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Editorial Boulevard, Yellow Press, Revol- verblatt – das sind doch die Zei- tungen, die man mal heimlich mitliest. Beschränkt auf skanda- lisierte Berichterstattung, große Schlagzeilen und plakative Wort- wahl befriedigt der Boulevard Sensationsgier, oft auf Kosten Dritter. So weit das Klischee. Doch Boulevardjour- nalismus hat auch die Funktion, aktuelle Information mit einer Berichterstattung zu verbinden, die jeder versteht. Der Zeitungsverkauf auf den Boulevards der Städte war die Geburtsstunde der Boulevardmedien. Heute be- gegnen wir ihnen überall: vom Facebook-Feed über das Lokal- blatt bis zur Millionenauflage der dominierenden Bild, die zum 25. Jahrestag des Mauerfalls un- gefragt in jedem deutschen Briefkasten lag. Haben Sie die gleich weggeschmissen oder doch reingeschaut? Ist die Einteilung in Qualitäts- und Boulevardjournalis- mus überhaupt gerechtfertigt oder lassen sie sich verbinden? Die Teilnehmerinnen und Teil- nehmer des 17. taz Panter Work- shops waren skeptisch, aber wag- ten – an den aktuellen Themen Bahnstreik und Mauergedenken – den Versuch: Journalismus mit Emotionen, ohne Skandal. SOPHIE BAUER, DMITRIJ DIREKTOR, TARIK KEMPER MONTAG, 10. NOVEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG www.taz.de | [email protected] „FAZ“, taz oder „Bild“? Das große Zeitungsrätsel* 1.) Wer verdient am Bahnstreik? 2.) Lokführer-Aufstand bringt Reisende auf die Palme 4.) Islamkritiker in Gefahr: Wer hat sie verraten? Googles Youtube-Daten! 5.) Seuche in Afrika: Diese Symptome plagen Ebola-Erkrankte 6.) Stoppt Putin jetzt! 7.) Ernstfall Ebola 8.) Pakt gegen Aggressor Putin 9.) Die dunkle Seite des Islam 10.) Was kommt nach Putin? 11.) S pinnen die Lo kführer? NICOLAI KÜHLING, MORGANE LLANQUE Nein! Guter Boulevard ist wie Bohren beim Zahnarzt: Es tut höllisch weh, aber du hast das Problem an der Wurzel gepackt, anstatt nur die Oberfläche sau- ber zu halten. Gu- ter Boulevard be- sticht durch seine Form: Er ist kurz und klar, mitrei- ßend und per- sönlich – geballte Meinungsstärke gegenüber dem seelenlosen Ge- schwafel des Mainstreams. Ein Risiko auf Kosten des Von-allen-ge- mocht-Werdens. Denn wer die Klappe aufreißt, kann nicht nur ordentlich weh- tun, sondern auch aufrütteln und Dinge ver- ändern. Im Spa- nischen heißt die Boulevardpresse auch periodismo del corazón: Jour- nalismus des Herzens. MORGANE LLANQUE Ja! Boulevard ist blöd. Für Artikel und Recherche gilt zu oft: Grell vor hell, bunt vor rund. Boulevard- Freunde halten mit dem „starken Sport“, dem „gu- ten Draht zu Poli- tikern“ oder der „Nähe zu den Menschen“ dage- gen. Mag sein. Aber gute Journa- listInnen behan- deln die Men- schen, über die sie berichten, mit angemessenem Respekt. Heim- lich geschossene Promi-Nacktbil- der, erkennbare Minderjährige, Gewalt-, Sex- und Krankheits- storys sind das Gegenteil. So fällt die Intimsphäre dem Profit zum Opfer. Das ist noch schlimmer als schwacher Inhalt. Denn missachtete Men- schenrechte kann auch der schnellste Sportteil nicht aufwie- gen. NICOLAI KÜHLING NUR BLÖD UND BÖSE? Was ist Boulevard- journalismus? Martin Welker (51), Medienforscher: „Antiaufklärerischer, instinktbasierter Jour- nalismus. Im eigentli- chen Sinne des Wortes: Gossenjournalismus.“ Kai Diekmann (50), Bild-Chefredakteur: „Boulevard- journalismus wird für ein Millionenpublikum gemacht, nicht für die Eliten auf der Empore guten Geschmacks.“ Ines Pohl (47), taz-Chefredakteuerin: „Boulevardesk sein heißt Erregung erzeugen. Nichts gegen Erregung, auch nicht im Journalismus, wenn sie kein Selbstzweck ist, son- dern die Provokationen im Dienste der Aufklä- rung stehen.“ Wer liest Boulevardzei- tungen? Beispiel Bild und B.Z.: Zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. 6 Prozent der Leserschaft ist unter 30, ein Viertel ist in Rente. 43 Prozent der Leser haben Hauptschule und Lehre abgeschlossen, 7 Prozent sind Akademiker – Boulevard erreicht quasi alle. (Quelle: Axel Springer AG) Wie gut verkauft sich Boulevard? Bild verkaufte im vorigen Quartal 2,43 Millionen Exemp- lare. Die anderen Boulevardblätter erscheinen nur regio- nal: Express (Köln, 147.000), tz (München, 130.000), Berli- ner Kurier (95.000), Hamburger Morgenpost (94.000), Morgenpost Sachsen (Dresden, 83.000). Die Zahlen der Springer-Zeitungen Bild und B.Z. werden zusammen er- fasst. (Angaben für Mo.–Sa.; Quelle: IVW) Wann entstand die Boulevardpresse? Im Oktober 1904 erscheint die B.Z. am Mittag. Sie ist die erste deutsche Zeitung, die auf der Straße verkauft wird – das war lange Zeit verboten! Der Anspruch: unterhaltsam, aktuell, für jedermann. Wie viel Macht hat die Boulevardpresse? Wer mit der Bild im Aufzug hochfahre, fahre auch wieder mit ihr runter, so Mathias Döpfner (51, Springer-Verlag). Und das wissen Wulff, Stoiber & Co! „In erster Linie macht sie Politik. Und zu diesem Zweck macht sie auch Politiker und baut sie auch wieder ab“, sagt Gregor Gysi (66, Die Lin- ke). Sie ist die zweitgrößte Zeitung Europas und gehört zu den zehn größten Zeitungen der Welt. SOPHIE BAUER, DMITRIJ DIREKTOR, TARIK KEMPER 3.) Ebola ist wie wir: Mobil DAS KANN DOCH NICHT BOULEVARD SEIN a.) b.) c.) d.) e.) f.) g.) h.) i.) j.) k.) * Ordnen Sie die Schlagzeilen den Medien zu! Auflösung: Seite IV Fotos: Archiv (2), Sebastian Heiser

„FAZ“,tazoder„Bild“?€¦ · „FAZ“,tazoder„Bild“? Das große Zeitungsrätsel* 1.) Wer verdient am Bahnstreik? 2.) Lokführer-Aufstand bringt Reisende auf die Palme

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Page 1: „FAZ“,tazoder„Bild“?€¦ · „FAZ“,tazoder„Bild“? Das große Zeitungsrätsel* 1.) Wer verdient am Bahnstreik? 2.) Lokführer-Aufstand bringt Reisende auf die Palme

EditorialBoulevard, Yellow Press, Revol-verblatt – das sind doch die Zei-tungen, die man mal heimlichmitliest. Beschränkt auf skanda-lisierte Berichterstattung, großeSchlagzeilen und plakative Wort-wahl befriedigt der BoulevardSensationsgier, oft auf KostenDritter. So weit dasKlischee. DochBoulevardjour-

nalismus hat auch die Funktion,aktuelle Information mit einerBerichterstattung zu verbinden,die jeder versteht.

Der Zeitungsverkauf auf denBoulevards der Städte war

die Geburtsstunde derBoulevardmedien.

Heute be-

gegnen wir ihnen überall: vomFacebook-Feed über das Lokal-blatt bis zur Millionenauflageder dominierendenBild,die zum25. Jahrestag des Mauerfalls un-gefragt in jedem deutschenBriefkasten lag. Haben Sie diegleich weggeschmissen oderdoch reingeschaut?

Ist die Einteilung in Qualitäts-und Boulevardjournalis-

mus überhaupt gerechtfertigtoder lassen sie sich verbinden?Die Teilnehmerinnen und Teil-nehmer des 17. taz Panter Work-shops waren skeptisch, aber wag-ten – an den aktuellen ThemenBahnstreik und Mauergedenken– den Versuch: Journalismus mitEmotionen, ohne Skandal.

SOPHIE BAUER, DMITRIJ DIREKTOR,

TARIK KEMPER

MONTAG, 10. NOVEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNGwww.taz.de | [email protected]

„FAZ“, taz oder „Bild“? Das großeZeitungsrätsel*

1.) Wer verdient am Bahnstreik?2.) Lokführer-Aufstandbringt Reisende auf die Palme

4.) Islamkritiker in Gefahr: Wer hat sieverraten? Googles Youtube-Daten!

5.) Seuche in Afrika: Diese Symptome plagen Ebola-Erkrankte

6.) Stoppt Putin jetzt!

7.) Ernstfall Ebola

8.) Pakt gegen Aggressor Putin

9.) Die dunkle Seite des Islam

10.) Was kommt nach Putin?

11.) Spinnen die Lokführer?NICOLAI KÜHLING, MORGANE LLANQUE

Nein! Guter Boulevard ist wieBohren beim Zahnarzt: Es tuthöllisch weh, aber du hast dasProblem an der Wurzel gepackt,anstatt nur dieOberfläche sau-ber zu halten. Gu-ter Boulevard be-sticht durch seineForm: Er ist kurzund klar, mitrei-ßend und per-sönlich – geballteMeinungsstärkegegenüber demseelenlosen Ge-schwafel desMainstreams. EinRisiko auf Kostendes Von-allen-ge-mocht-Werdens.Denn wer dieKlappe aufreißt,kann nicht nurordentlich weh-tun, sondernauch aufrüttelnund Dinge ver-ändern. Im Spa-nischen heißt dieBoulevardpresseauch periodismodel corazón: Jour-nalismus desHerzens.MORGANE LLANQUE

Ja! Boulevard istblöd. Für Artikelund Recherchegilt zu oft: Grellvor hell, bunt vorrund. Boulevard-Freunde haltenmit dem „starkenSport“, dem „gu-ten Draht zu Poli-tikern“ oder der„Nähe zu denMenschen“ dage-gen. Mag sein.Aber gute Journa-listInnen behan-deln die Men-schen, über diesie berichten, mitangemessenemRespekt. Heim-lich geschossenePromi-Nacktbil-der, erkennbareMinderjährige,Gewalt-, Sex-und Krankheits-storys sind dasGegenteil. So fälltdie Intimsphäre

dem Profit zum Opfer. Das istnoch schlimmer als schwacherInhalt. Denn missachtete Men-schenrechte kann auch derschnellste Sportteil nicht aufwie-gen. NICOLAI KÜHLING

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n Was ist Boulevard-journalismus?Martin Welker (51),

Medienforscher:„Antiaufklärerischer,

instinktbasierter Jour-nalismus. Im eigentli-

chen Sinne des Wortes:Gossenjournalismus.“

Kai Diekmann (50), Bild-Chefredakteur: „Boulevard-journalismus wird für ein Millionenpublikum gemacht,nicht für die Eliten auf der Empore guten Geschmacks.“Ines Pohl (47), taz-Chefredakteuerin: „Boulevardesk

sein heißt Erregung erzeugen. Nichts gegenErregung, auch nicht imJournalismus, wenn siekein Selbstzweck ist, son-dern die Provokationenim Dienste der Aufklä-rung stehen.“n Wer liest Boulevardzei-tungen?Beispiel Bild und B.Z.:Zwei Drittel Männer, einDrittel Frauen. 6 Prozentder Leserschaft ist unter

30, ein Viertel ist in Rente. 43 Prozent der Leser habenHauptschule und Lehre abgeschlossen, 7 Prozent sindAkademiker – Boulevard erreicht quasi alle. (Quelle: AxelSpringer AG)n Wie gut verkauft sich Boulevard?Bild verkaufte im vorigen Quartal 2,43 Millionen Exemp-lare. Die anderen Boulevardblätter erscheinen nur regio-nal: Express (Köln, 147.000), tz (München, 130.000), Berli-ner Kurier (95.000), Hamburger Morgenpost (94.000),Morgenpost Sachsen (Dresden, 83.000). Die Zahlen derSpringer-Zeitungen Bild und B.Z. werden zusammen er-fasst. (Angaben für Mo.–Sa.; Quelle: IVW)n Wann entstand die Boulevardpresse?Im Oktober 1904 erscheint die B.Z. am Mittag. Sie ist dieerste deutsche Zeitung, die auf der Straße verkauft wird –das war lange Zeit verboten! Der Anspruch: unterhaltsam,aktuell, für jedermann.n Wie viel Macht hat die Boulevardpresse?Wer mit der Bild im Aufzug hochfahre, fahre auch wiedermit ihr runter, so Mathias Döpfner (51, Springer-Verlag).Und das wissen Wulff, Stoiber & Co! „In erster Linie machtsie Politik. Und zu diesem Zweck macht sie auch Politikerund baut sie auch wieder ab“, sagt Gregor Gysi (66, Die Lin-ke). Sie ist die zweitgrößte Zeitung Europas und gehört zuden zehn größten Zeitungen der Welt.

SOPHIE BAUER, DMITRIJ DIREKTOR, TARIK KEMPER

3.) Ebola ist wie wir: Mobil

DAS KANN DOCH NICHTBOULEVARD SEIN

a.) b.)

c.)

d.)

e.)

f.) g.)

h.)

i.)

j.)

k.)* Ordnen Sie die Schlagzeilen den Medien zu! Auflösung: Seite IVFotos: Archiv (2), Sebastian Heiser

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TAZ PANTER WORKSHOPII MONTAG, 10. NOVEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG IIIMONTAG, 10. NOVEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG

ausgedacht: Wir brauchendie Mauer, um im Osten ein

neues kommunistischesSchreckensregime zu errichten,als Abgrenzungsrealität (AGR)zum Kapitalismus in West-deutschland, der ohne Gegnertotal aus dem Ruder läuft.Wie muss eine Mauer heute aus-sehen? Wo soll sie stehen?Die neue Mauer muss aufder alten Grenzestehen.

Das Know-how holen wir uns ausIsrael, das zurzeit führend in derÄsthetik des Mauerbaus ist.Reicht Frontex nicht aus?Frontex ist eine Mauer um Euro-pa, die den Kapitalismus schützt.Wir brauchen aber eine innereu-ropäische Mauer, um den Wett-bewerb der Systeme wiederher-zustellen! Es ist ja auch interes-sant, zu sehen, dass es zu DDR-Zeiten eher Hunderte Mauerto-te gab, an den EU-Außen-grenzen sind esTausende.

„Frontex allein reicht nicht“MAUERN Martin Sonneborn: Ungebremster Kapitalismus fährt ohne Mauer gegen die Wand

taz: Herr Sonneborn, die GDLhätte es fast geschafft, die opu-lenten Feierlichkeiten zum25. Jahrestag des Mauer-falls erfolgreich zu sa-botieren. Gibt es einenGrund, zu feiern?Martin Sonneborn:Überhaupt nicht! Des-wegen bin ich ja auch gera-de auf Lesungsreise, weil wir die-sen Tag als ganz normalen Ar-beitstag begreifen.Ihr feiert ja nicht nur nicht, DiePartei fordert in ihrem Partei-programm die Mauer ja sogarzurück! Warum?Ursprünglich haben wir das2004 gefordert, wegen der offen-sichtlichen Kluft zwischen Westund Ost. Das ist inzwischen Ge-schichte. Deswegen haben wiruns eine neue Be-gründung

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.......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Martin Sonneborn

n 49, ist Parteichef der Partei„Die Partei“, Grimmepreis-

träger und Abgeordneter imEuropäischen Parlament.

Ist das die Schuld des Kapitalis-mus? Exponentieller Anstiegder Mauertoten?Auf jeden Fall! Genau deswegenmüssen wir ja zur Mauer zurück.Europa braucht diese Mauer –als Konzept in Europa, fürEuropa. INTERVIEW:

OLIVER REIMER

Halte durch, Claus!STREIK So treiben Deutsche Bahn, Medien und Politik den GDL-Chef in die Enge. DochClaus Weselsky steht für seine Leute im Kreuzfeuer und erträgt derzeit Unmenschliches

Über denroten Tep-

pich zum Sta-cheldraht: Bepackt

mit einem schwerenRucksack, sitzt Daniel (24)

auf den Stufen zum BerlinerMaxim Gorki Theater. Er guckt

skeptisch. Gerade verschwinden dieletzten Sonnenstrahlen über den Dä-chern, Trommelwirbel ertönt. Danielspringt auf und latscht über den ab-gewetzten Teppich zu den Bussen, dieihn an die bulgarische Grenze brin-gen werden. „Ich habe einen Heiden-respekt“, gesteht er.

Er ist einer von 100 meist jungenFreiwilligen und Künstlern, die demSchlachtruf des Zentrums für Politi-sche Schönheit (ZPS) gefolgt sind, dieeuropäische Mauer einzureißen. Po-lizisten filzen das Gepäck nach ge-fährlichen Gegenständen. Zugleichprasseln Parolen von zahlreichen Un-terstützern und Schaulustigen auf sieein. „Die Mauer muss weg“, fordernsie – 25 Jahre nachdem die Mauer fiel.

Sind Daniel und seine Mitstreiterdie Fluchthelfer von heute – gar dieneuen Mauerhelden? So versprichtes die Website der Gruppe: mit demBolzenschneider Grenzen beseitigen,Flüchtlingen den Weg nach Europaebnen. „Die Aktion ist zum Scheiternverurteilt“, meint Daniel und spieltmit der Zigarette in seiner Hand. Es

geheaber darum,

ein Zeichen zusetzen und Schlag-

zeilen zu machen. „Wirsind Humanisten, keine

Linksradikalen.“Die Aktion der Aktivisten vom

ZPS findet Ursula Groos (43) vomRepublikanischen Anwältinnen- undAnwälteverein e.V. mutig. Etwas ab-seits vom Publikum steht sie mit ei-nem leuchtend roten Banner. „Wirsind der Staat“, sagt sie mit Überzeu-gung, „die Politiker allein könnenauch nichts erreichen.“ Gegen 14 Uhrkommen die zwei Busse ins Rollen.Zurück bleiben teils ratlose Passan-ten. Alles schön und gut hier, aberwas macht man mit den neuenFlüchtlingen?

In den Köpfen der Berliner rumortes. Das Asyldilemma ist an jenemFreitagabend im Rathaus ZehlendorfThema. Der Bürgersaal ist stickig undberstend voll, die Stimmung ge-spannt. Zwei neue Containerwohn-heime sollen im Bezirk errichtet wer-den. Pingpongartig läuft die hitzigeDebatte über die Köpfe der Migran-ten hinweg. Ein Mazedonier ruft da-zwischen, aber keiner versteht, was ersagt. Um wen geht es hier eigentlich?

Im Foyer steht ein Mann mit dunk-lem T-Shirt, quer über der Brustleuchtet der Schriftzug Taekwondo.Der Name ist Programm: Seit überdrei Jahren bietet Selahattin Turap(41) ehrenamtlich den Kampfsportfür deutsche und ausländische Ju-gendliche an der Berliner Beethoven-schule an. „Sport verbindet. Deshalbwill ich die Flüchtlingskinder mit inmein Projekt aufnehmen. Wer sichnicht um die Kids kümmert, musssich später nicht wundern.“ Turapglaubt, dass eine neue Flüchtlings-welle auf uns zukommt. Da müssen

wir gewappnet sein, mahnt er. ImSaal schnellen Hände in die Höhe, dasBedürfnis, mitzuhelfen, überhauptirgendetwas zu tun, ist groß.

Am 9. November, am Tag des Mau-erfalls, treffen die Busse des ZPS ander bulgarischen Grenze ein. Bolzen-schneider und andere Werkzeugesind von der Polizei in Serbien be-schlagnahmt worden. „Werden vonder Polizei bewacht und beschützt“,simst ein Mitfahrender. „Die Stim-mung ist nicht schlecht, aber es sindnoch viele Fragezeichen da.“

FRANCA FORTH, CLARA KIESBYE

DIENEUEN

FLUCHTHELFERGRENZENLOS Wie Bürger der Flüchtlingspolitik den Kampf

ansagen – mit Bolzenschneider und Taekwondo

8.000 Ballons steigen in den BerlinerHimmel. Einer unter ihnen gehörtFreya Klier. Ein Gefühl wie bei derWM, schwärmt die einstige DDR-Op-positionelle. Heute wie vor 25 Jahrengehe es darum, mit „Kerzen statt Ge-wehren“ für Gerechtigkeit in derWelt zu kämpfen. Freya Klier erin-nert sich gerne an den 9. November1989. Damals „haben wir wie ver-rückt geheult“, sagt sie am Telefonzwischen Podiumsdiskussion undFeierlichkeiten.

Am Tag des Jubiläums steht Kliermit Prominenten wie Gorbatschowund Gauck am Brandenburger Tor,um die ersten Ballons zu entzünden.Die Schauspielerin und Mitbegrün-derin der DDR-Friedensbewegungkann dieses Wochenende ausgelas-sen feiern. Sie betont: „Für mich wardas Beste an der DDR ihr Ende.“

Klier zelebriert vor allem ihre zu-rückgewonnene Freiheit. Sie ist emo-tional geladen. „In der DDR war allesfurchtbar und alles reaktionär. Vollreaktionär! Heute leben wir auchnicht in einem Paradies, aber man istfrei in seinen Entscheidungen.“

Die Kritik an der Linkspartei desLiedermachers Wolf Biermann, derwie sie aus der DDR ausgebürgertwurde, spricht ihr aus dem Herzen.„Ich sage seit 25 Jahren, dass das gar

„DAS BESTE AN DERDDRWARIHRENDE“MAUERFALL So feiertFreya Klier – als Ballonpatin

keine Linken sind. Ich hoffe, das istjetzt für sie ein Anstoß, sich mit derGeschichte, die sie zu verantwortenhaben, auseinanderzusetzen.“ Mitpolitischem Engagement will FreyaKlier auch heute noch die unter-schiedlichsten Mauern in unsererWelt zu Fall bringen. Sie hofft, dasssich dieser Glücksfall der Geschich-te noch oft wiederholt.

Wie vor 25 Jahren überkommt siebei der Jubiläumsfeier dieses beson-dere „Gesamtheitsgefühl“, die Stim-mung sei ehrlich und ausgelassen.Daher ist sich die Ballonpatin sicher:„Die große Dimension der Lichter-kette wird bleiben. Mögen die Bal-lons all jene ermutigen, die noch

nicht frei sind!“LARA KÜHNLE,

EVA BOSER

„Freude und Erleichte-rung bestimmen meineErinnerung an den Fallder Mauer. Zur gleichenZeit rollen russische Pan-zerkolonnen in die Ost-ukraine. Russland führtseit Monaten Krieg ge-gen seinen Nachbarn,weil die Menschen in derUkraine das anstreben,worum es uns damalsging: Freiheit, Selbstbe-stimmung, Demokratie.Wenn die konsequenteeuropäische Reaktionauf die neue Aggressi-onsstufe Russlands aus-bleibt, können wir alleFreudenfeiern zum Fallder Mauer vergessen.“WOLFGANG TEMPLIN, EXOPPOSITIONELLER

Liebe Frau Nahles,

Der-zeit gibt es

27 Mauern aufder ganzen Welt.Die wenigsten da-von stehen an denGrenzen derwestlichenStaaten.

Die größte Grenzanlage derWelt plant Saudi-Arabien:12.750 km lang, soll sie daskomplette Land einmauern.Sogar die Seegrenze wurde vonden Saudis befestigt.900 km sind bereits gebautund haben 10 MilliardenDollar gekostet.

GDL-Lokführer demonstrieren vor der DB-Zentrale

gieren sich die Menschen mitden Ausfällen. Viele nutzen andiesem Wochenende Fernbusse,Flieger oder Mitfahrgelegenhei-ten. Vom „Bahnsinn“, wie Bildschrieb, ist nicht viel zu sehen.

„Es ist schon gespenstischhier, wenn man so wenige Leutetrifft“, sagt Katrin Hwe. Die 70Jahre alte Dame sitzt mit ihremSohn Jörg, 49, auf einer Bankund wartet auf den Ersatzzugnach Anklam. Über den Lokfüh-rerstreik regen sich die beidennicht auf: „Als Reisender wirdman schon in Geiselhaft ge-nommen“, sagt Jörg Hwe. „Aberes gibt nun einmal das Rechtauf Streik. Das ist grundsätz-lich schon in Ordnung.“

Eine der Helferinnen, die Rei-sende beraten soll, ist Birgit

Chollee. Die Bahnmitarbeiterinsteht am Eingang hinter einemTresen, hat eine leuchtend roteWeste an und trägt eine Umhän-getasche. Sie lächelt und sagtdoch tatsächlich: „Der Streik isthier kein Thema.“ So viele ge-stresste Kunden gibt es an die-sem Wochenende gar nicht, sagtsie und weist Touristen den Wegin die Stadt.

Gelassen begegnet auch die47-jährige Anna Niemeyer demStreik. Mit einem Kaffee in derHand wartet sie auf dem Bahn-steig. In Berlin hat sie einen Kon-gress besucht, nun will sie zu-rück nach Hamburg. „Eigent-lich ist der Streik gar nicht soschlimm.“

Ein Drittel aller Züge fährt andiesem Wochenende. Doch da-

DIE EMPÖRUNGSLÜGE

HAUPTBAHNHOF Trotz des Streiks bleibt es imBerliner Hauptbahnhof ruhig. Auf derSuche nach den wütenden Fahrgästen

Gleis 2, Berlin Hauptbahnhof,Johannes Waltsgott wartet aufseinen ICE nach Hamburg. Derlängste Streik in der Geschichte,und dieser Reisende sagt: „Ichfinde das in Ordnung. Immer-hin funktioniert der Ersatzfahr-plan.“ Da sein Zug ausgefallenwar, muss er jetzt die nächsteVerbindung nehmen. Er erreichtsein Ziel trotz des Streiks.

Reisende, die Bahnmitarbei-ter beschimpfen, wütende Kun-den? Hier in der Bahnhofshallebleibt es erstaunlich ruhig. Nurdie Motoren der stehenden Zügedröhnen monoton. Die Lädenhaben geöffnet, doch kaum je-mand kauft ein. Die Bahnsteigesind verwaist, nur ab und zu su-chen Reisende ihren Zug. An-statt sich zu beschweren, arran-

von wissen viele Kunden offen-bar nichts.

Ist die daran die Bahnschuld? Bleiben deswegen vie-le Züge einfach leer?

Anna Niemeyer fuhr mit ei-nem Ersatzzug von Hamburgnach Berlin. „Man muss bei demStreik natürlich umplanen. Aberdafür sind die Abteile leer“, freutsie sich. Sie versteht die aufge-regte Medienhetze nicht. „Ichbin aber froh, dass das Ende desStreiks auf Samstagabend vor-verlegt wurde“, gibt sie zu: „DerAufschrei der Republik ist aus-geblieben.“

Der Grund dafür ist ihr klar,der Streik habe die deutscheBevölkerung nicht so empörtwie die Medien.

MARKUS KOWALSKI

Katrin Hwe

Jörg Hwe

Johannes Waltsgott

Anna Niemeyer

nach drei Tagen Bahnstreik rollen dieZüge wieder – einen Tag früher. Warer wirklich „bescheuert“. dieser„Monster-Streik“? Purer „Bahnsinn“?Und ist „Claus der Lokbremser“ We-selsky schuld an allem?

Das ist zwar nicht Ihre Wortwahl,Frau Arbeitsministerin, sondern dieeiniger Journalisten. Doch ohne Ih-ren Gesetzentwurf wäre die GDLnicht derart verteufelt worden.

Sie wollen, dass nur der Tarifver-trag der Gewerkschaft mit den meis-ten Mitgliedern gilt. Warum eigent-lich? Selbst die angeblichen Nutznie-ßer dieser Regelung würden Ihre Plä-ne am liebsten aufs Abstellgleisschieben. Sogar die Eisenbahn-und Verkehrsgewerkschaft!Wettbewerb tut auch Gewerk-schaften gut. Und warum sol-len Lokführer nicht auf höhereLöhne pochen? Meinen Sienicht, Frau Ministerin?

Es ist das gute Rechtder Arbeitnehmer.Apropos: Gerich-te könnten IhreEntmachtungs-pläne unter demDeckmantel derTarifeinheitebenfalls in dieSchranken wei-

sen. Streikrecht und Koalitionsfrei-heit sind durch das Grundgesetz ge-schützt. Es ist gerade mal vier Jahreher, dass das Bundesarbeitsgerichtdie sogenannte Tarifeinheit kippte.

Löhne rauf! Das hat jüngst sogardie Bundesbank angesichts mauerTarifabschlüsse gefordert. EineGewerkschaft wie die GDL, die dabeihilft, wollen nun ausgerechnet Sieausbremsen? Das ist doch paradox.Sie sind die Arbeitsministerin.

Und Punkte sammeln Sie damitauch nicht. Laut einer Umfrage ha-ben 46 Prozent Verständnis für denStreik. Sie unterscheiden zwischen

den Verspätungen und demStreikrecht einer Berufs-gruppe. Aber die Hexen-jagd auf die GDL und

auf Claus Weselsky be-treiben andere: die Bild-

Zeitung, die Bahn undSie. Höchste Zeit, das

Abteil zu wechseln,Frau Nahles!

LUKAS FRANZEN

haben die GDL schon zum zweiten Mal in ih-rem Streikrecht bestätigt. Quitter: „Wir sol-len unsere Grundrechte abgeben, aber damachen wir nicht mit. Die DB will euch inden Arsch treten. Heute treten wir!“

Focusonlineveröffentlichte unterdessenWeselskys Wohnort und beschrieb, wie eshinter seiner Haustür aussieht. „So lebt We-selsky“, titelte das Magazin. Der 55-Jährigegeriet so ins Fadenkreuz anderer Medien.Die Morgenpost etwa nötigte seiner Exfraufolgenden Kommentar ab: „Er ist ein Dikta-tor!“

Doch bei aller Mühe: Es gibt keinen We-selsky-Skandal. „Sie haben nichts gefun-den, was man mir andichten kann“, sagteder Gejagte dem ARD-Morgenmagazin. DerLokführer ist Familienvater und lebt be-scheiden zur Miete auf 60 Quadratme-tern.

Weselsky ist aber auch Anführer einerGewerkschaft, die ihre Arbeit tut: Siekämpft und streikt. Um das schlechtzu-reden, bedienen sich viele Medienplumper Mittel: Aus vier Tagen Streikwurden „98 Stunden Monsterstreik“.Bild, Focus und Co. präsentieren Millio-nen von Lesern einen Tyrannen, der al-lein hinter einem angeblichen Wahnsinnsteckt. Dieser Mann hält unglaublichenDruck aus. Kein Wunder, dass er sich wehrtund gegen die andere Gewerkschaft wet-tert. Über die Fusion von Transnet und GD-BA zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerk-schaft EVG beispielsweise. „Wenn sich zweiKranke miteinander ins Bett legen undein Kind zeugen, da kommt von Beginnan was Behindertes raus.“ Verliert er dieKontrolle? Die Deutsche Bahn schaut ge-nüsslich zu. Geht die Hetze zu weit? „KeinKommentar“, heißt es auf Anfrage.

Die Gewerkschafter aber sind sich ei-nig: „Das ist eine Hexenjagd, die dastattfindet“, sagt Carsten L., 39 Jahre alt.„Wir stehen geschlossen hinter ihm“, soder bullige Lokrangierführer. Und da-mit sind die Kollegen nicht allein.

Täglich schreiben unzählige Leute derGDL Mails: „Durchhalten!!!“ Weselsky istihr Zugpferd. Er sagt: „Die GDL brauchtmich als starken Baum, der nicht wankt.“Für das Zugpersonal bleibt zu hoffen, dassihr Baum nicht gefällt wird.

Im Kampf um bessere Arbeitsbedingun-gen kann Weselsky aber nicht auf die Unter-stützung der Eisenbahn- und Verkehrsge-werkschaft bauen. Und das, obwohl sie mit210.000 Mitgliedern mehr als 6-mal sogroß ist. „Die EVG ist sich dafür zu bequem“,wirft ihnen Quitter vor. Die GDL kämpft al-lein weiter. Schließlich soll auch das restli-che Zugpersonal von besseren Tarifbedin-gungen profitieren. Doch der Focus machtkeinen Hehl daraus, auf wessen Seite ersteht: Mit fünf „goldenen Verhandlungs-tipps“ soll sich die Bahn gegen Weselskydurchsetzen – aberist damit denLokführernund Zugbe-gleitern ge-holfen?SEBASTIAN

KRÄNZLE, SE-

BASTIAN RAVI-

OL

Was soll die Hetzjagd auf diesen Mann?Claus Weselsky, der die Interessen von Zug-begleitern und Lokführern vertritt, ist jetztder „meistgehasste Mann des Landes“ – sonennt der Focus den GDL-Chef.

Wirklich? Vor der DB-Zentrale in Berlinsieht das anders aus. Am Potsdamer Platzversammeln sich am Donnerstag seine Un-terstützer. Sie gehen für ihren Chef auf dieStraße. „Der Bahn-Vorstand ist schuld andiesem Chaos“, schreit Norbert Quitter. Der39-Jährige ist Weselskys Stellvertreter. Die500 GDL-Mitglieder reagieren mit Triller-pfeifen und Buhrufen. Sie stimmen ihm zu.Die 34.000 GDL-Mitglieder sind sauer: In 4Monaten wurde noch keinmal über Löhneund Arbeitszeiten verhandelt. Stattdessenwollte die Bahn das sofortige Ende des

Streiks einklagen – erfolglos.Die Gerichte

Foto: Sebastian Raviol

Elf Staaten bzw. Gebiete sind kom-plett eingemauert: Israel, Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, Verei-nigte Arabische Emirate,Irak, Nordkorea, Gaza,Bangladesch, Bruneiund Malaysia.

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Fotos: Sebastian Raviol; dpa; Ulrich Zillmann

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IV MONTAG, 10. NOVEMBER 2014 TAZ.DIE TAGESZEITUNG TAZ PANTER WORKSHOPwww.taz.de

[email protected]

Die kleine und die große Boulevardzeitung. Wer gewinnt? F.: Markus Lücker, Johanna Kleibl

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.......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Auflösung Rätsel Seite I

n 1 = k (Bild, 7. 11. 2014)n 2 = e (FAZ, 5. 11. 2014)n 3 = j (Zeit Online, 1. 11.2014)n 4 = d (FAZ.net, 5. 11. 2014)n 5 = h (Spiegel Online, 1. 11.2014)n 6 = c (Spiegel, 28. 7. 2014)n 7 = b (Zeit, 16. 10. 2014)n 8 = a (Berliner Kurier, 5. 9.2014)n 9 = g (Focus, 3. 11. 2014)n 10 = f (B.Z., 6. 9. 2014)n 11 = i (taz, 7. 11. 2014)

sind mit je 50 Ausgaben der ganz gro-ßen und der eher kleinen Boulevard-zeitung unterwegs.

Unsere Mission: herausfinden,welche sich besser verkauft. Beidezum selben Preis: 1 Euro – die taz güns-tiger, die Bild teurer als sonst. Unddann: der Geiz-Schock! Auch nach

zwei Stunden ist keiner bereit, Geldfür eine Zeitung zu bezahlen.

Doch viele wollen sie umsonst.Trotzdem lässt sich etwas über

die Vorlieben der Berliner er-fahren. Karsten (42) ist Bild-

Stammleser, weil er dieBild-App praktisch findet.

Sawu (47) hingegen sagt:„Natürlich lese ich die

taz, wir sind schließ-lich in Kreuzberg.“

Mustafa (49) magkeines der bei-

den Blätter.„Die taz ist

links, die Bild ist bescheuert, das istbeides nicht meine Richtung.“

Werden wir es schaffen, die Heftedoch noch loszuwerden? „Ich selbsthasse Zeitungen, aber ich kann verkau-fen“, sagt Zeitungspromotor Ferdi-nand* (39). Er argumentiert nicht mitdem Inhalt, sondern mit dem Preis.

Also: neue Strategie. Ab jetzt gibt’sdie Zeitungen kostenlos. Aber für je-den nur eine! Wovon wird wohl mehrverschenkt?

Abends auf der Oranienstraße. Vie-le reagieren amüsiert bis abwehrend.„Bild? Bleibt mir bloß weg damit!“,ruft Sascha* (35), den wir vor der Kon-zerthalle SO 36 ansprechen. Monika(48) schreit nur schockiert „Bääääh!“,als wir ihr die Bild anbieten. IhreFreundin Claudia (46) greift promptzur taz und unaufgefordert auch zumPortemonnaie. Sie ist die Einzige, diean diesem Tag bereit ist, Geld für einegedruckte Zeitung auszugeben.

Dann die Überraschung: Auch imalternativen Kreuzberg findet die BildAbnehmer. Anzugträger Christian*(43) erzählt, dass er früher oft taz gele-sen hat. „Doch die Themen interessie-ren mich nicht, und ich komme nieganz durch. DieBild lese ich immer imFlugzeug.“ Ekrem* (26) greift aus ande-ren Gründen zur Bild: „Die übertrei-ben immer so, das mag ich.“

Am Ende liegt die taz leicht in Füh-rung: 13 zu 9. Sieg!

Yilmaz (21) ist Kioskverkäufer undhat den Überblick, welche Zeitungensich gut verkaufen. „Die Bild geht vielbesser weg, die Leute sehen die Schlag-zeilen und wollen sie dann haben.“

Doch auch wer sich im Kiosk nichtfür die Bild entscheidet, kann ihrmanchmal kaum entkommen. ZumMauerfall-Jubiläum flattert eine Gra-tis-Bild in alle deutschen Briefkästen.

Die PARTEI rief zum Zwangsum-tausch auf: „Bring den Bild-Müll – hol

DER GROßE BELIEBTHEITS-CHECK – TAZ VS. „BILD“GETESTET Wir wollten es wissen: Wer will „Bild“, wer taz? Und wer ist nochbereit, Geld für Gedrucktes auszugeben? Der exklusive Boulevardcheck

Im Berliner Bergmannkiez sorgt unserExperiment für Aufsehen. Sprüche,verächtliches Zischen, schockierte Bli-cke. „Bildund taz zusammen, das gibt’sdoch gar nicht!“, ruft uns eine Frau inder Marheinekehalle zu. „Solch Einver-nehmen zwischen taz und Bild, das istdoch ein Trick“, sagt ein Student. Wir

Dir eine Titanic!“ Das kommt an:Samstagabend strömen die Men-schenmassen zum Stand der PARTEI,Dutzende Bild-Zeitungen gehen inFlammen auf, Tausende Titanic-Heftewerden nach Hause geschleppt.

Ob das Bild-Chefredakteur KaiDiekmann wohl freut? Er jedenfallssoll auch aufgekreuzt sein.

JOHANNA KLEIBL, FANNY STEYER

* Name und Alter von der Redaktiongeändert

Augenblick zweifle ich an derQualität meines sozialen Um-felds. Auf den hoffentlich wach-senden Industriezweig der Klein-tiersterilisierung umzuschulenwill mir für lange Zeit nicht ausdem Kopf. „Is’ praktisch Zucker-bergs persönliche Zeitung füruns. Nun mach schon. Klick, duStück!“ Noch versuche ich mit ei-nem Rest an Selbstachtung ausder Lage zu entkommen, referie-re mit erho-benemZeigefin-ger überQuali-tätsjour-nalis-mus, überabstruseFace-book-Con-tent-Algorithmen und den un-mittelbar bevorstehenden Un-tergang des westlichen Abend-landes. Es ist dieselbe verlogeneSüffisanz, mit der ich bis heuteleugne, je auch nur eine Folgevon „Schwiegertochter ge-sucht“ gesehen zu haben. „O-ho,der feine Herr Zeit-Leser. Erzähl

SIND WIR DENNVERRÜCKT?INNERER KAMPF BuzzFeed oder „Zeit“,Kätzchen oder Hirn, Boulevard oder Qualität?

Ich geb mir Mühe. Wirklich. Jedernoch so ausführlichen Analysezum Geschäftsklimaindex wid-me ich mich mit größtem Enthu-siasmus. Neben Laptop und Star-bucks-Kaffee wartet ungeduldigdas 10-seitige Zeit-Dossier, dasmir seit dem Morgen den Jute-beutel schwer macht. Aber das istder Preis für Seriosität. Sonstkönnt ich ja gleichGala, Bild undB.Z. lesen.

Doch ein Moment der Schwä-che genügt, ein Missgeschick,und ich stürze, Mausklick voraus,in meinen persönlichen Höllen-schlund: Facebook. Tierischessteigt in mir auf. Mein Buzzfeed-versessenes Alter Ego legt sichwie ein lüsterner Schatten aufmeine Schulter und wispert ver-schwörerisch: „Ist das knuffig!Das musst du dir angucken! Die-se 15 Pelz-Partner sind zum da-hinschmelzen. Nr. 10 … da feh-len die Worte. Thorsten aus demSeminar zur Inzestthematik inder althochdeutschen Literaturhat’s gelikt. Das kann nur gutsein.“

Ich kenne diese Boulevardma-sche doch. Eigentlich. Für einen

werden sie aber oft zu „Mutti“und „Uschi“.

Wieso eigentlich? „Eine Politi-kerin wird auch heute noch häu-figer wegen ihrer Doppelrollemit Fragen nach Frisur und Fa-milie konfrontiert“, sagt Kom-munikationswissenschaftlerinChristina Holtz-Bacha von derUni Erlangen.

Dieses Problem wiegt beimBoulevard oft schwerer. „Boule-vardmedien legen andere Aus-wahlkriterien für einen Artikel

an und gehen schneller ins Priva-te.“

Bild-Beiträge wie „AndreaNahles ist nicht mehr Single“überraschen da nicht. Dafür aberdie Studie der Medienforscherin-nen Ines Engelmann und KatrinEtzrodt. Das Ergebnis: GeradeBild.de unterscheidet bei pikan-ten Fragen zum Privatleben nichtzwischen Frauen und Männern.

Auch Doris Akrap, ehemaligeB.Z.-Redakteurin, meint, dass dasInteresse an persönlichen Ge-

„MUTTI UND DIE MÄDELS“FRAUEN Interessiert sich nur der Boulevard für Frisuren und Beziehungsstress?

„Zu attraktiv für die Politik?“ Soklingt es, wenn die Bild über Per-spektiven für die Ex-Piraten-Ge-schäftsführerin Marina Weis-band spekuliert. Falsch gedacht!Nicht der Boulevard reduziertsie hier aufs Äußere, sonderndas FAZ-Feuilleton. Dabei sinddoch eigentlich Bild, B.Z. und Co.für oberflächliche Berichterstat-tung zuständig. Oder?

Mit Merkel und von der Leyensind starke Frauen an der Spitzeangekommen. In den Medien

schichten geschlechterübergrei-fend ist: „Letztlich soll ein Promimenschlicher erscheinen, egalob Mann oder Frau. Dieses Inter-esse haben aber auch seriöse Me-dien.“ Ziel des Boulevards sindalso nicht immer schmutzigeSchlagzeilen.

Qualitätsmedien unterschei-den oft subtiler zwischen Mannund Frau. „Auch die FAZ hebt dieWeiblichkeit von Politikerinnenhervor, wenn von ‚Frau Merkel‘aber nicht von ‚Herrn Schäuble‘die Rede ist“, sagt Holtz-Bacha.

Der Mütterlichkeitsmythoslebt. Verteidigungsministerinvon der Leyen wird in der SZ zur„Mutter der Kompanie“, die Mi-nisterinnen sind in der FAZ„Muttis Mädchen“.

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.......................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................Mit Moni gärtnern

n Für Rentnerin Monika, 69, aus dem schö-nen Sachsen ist klar: Man muss das Lebenauch mal genießen! Das tut die ehemaligeKindergärtnerin gern im Garten, beimBasteln oder beim Lesen. „Am liebsten magich schicksalhafte Romane“, verrät sie uns.Übrigens: Die taz hat sie noch nie gelesen,würde sie aber der Bild vorziehen.

mir nicht,dass du die

komplett durchliest.Sei doch froh, dass du

mal abschalten kannst.“Meinem vor sich hin spei-

chelnden Gefährten ist die Be-geisterung fürs Banalste deut-lich anzusehen. Sein Geschwafelist ähnlich virulent wie die Kat-zenvideos, die er mir anzudre-

hen versucht. „Niemand muss eserfahren. Nur du, ich und dieseskleine Quiz zur ewig währendenFrage, ob du eher eine Samanthaoder eine Carrie bist.“ Die dadais-tisch anmutende Überschrift„Im ersten Moment denkt man:Pfui. Aber die Zwiebel kanndich retten“ weckt tatsächlichmein Interesse. Wieder habe ichThorsten aus dem Inzestkurs für

diesen Unfall zu danken. DerWiderstand schwindet. DieTriebe triumphieren. Zumindestfür den Moment. Ich weiß das.Mein animalisches Alter Egoweiß das. Die Zeit weiß das, undder brillante Kopf hinter „Wer-den kämpfende Riesenroboterendlich Realität?“ weiß dasebenfalls.

TOBIAS HAUSDORF, MARKUS LÜCKER

Und die Männer? Auch SigmarGabriel wird nicht verschont.Wenn der Wirtschaftsministermit seiner großen Koalition„durch dick und dünn“ geht,entscheidet in einer Fülle von Ar-tikeln sein „Bauchgefühl“.

JULIA HEUERMANN, NINA MONECKE

Nun mach schon.Klick, du Stück! In der Gosse: die Teilnehmerinnen und Teilnehmer

des 17. taz Panter Workshops Foto: Anja Weber