksicht auf die Folgen einbegreift, beim reinen Willen sich nicht begnügt, ja diesen selbst, so wie Hegel und wie auf der einen Seite auch Ibsen, als Trug entlarvt, als etwas, was sich auf sich selber nun nicht verlassen darf. In der rein auf sich zurückgeworfenen Inner-lichkeit, wie sie dargestellt ist in dem Sonderling Gregers Werle, der irgendwo hoch oben im Norden nun ganz einsam und ganz für sich lebt und brütet, steckt gewissermaßen die ganze unerhellte Realität, sie kehrt in dieser Gestalt wieder. Er ist selber, vermöge eben seines neurotischen Schuldge-fühls als Sohn eines reichen Mannes, in die Welt der Kausali-tät verstrickt, während er genau dieses neurotische Schuldge-fühl verkennt als das absolut Gute. Und Ibsen hat durchaus schon gesehen, daß die Motive, in denen wir glauben, daß das Gute unsere Triebkraft sei, sehr oft selber auch nur etwas wie versteckter Egoismus sind - im übrigen ein Problem, das durchaus in der Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter bei Kant auch schon vor-

Page 121: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

kommt, der einen sehr scharfen Blick dafür hatte, daß sehr oft die Motive, die wir uns selbst als die reinen, also als die des kategorischen Imperativs vorspiegeln, in Wahrheit nur Mo-tive sind, die ihrerseits aus der Empirie stammen und in letz-ter Instanz mit unserem Begehrungsvermögen, also hier mit der Befriedigung unseres, wenn ich so sagen darf, morali-schen Narzißmus eigentlich zusammenhängen. Man darf wohl überhaupt sagen, und soviel ist sicher an dieser Kritik wahr, daß gegenüber Menschen, die sogenannten reinen Willens sind und bei jeder Gelegenheit auf diesen reinen Wil-len sich berufen, eine gewisse Vorsicht angezeigt ist, daß der sogenannte reine Wille fast stets verschwistert ist mit der Be-reitschaft zur Denunziation, mit dem Bedürfnis, andere zu bestrafen und zu verfolgen, kurz, mit der ganzen Problema-tik dessen, was Ihnen ja aus den verschiedenen Typen von Reinigungsaktionen in den totalitären Staaten wohl nur allzu gegenwärtig ist. Das Nichteinbeziehen der Realität verkehrt die Folgen, auf die der reine Wille pocht, und die Kritik, die hier zu üben wäre, ließe höchstens so sich fassen - es ist merk-würdig, daß auch das in der Kantischen Moralphilosophie eigentlich nicht geschieht - , daß, wenn ich schon das Sitten-gesetz mit dem Prinzip der abstrakten Vernunft identifiziere, dann darin die Verpflichtung liegt, so weit zu denken, wie eben ein jegliches Individuum überhaupt nur zu denken ver-mag. Die Forderung, lassen Sie es mich so ausdrücken: daß das sittliche das rein vernunftgemäße Verhalten im Sinn des kategorischen Imperativs sei, ist ja im Grunde dieselbe wie die, überhaupt in seinem ganzen Verhalten die Vernunft wal-ten zu lassen und alles in die Vernunft hineinzunehmen, was ihr überhaupt nur erreichbar ist. Aus den Gründen der inne-ren Widersprüchlichkeit der Kantischen Moralphilosophie, die ich Ihnen sattsam auseinandergesetzt habe, wird aber gerade diese Konsequenz nicht gezogen, sondern in dieser Folgerichtigkeit der Vernunft, darin, daß sie also auch die Folgen selber vernünftig durchdenkt, wird von Kant bereits etwas wie ein Abfall gesehen, und dadurch - so meine ich

130 242

jetzt philosophisch und nicht psychologisch - die ganze Pro-blematik eigentlich beseitigt232, mit der man es im Fall des Gregers Werle zu tun hat. Aber umgekehrt ist es nun so, daß durch die Rücksicht auf die Folgen die Moralphilosophie sich selber in einem gewissen Sinn von dem Objekt abhängig macht; und der Zynismus des alten Werle, ebenso wie jenes Arztes, und die Verkommenheit und Verlogenheit des Hjal-mar Ekdal sind in diesem Stück im Grunde gar nichts anderes als das Einverständnis mit der Welt, so wie sie nun einmal geworden ist. Alles, was diese zynischen Menschen vertre-ten, ist nichts anderes, als daß das Gewordene, die Welt, wie sie sich entwickelt hat, die bestehenden Zustände - sei es auch hier im engsten Sinn der familiären Verhältnisse - gegenüber der abstrakten Vernunft recht haben; und am Schluß des er-sten Aktes nennt der alte Werle seinen Sohn, eben weil er gewissermaßen dieser Realität nicht mächtig ist, einen elen-den und armseligen Tropf und läßt an ihm die ganze Ver-achtung dessen aus, der, selber im Besitz einer sei's auch beschränkten Macht, über die Ohnmacht in jeglicher Er-scheinung sich weit erhaben dünkt.

Die Philosophie hat mit dem Problem, das ich versucht habe, Ihnen hier nun einmal weniger allgemein zu entwik-keln, es an einem Modell, einer Konstruktion aus der Kunst vorzuführen, auf ihre Weise versucht fertig zu werden. Die Hegeische Lehre von der Objektivität der Vernunft, also daß das in einem emphatischen Sinn Wirkliche eben dadurch auch vernünftig sei, ist unter dem etwas engen und speziali-stischen Gesichtspunkt, unter dem wir im Augenblick diese ganze Problematik betrachten, der Versuch, diese Problema-tik aufzulösen. Es ist einfach, das einzusehen. Wenn es näm-lich der Philosophie, wofür Hegel sich stark gemacht hat, tatsächlich gelingen könnte, nachzuweisen, daß in der Positi-vität bestehender Verhältnisse, bis in die äußerste Konkre-tion einer Familie hinein, selber eine Art von Vernunft waltet — und zwar schließlich doch, da es nur eine Vernunft gibt, die gleiche Vernunft, die ich eitel und trügerisch mit der morali-

Page 122: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

sehen Forderung dem Weltlauf entgegenzusetzen wähne dann würde ich, indem ich mich diesem Weltlauf unterwerfe und anpasse, ja damit eben doch nicht gegen die Vernunft selber und gegen den kategorischen Imperativ freveln, son-dern ich würde über die abstrakte Dualität des moralischen Subjekts und der unqualifizierten Objektwelt hinausgelan-gen, und dadurch, daß ich nun die Vernunft im Objekt ebenso ehre, wie ich sie Kant zufolge in mir selbst ehren muß, in einem höheren Sinn der Vernunft mehr Recht widerfahren lassen, als das in der »Kritik der praktischen Vernunft« der Fall ist. - Ich kann Ihnen hier natürlich nicht die Problematik dieser ganzen Hegeischen Theorie von der Vernünftigkeit des Wirklichen aufrollen. Lassen Sie mich nur soviel sagen, daß diese Theorie selbstverständlich auch ihr Wahrheitsmo-ment hat. Sie können sich das vielleicht am einfachsten klar machen, wenn Sie auf den Begriff einer sogenannten Logik der Dinge rekurrieren, also darauf, daß in dem Vollzug ge-schichtlicher Notwendigkeiten bis ins Kleinste hinein selber eine Art von Logik waltet, die keineswegs bloß die der Kau-salität ist, sondern schon so geartet ist, daß man post festum, hinterher, und das ist dabei sehr wesentlich, in jeder Verket-tung, sei es des Politischen und Geschichtlichen, sei es auch des Privaten, immer die Art von Vernunft, das sich Durch-setzen eines selbsterhaltenden, wenn Sie wollen, abstrakten Prinzips gewahren kann, auf das dann die Apologetik sich bezieht. Also der Ausspruch des Franz von Sickingen, der auf seinem Totenbett - er ist bei einer Belagerung tödlich ver-wundet worden - sagt: »Nichts ohne Ursach'«, der bezieht sich keineswegs bloß einfach auf die Universalisierung des Kausalgesetzes, sondern eben doch auf die Vernunft, die >es so gebracht hat<. Man könnte also etwa bei einer Analyse der sämtlichen Charaktere, die in der Handlung der »Wildente« involviert sind, durchaus festhalten, daß aus den Charakte-ren, die alle diese Menschen haben, als ein Sinnvolles und gar nicht anders Mögliches eben jene Konstellation sich entwik-kelt, die dann von dem jungen Gregers Werle — der übrigens

130

gar nicht mehr so jung ist, man muß ihn sich wohl so Ende Dreißig vorstellen - , so heftig attackiert wird. Aber dadurch wird nun das Prinzip des Moralischen selber eigentlich zu einem Prinzip der Anpassung. Und während wir in der deut-schen Tradition nun gewohnt sind — und vielleicht ist das doch auch ganz gut, daß Sie daran einmal denken - , das mo-ralische Prinzip fast selbstverständlich dem Prinzip des kate-gorischen Imperativs, der abstrakten Innerlichkeit, dem Sit-tengesetz gleichzusetzen, gilt etwa in der ganzen westlichen Welt, und zwar vor allem in der angelsächsischen Welt, ich müßte wohl exakt sagen, überhaupt in der angelsächsischen Welt, die Norm der gesellschaftlichen Anpassung fast ge-nauso selbstverständlich als die Norm des Moralischen, wie es bei uns der kategorische Imperativ ist. Es prägt also hier in dem Unterschied der beiden, wenn ich so sagen darf, mo-ralischen Kulturen sich der philosophische Gegensatz, der philosophische Widerspruch aus, den ich versucht habe, von seiner eigentlichen theoretischen Wurzel her Ihnen hier zu entfalten. Infolgedessen läuft dann die ausgeführte Verant-wortungsethik darauf hinaus, daß das, was ist - und was bei Hegel der Weltlauf heißt, den er ja gegen die Eitelkeit der protestierenden Innerlichkeit verteidigt - , gegen das Subjekt jeweils recht hat. Und diese Theorie des Moralischen ist nun tatsächlich die bei Hegel vorwaltende, und sie wird mit der äußersten Konsequenz, und zwar mit einer nun offensicht-lich repressiven und politisch ultrakonservativen Konse-quenz in seiner »Rechtsphilosophie«, so wie ich sie Ihnen eben dargestellt habe, entfaltet. Es folgt daraus nun doch die sehr paradoxe Konsequenz, daß die scheinbar formalistische Ethik Kants dadurch, daß sie im Prinzip ihrer Allgemeinheit über jede bestimmte Gestalt der ihr gegenüberstehenden Welt sich erhebt, der Gesellschaft und den tatsächlichen Ver-hältnissen und auch den beschränkten und endlichen morali-schen Kategorien weit radikaler kritisch gegenübersteht als der inhaltliche Hegel, der in seinen Erwägungen selbst auf die Gesellschaft und damit weiterhin auch auf die Kritik be-

245

Page 123: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

stimmter gesellschaftlicher Gestalten sich einläßt. Roland Pelzer hat in einer bei mir entstandenen, sehr schönen Disser-tation eingehend entwickelt, daß der scheinbare Fortschritt den Hegel über Kant darstellt und seine Kritik an der Kanti-schen Moralphilosophie in Wirklichkeit eben tatsächlich den >powers that be<, der Repression zugute kommt; und er hat gegenüber der Hegeischen Kritik an der Kantischen Moral-philosophie und, wenn man so sagen darf, an Moralphiloso-phie überhaupt, etwas wie eine Metakritik vollzogen, die dann im Zusammenhang des dialektischen Denkens selber so etwas wie eine Rettung der moralischen Norm gegenüber der mit ihr eben nicht identischen, unvereinbaren sozialen Realität darstellt. Die Arbeit wird erscheinen in dem Kemps-kischen »Archiv für Philosophie«;233 ich möchte Sie alle dar-auf aufmerksam machen. Sie setzt eigentlich ihrem Tenor nach genau an der Stelle ein, an der wir hier mit unserer Be-trachtung dieser Zusammenhänge abbrechen müssen. Nun hat das aber eine äußerst radikale Konsequenz. Unterstellt man nämlich, daß wirklich das Objekt Vernunft hat, so gibt es eine Art von Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in einem weit ernsteren Sinn als dem relativ harmlosen der An-tinomie der praktischen Vernunft, die von Kant in der »Kri-tik der praktischen Vernunft« entfaltet ist. Mit anderen Wor-ten also, die sich objektivierende, die in der Welt sich selbst gestaltende Vernunft und die kritische Vernunft, die ihr ge-genübersteht, die sind nicht nur nicht Eines, wie Hegel uns glauben machen möchte, sondern sie sind in ihrer Konse-quenz miteinander überhaupt unvereinbar. Es zeigt sich also in dieser Differenz zwischen der sich objektivierenden und der subjektiv denkenden Vernunft die Fragwürdigkeit der totalen Vernunft überhaupt als eines oder als des moralischen Prinzips. Rein nach Vernunft zu handeln, wäre abstrakte, vom Selbst losgelöste Selbsterhaltung und ginge damit in das Böse über, das der Weltlauf, in dem das Stärkere sich durch-setzt, ist. Es gibt also auch aus diesem Grund kein richtiges Leben im falschen, denn die formale Ethik, das haben Sie

130 246

gesehen, leistet es nicht, aber die Verantwortungsethik oder die Ethik, die sich zediert an das andere, leistet es genauso wenig. Und die Frage, der Moralphilosophie heute eigent-lich gegenübersteht, ist nun, wie sie zu diesem Dilemma sich zu verhalten hat, und darüber möchte ich dann in der näch-sten Stunde noch einiges sagen.

Page 124: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

1 7 - V O R L E S U N G

2 5 . 7. 1 9 6 3

Meine Damen und Herren, ich wollte in dieser letzten Vorlesungsstunde doch noch

einiges sagen über die Formulierung von Moralphilosophie heute, falls so etwas möglich ist angesichts des Satzes, den ich Ihnen in der Diskussion von Gesinnungsethik und Verant-wortungsethik vielleicht ein wenig plausibel gemacht habe: daß nämlich im falschen Leben ein richtiges nicht möglich sei. Eine Einsicht im übrigen, die, wie ich unterdessen, längst nachdem ich sie so formuliert hatte, feststellen konnte, in ähnlicher Weise, wenn auch ganz anders formuliert, bei Nietzsche bereits vorkommt.234 Ich würde zunächst einmal auf die Frage der Möglichkeit von Moralphilosophie heute gar nichts anderes zu sagen haben, als daß ihr Inbegriffeben in dem Versuch bestünde: die Erwägungen selber - für die ich Ihnen wenigstens ein Modell zu erstellen versucht habe -ins Bewußtsein zu erheben, also die Kritik der Moralphiloso-phie, die Kritik ihrer Möglichkeiten, das Bewußtsein ihrer Antinomien ins Bewußtsein aufzunehmen. Ich glaube, mehr kann man anständigerweise nicht versprechen. Man kann vor allem nicht versprechen, daß die Erwägungen, wie sie im Bereich der Moralphilosophie angestellt werden können, ih-rerseits nun einen Kanon des richtigen Lebens entwerfen würden, weil das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt ist, daß im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag - ja, ich möchte fast so weit gehen: daß die Welt so eingerichtet ist, daß selbst noch die einfachste Forderung von Integrität und Anständigkeit eigentlich fast bei einem jeden Menschen überhaupt notwendig zu Protest führen muß. Ich glaube, daß überhaupt erst das Bewußtsein dieser Zwangssituation - und nicht, daß man sie sich verkleistert - die Bedingungen dafür schafft, die Frage, wie man heute nun überhaupt zu leben vermöchte, richtig zu stellen. Das einzige, was man vielleicht

130 248

sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Be-wußtsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde. Eine andere als diese negative An-weisung ist wohl wirklich nicht zu geben. Im übrigen, viel formaler als die Kantische, die wir im Laufe dieses Semesters besprochen haben, wird auch diese negative Formulierung schwerlich sein. Ich meine also dabei die bestimmte Nega-tion des Durchschauten und damit die Kraft des Widerstan-des gegen all das uns Auferlegte, gegen das, was die Welt aus uns gemacht hat und noch in unendlich viel weiterem Maß aus uns machen will. Etwas anderes als die Reflexion darauf bleibt uns nicht, und der Versuch, von vornherein im Be-wußtsein seiner objektiven Ohnmacht dagegen anzugehen; und dieser Widerstand gegen das, was die Welt aus uns ge-macht hat, ist nun beileibe nicht bloß ein Unterschied gegen die äußere Welt, gegenüber der wir uns selbst ins Recht zu setzen hätten - jeder solche Versuch würde das Prinzip des Weltlaufs, das sowieso in uns am Werk ist, nur noch verstär-ken und dadurch dem Schlechten zugute kommen - , sondern dieser Widerstand müßte sich allerdings in uns selber gegen all das erweisen, worin wir dazu tendieren, mitzuspielen. Ich möchte fast sagen, noch der scheinbar harmloseste Kinobe-such, zu dem wir uns verurteilen, müßte dann zumindest mit dem Bewußtsein davon gepaart sein, daß ein solcher Besuch, wenn wir ihn vollziehen, eigentlich bereits ein Stück Verrat an dem ist, was wir erkannt haben, und daß er uns wahr-scheinlich — wenn auch um eine infinitesimale Größe, so doch sicher mit kumulativem Effekt - in eben das nur weiter ver-stricken kann, wozu wir gemacht werden sollen und wozu wir, um überleben zu können, um uns anzupassen, offenbar in immer weiterem Maß auch uns selber machen. Ich meine allerdings, daß es für die gegenwärtige Situation entschei-dend ist, daß dieses Moment des Mitspielens, von dem ich Ihnen gesprochen habe, etwas ist, das von keinem Men-schen, wenn er einfach überleben will, ganz vermieden wer-

Page 125: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

den kann, wenn er nicht wirklich ein Heiliger ist - aber die Existenz eines Heiligen ist heute auch prekär. Wir werden unablässig zu diesem Mitspielen verhalten und, um Gottes Willen, glauben Sie nicht etwa, daß ich, wenn ich Ihnen hier die Norm verkünde, nicht mitzuspielen, dabei dem leisesten Pharisäismus unterliegen würde. Vielleicht ist es allerdings so, daß, wenn dies Mitspielen in die Reflexion selber hinein-genommen wird und wenn wir seine Konsequenzen wissen, daß dann doch alles, was wir tun - was in dem Bewußtsein getan wird, daß es an dem Falschen mithilft-, ein klein wenig anders ist, als es sonst wäre. Aber schon das ist zu eitel, als daß man es sagen dürfte - und ich sage es Ihnen eigentlich mehr, um Ihnen nicht, statt das Brot in den Mund, nur die berühmten Steine an den Kopf zu werfen, als daß ich aus die-ser Reflexion selber nun allzu viel zu machen gedächte. Die-ser Widerstand ist nun, wenn ich ihn anwenden darf auf die Problematik, mit der wir uns hier theoretisch abgegeben ha-ben, auch der gegen den in seiner Bedingtheit durchschauten abstrakten Rigorismus; also es gehört in diese Reflexion, von der ich sagen würde, daß sie die Bedingung dessen ist, was heute ein richtiges Leben etwa vertreten könnte, auch hinein, daß wir uns nicht wie Gregers Werle verhalten. Es steckt darin also auch als ein aufgehobenes Moment die Kritik an der abstrakten Moral genauso wie die Kritik an jenem Zynis-mus drin, den ich Ihnen an den Gegenspielern Relling und dem alten Werle ein bißchen demonstriert habe. Auf der an-deren Seite ist es klar, daß so etwas wie ein richtiges Leben nicht denkbar ist, wenn man nicht zugleich auch an dem Ge-wissen und an der Verantwortung festhält. Man ist also an diesem Punkt selber wirklich und in allem Ernst in einer anti-nomischen Situation. Man muß an dem Normativen, an der Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder Falschen und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit der Instanz fest-halten, die eine solche Art der Selbstkritik sich zutraut. Ich gebrauche hier den Ausdruck Humanität ungern, denn er ge-hört zu den Ausdrücken, die die wichtigsten Sachen, auf die

130 250

es ankäme, dadurch schon, daß sie ausgesprochen werden, dingfest machen und verfälschen. Ich habe den Begründern der Humanistischen Union, als sie mich aufgefordert haben, einzutreten, gesagt: >Ich würde, wenn Ihr Club eine inhu-mane Union hieße, vielleicht bereit sein einzutreten, aber in eine, die sich selbst humanistisch nennt, könnte ich nicht ein-treten.* Wenn ich den Ausdruck hier einmal gebrauchen soll, dann gehört jedenfalls zu einer in sich reflektierten Humani-tät ebenso, daß man sich nicht abbringen läßt, ein Moment von Unbeirrbarkeit, von Festhalten an dem, was man nun einmal glaubt, erfahren zu haben, wie andererseits eben jenes Moment, nicht nur der Selbstkritik, sondern der Kritik an jenem Starren und Unerbittlichen, das in uns sich aufrichten will. Es gehört dazu also vor allem das Bewußtsein der eige-nen Fehlbarkeit, und damit, würde ich sagen, ist doch das Moment der Selbstbesinnung, der Selbstreflexion heute eigentlich zu dem wahren Erbe von dem geworden, was ein-mal moralische Kategorien hießen. Das heißt, soweit es auf der subjektiven Seite heute überhaupt so etwas wie eine Schwelle, wie eine Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leben gibt, ist sie wohl am ehesten darin zu suchen, ob man blind nach außen schlägt - und sich selber und die Gruppe, zu der man gehört, als Positives setzt und das, was anders ist, negiert oder ob man statt dessen in der Reflexion auf die eigene Bedingtheit lernt, auch dem sein Recht zu geben, was anders ist, und zu fühlen, daß das wahre Unrecht eigentlich immer genau an der Stelle sitzt, an der man sich selber blind ins Rechte und das andere ins Unrechte setzt. Dieses Nicht-sich-selber-Setzen - und das geht hinauf bis zu der Todesmetaphysik und dem Trotz der Selbstheit, wie sie etwa in der Heideggerschen Lehre von der Entschlos-senheit noch sich findet235 - , das scheint mir eigentlich das Zentrale, was heute überhaupt von dem einzelnen Menschen zu verlangen ist. Mit anderen Worten, wenn man mich pres-sen würde, nach dem alten antiken Gebrauch die Kardinal-tugend zu nennen, würde ich wahrscheinlich und nun aller-

Page 126: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

dings recht hintersinnig keine andere zu nennen wissen als die Bescheidenheit. Man muß also, wenn ich es noch einmal va-riieren darf, Gewissen haben, darf sich aber auf das Gewissen nicht zurückziehen. Sagt etwa in einem Gremium - nehmen Sie einmal an, in irgendeinem Gremium, dem Sie angehören, und wahrscheinlich gehört ja jeder von Ihnen heute genau wie ich irgendwelchen Gremien an, das gehört ja auch so dazu - heute ein Mensch: >Mein Gewissen verbietet es mir, das und das zu tun<, ja, dann würde ich denken, daß diesem Menschen von vornherein das größte Mißtrauen gebührt. Vor allem aber, daß wir, wenn wir uns gedrängt fühlen zu sagen, daß wir >hier stehen und nicht anders können<, eben gegen uns selbst das äußerste Mißtrauen verdienen, weil in dieser Gebärde genau jenes Sich-selbst-Setzen, Sich-selbst-als-Positivität-Behaupten steckt, in dem sich eigentlich nur das Prinzip dgj Ijielbsterbaktmg kaschiert, aber gleichzeitig so aufspielt, als ob es jenes Moralische wäre, mit dem es ja tat-sächlich — wie ich hoffe, Ihnen in den kritischen Analysen gezeigt zu haben - koinzidiert.

Zum anderen aber heißt natürlich Widerstand auch Wider-stand gegen die konkrete Gestalt der Heteronomie, heute also gegen die ungezählten von außen auferlegten Formen der Moralität. Gerade weil die heute geltende positive Mora-lität des durchsichtigen theoretischen Grundes enträt, und weil ebenso die Beziehung zu der Religion durchgeschnitten ist, aus der sie einmal sich hergeleitet hat, wie auch keinerlei durchsichtige rationale Beziehung zu der Philosophie mehr vorliegt, in der diese moralischen Forderungen einmal ge-golten haben, deshalb nehmen die innerhalb der Gesellschaft allgemeingültigen Formen der Moralität den Charakter des Bösen und des Repressiven an, der überall dort eintritt, wo Begriffe, die eigentlich ausgehöhlt sind, deren Substanz eigentlich gar nicht mehr existiert, trotzdem festgehalten und zu Fetischen werden. Ich glaube, die drastischsten Beispiele dafür liegen heute, ich habe das in einer Arbeit versucht kon-kret zu fassen, die in den »Eingriffen« steht,236 in dem ganzen

130 252

Bereich der Sexualmoral vor, wo ja nun wirklich bei den meisten Menschen die religiöse Vorstellung, die die übliche Sexualmoral trägt, nämlich die vom sakramentalen Charak-ter der Ehe, aufs tiefste erschüttert ist, noch auf der anderen Seite rational und durchsichtig mehr behauptet werden kann, daß der Eros, wie es Kant noch bedünken mochte, die Men-schenwürde im anderen kränkt. Das hat sich als etwas Be-schränktes und als ein Vorurteil erwiesen. Und trotzdem fei-ert gerade heute, wenn ich so sagen darf, eine Sexualmoral, die als ihren eigenen Grund gar nichts mehr anzubieten hat, Orgien, die dann einfach in den Schauern bestehen, die Sie etwa ablesen können an den Worten, mit denen Christine Keeler und ihre Freundinnen bedacht werden,237 aber auch etwa an solchen Kodes, wie dem letzten, der dem >Zweiten Fernsehern von seiner Aufsichtsbehörde gewidmet worden ist und den Sie in der letzten Nummer des »Spiegels« abge-druckt finden können.238 Ein solcher Kode ist deshalb so ver-hängnisvoll, weil er im buchstäblichsten Sinn eigentlich noch einmal den objektiven Geist kodifiziert, also den Inbegriff undurchsichtiger, deshalb aber erst recht unerbittlicher und repressiver Normen, denen die Menschheit heute sich aus-setzt; und wenn irgendwo das Moralische seinen konkreten Ansatzpunkt hat, dann ist es der ganz entschlossene und der ganz kompromißlose Widerstand gegen alle Manifestationen dieses Geistes, die Sie heute finden werden. Ich erinnere hier auch in diesem Zusammenhang etwa an die Parolen, die von der Bewegung moralischer Aufrüstung ausgegeben werden, die neulich mein Freund Habermas in dem »Merkur« einer ebenso bedächtigen wie durchdringenden Kritik unterzogen hat, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte.239 Es ist heute etwas zur Universalität, ich möchte sagen, des objekti-ven Geistes, des kulturellen Bewußtseins geworden, was Nietzsche allzu arglos noch nur den positiven Religionen zu-gesprochen hat, die unterdessen ihre Macht über die Men-schen weitgehend verloren haben. Statt dessen ist diese re-pressive und beschränkende Macht einfach übergegangen an

Page 127: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

die stillschweigende, wortlose, grundlose, aber in dem gan-zen Leben der Gesellschaft gegenwärtige Form des Geistes. Man könnte nämlich sagen, daß heute überall, wo Menschen sich in die Brust werfen - dabei denke ich nicht nur an ein-zelne Menschen, sondern vor allem an das, was geschrieben, was durch die Massenmedien verbreitet, was getönt wird -und sich auf die Idee des Guten berufen, diese Idee des Guten unmittelbar, das heißt, soweit sie nicht der Widerstand gegen das Schlechte ist, immer und ausschließlich gerade das Deck-bild des Schlechten ist. Der Satz von Strindberg: »Wie könnte ich das Gute lieben, wenn ich nicht das Böse hassen würde«240, hat in einem doppelten und sehr verhängnisvollen Sinn seine Wahrheit bekommen. Auf der einen Seite nämlich ist der Haß auf das Böse heute wirklich im Namen des Guten zu etwas Zerstörendem und Destruktivem geworden, auf der anderen Seite ist das Gute, das sich selbst als Positivität aufwirft, anstatt nur das Böse als Index seiner selbst zu sehen, zu dem Bösen geworden. Und das ist heute eigentlich die Gestalt der Ideologie, so wie überall dort, wo moralische Ideologien am Werk sind - ich erinnere dabei besonders an die im Ostbereich herrschende Ideologie - , die Idee von so-genannten positiven, guten, heroischen Leitbildern, auch das Wort ist für die Sphäre sehr zuständig, aufgestellt wird. Nicht umsonst haben bei den Nationalsozialisten die Begriffe der >Reinigung<, der »Wiederherstellung*, der »Erneuerung*, der »Bindungen* eine so entscheidende Rolle gespielt; und dieser ganzen Ideologie ist heute zwar ihr politischer Kopf abgeschlagen worden, sie ist heute nicht mehr unmittelbar gegen Minoritäten gerichtet, aber sie steht doch in jedem Augenblick auf dem Sprung, gegen irgendein Abweichendes sich zu setzen und es so zu zerschmettern. Das Erbe zeigt sich heute vor äffem - darauf darf man wohl auch hinweisen -in Gestalt der zahllosen Richtungen des Antiintellektualis-mus, unter denen nicht die harmloseste die ist, daß der Ge-danke damit sistiert werden soll, daß man ihm unablässig, ohne ihm gleichsam nur die Zeit zu lassen, das zu denken,

130 254

was er denken muß, die Forderung präsentiert: »Ja, was tust du denn? Was geschieht denn? Was habe ich davon? Welchen Hund kannst du mit diesem Gedanken* - um auf einen Satz von Hegel anzuspielen - »hinter dem Ofen hervorlocken?* Das, was an der Kantischen Vernunftethik heute wirklich noch gegenwärtig ist, ist wohl gar nichts anderes als die Kri-tik all dieser Momente.

Der Übergang zu einer solchen Kritik ist nun tatsächlich vollzogen worden von Nietzsche. Und es ist die unver-gleichliche. Bedeutung Nietzsches - die mir weit darüber hin-auszureichen scheint, daß alle möglichen finsteren und reak-tionären Mächte auf gewisse Theoreme von ihm sich berufen haben - , daß er die Denunziation, des Schlechten gerade im Guten und damit auch che Kritik an der Verkörperung des Schlechten in d__ _1L J aftlichen Positivität viel konkreter und vor allem in den Ideologien viel differenzierter durchge-führt hat als etwa die marxistische Theorie, die zwar die Ideo-logien en bloc verdammt hat, die aber in den Mechanismus der Lüge, der Ideologien selber niemals so hineingegangen ist, wie eben Nietzsche es getan hat. Die Schwierigkeit, die hinter all dem steht, ist natürlich die Schwierigkeit der priva-ten Ethik, das heißt, daß das Verhalten des je einzelnen an das objektiv Böse oder Schlechte längst nicht mehr heranreicht. Es ist aber, und bitte verstehen Sie das nicht falsch, wirklich nicht im leisesten meine Absicht, auf Nietzsche herumzuhak-ken, dem ich, wenn ich aufrichtig sein soll, am meisten von allen sogenannten großen Philosophen verdanke - in Wahr-heit vielleicht mehr noch als Hegel. Ich meine aber trotzdem, daß man gerade in einer dialektischen Vorlesung über Moral-philosophie doch auch noch ein paar dialektische Worte über die Nietzschesche Kritik an der Moral schuldig ist. Ich würde gegen Nietzsche immerhin das einwenden, daß er bei der abstrakten Negation jener bürgerlichen Moral oder, lassen Sie es mich so sagen, bei der zur Ideologie, zur Maske vor einem schlechten Betrieb gewordenen Moral stehenge-blieben ist, und daß er nicht selber aus dem Austrag der

Page 128: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

einzelnen moralischen Probleme, denen er gegenüber sich fand, nun zu einer Formulierung der Idee richtigen Lebens kam, sondern, indem er damit nun summarisch verfahren ist, dem seinerseits nun wieder eine positive Moral gegen-übergehalten hat, die eigentlich nichts anderes ist als das bloße negative Spiegelbild der Moral, die er selbst verwor-fen hat. Man kann nicht aus der Einsicht in das Falsche der repressiven Ideologie, wie wir sie ja heute im Zeitalter der Kulturindustrie bis ins Absurde gesteigert finden, nun de-kretorisch das Richtige herauslesen. Die positive MoraLijei Nietzsche, wenn Sie so nennen wollen- er selber würde es nicht Moral genannt haben, ist deshalb unmöglich, weil ihr die Substantialität des objektivenGeistes mangelt; weil, mit anderen Worten, aus dem Stand der Gesellschaft und im tat-sächlich erreichten Stand des Geistes der Gesellschaft die Normen, die Nietzsche ihr entgegengesetzt hat, nicht etwa konkret herausspringen, sondern weil sie ihr von außen ge-genübergehalten werden, so wie es in der Sprache von Nietz-sche zutage kommt, die nicht umsonst in einer jugendstilhaf-ten Weise - in seinem, jedenfalls der Lehre nach, positivsten Hauptwerk, dem »Zarathustra« - eine Art Imitatorik der bi-blischen Sprache ist, bibelaffektiert und doch - unter Anspie-lung auf die Tafeln des Moses - von den neuen Werten, den neuen Tafeln redet, die er aufzurichten gedenke; während ge-nau in diesem Versuch, von einem einzelnen aus, aus subjek-tiver Velleität, neue Normen, neue Gebote aufzurichten, ihre Ohnmacht, will sagen: ihre Willkür und ihre Zufälligkeit, bereits impliziert ist. So sind etwa die Ideale, wenn Sie mir einmal so zu reden gestatten, die ihm vorschweben - wie das von Vornehmheit, von realer Freiheit, von der Noblesse schenkender Tugend, von Distanz, all diese an sich sehr großartigen Normen - , in einer unfreien Gesellschaft über-haupt nicht oder nur am Sonntagnachmittag, das heißt: im Privatleben, zu verwirklichen. Die, die unten sind, die sollen einmal vornehm sein! Nun, Nietzsche würde darüber sich mit der etwas abrupten Gebärde des >justament< hinwegge-

130 256

setzt haben. Aber auch die, die herrschen, sind ja als Verfü-gende über fremde Arbeit in das Unheil viel zu verstrickt, als daß sie diese Vornehmheit sich leisten könnten. Wenn etwa ein großer Unternehmer im Ernst so vornehm wäre - und nicht bloß in einer ästhetischen Geste - , wie Nietzsche es von ihm postuliert, dann würde er unrettbar bankrott gehen. Er wird geradezu von dem Betrieb zur Unvornehmheit verhal-ten. Nietzsches feine Ohren hätten ihn ja darüber belehren können, daß im Begriff der Vornehmheit selber bereits der Makel des Unvornehmen insofern steckt, als der Vornehme eben der ist, der es sich vor den anderen und für sich selber nimmt. Also diese Normen sind in Wirklichkeit alle feudale Normen, die unmittelbar in einer bürgerlichen Gesellschaft gar nicht zu realisieren sind; sie sind bloße Repristinationen, Erneuerungen, ein romantisches Ideal, das unter der Herr-schaft des Profits ganz und gar ohnmächtig ist. Sie kommen aber dieser Herrschaft des Profits zugleich auch zugute, denn der Mensch, der da als der Herrenmensch von Nietzsche ge-feiert wird und dessen Urbild nicht umsonst der wüste und abscheuliche Kondottiere Cesare Borgia gewesen ist, würde heute nichts anderes sein als der >go-getter< oder der Indu-strieritter. Mit anderen Worten, also gerade diese neuen Werte, die dem expansiven Wilhelminischen nachsiebziger Reich sich entgegengestellt haben, sind gegen ihren eigenen Willen, aber objektiv die Ideologie des expansiven Imperia-lismus geblieben. So ist etwa die Parole gegen das Mitleid eine bloß abstrakte Negation der Schopenhauerschen Mit-leidsethik, und die Probe daraufhat das Dritte Reich, haben überhaupt die totalen Staaten in einer Weise gemacht, vor der es Nietzsche mehr geschaudert hätte als jedem anderen. Auf der anderen Seite muß man auch hier sagen, daß die Kritik Nietzsches an der Moral des Mitleids ihr Richtiges hat, weil in dem Begriff des Mitleids ja stillschweigend der negative Zustand der Ohnmacht, in dem der Bemitleidete sich befin-det, aufrechterhalten, sanktioniert wird. Es wird nicht daran gerührt, daß der Zustand geändert werden müßte, in dem es

Page 129: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Mitleid Erregendes gibt, sondern dieser Zustand wird - in-dem er wie bei Schopenhauer selber in die Moral als deren Hauptgrund hineingenommen wird - hypostasiert und als ein ewiger eigentlich hingenommen; so daß man mit Recht sagen kann, daß in dem Mitleid, das man einem Menschen entgegenbringt, immer auch ein Stück Unrecht gegen diesen Menschen enthalten ist, weil er nämlich an dem Mitleid im-mer zugleich auch die Ohnmacht und die Scheinhaftigkeit gerade der mitleidigen Handlung erfährt. Ich glaube, wenn Sie an Ihre eigene einfache Erfahrung denken, wie es Ihnen zumute ist, wenn Sie einem Bettler zwanzig Pfennig schen-ken, dann werden Sie sehr genau bei sich selber finden, was ich dabei meine und was ich eben hier an der Nietzscheschen Kritik festhalten möchte. Auch das zeigt wieder, daß es ein richtiges Verhalten im falschen nicht gibt; sicherlich keines, daß heute nicht mit dem Nietzscheschen Ekel vor der Klein-bürgerlichkeit gesättigt wäre. Es steckt in diesen gewissen Brutalitäten der Nietzscheschen Moralphilosophie, die ich, weiß Gott, nicht verteidigen möchte - ich glaube, nach dem, was Sie gehört haben, wird mich niemand so mißverstehen - , jedenfalls soviel an Wahrheit drin, daß in einer Gesell-schaft, die auf Gewalt und Ausbeutung wesentlich gegründet ist, die unrationalisierte, die sich einbekennende und sich ins Gesicht schauende und, wenn Sie wollen, dadurch »entsüh-nende Gewalt*241 immer noch unschuldiger ist als die, die sich als das Gute rationalisiert. Ganz böse wird die Gewalt erst in dem Augenblick, in dem sie sich selbst als den gladius dei, als das Schwert Gottes mißversteht. Ich mache Sie hier auf die Arbeit »Egoismus und Freiheitsbewegung« von Horkhei-mer aufmerksam, die, ich glaube 1936 oder 1937, in der »Zeitschrift für Sozialforschung« erschienen ist und in der Sie gerade diese Dialektik sehr durchgeführt finden.242 Nietzsche hat verkannt, daß die von ihm kritisierte sogenannte Skla-venmoral in Wahrheit immer Herrenmoral, nämlich die von Herrschaft den Unterdrückten aufgezwungene, gewesen ist. Wäre seine Kritik so konsequent, wie sie sein müßte und wie

130 258

sie es doch nicht ist - weil er eben selber im Bann der beste-henden gesellschaftlichen Verhältnisse steht, weil er bei den Menschen auf den Grund dessen geschaut hat, was sie ge-worden sind, aber nicht der Gesellschaft auf den Grund ge-schaut hat, die sie dazu gemacht hat - , dann müßte diese Kri-tik umschlagen auf die Bedingungen, welche die Menschen determinieren, welche sie, welche einen jeden von uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Wenn Nietzsche etwa für das, was man heute mit einem abscheulichen Schlagwort Massengesellschaft nennt, bereits eine Formel gefunden hat, wie die: »Kein Hirt und Eine Heerde!«243, so ist das in Wirk-lichkeit nicht, wie er gemeint hat, die Denunziation des letz-ten Menschen, sondern es ist die Physiognomik einer völlig funktional und völlig anonym gewordenen Herrschaft, die aber nichtsdestoweniger über dieser Herde noch unver-gleichlich viel brutaler waltet, als wenn ein sichtbarer Leit-hammel da wäre, dem sie nachläuft. An Nachblöken fehlt es ja in dieser hirtenlosen Herde oder vaterlosen Gemeinschaft oder Gesellschaft auch heute nicht. Nietzsche hat geglaubt, daß er durch das Entgegenhalten solcher Werte den soge-nannten Relativismus, wie er ihn in der Moralphilosophie seiner eigenen mittleren Lehre vertreten hat, wie man es heute so abscheulich nennt: überwinden würde. Es ist darauf zu sagen: der Wertbegriff in abstracto (also gesetzte, von ih-rer eigenen dialektischen Entfaltung abgelöste Werte) ist et-was im höchsten Maß Problematisches, ganz genauso wie jener Begriff des Überwindens, der ja heute auch seine ab-scheuliche Rolle spielt, wo die Menschen mit irgendwelchen radikalen Theorien im allgemeinen überhaupt nicht anders fertig werden, als, indem sie, sobald sie sie nur erblicken, sofort sich animiert fühlen, zu sagen: >Ja, aber das muß doch überwunden werden.* Schauen Sie —um ein Beispiel von der moralischen Dialektik zu geben: in dem Augenblick, wo man Ihnen zumutet, daß Sie irgend etwas geistig Unbeque-mes nun sofort überwinden müßten, wenn Sie da innehalten und zunächst einmal der Forderung des Überwindens das Vi-

Page 130: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

sum abverlangen, ich glaube, da tun Sie schon ein Stück rich-tiges Leben im falschen.

Aber ich will noch wenigstens ein paar Worte über den Relativismus sagen. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß ich in dieser Vorlesung mich mit dem berühmten Pro-blem des moralischen Relativismus wenig abgegeben habe. Ich habe das deshalb nicht getan, weil ich es nun wirklich in weitem Maß für das halte, was nun ebenfalls ein sehr viel mißbrauchter Begriff ist, nämlich ein Scheinproblem. Denn die Positivität der heute und hier geltenden Anschauungen, der Ideologien, ist gar nicht relativ. Sie treten uns in jedem Augenblick als ein Verbindliches und Absolutes gegenüber. Und die Kritik an diesem falsch Absoluten - oder wie Hegel, der junge Hegel, es genannt hat: >dem Positiven der gelten-den moralischen Anschauungen*244 - ist viel dringender als die Frage nach irgendwelchen absoluten, im Ewigen festge-machten und wie Heringe von der Decke herunterhängenden Werten, durch die man nun also über diese Relativität hinaus-kommen soll, mit der man ja im Ernst als ein wirklich lebendi-ger, im Versuch anständig zu existieren begriffener Mensch überhaupt gar nichts zu tun hat. Auf der anderen Seite ist aber gerade die Willkür der Satzung und der Werte, die überall dort auftritt, wo Menschen glauben, daß sie den Relativis-mus zu überwinden haben, ihrerseits nun ein Willkürakt, et-was frei Gesetztes, etwas, das Maei und nicht (pvoti ist, und sie verfällt gerade dadurch notwendig immer eben der Relati-vität, die sie selber denunziert. Insofern kann man sagen, wie ich es in einer anderen theoretischen Arbeit versucht habe, genau zu entfalten, in der »Metakritik« nämlich, daß der Be-griff des Relativismus das Korrelat zum Absolutismus ist und das dialektische Denken - wenn ich das richtig weiß, was das überhaupt sein soll - ein Denken wäre, das, Nietzschisch ge-sprochen, jenseits dieser Alternative überhaupt sich be-fände.245 Dagegen führt das Prinzip der bestimmten Nega-tion, so wie Sie es etwa - und ich möchte diesen Namen jetzt doch in den letzten Minuten dieser Vorlesung nennen - in

130 260

dem ungeheueren Gesamtwerk von Karl Kraus verkörpert finden, wirklich über die sogenannte Relativität hinaus. Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunzia-tion des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und ab-strakten Situierung etwa des Seins des Menschen zu suchen ist. Kurz, alle Probleme der Moralphilosophie, die stehen eben, wie ich es sagte, unter der Generalklausel der privaten Ethik, das heißt, sie beziehen sich in Wahrheit auf eine noch individualistische Gesellschaft, wie sie durch die Entwick-lung überholt ist. Diese individualistische Gesellschaft hat in sich selbst nun ihr Beschränktes und Partikulares, das sich an dem sogenannten Grundproblem der Moralphilosophie, nämlich dem der Willensfreiheit, ablesen läßt. Daher ist der höchste Punkt, zu dem die Moralphilosophie, die notwendig eine Lehre von der privaten Ethik ist, überhaupt sich erheben kann, die Antinomie von Kausalität und Freiheit, wie sie in der Kantischen Philosophie unaufgelöst und eben darum so exemplarisch dargestellt worden ist. Was aber bei Kant hier als die Naturverflochtenheit der Menschen erscheint, das ist zugleich auch ihre gesellschaftliche Verflochtenheit. Denn in zweiter Natur, in der universalen Abhängigkeit, in der wir stehen, gibt es keine Freiheit; und es gibt darum in der ver-walteten Welt auch keine Ethik; und deshalb ist die Voraus-setzung der Ethik die Kritik an der verwalteten Welt. Daher verkümmert auch die Instanz des Gewissens in den einzelnen Menschen, sie wird atroph, so wie es die Psychologie - etwa zuletzt mein Freund Mitscherlich in dem Buch über die »va-terlose Gesellschaft* - beobachtet hat,246 und wie sich mir die Veräußerlichung des Über-Ichs der Innerlichkeit des Moral-prinzips gegenüberstellt, wie sie auf der Höhe der Philo-sophie einmal erreicht war. Freiheit wäre, wie Kant sagt, buchstäblich und wahrhaft eine Idee. Sie setzt notwendig die

Page 131: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

Freiheit des Ganzen mit und ist als isolierte, also ohne ge-samtgesellschaftliche Freiheit, nicht einmal möglich zu den-ken. Es ist der Fehler der Ethik, die vielen von Ihnen als avan-ciert begegnet, nämlich der existentialistischen, aus Protest nun gegen die verwaltete Welt, die Spontaneität, das Sub-jekt, soweit es nicht erfaßt ist, zu verabsolutieren, während dann gerade in dieser unreflektierten und vom Objektiven abgelösten Spontaneität die Objektivität so wiederkehrt, wie Sartre schließlich sich doch in den Dienst der kommunisti-schen Ideologie am Ende dann wieder gestellt hat. Das heißt, entweder diese Spontaneität wird, wo sie ernst gemeint ist, eliminiert und unter der großen Tendenz begraben, oder sie fällt selber in die Verwaltung. Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt - man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der rich-tigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen gute Ferien.

262

Anmerkungen des Herausgebers

Page 132: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

ABKÜRZUNGEN

A d o r n o s Schri f ten werden nach den Ausgaben der Gesammelten Schriften (hrsg. von R o l f T iedemann unter M i t w i r k u n g v o n Gretel A d o r n o , Susan B u c k - M o r s s und Klaus Schultz; Frankfurt a . M . 1970fr . ) und der Nachgelassenen Schriften (hrsg. v o m T h e o d o r W. A d o r n o Arch iv ) zitiert, soweit sie dort vorl iegen. Dabe i gelten die A b k ü r z u n g e n :

G S 3: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der A u f k l ä r u n g . Phi losophische Fragmente. 2. A u f l . , 1984

G S 4: M i n i m a Moral ia . R e f l e x i o n e n aus d e m beschädigten Leben. 1980

G S 5: Z u r Metakrit ik der Erkenntnistheorie/Drei Studien zu Hegel . 3. A u f l . , 1990

G S 6: N e g a t i v e Dialekt ik/Jargon der Eigentl ichkeit .

4. A u f l . , 1990 G S 8: Soziologische Schri f ten 1 . 3 . A u f l . , 1990

G S 1 0 2: Kulturkr i t ik und Gesellschaft II: Eingriffe/Stichworte/ Anhang. 1977

G S 1 1 : N o t e n zur Literatur. 3. A u f l . , 1990 G S 15 : Theodor W. Adorno und Hanns Eisler, K o m p o s i t i o n f ü r

den F i lm / Theodor W. Adorno, D e r getreue Korrepet i -tor. 1976

N a S IV/4: Kants »Krit ik der reinen Vernunft« (1959). 1995 N a S I V / 1 5 : Einleitung in die Sozio logie (1968). 1993

Zitate aus unveröffentl ichten Typoskr ipten und Vorlesungen w e r -den mit den Signaturen Ts und Vo in der Z ä h l u n g des T h e o d o r W. A d o r n o A r c h i v s nachgewiesen, Zi tate aus Br ie fen mit A n g a b e des E m p f ä n g e r s und des D a t u m s .

Zitate aus den Werken Kants fo lgen, unter V e r w e n d u n g der Sigle »W«, der Ausgabe :

Immanuel K a n t , Werke in z w ö l f Bänden, hrsg. v o n Wilhelm Wei-schedel, Frankfurt a . M . 1968. (Die Ausgabe ist seitenidentisch mit der erstmals in sechs Bänden erschienenen Ausgabe: K a n t , Werke, Frankfurt a . M . 1 9 5 6 f f . , zugleich: Darmstadt ty^öf f . )

265

Page 133: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

I . VORLESUNG

1 . Gemeint sind die Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in deren Zueignung an M a x Horkhe imer A d o r n o schreibt: Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuel-len Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums gewor-den, die ah Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. ( G S 4, S. 1 3 )

2. Konj iziert f ü r möglichen.

3. Vgi . G S 4, S . 4 3 .

4. In verwandtem Wortlaut konnte dieser Satz bei Nietzsche nicht ermittelt werden. In der 17. Vorlesung v o m 25. Jul i 1963 verweist A d o r n o erneut auf diese Parallele, allerdings mit dem Zusatz , es sei bei Nietzsche ganz anders formuliert (s. S. 248). A d o r n o denkt ver-mutlich an die Stücke I, 33 f. in »Menschliches, Al lzumenschliches« (vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Krit ische Studienaus-gabe, hrsg. von G i o r g i o Col l i und Mazz ino Montinar i , München 1988, B d . 2, S. 52-54).

5. Vgl . in der »Grundlegung zur Metaphys ik der Sitten«: »Es w ä r e hier leicht zu zeigen, w ie sie [seil, die moralische Erkenntnis der ge:ncinen Menschenvernunft] , mit diesem K o m p a s s e in der Hand, 1 1 allen v o r k o m m e n d e n Fällen sehr gut Bescheid wisse , zu unter-scheiden, was gut, was böse, p f l i chtmäßig , oder p f l i chtwidr ig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, w ie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip au fmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft und Phi losophie bedürfe , u m zu wissen, was man zu tun habe, u m ehrlich und gut, j a sogar, u m weise und tugendhaft zu sein.« (W VII , S. 3 1 )

6. Bei Scheler heißt es: »Es ist [ . . . ] innerhalb dieses Gesamtgebietes der Ethik stets scharf zu scheiden: D i e von den sittlichen Subjekten selbst >in A n w e n d u n g und Gebrauch* stehende Ethik [ . . . ] - und die

130 266

G r u p p e n ethischer Grundsätze, die erst durch ein methodisches lo-gisches Verfahren, dem j e n e »angewandte Ethik« wieder zum Stof fe dient, gewonnen werden: D . h . die Ethik der sich in der natürlichen Sprache ausdrückenden natürlich-praktischen Weltanschauung (zu der z . B . die Spr ichwörterweisheit aller Zeiten gehört , desgleichen alle tradierten M a x i m e n usw.) - und die mehr oder weniger wissen-schaftliche, philosophische, theologische Ethik, die j ene angewandte zu »rechtfertigen* und aus höchsten Prinzipien zu >begründen< p f l eg t , wobe i diese »Prinzipien* v o n den Subjekten der angewandten Ethik durchaus nicht gewußt sein müssen.« ( M a x Scheler, D e r Formal is-mus in der Ethik und die materiale Wertethik. N e u e r Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, jetzt: Gesammel te Werke, B d . 2, 4. A u f l . , B e r n 1954, S. 3 2 1 )

7. Vgl . W IV, S. 677, B 8 3 3 / A 805, w o die Frage allerdings i m Sin-

gular steht: »Was soll ich tun?«

8. A u f das Verhältnis v o n theoretischer und praktischer Vernunft

geht A d o r n o in der 3. Vorlesung v o m 14 . M a i 1963 (s. S .43 -47)

näher ein.

9. A d o r n o s Darstel lung v o n Fichtes Beitrag zur Moralphi losophie fäl l t unterschiedlich aus. D i e ältere Vorlesung über Probleme der Mo-ralphilosophie von 1956/57 geht von Fichtes Versuch aus, die theoreti-sche und praktische Vernunft [Kants] miteinander zu verschmelzen. Dabei erhält die praktische Vernunft den Vorrang. Es ist erst heute zu erken-nen, daß in dieser Fortbildung des Kantischen Gedankens durch Fichte ein wesentliches Element von Wahrheit enthalten ist: Heute ist ein menschen-würdiges Verhalten ein solches, das sich nicht von dem Auswendigen blind abhängig macht, das nicht konkretistisch ist, das nicht von den Dingen die Erfüllung seiner Existenz erwartet, dem das Bewußtsein des Menschlichen auch in einer überwältigenden Dingwelt innewohnt. (Vorlesung v o m 20. N o v e m b e r 1956, Vo 1 3 1 0 ; vg l . auch die 1 1 . Vor lesung v o m 4. Juli 1963, S . 1 7 1 )

10. A d o r n o s Vortrag auf der Ber l iner Tagung der Deutschen Gesel l -

schaft f ü r Soziologie v o m M a i 1959; jetzt G S 8, S. 9 3 - 1 2 1 .

1 1 . A d o r n o bezieht sich auf den Text »Fragwürdige Erkenntnis«, in

dem G o l o M a n n auf einen Vortrag v o n Rene K ö n i g replizierte, den

Page 134: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

dieser i960 unter dem Titel »Zur Soziologie der zwanziger Jahre« in München gehalten hatte: »Bloßes Erkennen, die Bestrebung, nur zu erkennen, würde mich nie befriedigen. Wir f inden das heute noch bei jenen, die Herr K ö n i g revenants genannt hat, weil sie mit ihrer B i ldung aus dieser Zei t stammen. N e h m e n wir den erwähnten Theodor W. Adorno mit seinen Analysen, die nur fragen, was ist, was ist Halbbildung, was ist die Theorie der Halbbildung heute? Meine Antwort wäre: Ich kann damit nichts anfangen. Ich wil l w i s -sen, wie können w i r uns überwinden, wie können w i r den Leuten helfen?« (Golo Mann, Fragwürdige Erkenntnis, in: Wissen und Le-ben. Hauszeitschrift des W. K o h l h a m m e r Verlages, Stuttgart i960, Heft 1 5 , S. 1 3 ) - Adorno äußerte sich zu M a n n auch in einem Br ie f an Franz B ö h m v o m 15 . Jul i 1963, dem er Exzerpte aus einem A u f -satz Manns »Über Antisemitismus« (in: Geschichte und Geschich-ten, Frankfurt a . M . 1 9 6 1 , S. 169-201 ) beifugte: Hier schicke ich Ihnen, wie vereinbart, die Stellen aus den Werken von Golo Mann. Selbstver-ständlich belasten ihn die über die judenfreie Bonner Republik mehr als die Beschimpfungen, die er gegen mich richtet und deren Substanz den Vorwurf bildet, daß ein Theoretiker ein Theoretiker ist. Betonen möchte ich, daß es bei diesen Dingen nicht sich um meine persönliche Empfindlichkeit handelt sondern um den unsäglichen Anti-Intellektualismus, der sich da bekundet.

12 . Z u diesem B e g r i f f notiert Adorno in den handschriftlichen Stichworten: fe ungewisser die Praxis, desto heftiger danach gegriffen. Die immer wiederkehrende Klage: was sollen wir aber tun. DerJoiner with a cause. (Vo 8799)

13 . Be i Fichte wörtl ich nicht ermittelt; möglicherweise eine K o n -traktion von Fichtes moralphilosophischer Position mit Friedrich Theodor Vischers Satz: »Das Moralische versteht sich immer von selbst«, in: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Stuttgart 1879, jetzt mit einem N a c h w o r t von Otto Borst , Frankfurt a . M . 1987, S. 25.

14. Adorno spielt hier auf Freuds Formel der Kulturarbeit an: »Wo Es war, soll Ich werden« (Sigmund Freud, Neue Vorlesungen zur E infuhrung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt a . M . 1982, B d . I, S. 516). Vgl. zur Konzeption der Mora l auch: »Das Ich und das Es«: »Vom Standpunkt der Triebeinschrän-

130

kung, der Moralität, kann man sagen: Das Es ist ganz unmoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann h y p e r m o -ralisch und dann so grausam werden wie nur das Es.« ( A . a . O . , B d . III, S. 320)

15 . Diese Überlegungen prägen Adornos spätere Krit ik an der Stu-dentenbewegung, vgl . Marginalien zu Theorie und Praxis, in: G S 10-2, S. 759-782 und Resignation, a. a. O . , S. 794-799.

16. S. die 15 . Vorlesung v o m 18. Juli und die 16. Vorlesung v o m 23. Jul i 1963.

17. In der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie im W S 1956/57 hat Adorno den N a m e n im selben Zusammenhang noch genannt (vgl. Vo 1307), und er notiert ihn auch in den handschriftlichen N o -tizen zur 1 . Vorlesung v o m 7. M a i 1963 (vgl. Vo 8799). Es handelt sich u m den Rechtsanwalt und späteren Richter am Bundesverfas-sungsgericht Fabian von Schlabrendorff ( 1907-1980), der O r d o n -nanzoffizier beim C h e f des Stabes der II. A r m e e war und auf Grund seiner Zugehörigkeit zur B e w e g u n g des 20. Jul i im August 1944 verhaftet, im März 1945 aber freigesprochen wurde .

18. Adorno bezieht sich wahrscheinlich auf eine von Gustav Schwab überlieferte lakonische Sentenz Hölderlins, die sich im B d . 4.1 der Großen Stuttgarter Hölderl in-Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beiß-ner, Stuttgart 1 9 6 1 , f indet: »Daß der Mensch in der Welt eine höhere moralische Geltenheit hat, ist durch Behauptenheiten der Moralität anerkennbar und aus vielem sichtbar.« ( A . a . O . , S .293) Vgl. zur Entwicklung von Hölderlins Moral -Kr i t ik vor allem den Br ie f an seinen Halbbruder Kar l Gock v o m 1 . Januar 1799 ( B d . 6 . 1 , a . a . O . 1954, S. 326-332) und: E n t w ü r f e zur Poetik. Frankfurter Hölderl in-Ausgabe B d . 14, hrsg. von Wolfram Groddeck und Dietrich E . Satt-ler, Frankfurt a . M . 1979, S. 48.

19. In Adornos älterer Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie heißt es: Der Begriff der Ethik ist viel beliebter als Moralphilosophie. Er klingt nicht so rigoristisch, scheint einen höheren, humaneren Sinn zu ha-ben, er soll nicht einfach die Handlungen der Menschen der Zufälligkeit überlassen, sondern verspricht so etwas wie eine bestimmte Sphäre der All-gemeinheit, an der sich das Verhalten der Menschen messen läßt. Ethik ist

269

Page 135: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

das schlechte Gewissen, das Gewissen über sich selber. Es ist der Versuch, über Gewissen zu reden, ohne an dessen Zwang zu appellieren. (Vorle-sung v o m 8. N o v e m b e r 1956 , V o 1295)

19a. Vgl. Heraklit , Fragment 1 1 9 .

2 . VORLESUNG

20. A d o r n o s Referat weicht von Büchners Text ab, ohne daß die These v o m tautologischen Charakter der Moral i tät des Haupt-manns zu modi f iz ieren wäre . Ausgangspunkt der moralischen Z u -rechtweisung Woyzecks durch den Hauptmann ist die Hast, mit der er seiner Frisiertätigkeit nachgeht: »Er sieht i m m e r so verhetzt aus! E in guter Mensch tut das nicht«. Daß der Hauptmann ihm suggerieren kann: der Wind k ä m e aus » S ü d - N o r d « , ist dann der Anlaß zu einem zweiten V o r w u r f : »Er ist d u m m , ganz abscheulich d u m m ! « und der widersprüchl ichen Vorstellung: »Woyzeck, E r ist ein guter M e n s c h - aber [ . . . ] Woyzeck, E r hat keine Mora l ! Mora l , das ist, wenn man moral isch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. E r hat ein K i n d , ohne den Segen der Kirche [ . . . ] .« (Georg B ü c h -ner, Woyzeck, hrsg. v. Ot to C . A . zur Nedden , Stuttgart 1993, S. 4)

2 1 . D e r dritte Teil von Nietzsches » Z u r Genealogie der Mora l« the-matisiert die »asketischen Ideale« der Philosophie. (Vgl. Sämtliche Werke B d . 5, a . a . O . , S . 3 3 9 f f . )

22. Im Jargon der Eigentlichkeit kritisiert A d o r n o diese Identif ikation von >Sein< und »Persönlichkeit* als K e r n der Phi losophie Heideggers (vgl. G S 6, S. 488-490).

23 . Vgl . W VII , S. 209f . D i e Schri ft »Die Rel igion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« def iniert »Persönlichkeit« >als E lement der B e s t i m m u n g des Menschen*: »als eines vernünft igen und zu-gleich der Zurechnung fähigen Wesens.« (W VIII , S. 673)

24. Vgl . zu diesem Z u s a m m e n h a n g Fichte, E in ige Vorlesungen über die B e s t i m m u n g des Gelehrten, Fünfte Vorlesung. P r ü f u n g der Rousseauschen Behauptungen über den E in f luss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit , in: Johann Gott l ieb Fichte, Sämmtl iche Werke, hrsg. von I . H . Fichte, Werke B d . 6:

130 270

Dritte Abthei lung. Populärphilosophische Schriften, Erster Band: Z u r Politik und M o r a l , Leipzig o . J . , S. 335-346.

25. So tituliert Nietzsche Schiller als einen seiner »Unmögl ichen« in den »Streifzügen eines Unzei tgemäßen« aus der » G ö t z e n d ä m m e -rung« (vgl. Sämtliche Werke B d . 6, a. a. O . , S. 1 1 7 ) .

26. G e o r g Wilhelm Friedrich Hegel , Werke. A u f der Grundlage der Werke von 1 8 3 2 - 1 8 4 5 neu edierte Ausgabe , Redaktion E v a M o l d e n -hauer und K a r l M a r k u s Michel , B d . 7: Grundlinien der Phi losophie des Rechts, Frankfurt a . M . 1969, S. 28.

27. D i e Vorlesung aus dem W S 1956/57 geht auf die Sokratische und Platonische Mora lphi losophie v o m 1 1 . D e z e m b e r 1956 bis zum 10 . Januar 1 9 5 7 ausführl ich ein. Für A d o r n o prägt - in Anschluß an H e -gel und Nietzsche - das griechische Denken seit der Sophistik eine grundsätzlich praktische Richtung und die Reflexion auf das Subjekt (vgl. Vo 1345) . Wie die Platonische so rührt eine jede moralische Ideenlehre [. . .] eigentlich daher, daß im Sinne der subjektiven Vernunft - der wie immer auch weitherzigen und auf die Gattung bezogenen Vernunft, der Erfüllung der Begierden und Bedürfnisse des je Einzelnen - die Gleichung zwischen der momentanen Versagung und der zukünftigen Erfüllung nicht aufgeht. In diesem Sinn ist die objektive Vernunft der Moral ein aporeti-scher Begriff. Die Platonische ist damit eigentlich das Schema aller späteren Moralphilosophie. (Vo 1 3 7 3 f.) Vgl . z u m »restaurativen Charakter* und z u m Streit mit den Sophisten die Vorlesung v o m 10. Januar 1957 : In der starren Antithese der intelligiblen und der empirischen Welt [. . .] steckt selber immer zugleich auch ein Stück Resignation und Konfor-mismus drin. Man läßt gewissermaßen Gott einen guten Mann sein oder die Ideen in ihrem Ideenhimmel hängen. Denn es besteht für ein solches Denken immer zugleich auch die Frage, wie - einfach ausgedrückt - die Idee wirk-lich werden kann. (Vo i 3 8 9 f . )

28. Scheler, a. a. O . , S. 3 2 1 . Vgl . zu Steinthal ebd., A n m . 2.

29. Vgl . Wil l iam G r a h a m Sumner , Fo lkways . A Study on the Soc io-logical Importance o f Usages , Manners , C u s t o m s , M o r e s and M o -rals, B o s t o n 1906. Vgl . auch A d o r n o s Einleitung in die Soziologie, N a S I V / 1 5 , S . 6 5 .

Page 136: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

30. Vgl . ebd. f.; E m i l e D ü r k h e i m s Bei t räge zur Theor ie des Mora l i -schen sind in dem S a m m e l b a n d »Soziologie und Phi losophie«, Frankfurt a . M . 1967, zusammengefaßt , zu dem A d o r n o eine Einlei-tung geschrieben hat (jetzt: G S 8, S. 245-279).

3 1 . Vgl . W VII , S .80 .

3 . VORLESUNG

32. D e r Arz t Paul Lüth ( 1 9 2 1 - 1 9 8 6 ) schildert in »Nächte in A l e x a n -dria. R o m a n einer Ägyptenre ise« , Düsse ldor f , K ö l n 1963 , S. 2 1 5 bis 2 1 8 einen Besuch der Vorlesung Philosophische Terminologie im W S 1962/63. Lüth schreibt dazu a m 1 3 . M a i 1963 an A d o r n o , der R o m a n versuche »Denken und Fühlen heute studierender J u g e n d >abzubil-den<.« A d o r n o antwortet Lüth a m 20. M a i 1963: Ich habe in der Vorle-sung, die sich unmittelbar an meine Lektüre anschloß, Gelegenheit genom-men, auf das von Ihnen Gesagte Bezug zu nehmen und den Studenten einiges über das Problem des nicht mitschreiben Könnens und ähnliches zu sagen, und ich glaube, daß es eine recht gute Wirkung auf das Auditorium hatte. Sie sehen also, was bei Ihnen aus der Empirie kommt, hat rasch zur Empirie zurückgefunden.

33. Vgl . Kant , Nachr icht v o n der Einr ichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1 7 6 5 - 1 7 6 6 , in: W II, S .908 , sowie W I V , S .699 , B 865/A 837.

34. A d o r n o bezieht sich noch einmal auf den R o m a n v o n Lüth (s. A n m . 32), der das studentische >Getuschel< vor der Vorlesung er-wähnt (vgl. a . a . O . , S. 2 i 5 f . ) und d e m eine >trübe< B e s t i m m u n g von Dialekt ik entgegensetzt: »Dunkelheit und Verschlossenheit des A n f a n g s , daraus das S t römen und Widerspiegeln, die Dialektik der Gegensätze, die endliche A u f l ö s u n g der Widersprüche in einem neuen A b g r u n d , der nächtlich a u f n i m m t und wieder A n f a n g ist« (S. 2 1 7 ) . Lüth hat sich zur Vorlesung über Philosophische Terminolo-gie abschließend geäußert in: B r i e f aus einer Landpraxis , in: T h e o d o r W. A d o r n o z u m Gedächtnis . E ine S a m m l u n g , hrsg. v o n Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a . M . 1 9 7 1 , S. 1 1 6 - 1 2 3 .

130 272

35. Wörtl ich nicht ermittelt; A d o r n o w i r d an fo lgende Formul ie-rung aus der »Götzendämmerung« gedacht haben: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. D e r Wille zum Sys tem ist ein M a n g e l an Rechtschaffenheit .« (Nietzsche, Sämtliche Werke B d . 6 , a . a . O . , S . 6 3 )

36. Vg l . M a x Horkheimer , Fragen des Hochschulunterrichtes, in:

Gesammel te Schriften B d . 8: Vorträge und Aufze ichnungen 1949

bis 1973 , hrsg . von Gunzel in Schmid Noerr , Frankfurt a . M . 1985,

S- 393-

37. Vgl . Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Pra-

xis, in: G S 1 5 , S. 1 9 2 f .

38. Vergi l , Georg ica IV, 176 .

39. Vgl . den ersten Abschnitt des (Kanons der reinen Vernunft<,

W IV, S. 6 7 1 - 6 7 6 , B 825 -832/A 797-804.

40. Vgl . ebd. und die Vorlesung zu Kants >Kritik der reinen Vernunft<

v o m 14 . M a i 1959, N a S IV/4 , S. 27-29.

4 1 . Hans Cornel ius , K o m m e n t a r zu Kants Kr i t ik der reinen Ver-

nunft , Er langen 1926, S. 1 2 5 .

42. W I V , S. 4 1 0 , B 448 f . /A 4 2 1 .

43. W III, S. 104, B 86/A 6 1 . D e n notwendigen Scheincharakter der Dialektik - auf den es A d o r n o a n k o m m t - thematisiert die Einlei-tung der (Transzendentalen Dialektik<, die v o n einer »natürlichen und unvermeidl ichen Illusion« spricht (W III, S. 3 1 1 , B 3 5 4 / A 298). S. auch die 5. Vorlesung v o m 28. M a i 1963 und die A n m . 73 .

44. D i e Einschätzung des dialektischen Konzeptes v o n K a n t fäl l t bei A d o r n o unterschiedlich aus. In der Vorlesung v o m 12 . Februar 1 9 5 7 kennzeichnet er die A n t i n o m i k als M o d e l l dialektischer L o g i k : Dia-lektik wird hier nicht gewissermaßen als ein Schema der philosophischen Behandlung vorausgesetzt, sondern geht unmittelbar phänomenologisch in der Sache auf, weil die Kantische Analyse daraufführt, daß ein Begriff in seiner eigenen Konsequenz, um gelten zu können, seines eigenen Gegen-

Page 137: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

teils bedarf. (Vo 1 4 7 1 ) D e r Abschnitt Scheinproblem aus der Negativen Dialektik stellt die bei K a n t sich widersprechenden Konzept ionen v o n Dialekt ik in ein kritisches Verhältnis: Zu reflektieren wäre über die in Rede stehenden Gegenstände nicht derart, daß man über sie als ein Seiendes oder ein Nichtseiendes urteilt, sondern indem man die Unmög-lichkeit, sie dingfest zu machen, ebenso wie die Nötigung, sie zu denken, in ihre eigene Bestimmung hineinnimmt. Im Antinomiekapitel der Kritik der reinen und in großen Partien der Kritik der praktischen Vernunft ist das, mit ausdrücklicher Absicht oder ohne sie, versucht [. ..]. ( G S 6, S . 2 I l f . )

45- W IV, S. 4 1 2 , B 4 5 i f . / A 424.

4 . VORLESUNG

46. Vgl . W III, S. 340, B 398/A 340.

47. S. die 3. Vorlesung v o m 14. M a i 1963 und den N a c h w e i s in A n m . 42.

48. D e r B e g r i f f der »Spontaneität« w i r d v o n K a n t e ingeführt als »das Vermögen« »die Rezeptivität der Eindrücke« begr i f f l i ch zu vergegenständlichen (W III, S. 97, B 7 4 / A 50). In der zweiten A u f -lage präzisiert er: »Diejenige Vorstel lung, die v o r allem Denken g e -geben sein kann, heißt Anschauung. A l s o hat alles Mannig fa l t ige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in d e m -selben Subjekt , darin dieses Mannig fa l t ige angetrof fen wird . Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehör ig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, u m sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, wei l sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was , indem es die Vorstel lung Ich denke hervorbringt , die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtse in ein und das-selbe ist, v o n keiner weiter begleitet werden kann. Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Se lbstbewußt-seins, u m die Mögl ichke i t der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeich-nen.« (W III, S. 1 36 , B 1 3 2 ) D i e Thesis der dritten Ant inomie , u m die es A d o r n o hier geht, bezeichnet die »transzendentale Freiheit« als »eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe v o n Erscheinun-

130 274

gen, die nach Gesetzen läuft , von selbst anzufangen, [ . . . ] . « (W IV,

S. 428, B 474/A 446)

49. W IV, S. 426/428, B 4 7 2 / A 444.

50. W IV, S. 428, B 4 7 2 / A 444.

5 1 . E b d .

52. E b d .

53. E b d . , B 472-474/A 444-446.

54. E b d . , B 474/A 446.

55. Vgl . die »zweite Ana log ie der Erfahrung*, W III, S. 226-242, B 2 3 2 - 2 5 6 / A 1 8 9 - 2 1 1 .

56. W IV, S. 428, B 474/A 446.

57. E b d .

58. E b d .

59. A n einer späteren Stelle bei K a n t heißt es zu diesem Problem: »Dieses handelnde Subjekt w ü r d e nun, nach seinem intelligibelen Charakter, unter keinen Ze i tbedingungen stehen [ . . . ] . M i t einem Worte, die Kausalität desselben, so fern sie intellektuell ist, stände gar nicht in der Reihe empirischer Bed ingungen , welche die B e g e -benheiten in der Sinnenwelt notwendig machen. Dieser intelligibele Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil w i r nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint, aber er w ü r d e doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen [ . . . ] . « (W IV, S. 493, B S 6 7 U A 539f .)

60. » -gäng ig empirisch best immt« konjiziert. D i e Vor lage markiert eine Auslassung: durch . . . ist.

6 1 . Vgl . W IV, S. 623-626, B 7 5 5 - 7 6 0 / A 727-732 .

Page 138: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

62. S. die N a c h w e i s e in A n m . 48.

63. W IV, S. 427, B 4 7 3 / A 445.

64. W IV, S. 429, B 4 7 3 / A 445.

65. E b d .

66. E b d .

67. E b d . , B 4 7 3 - 4 7 5 / A 445-447-

68. Vgl . bei Aristoteles, Metaphysica , XI I ,8 . 1073 a; D e A n i m a , I I I , io . 4 3 3 b ; Physica, VII I ,5 . 2 5 6 b , 1 3 - 2 5 .

69. W IV, S. 429, B 4 7 5 / A 447.

70. W IV, S. 429/43 1 , B 4 7 5 / A 447.

5 . VORLESUNG

7 1 . D i e Vorlesungen a m 2 1 . M a i und a m 23. M a i 1963 f ie len wegen einer E r k r a n k u n g A d o r n o s aus.

72. A d o r n o spielt auf J o a c h i m Schumacher, D i e A n g s t vor dem Chaos . Ü b e r die falsche A p o k a l y p s e des B ü r g e r t u m s , Paris 1937, 2. A u f l . , Frankfurt a . M . 1978, an.

73. Kants » A u f l ö s u n g der kosmologischen Ideen« versteht die N o t -wendigkei t der Ant inomien als eine des Scheins und nicht als eine der Sachen selbst (vgl. W IV, S. 488-506, B 560-586/A 532-558). A u f diesen Aspekt geht A d o r n o in der Negativen Dialektik ein: Kant hat die transzendentale Dialektik eine Logik des Scheins genannt: die Lehre von den Widersprüchen, in die jegliche Behandlung von Transzendentem als einem positiv Erkennbaren zwangsläufig sich verwickle. Sein Verdikt ist nicht überholt von Hegels Anstrengung, die Logik des Scheins als die der Wahrheit zu vindizieren. Aber mit dem Verdikt über den Schein bricht die Reflexion nicht ab. Seiner selbst bewußt, ist er nicht mehr der alte. Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch, wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger. Daher hat die Rettung des

2 7 6

Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Re-levanz. (GS 6, S. 385 f . )

74. Vgl . zur Unterscheidung des Posi t iv ismus v o n K a n t A d o r n o s Zur Logik der Sozialwissenschaften: Was er [seil. Kant] gegen wissen-schaftliche Urteile über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vorbrachte, op-ponierte einem Zustand, in dem man diese Ideen, nachdem sie ihre theologi-sche Verbindlichkeit eingebüßt hatten, durch Subreption für die Rationalität zu erretten trachtete, fener Kantische Terminus, Erschleichung, trifft im Denkfehler die apologetische Lüge. Kritizismus war militante Aufklärung. Kritische Gesinnung jedoch, welche vor der Realität haltmacht und sich bei der Arbeit an sich selbst bescheidet, wäre als Aufklärung demgegenüber schwerlich fortgeschritten. ( G S 8, S. 557) In der Negativen Dialektik heißt es hierzu: Antipositivistisch war Kants Geständnis, daß die Ver-nunft notwendig in jene Antinomien sich verwickle, die er dann mit Ver-nunft auflöst. Dennoch verschmäht er nicht den positivistischen Trost, daß man in dem schmalen Bereich, den die Kritik des Vermögens der Vernunft dieser übriglasse, sich einrichten könne, zufrieden mit dem festen Boden unter den Füßen. Er stimmt ein in die eminent bürgerliche Bejahung der eigenen Enge. (GS 6, S. 375)

75. A d o r n o bezieht sich auf das Kapitel »Von dem letzten Z w e c k e des reinen Gebrauchs unserer Vernunft« aus der >Methodenlehre< (W IV, S. 67 1 -676 , B 8 2 5 - 8 3 2 / A 797-804), das er in der 6. Vorlesung v o m 30. M a i 1963 ausfuhrl ich behandelt.

76. B e i K a n t heißt es wört l ich: »Der logische Schein, der in der b lo-ßen N a c h a h m u n g der V e r n u n f t f o r m besteht (der Schein der T r u g -schlüsse), entspringt lediglich aus einem M a n g e l der Achtsamkeit auf die logische Regel .« (W III, S. 3 1 0 , B 3 5 3 / A 296)

77. Vgl . zu Hegels Interpretation der Kantischen A n t i n o m i k in der »Wissenschaft der L o g i k « , Werke B d . 5, a. a. O . , S. 2 1 7 u. 2 7 5 f .

78. Vgl . zu Kants Einschätzung des Satzes v o m Widerspruch W III, S. 196, B 1 9 0 / A 1 5 1 , s o w i e zur Entgegenstel lung v o n K a n t und He-gel A d o r n o s Drei Studien zu Hegel: Bei diesem [seil. Kant] hatte Philo-sophie Kritik der Vernunft betrieben; ein gewissermaßen naives wissen-schaftliches Bewußtsein, Feststellung nach Regeln der Logik, in heutigem Sprachgebrauch »Phänomenologie« war auf das Bewußtsein als Bedingung

277

Page 139: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

der Erkenntnis angewandt worden. Das von Kant nicht bedachte Verhältnis zwischen beiden, dem philosophischen, kritisierenden Bewußtsein und dem kritisierten, unmittelbar Gegenstände erkennenden nun wird bei Hegel selbst thematisch, reflektiert. Dabei wird das Bewußtsein als Objekt, als philosophisch zu erfassendes, zu jenem Endlichen, Begrenzten und Unzu-länglichen, als das es tendenziell schon bei Kant konzipiert war, der dem Bewußtsein um solcher Endlichkeit willen verwehrte, in intelligible Welten auszuschweifen. (GS B d . 5, S. 3 10)

79. In der Vorlage heißt es: ein zweites Freien gesucht.

80. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno: Die Begründung der Thesis der dritten Antinomie, der von der absoluten Spontaneität der Ursa-che, Säkularisierung des freien göttlichen Schöpfungsaktes, ist Cartesiani-schen Stils; sie soll gelten, damit der Methode genügt werde. Vollständigkeit der Erkenntnis etabliert sich als erkenntnistheoretisches Kriterium; ohne Freiheit sei »selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig«. (GS 6, S. 247; das Kant-Zitat W IV, S. 428, B 474/A 446)

81 . Vgl. bei Kant: »Die Bestätigung von dem Bedürfnis der Ver-nunft, in der Reihe der Naturursachen sich auf einen ersten Anfang aus Freiheit zu berufen, leuchtet daran sehr klar in die Augen: daß (die epikurische Schule ausgenommen) alle Philosophen des Altertums sich gedrungen sahen, zur Erklärung der Weltbewegungen einen ersten B e w e g e r anzunehmen [ . . . ] .« (W IV, S. 432, B 478/A 450)

82. In den Drei Studien zu Hegel markiert Adorno an diesem M o t i v die Unaufgelöstheit des Widerspruchs in der Hegeischen Dialektik: Recht verstanden, ist die Wahl des Ausgangspunktes, des je Ersten, für die Hegeische Philosophie gleichgültig; sie erkennt ein solches Erstes als festes und im Fortgang des Denkens unverändert sich selbst gleichbleibendes Prin-zip nicht an. [. . .] Aber der Idealismus wird dennoch nicht verlassen. Die absolute Stringenz und Geschlossenheit des Denkverlaufs, die er [seil. He-gel] mit Fichte gegen Kant anstrebt, statuiert als solche bereits die Priorität des Geistes, auch wenn auf jeder Stufe das Subjekt ebenso als Objekt sich bestimmt wie umgekehrt das Objekt als Subjekt. (GS 5, S. 261)

83. Ernst Cassirer, Z u r Einstein'schen Relativitätstheorie. Erkennt-nistheoretische Betrachtungen, Berl in 1920, versteht Kants Philo-

130 278

sophie, anders als Hermann Cohen, nicht als »philosophische Sy -stematik der Newton 'schen Naturwissenschaft« (S. 12), sondern hebt ihren prinzipiell methodischen Charakter, ihren den Dingen gegenüber kritischen >Maßbegriff< heraus, der seinerseits noch der Relativitätstheorie zugrundeliegen soll. (Vgl. S. 7-25) Cassirers »Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Hi -storische und systematische Studien zum Kausalproblem«, Göte-borg 1937, stellt die Bedeutung dieses kritischen Sinns des Kausali-tätsbegriffs fur die moralphilosophische Fragestellung im Sinne von Kants Antinomienlehre heraus: »Wenn man den >Determinismus< im metaphysischen, statt im kritischen Sinne versteht, [ . . . ] hört die Kausalität auf, ein Prinzip der physikalischen Erkenntnis zu sein; [ . . . ] sie w i rd ein metaphysisches Fatum«. (S. 260) Beide Schriften jetzt in: Cassirer, Z u r modernen Physik, Darmstadt 1957.

84. S. die 4. Vorlesung v o m 16. M a i 1963 und den Nachweis in der A n m . 50.

85. Vgl. W III, S. 291-299, B 324-336/A 268-280.

86. Vgl. G S 6, S. 262 f.

87. Anders als Hume, für den das erkennende Subjekt »nicht anders als so [seil, kausal] verknüpft denken kann« und dem »alle unsere Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile, nichts als lauter Schein« ist, insistiert Kant auf der Notwendigkei t der kausalen Verknüpfung (vgl. W III, S. 159, B 168). In diesem Sinn hebt Adorno Kant später v o m Empir ismus Humes und v o m Positivismus ab; s. die 10. Vorlesung v o m 2. Juli 1963, S. 159.

88. Vgl. Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral , in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Text nach der historisch-kritischen Ausgabe von Arthur Hübscher. Editorische Materialien von Angel ika Hübscher, Redaktion: Claudia Schmöl-ders, Fritz Senn und Gerd Haf fmans , Zürich 1977, B d . 6: Kleinere Schriften II, § 16 (S. 244-251) .

89. Vgl. Adornos Krit ik an der Begründung von Kausalität durch ihre unmittelbare Selbsterfahrung in der Motivation, in: G S 6, S. 266.

Page 140: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

90. Vgl . in der A n m e r k u n g zur Thesis der dritten Ant inomie : »Wir reden hier nicht v o m absolut ersten A n f a n g e der Ze i t nach, sondern der Kausalität nach. Wenn ich jetzt (zum Beispiel) vö l l ig frei , und ohne den notwendig best immenden E i n f l u ß der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so f ä n g t in dieser Begebenheit , [ . . . ] eine neue Reihe schlechthin an [ . . . ] . « (W IV, S. 432 , B 478/A 450)

9 1 . A d o r n o beginnt den Satz zunächst: Und das ganze Freiheitsproblem bei Kant scheint nun, ohne daran grammatikal isch wieder anzuschlie-ßen.

92. Vgl . bei Kant : »So sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus einem empirischen Charakter und den m i t w i r k e n -den anderen Ursachen nach der O r d n u n g der N a t u r best immt, und wenn w i r alle Erscheinungen seiner Wil lkür bis auf den G r u n d er for-schen könnten, so w ü r d e es keine einzige menschliche Handlung geben, die w i r nicht mit Gewißhei t vorhersagen und aus ihren vor -hergehenden B e d i n g u n g e n als notwendig erkennen könnten.« (WIV, S. 500, B 5 7 7 f - / A 549f.)

93. Vgl . Kants Unterscheidung des »empirischen« und des »intelli-gibelen Charakters« (W IV, S . 4 9 3 , B 567/A 539).

94. Vgl . in diesem Sinne die Konzept ion des Kapitels Freiheit in der Negativen Dialektik, dessen Titel zunächst Determinismus (vgl. Ts 1 5 1 3 6 ) lautete: Würde Kausalität als eine - wie immer auch subjektiv vermittelte - Bestimmung der Sachen selbst aufgesucht, so öffnete sich in solcher Spezifikation, gegenüber dem unterschiedslosen Einen reiner Sub-jektivität, die Perspektive von Freiheit. Sie gälte dem von Zwang Unter-schiedenen. Dann wäre der Zwang nicht länger gepriesen als Tathandlung des Subjekts, nicht länger seine Totalität bejaht. Er büßte die apriorische Gewalt ein, die aus dem realen Zwang extrapoliert ward. Je objektiver die Kausalität, desto größer die Möglichkeit von Freiheit; nicht zuletzt darum muß, wer Freiheit will, auf der Notwendigkeit insistieren. (GS 6, S. 247)

6 . VORLESUNG

95. D a s Europa-Gespräch in Wien fand v o m 1 1 . - 1 5 . Juni 1963 unter

dem T h e m a : »Die Europäische Großstadt - Licht und Irrlicht« statt.

130 280

A d o r n o n a h m am 1 1 . Juni an einer Podiumsdiskuss ion zum T h e m a der Veranstaltung teil und hielt am 1 2 . Juni den Vortrag »Laienkunst - organisierte Banausie?«, an den sich eine weitere Diskuss ion an-schloß. Vgl . die Wiedergabe der Gesprächsbeiträge und des i m p r o -visierten Vortrags , in: Wiener Schriften, hrsg. v o m A m t für Kultur , Volksbi ldung und Schulverwaltung der Stadt Wien, H e f t 20: E u -ropa-Gespräch 1963 . D i e Europäische Gross-Stadt . Licht und Irr-licht, Wien 1964, S. 39-7 1 und S. 88-99.

96. D i e Vorlesungstermine v o m 6. Juni und 8. Jun i 1963 f ie len in die

Pf ingst fer ien .

97. A d o r n o hält gegenüber der D o m i n a n z der verstandesgemäßen Naturkausalität Kants Unterscheidung v o n (mathematischer und dynamischer Synthesis< (W IV, S. 486, B 5 5 7 / A 529), nach der »das Durchgängigbedingte der dynamischen Reihen, welches v o n ihnen als Erscheinungen unzertrennlich ist, mit der zwar empir ischunbe-dingten, aber auch nichtsinnlichen B e d i n g u n g verknüpf t , dem Ver-stände einer Seits und der Vernunft anderer Seits G e n ü g e leisten und, [ . . . ] die Vernunftsätze alle beide wahr sein können; [ . . . ] « (W IV, S . 4 8 7 f . , B 5 5 9 f . / A 5 3 1 f.) f ü r zu schwach.

98. Vgl . W IV, S . 6 7 5 , B 830/A 802: »Die praktische Freiheit kann durch E r f a h r u n g bewiesen werden.« Vgl . auch die »Krit ik der prak-tischen Vernunft« (W V I I , S. 108) und den § 9 1 der »Krit ik der U r -teilskraft«: »Was aber sehr m e r k w ü r d i g ist, so f indet sich sogar eine Vernunft idee (die an sich keiner Darstel lung in der Anschauung , mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Mögl ichke i t , f ä h i g ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Real i-tät als einer besonderen A r t von Kausalität [ . . . ] sich durch prakti-sche Gesetze der reinen Vernunft , und, diesen gemäß, in wirkl ichen Handlungen, mithin in der E r f a h r u n g , dartun läßt.« (W X , S. 599)

99. A d o r n o rekapituliert hier den Grundgedanken des zweiten E x -kurses der Dialektik der Aufklärung, zu dem es in der Vorrede heißt: Er [seil. Kant] zeigt, wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objekti-ven, Natürlichen gipfelt. ( G S 3, S. 16)

Page 141: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

100. S. die 4. Vorlesung v o m 16. M a i 1963 und den Nachweis in A n m . 70.

1 0 1 . A d o r n o bezieht sich auf Hölderlins Vorstellung eines »Einen in sich Unterschiedenen« (vgl. Hyperion, 1 . Band, 2. Buch, Große Stuttgarter Hölderl in-Ausgabe B d . 3, a. a. O . 1957, S. 81) die in die Sentenz »Wurzel alles Übels« eingegangen ist: »Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher die Sucht denn / Unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?« ( A . a . O . , Bd . 1 , S. 302) In seinem parallel zur Vorlesung fertiggestellten, am 7. Juni 1963 in Berl in ge-haltenen Hölderlin-Vortrag Parataxis schreibt Adorno: Die paratak-tische Auflehnung wider die Synthesis hat ihre Grenze an der synthetischen Funktion von Sprache überhaupt. Visiert ist Synthesis von anderem Ty-pus, deren sprachkritische Selbstreflexion, während die Sprache Synthesis doch festhält. Deren Einheit zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die Einheit verübt; aber die Gestalt der Einheit wird von Hölderlin so abge-wandelt, daß nicht bloß das Mannigfaltige in ihr widerscheint [. . .], son-dern daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlußhaft. Ohne Einheit wäre in der Sprache nichts als diffuse Natur; absolute Einheit war der Reflex darauf. (GS 1 1 , S. 476 f.)

102. Vgl. W IV, S. 671 f., B 825 f . /A 797f . E ingeführt wird der B e -gr i f f der Spekulation W IV, S. 558, B 662/A 634.

103. W I V , S. 67 1 , B 825/A 797.

104. Vgl. zum B e g r i f f des >Kantischen Blocks* Adornos siebte Medi-tation zur Metaphysik: Begierde des Rettens und Block (GS 6, S. 377 bis 382).

105. W IV, S. 672, B 825/A 797.

106. Ebd. , B 825 f . /A 797f .

107. Ebd. , B 826/A 798.

108. Nietzsches Vers aus »Also sprach Zarathustra«, Sämtliche Werke, a . a . O . , B d . 4 , S .286, zitiert Adorno auch in der Negativen Dialektik im kritischen Bezug auf die populären Tendenzen moder-ner Philosophie: Nicht nur die Lust, die, nach Nietzsches erleuchtetem

130

Wort, Ewigkeit will, sträubt sich gegen Vergängnis. Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles über-haupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahr-heit irgend sich denken. (GS 6, S. 364)

109. W IV, S. 672, B 826/A 798.

1 1 0 . Ebd.

i n . Vgl. zu dieser Formulierung Goethe, Faust I, 1 . Akt , Vor dem Tor, V. 860-864: »Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feier-tagen / Als ein Gespräch von Kr ieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei , / Die Völker auf einander schlagen.«

1 1 2 . W IV, S . 6 7 2 , B 826/A 798. D a Adorno das Zitat abbricht und nicht wie im Kantischen Text sagt: daß >darauf weder in Ansehung der Erscheinungen dieses Lebens, als einen Erklärungsgrund, noch auf die besondere Beschaffenheit des künftigen Zustandes Rech-nung gemacht werden kann* (vgl. ebd., B 826f ./A 798f.), ist der Wortlaut in »daraus« geändert worden und das bei Adorno ohne Anschluß bleibende weder weggelassen worden.

1 1 3 . Vgl. W IV, S . 6 7 3 , B 827/A 799.

1 1 4 . Im Wortlaut nicht ermittelt; vgl . der Sache nach: Christian Wolff , Gesammelte Werke, I. Abteilung: Deutsche Schriften Band 7: Vernünftige Gedanken (Deutsche Teleologie), hrsg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim, N e w York 1980, § 3 3 (S. 50), § 7 0 (S. 106) und §98 (S. 16 1 ) .

1 1 5 . W IV, S. 673, B 827f . /A 799f.

1 1 6 . Vgl. W IV, S .694, B 857/A 829: »Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so ver-webt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, eben so wenig besorge ich, daß mir der zweite jemals entrissen werden könne.«

283

Page 142: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

7- VORLESUNG

1 1 7 . S. die 6. Vorlesung v o m 30. M a i 1963 und die A n m . 95.

1 1 8 . »Die Sitdichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glücksel igkeit , außer, so fern sie der Moral i tät genau angemes-sen ausgeteilet ist. Dieses aber ist nur mögl ich in der intelligibelen Welt, unter einem weisen U r h e b e r und Regierer. E inen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die w i r als eine künf t ige anse-hen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moral ischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige E r f o l g derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen ver-knüpf t , ohne j e n e Voraussetzung wegfa l len müßte.« (W IV, S. 6 8 1 , B 839/A 8 1 1 )

1 1 9 . S. zu dieser Formul ierung die 1 5 . Vorlesung v o m 18 . Jul i 1963 und die A n m . 220.

120. W IV, S. 673, B 828/A 800.

1 2 1 . S. A n m . 80.

1 2 2 . W IV, S . 6 7 3 , B 8 2 7 f . / A 799f . B e i Kant heißt es: »angehen müssen.«

1 23 . Vgl . W IV, S. 675, B 830/A 802.

124 . Vgl . zur Gegebenheit des Sittengesetzes den zweiten Abschnitt der »Grundlegung« , W VII , S. 33 f f .

1 2 5 . Vgl . Rene Descartes, Meditat ionen über die Grundlagen der Philosophie, A u f G r u n d der Ausgabe von A r t u r Buchenau neu her-ausgegeben von Lüder Gäbe , durchgesehen v o n Hans Günter Z e k l , H a m b u r g 1976, die 4. Meditat ion: » Ü b e r Wahrheit und Falschheit« und die 5. Meditat ion: » Ü b e r das Wesen der materiellen D i n g e und nochmals über das Dasein Gottes«, S. 48-64.

126 . Vgl . die Formeln des kategorischen Imperativs in der »Grund-legung« und in der »Krit ik der praktischen Vernunft« (W VII , S. 5 1 u. S. 140).

130 127. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno : Unwiderstehlich an der Musik des jungen Beethoven der Ausdruck der Möglichkeit, alles könne gut werden. Die sei's noch so fragile Versöhntheit mit der Objektivität transzendiert das Immergleiche. Die Augenblicke, in denen ein Partikulares sich befreit, ohne selbst schon wieder durch die eigene Partikularität anderes einzuengen, sind Antezipationen des Unbeengten selbst; solcher Trost strahlt vom früheren Bürgertum bis in sein spätes Zeitalter. (GS 6, S. 3 0 1 )

1 28 . Wi lhe lm Sturmfels ( 1887- 1967) lehrte nach seiner Dissertation über »Recht und Ethik in ihrem gegenseitigen Verhältnis« (Gießen 1 9 1 2 ) v o n 1 9 2 1 - 1 9 3 3 an der A k a d e m i e der Arbeit , einer der U n i v e r -sität Frankfurt angeschlossenen Hochschule f u r Arbeiterbi ldung, und habilitierte sich 1932 als Professor für Philosophie. E r übte seine Lehrtätigkeit bis 1933 aus und kehrte 1946 an die Philosophische Fakultät zurück, w o er bis 1967 als Honorar- , zuletzt als außerplan-mäßiger Professor f ü r Philosophie, Soziologie und Erwachsenenbi l -dung tätig war.

129 . Vgl . Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Mora l ,

a . a . O . , § 4 »Von der imperativen F o r m der Kantischen Ethik«

(S. 160- 166) .

8. VORLESUNG

130 . Vgl . zu diesem B i l d auch N a S IV/4, S. 40 u. S. 55

1 3 1 . Vgl . W i l l , S. 54f-, B 1 3 f . / A 9f .

1 3 2 . Vgl . bei Kant : »Das Bewußtse in einer freien U n t e r w e r f u n g des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidl ichen Z w a n g e , der allen N e i g u n g e n , aber nur durch eigene Vernunft ange-tan w i r d , verbunden, ist nun die Achtung fürs Gesetz. [ . . . ] Die Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller B e s t i m -m u n g s g r ü n d e aus N e i g u n g , objektiv praktisch ist, heißt Pflicht, w e l -che, u m dieser Ausschließung wi l len, in ihrem B e g r i f f e praktische Nötigung, d.i. B e s t i m m u n g zu Handlungen, so ungerne, w i e sie auch geschehen m ö g e n , enthält. Das G e f ü h l , das aus dem Bewußtse in dieser N ö t i g u n g entspringt, ist nicht pathologisch, als ein solches, was von e inem Gegenstand der Sinne gewi rk t w ü r d e , sondern allein

285

Page 143: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

praktisch, d.i. durch eine vorhergehende (objektive) Wil lensbestim-m u n g und Kausalität der Vernunft , mögl ich.« (W V I I , S. 202)

1 33 - Vgl . Freud »Das Ich und das E s « , a. a. O . , S. 30 1 f. u. S. 3 1 5 bis 3 1 8 .

1 34 . Vgl . Nietzsche, D i e fröhliche Wissenschaft , Stück 335 »Hoch die Physik!«: » U n d nun rede mir nicht v o m kategorischen Impera-tiv, mein Freund! - [ . . . ] ich gedenke dabei des alten Kant , der zur Strafe dafür, dass er >das D i n g an sich< [ . . . ] sich erschlichen hatte, v o m kategor i schen Imperativ* beschlichen w u r d e und mit ihm im Herzen sich wieder zu >Gott< >Seele< >Freiheit< und >Unsterblichkeit< zurückverirrte, [ . . . ] . Wie? D u bewunderst den kategorischen Impe-rativ in dir? Diese >Festigkeit< deines sogenannten moral ischen U r -theils? Diese >Unbedingtheit< des Gefühls >so w i e ich, müssen hierin Al le urtheilen<? B e w u n d e r e v ie lmehr deine Selbstsucht darin! U n d die Bl indheit , Kleinl ichkeit und Anspruchslos igkeit deiner Selbst-sucht!« (Sämtliche Werke, a. a. O . , B d . 3, S. 562)

1 3 5 . S. die 6. Vorlesung v o m 30. M a i 1963 und den N a c h w e i s der A n m . 120 .

136 . W IV, S. 673, B 828/A 800. A d o r n o setzt das Zi tat zunächst fort , bricht aber nach »in den einigen, die Glückseligkeit« mit und so weiter ab. Vollständig heißt es: »die Glückseligkeit, und die Z u s a m -m e n s t i m m u n g der Mittel , u m dazu zu gelangen, das ganze Geschäft der Vernunft ausmacht, die u m deswil len keine andere als pragmati-sche Gesetze des freien Verhaltens, zu Erre ichung der uns von den Sinnen empfohlenen Z w e c k e , und also keine reine Gesetze, völ l ig a priori best immt, liefern kann.«

137 . E b d . , S. 673 f., B 828/A 800.

1 3 8 . E b d . , S . 6 7 4 , B 828/A 800.

139- E b d . , B 8 2 8 f . / A 8oof.

140. A d o r n o bezieht sich hier auf Kants Konzept einer »Moral theo-logie«: dem »immanentem Gebrauche, nämlich unsere B e s t i m -m u n g hier in der Welt zu erfül len, indem w i r in das Sys tem aller

286

Z w e c k e passen [ . . . ] . « (W IV, S. 687, B 847/A 819). Sie geht aus der

Frage hervor: »Wenn ich nun tue, w a s ich soll, w a s darf ich alsdenn

hoffen?« ( W I V , S .677 , B 8 3 3 / A 805)

1 4 1 . Z u der im Wortlaut nicht ermittelten Formul ierung, vg l .

W V I I , S . 2 6 4 .

142 . Vgl . W IV, S . 674, B 829/A 801 .

143 . E b d . , S. 675, B 830/A 802.

144. E b d .

145 . E b d .

9 . VORLESUNG

146. E s w a r nicht mehr zu ermitteln, w a r u m die Vorlesung a m 25.

Juni 1963 ausgefallen ist.

147. W IV, S . 6 7 5 , B 830/A 802.

148. E b d .

149. E b d . B 8 3 1 / A 803.

150 . A d o r n o meint mit Kants erstem A r g u m e n t >die Absicht der

N a t u r mit der Freiheit zu koinzidieren*; s. S. 1 3 5 u. S. 1 38 .

1 5 1 . Vgl . Walter Ben jamin , U r s p r u n g des deutschen Trauerspiels,

in: Gesammel te Schriften I i , hrsg. von R o l f T iedemann und Her-

mann Schweppenhäuser, Frankfurt a . M . 1974, S. 2 i 5 f .

1 5 2 . K a n t spricht v o m »Weltbegriff (conceptus cosmicus)« als A b -

sicht der Phi losophie, die »Beziehung aller Erkenntnis auf die w e -

sentlichen Z w e c k e der menschlichen Vernunft« anzugeben (W IV,

S . 7 0 0 , B 866f . /A 838f.) . In der »Beantwortung der Frage: Was ist

Aufk lärung?« best immt Kant derart den ö f f e n t l i c h e n Gebrauch* ge-

lehrter Vernunft . (Vgl. W X I , S. 57)

2 8 7

Page 144: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

153- Vgl . z u m von N a t u r aus bösen Menschen Kapitel III der >Reli-g ionsschr i f tc »Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen N a t u r liegt, so ist im Menschen ein natürlicher Hang z u m B ö s e n ; und dieser Hang selber, wei l er am E n d e doch in einer freien Wil lkür gesucht werden m u ß , mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse. Dieses B ö s e ist radikal, wei l es den G r u n d aller M a x i m e n verdirbt [ . . . ] . « (W VII I , S . 6 8 5 f . ) Vgl . zur Diskuss ion dieser Stelle G S 6, S . 2 i 7 f . und A d o r n o s unausgeführte E n t w u r f s n o t i z in seinem Handexemplar der Negativen Dialektik, ebd., S. 529f .

1 54 . Vgl . W III, S. 1 36 , B 1 3 1 . A u f dieses Zitat verweist Horkhe imer in seinen f ü r das T h e o r e m der Identität von Vernunft und Selbsterhal-tung grundlegenden A u s f u h r u n g e n in der Dialektik der Aufklärung: Selbsterhaltung ist das konstitutive Prinzip der Wissenschaft, die Seele der Kategorientafel, auch wenn sie idealistisch deduziert werden soll wie bei Kant. Selbst das Ich, die synthetische Einheit der Apperzeption, die Instanz, die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz. ( G S 3, S. 106) Vgl . zu Hobbes ebd., zu Spinoza S. 105 .

1 5 5 . In der »Grundlegung« führt Kant aus: »Dagegen , sein Leben zu erhalten, ist P f l i cht , und überdem hat j edermann dazu noch eine un-mittelbare N e i g u n g . A b e r u m deswil len hat die o f t ängstliche S o r g -falt, die der größte Teil der Menschen dafür trägt, doch keinen in-nern Wert, und die M a x i m e derselben keinen moral ischen Gehalt.« (W VII , S. 23)

156 . S. die 1 . Vorlesung v o m 7. M a i 1963 , S. 1 9 - 2 1 .

157. Vgl . Hegel , Werke, a . a . O . , B d . 3 : Phänomenolog ie des G e i -stes, S. 436.

158 . Vgl . Paul Valery, Rapport sur les prix de vertu (1934), dt.: Ber icht über die Tugend-Preise , übersetzt von M a x Looser, in: Werke. Frankfurter A u s g a b e B d . 4: Z u r Philosophie und Wissen-schaft, hrsg. von J ü r g e n Schmidt-Radefe ldt , Frankfurt a . M . 1989, S. 220.

159 . In der »Morgenröthe« heißt es im 1 . B u c h , Stück 9 »Begriff der Sittlichkeit der Sitte«: »Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer

130

Jahrtausende der Menschheit leben w i r jetz igen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit : die Macht der Sitte ist erstaunlich abge-schwächt und das G e f ü h l der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als ver f lücht igt bezeichnet w e r -den kann. [ . . . ] Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher A r t diese auch sein m ö -gen; Sitten aber sind die herkömmliche A r t zu handeln und abzuschät-zen. In Dingen , w o kein H e r k o m m e n befiehlt , giebt es keine Sitt-lichkeit; und j e weniger das Leben durch H e r k o m m e n best immt ist, u m so kleiner w i r d der Kreis der Sittlichkeit. D e r freie M e n s c h ist unsittlich, wei l er in A l l e m von sich und nicht von e inem H e r k o m -men abhängen wil l ; [ . . . ] . « (Nietzsche, Sämtliche Werke, a . a . O . , B d . 3, S. 2 1 f.)

1 0 . VORLESUNG

160. In der Tonbandnachschrift ist zu B e g i n n der Vorlesung eine Lücke markiert . A d o r n o s handschriftl iche Not izen zu dieser Vor -lesungsstunde zeigen aber, daß er genau mit d e m Gedanken des ersten erhaltenen Satzes einsetzen wollte: Die Paradoxic der Erfah-rung praktischer Freiheit als einer Naturursache. Paradoxic von K[ant] selbst zugestanden: »also ein Problem bleibt«, d. h. es ist ebenso der Dua-lismus unbefriedigend wie seine Aufhebung unmöglich (Vo 8812) . Es fehlt vermutl ich der Wiederanschluß an die vorangegangene Vor-lesung.

1 6 1 . Vgl . W IV, S. 675 f., B 8 3 1 / A 803.

162. A d h e m a r Ge lb ( 1887- 1936) w u r d e 1924 Professor f ü r Psycho-

logie an der Universität Frankfurt a. M . und w a r Di rektor des P s y -

chologischen Instituts. 1 9 3 1 erhielt er an der Universität Halle einen

Lehrstuhl f ü r Phi losophie mit besonderer Berücks icht igung der

Psychologie , der ihm 1934 v o n den Nationalsozialisten aberkannt

wurde .

163 . Vgl . § 68 in Schopenhauer, D i e Welt als Wille und Vorstel lung,

Werke, a . a . O . , B d . I/2, S. 468-492, vg l . in der 2. A u f l . , B d . II/2,

K a p . 48, S. 706-743.

289

Page 145: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

164. Vgl . zu A d o r n o s Beurte i lung des Vierten Buches von Schopen-hauers »Die Welt als Wille und Vorstel lung« (Werke, a. a. O . , B d . 1/ 2, S. 3 4 1 - 5 0 8 , f ü r die 2. A u f l . : B d . II/2, S. 539-757) und dessen Ver-hältnis zu K a n t und dem Idealismus, in der Negativen Dialektik: In-dem Kant einzig Vernunft als Movens von Praxis gelten ließ, verblieb er im Bann jenes verblaßt Theoretischen, gegen den er komplementär den Primat der praktischen Vernunft ersann. Daran laboriert seine gesamte Moralphi-losophie. ( G S 6, S. 228) U n d : Was die großen rationalistischen Philo-sophen unter diesem [seil, dem Begriff des Willens] sich vorstellten, verneint ihn bereits, ohne Rechenschaft davon zu geben, und der Schopenhauer des Vierten Buches konnte nicht mit Unrecht als Kantianer sich fühlen. Daß ohne Wille kein Bewußtsein ist, verschwimmt den Idealisten in blanker Identität: als wäre Wille nichts anderes als Bewußtsein. [. . .] Nicht bloß hat Vernunft genetisch aus der Triebenergie als deren Differenzierung sich entwickelt: ohne jenes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung von den passiven, >rezeptiven< Momenten des Subjekts, wäre dem eigenen Sinn nach kein Denken. Der Idealismus aber ist aufs Gegenteil einge-schworen und darf das, um den Preis seiner Vernichtung, nicht Wort ha-ben; das erklärt wie die Verkehrung so deren Nähe zum wahren Sachver-halt. (S. 229 f.)

165. Vgl . die §§ 52 und 53 in Mart in Heidegger, Sein und Zeit , 1 5 . A u f l . , Tüb ingen 1979. Heidegger unterscheidet die eigentliche Sorge von den »Fesseln des müden, tatenlosen Denkens an den Tod<« (S. 258), ein »Sein zum Tode als ein Sein zu einer Möglichkeit« v o m »Grübeln über den Tod«, das diesen »Möglichkeitscharakter« abschwächt. (Vgl. S. 2 6 1 ) Verstehen meinte nicht das »Bega f f en eines Sinnes, sondern sich verstehen in dem Seinkönnen, das sich im E n t w u r f enthüllt«, in der Struktur des »Vorlaufens in den Tod«. (Vgl. S . 2 6 3 )

166. Vgl . zu A d o r n o s Krit ik am Verhältnis von Eigentl ichkeit und Subjektivität bei Heidegger i m Jargon der Eigentlichkeit: Vom betrach-tenden Subjekt wird dem Subjekt als Betrachtetem überschrieben, was eigentlich sei: die Stellung zum Tode. Diese Verlagerung stiehlt dem Sub-jekt das Moment von Freiheit und Spontaneität: es erstarrt, gleich den Hei-deggerschen Befindlichkeiten, durchweg zu etwas wie einem Attribut der Substanz »Dasein«. (GS 6, S. 497f . ) Heideggers f r a g w ü r d i g e r A n -schluß an den Idealismus zeigt sich daran, daß was in der Hegeischen

130 290

Phänomenologie notwendiges Moment in der Erfahrung des Bewußtseins war, [. . .[für Heidegger anathema [wird], weil die Erfahrung des Bewußt-seins zusammengedrückt ist zu der von sich selbst; Identität jedoch, der hohle Kern jener Selbstheit, gerät dadurch an die Stelle des Ideals. ( A . a . O . , S .494)

167. Vgl . Ernst Troeltsch, D e r Histor ismus und seine Probleme,

Gesammel te Schriften B d . 3 , Tüb ingen 1922 .

168. Vgl . Hermann C o h e n , Kants B e g r ü n d u n g der Ethik . N e b s t ihren A n w e n d u n g e n auf Recht , Rel ig ion und Geschichte, Z w e i t e verbesserte und erweiterte A u f l . , Berl in 1 9 1 0 (Erste A u f l . 1877) . C o h e n best immt bereits den »Inhalt des formalen Sittengesetzes« als in der »Gemeinschaft autonomer Wesen« Gegebenen (S. 227) und best immt in der Einleitung in den 4. Teil die »Realität des Sittlichen in der geschichtlichen Er fahrung« (S. 373-380) , ausgehend von der »Rechtslehre« (vgl. S. 381 -454) .

169. A ls Zitat nicht ermittelt. Mögl i cherweise erinnert A d o r n o ei-nen Satz Kants aus der > Anthropologie* , in dem allerdings die Funk-tion der Grazien umgekehrt gefaßt ist: »Der Purism des Zynikers und die Fleischestötung des Anachoreten, ohne gesellschaftliches Wohlle-ben, sind verzerrte Gestalten der Tugend und f ü r diese nicht einla-dend; sondern, von den Grazien verlassen, können sie auf H u m a n i -tät nicht Anspruch machen.« (W X I I , S. 622)

170 . Vgl . Jul ius Ebbinghaus , D e u t u n g und Mißdeutung des katego-rischen Imperativs , in: Gesammel te Aufsätze. Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 80-96.

1 1 . VORLESUNG

1 7 1 . Vgl . A d o r n o s Vorlesung v o m 18. D e z e m b e r 1956: Zu Piaton. Bei Sokrates war die Vernunft angesetzt als die einzige Instanz des richtigen Verhaltens. Das Mittel dazu war vermutlich schon bei ihm die begriffliche Analyse. Bei Piaton wird dann daraus in einem strengen und eigentlichen Sinn ein Prinzip gemacht. In den frühen Dialogen besteht seine eigentliche Methode darin, daß die Begriffe analysiert werden und daß mit den Mitteln der begrifflichen Analyse die Vernunft als die einzige die Tugend bestim-

Page 146: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

mende Instanz herausgestellt wird [•••]• (Vo 1364) Das heißt: Es gibt keine Tugendlehre der einzelnen Tugenden, das widerspräche dem Begriff der Tugend. Allesamt können überhaupt nur durch ihre Beziehung auf den Zentralpunkt des Logos hergestellt werden. Dabei läßt sich deutlich erken-nen, wie das zentrale Motiv des sokratischen Intellektualismus, die Gleich-setzung der Tugenden mit dem Wissen, hier zu einer kritischen Instanz geworden ist [. . .]. (Vo 1365 f.) Adornos Darstellung der unplatoni-schen Elemente in Sokrates Denken orientiert sich an den M e m o r a -bilien Xenophons .

172 . Vgl. zu Fichtes Darstellung seines Verhältnisses zur Philo-sophie Kants die »Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre«, in: Werke, a . a . O . , B d . 1 , Erste Abtheilung: Z u r theoretischen Philo-sophie, Erster Band, S. 468-471 .

173- Vgl. G S 6, S .227 .

174. Adorno beginnt den Satz zunächst: Sie müssen weiterhin, um die-ses Kantische Theorem in seinem richtigen Stellenwert zu sehen, auch daran denken, daß der Kantische Vernunftbegriffbricht dann aber ab und beginnt neu.

175- Vgl. W IV, S. 682, B 840/A 812 , w o Kant sich an Leibniz' U n -terscheidung eines >Reichs der Gnaden< und eines (Reichs der Natur< orientiert.

176. »die Form der« wurde konjiziert.

177. Vgl. die 1 . A u f l . der »Kritik der reinen Vernunft«: »Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfalt igen, wel-ches wi r Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne.« (W III, S. 176, A 120) Demgegenüber bindet die 2. A u f l . das Vermö-gen »der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption« als Bewußtsein, »daß ich bin« (W III, S. 152 , B 157) stärker an die kategoriale Ordnung des Verstandes, »dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d.i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfa l -tigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben wor -den, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stof f zum Erkenntnis, die Anschau-

130 292

ung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet.« (W III, S. I44f . , B 145)

178. Die Vorlesung v o m 19. Dezember 1956 rekonstruiert die Aus-nahmestellung des Sokrates. Das Entscheidende bei Sokrates ist die Wendung auf das Individuum, die sich in einer Reihe von Motiven aus-drückt, zunächst, in Gegensatz zu der ihm vorausgehenden Spekulation, in der schroffen Wendung gegen das naturwissenschaftliche Denken und die naturphilosophische Spekulation, die bei ihm mit der Unsicherheit und Wi-dersprüchlichkeit von Aussagen über die Natur begründet wird. (Vo 1346)

179. Vgl. Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philo-sophie, Erster Teil. Die Philosophie des Altertums, hrsg. v. Karl Praechter, Berlin 1926, S. 476 f.

180. Vgl. Adorno, Philosophische Terminologie, hrsg. v. Rudol f zur Lippe, B d . 1 , Frankfurt a . M . 1973 , S. 58-60.

1 8 1 . Vgl. Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Stu-dien über marxistische Dialektik, Berlin 1923 , S. I 3 7 f . , Neuaus-gabe: Darmstadt, N e u w i e d 1970, S. 229 f.

182. Adorno hebt in der Vorlesung v o m 18. Dezember 1956 an So-krates heraus: Das Großartige an der Theorie von der Basiertheit der Mo-ral in der Vernunft ist, daß Sokrates im Gegensatz zu allem späteren Den-ken die Katze aus dem Sack gelassen hat und die volle Konsequenz dessen

formuliert hat, wohin eigentlich die vernünftige Begründung des sittlichen Handelns führt, und gerade das, was später durch die Departementaiisie-rung getrennt worden ist, ist das, was uns eigentlich an dieser Lehre befrem-det. Denn diese Vorurteile, die uns durch die Jahrtausende eingebläut sind, sitzen so tief, daß jeder Mensch, der von dieser Lehre hört, daran denkt, daß seine Großmutter zwar dumm, aber gut gewesen sei. Dieser Mechanismus, den Sokrates vorweg angeprangert hat, enthält tendenziell schon die Kritik an aller späteren Moral. Aber ein bewußtlos Gutes kann es nicht geben [. . .]. (Vo 1 3 6 1 )

183 . Schiller, A n die Freude, Vers 6. Adorno setzte im Wortlaut der Vorlesung/rec/i für »streng«.

184. Vgl. W III, S. 339, B 397/A 339-

Page 147: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

185 . Vgl . Aristoteles, Ethica Nicomachia , B u c h III, 1 -4 . 1 1 0 9 b bis 1 1 1 2 a. A d o r n o fuhrt in der Vorlesung v o m 10 . Januar 1957 aus: Die entscheidende Differenz zu Piaton ist, daß von Aristoteles zum ersten Mal dem Begriff der Vernunft als des ordnenden Prinzips zwei Bestimmungen hinzugefügt werden, durch die er mit dem Sokratismus in der Platonischen Moralphilosophie im Ernst bricht: Erstens, der Begriff der Freiheit- er sagt, daß es ein richtiges, sinngemäßes Leben nur geben kann, soweit wir frei sind, soweit wir in der Gesellschaft die Möglichkeit haben, das von uns als richtig Erkannte zu verwirklichen. Ergeht an dieser Stelle bereits außeror-dentlich weit, nimmt eine Entwicklung vorweg, die sich in der Kantischen Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und empirischen Charakter wiederfindet; er sagt, daß unsere Freiheit eingeschränkt werden könnte nicht nur durch Sklaverei et cetera, sondern daß sie ebenso auch von innen her eingeschränkt wird durch gewisse Gewohnheiten, einen Charakter, der un-serer Vernunft gegenüber heteronom ist, der uns zwingt, vernunftwidrig zu handeln. Ein solcher Charakter ist ebenso eine Einschränkung der Freiheit wie die äußeren politischen Begrenzungen. In solchen scheinbar empiri-schen Einschränkungen der Vorstellung von der Vernunft als dem herr-schenden Prinzip bereiten sich die Dinge vor, die in aller späteren Moral-philosophie entscheidend geblieben sind. - Dasselbe gilt für den Begriff des Willens: das, was zu vermitteln hat zwischen dem einmal als richtig Er-kannten und seiner Umsetzung in Realität. Richtiges Erkennen und richti-ges Tun werden nicht ohne weiteres miteinander gleichgesetzt. Damit das möglich sei, bedarf es der eigentümlichen Sphäre des Willens. (Vo 1396 f.)

1 2 . VORLESUNG

186. Von dieser Vorlesung liegt keine Transkription einer Tonband-aufzeichnung vor. D i e Nachschr i f t s tammt von H i l m a r Til lack und ist noch zu Lebzeiten A d o r n o s in die Vor lesungs fo lge e ingefugt worden. Sie enthält in ihren Hauptpunkten eine Rekapitulation der vorangegangenen Vorlesung und entspricht dann dem A u f b a u in A d o r n o s handschriftl icher Entwurfssk izze . Dieser liegt ein Exzerpt der Vorlesung v o m 22. Januar 1957 zugrunde, auf die A d o r n o s Sei-tenangabe »129« (s.u.; jetzt: Vo 1 4 2 1 ) verweist . D i e auf K a n t bezo-gene Seitenangabe bezieht sich auf den Text der »Grundlegung zur Metaphys ik der Sitten«, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, B d . 5 Moral i sche Schriften, hrsg. v. Felix Gross , Leipzig 1922 . A d o r n o s St ichworte lauten:

130

Dazu, daß das absolut Gesetzlose tatsächlich das Unfreie. Bellum omnium contra omnes. Innerlich extremes Beispiel Süchtigkeit. /

Mißbrauch. Rolle des Rechts Umgekehrt liegt in der Idee des Gesetzes immer schon das Potential gegen die Freiheit, ihre Einschränkung, in der sie verschwindet. Stets auf des Messers Schneide. Kants geniale Formulierung von der Einschränkung der Freiheit nur soweit wie sie die Freiheit anderer gefährdet. Darin der Funk-tionszusammenhang der Gesellschaft 12g zur »Grundlegung«

Ausgang vom sogenannten natürlichen Bewußtsein, d.h.

den moralischen Anschauungen, wie sie nun einmal gegeben sind. Darin ein sehr Wahres. Man kann nicht Ethik erfinden. Auch heute ist sie nur als Kritik der verbreiteten die sei gesetzt. Ethik krankt immer daran, daß sie von andren erwar-tet, was sie nicht von sich verlangt

Es wird durch Abstraktion zur Form des kat. Imp.

dabei das Verfahren nach Grundsätzen vorausgesetzt Erste Definition Kant S. 26

Rational. Maxime erklären: Übergang von Individuum zu Subjekt Später in der Kdp V: daß das Sittengesetz nicht ebenso »deduzierbar« sei wie die Grundsätze der theor. Vernunft.

9. VII (Vo 8813)

187. Vgl . Scheler, D e r Formal ismus in der Ethik und die materiale

Wertethik, a. a. O . , S. 1 7 6 - 1 7 8 .

188. Vgl . W V I I , S. 7 1 f.

189. A n dieser Stelle rekurriert A d o r n o auf die Vorlesung v o m 22. Januar 1957 : In der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sieht es damit so aus, daß Kant zunächst einmal in einer Weise, die dann vielleicht sogar dem Hegeischen Verfahren zum Modell gedient hat, von dem »natür-lichen« Bewußtsein ausgeht, von der Tatsache der moralischen Anschauun-gen, die mir nun einmal gegeben sind, und dann durch Abstraktion, eine kritische Analyse dieser Anschauungen, zum kategorischen Imperativ, zur reinen Formulierung des Sittengesetzes gelangt. (Vo 1 4 2 1 )

190. Vgl . Aristoteles, Ethica Nicomachia , B u c h V, 14 . 1 1 3 7 a bis

1 1 3 8 a .

295

Page 148: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

i 9 i . W VII , S . 2 8 .

192 . S. A n m . 126 .

193 • Vgl . § 36 der »Prolegomena zu einer jeden künf t igen M e t a p h y -sik, die als Wissenschaft w i r d auftreten können«: »Denn w i r kennen N a t u r nicht anders, als den Inbegr i f f der Erscheinungen, d.i. der Vorstel lungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüp-f u n g nirgend anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung derselben in uns, d.i. den B e d i n g u n g e n der notwendigen Vereini-g u n g in einem Bewußtse in , welche die Mögl i chke i t der E r f a h r u n g ausmacht, hernehmen.« (W V, S. 1 8 7 f . )

194. In der Vorlesung v o m 22. Januar 1 9 5 7 geht A d o r n o auf diesen Punkt ausführl ich ein: Kant kommt später an einer entscheidenden Stelle in der »Kritik der praktischen Vernunft« dazu, zu sehen, daß eine Deduk-tion des Sittengesetzes in einer ähnlichen Weise, wie die Kategorien aus der Einheit des Selbstbewußtseins, die Grundsätze der reinen Vernunft aus der synthetischen Einheit deduziert werden, nicht möglich ist. Man kann den kategorischen Imperativ nicht ebenso ableiten wie die verschiedenen Grund-sätze der reinen Vernunft, die Kant zufolge die mathematische Natur-wissenschaft begründen aus den Kategorien und in letzter Instanz aus der Einheit des Selbstbewußtseins. Am Schluß wird man doch gewissermaßen wieder auf das Faktum des Sittengesetzes zurückgeführt. (Vo 1 4 2 1 f.)

1 3 . VORLESUNG

195. Vgl . G e o r g S immel , Hauptprobleme der Philosophie, Berl in, N e w Y o r k 1989 (1 . A u f l . 19 10) , S. 29.

196. S. den N a c h w e i s in A n m . 1 9 1 .

197. Vgl . W VII , S. 1 7 5 f. D i e Wiedergabe des Zitates weicht v o n Kants Formul ierung ab, da A d o r n o den wört l ich zitierten Satzan-fang grammatikal isch auf die ihn erklärende K l a m m e r e i n f ü g u n g be-zieht, ohne auf das tatsächliche Satzende einzugehen.

198. S. die 1 . Vorlesung v o m 7. M a i 1963 und die A n m . 14.

130 296

199. W VII , S . 2 6 .

200. Vgl . Piaton, Phaidon, St. 7 ö d - 7 7 a .

2 0 1 . W V I I , S. 18.

202. Vgl . G S 3, S. 1 0 0 - 1 4 0 , insbesondere S. 1 3 5 .

203. W VII , S . 2 6 .

204. Vgl . a. a. O . , S. 2 7 f . ( A n m . 2).

205. S. hierzu die 6. Vorlesung v o m 30. M a i 1963 und die A n m . i n .

1 4 . VORLESUNG

206. Z w e i Worte w u r d e n konjiziert, da der A n f a n g der Tonband-nachschrift fehlt. A d o r n o bef indet sich noch unmittelbar in der A n -k n ü p f u n g an die letzte Stunde. Seine f ü r diese Vorlesungsstunde neu konzipierten St ichworte beginnen mit der Idee des Trieb Verzichtes: 16. VII. 63. Nachträge, / die zugrundeliegende Idee des Triebverzichtes: die Kompensation in the long run. / Sparmotiv: Bildung von Kapital. /das Unwahre darin: daß, psychologisch wie gesamtgesellschaftlich, die Kom-

pensation nicht erfolgt. (Vo 8 8 i 4 f . )

207. Vgl . A d o r n o s N o t i z Diesseits des Lustprinzips in: Minima Moralia

(GS 4, S. 65-67).

208. Vgl . W X , S. 480-488 (§§ 64f.) .

209. B e i Benedictus de Spinoza, Ethica, Teil 4, Lehrsatz 20, in:

Opera . Werke, lateinisch und deutsch, Z w e i t e r B a n d , hrsg. von

K o n r a d B l u m e n s t o c k , Darmstadt 1980, S. 4 1 4 , heißt es wört l ich:

»suum esse conservare«.

2 1 0 . Vgl . W VII I , S. 553 f.

2 1 1 . Vgl . W VII , S. 25.

Page 149: ADORNO Vorlusung Probleme Der Moralphilosophie 1963 SoSe

2 1 2 . A d o r n o wendet sich hier vor allem gegen die theoretisch-pessi-mistische Ausdeutung des von Freud an den Z w a n g s n e u r o s e n und der P s y c h o p a t h o l o g i e des Alltagslebens* rekonstruierten U n b e h a -gens an der Kultur*. Freuds Schri f ten zur Behandlungstechnik ent-wicke ln demgegenüber ein dialektisches Problembewußtse in : die A u f h e b u n g des Triebverzichtes als unendliche A u f g a b e der analyti-schen Arbeit . (Vgl. »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« und »Die endliche und die unendliche Analyse« , in: Studienausgabe, a. a. O . , Ergänzungsband, S. 2 0 5 - 2 1 5 und S. 3 5 1 - 3 9 2 )

2 1 3 . Vgl . z u m B i l d der nicht aufgehenden Bi lanz Schopenhauer, Zürcher Ausgabe , a. a. O . , B d . II/2, K a p . 46: »Von der Nicht igkei t und dem Leiden des Lebens«, S. 67 1 und S. 678, s o w i e Horkheimer , Schopenhauer und die Gesellschaft : »Die Philosophie hat Rechnung abzulegen, und weil die Bi lanz negativ ist, behält der Heil ige a m E n d e recht. Wer auf die Welt setzt, ist betrogen. D u r c h Schopen-hauers Mißtrauen gegen R e f o r m und Revolut ion w i r d das Beste-hende nicht glorif iziert .« (Gesammelte Schriften B d . 7: Vorträge und Aufze ichnungen 1 9 4 9 - 1 9 7 3 , hrsg. v o n Gunzel in Schmid Noerr , Frankfurt a . M . 1985, S .48)

2 1 4 . S. die 12 . Vorlesung v o m 9. Ju l i 1963, S. 182.

2 1 5 . In Brechts Stück maskiert sich der >gute Mensch* Shen Te, u m die Apor ie »Gut zu sein und doch zu leben« zu bewält igen, zugleich als der >böse Mensch* Shui Ta. (Vgl. Gesammel te Werke in 20 B ä n -den, hrsg. in Zusammenarbe i t mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M . 1967, B d . 4, Stücke B d . 4, S. 1603) Das Gedicht »Die M a s k e des B ö s e n « lautet: » A n meiner Wand hängt ein japanisches H o l z w e r k / M a s k e eines bösen D ä m o n s , bemalt mit Goldlack . / Mi t füh lend sehe ich / D i e geschwol lenen Stirnadern, andeutend / Wie anstrengend es ist, böse zu sein.« (A. a. O . , B d . 10 , Gedichte B d . 3, S. 850; vg l . zu diesem M o t i v »Der gute M e n s c h v o n Sezuan«, a. a. O . , S. 1570)

1 5 . VORLESUNG

2 1 6 . »Menschen unabhängig sein« w u r d e s inngemäß konjiziert, da die Tonbandtranskription eine Lücke mit dem Vermerk markiert : »nicht zu verstehen!«

130 298

2 1 7 . Vgl . Beobachtungen über das G e f ü h l des Schönen und Erhabe-nen, W I I , S . 8 3 5 .

2 1 8 . Vgl . S0ren Kierkegaard, D e r B e g r i f f der A n g s t : »Das Mit le id ist so weit entfernt dem Leidenden zugute zu k o m m e n , daß man in demselben v ie lmehr bloß den eigenen E g o i s m u s hegt und pf legt . [ . . . ] Erst wenn der Mit le id ige in seinem Mit le id sich so zu d e m Leidenden verhält, daß er im strengsten Sinne faßt, es sei seine Sa-che, u m die sich's handelt; [ . . . ] erst dann erhält das Mit le id B e d e u -tung [ . . . ] . « (Werke B d . 5, Jena 1923 , übersetzt v o n Chr i s toph Schrempf , S. 1 1 9 )

2 1 9 . Vgl . den § 1 6 der t ranszendenta len Deduktion*: »So ist die synthetische Einheit der Apperzept ion der höchste Punkt , an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze L o g i k , und nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, j a dieses V e r m ö g e n ist der Verstand selbst.« (W III, S. 137 , B 1 3 4 , A n m . )

220. A d o r n o schließt hier noch einmal an die Vorlesung v o m 22. Januar 1957 an. Wohl im K o n t e x t der Vorbereitungen zur Vorle-sung von 1963 notiert er zu dem Satz - Wenn Gott ins Spiel kommt, dann nur als Garant des aus reiner Vernunft folgenden Sittengesetzes, als das, woran das Sittengesetz festgemacht ist - handschrift l ich am Text-rand: D.h. ohne Gott und Unsterblichkeit wäre die Welt die Hölle - das darf nicht so sein, denkt Kant. Diese Bestimmung der Welt als Negativität in tiefstem Zusammenhang mit der Verwerfung der Empirie. In der Welt herrscht das Böse. »Pflicht unsere Glückseligkeit zu sichern« (Vo 1424).

2 2 1 . Vgl . Paul Natorp , Piatos Ideenlehre. E ine E i n f ü h r u n g in den

Idealismus, Leipzig 1903 , S. 1 9 1 f.

222 . Vgl . im A n h a n g der ersten A u f l a g e von »Die Welt als Wille und Vorstel lung« die »Krit ik der Kantischen Phi losophie«, a. a. O . , B d . 1/2, S . 6 3 8 .

223 . Vgl . Piaton, Phaidon, St. 82e, w o der Leib als K e r k e r der Seele

bezeichnet w i r d .

224. Vgl . Heinrich v o n Kleists B r i e f an Wilhelmine v o n Z e n g e , v o m 22. M ä r z 1 8 0 1 : »Vor kurzem w a r d ich mit der neueren sogenannten