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„Geschwister der Schöpfung“ 4. Mitteldeutscher Kirchentagskongress in Bitterfeld, 6., 12. und 13. Oktober 2013 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ (Röm. 8, V. 22, Übersetzung Martin Luther, rev. Fassung von 1984) Sonnabend, 12. Oktober 2013 Der Herbst hat Einzug gehalten in Bitterfeld. Das Lutherhaus im Herzen der Stadt wird für diesen Tag Ort einer Begegnung der anderen Art zwischen Mensch und Tier sein. Der 4. Mitteldeutsche Kirchentagskongress findet unter dem Motto „Geschwister der Schöpfung“ statt. „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Kirchentages, zum vierten Male lädt unser Landesausschuss des Deutschen Evangelischen Kirchentages Sie zu einer Veranstaltung im Rahmen der Lutherdekade ein. Das Jahr der Toleranz lässt viele inhaltliche Schattierungen zu. Wir wollen das gängige Muster verlassen, ausschließlich das menschliche Miteinander zu thematisieren und folgen dabei Martin Luther insofern, als er sehr wohl der Meinung war, "dass jede Kreatur eine unsterbliche Seele hat". Wir stellen das Seufzen der Kreatur also unserer Mitgeschöpfe – in den Mittelpunkt.“ So der Text der Einladung zu dieser dreitägigen Veranstaltung. Die Natur will anscheinend mitspielen und zeigt sich von besonders bunter Seite. Punkt 14:30 Uhr öffnen sich die Pforten des Lutherhauses für die Besucher, die sich mit Kaffee und Kuchen für die nächsten Stunden stärken und die Gelegenheit für einen fröhlichen Nachbarschafts- plausch nutzen.

„Geschwister der Schöpfung“€¦ · In der Lutherkirche soll um 22:00 Uhr der Film „Gorillas im Nebel“ zu sehen sein, ein Film über die Arbeit der Zoologin und Verhaltensforscherin

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Page 1: „Geschwister der Schöpfung“€¦ · In der Lutherkirche soll um 22:00 Uhr der Film „Gorillas im Nebel“ zu sehen sein, ein Film über die Arbeit der Zoologin und Verhaltensforscherin

„Geschwister der Schöpfung“ 4. Mitteldeutscher Kirchentagskongress in Bitterfeld, 6., 12. und 13. Oktober 2013 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ (Röm. 8, V. 22, Übersetzung Martin Luther, rev. Fassung von 1984) Sonnabend, 12. Oktober 2013 Der Herbst hat Einzug gehalten in Bitterfeld. Das Lutherhaus im Herzen der Stadt wird für diesen Tag Ort einer Begegnung der anderen Art zwischen Mensch und Tier sein. Der 4. Mitteldeutsche Kirchentagskongress findet unter dem Motto „Geschwister der Schöpfung“ statt. „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Kirchentages, zum vierten Male lädt unser Landesausschuss des Deutschen Evangelischen Kirchentages Sie zu einer Veranstaltung im Rahmen der Lutherdekade ein. Das Jahr der Toleranz lässt viele inhaltliche Schattierungen zu. Wir wollen das gängige Muster verlassen, ausschließlich das menschliche Miteinander zu thematisieren und folgen

dabei Martin Luther insofern, als er sehr wohl der Meinung war, "dass jede Kreatur eine unsterbliche Seele hat". Wir stellen das Seufzen der Kreatur – also unserer Mitgeschöpfe – in den Mittelpunkt.“

So der Text der Einladung zu dieser dreitägigen Veranstaltung. Die Natur will anscheinend mitspielen und zeigt sich von besonders bunter Seite.

Punkt 14:30 Uhr öffnen sich die Pforten des Lutherhauses für die Besucher, die sich mit Kaffee und Kuchen für die nächsten Stunden stärken und die Gelegenheit für einen fröhlichen Nachbarschafts-plausch nutzen.

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Um 15:00 Uhr begrüßt Pfarrer Johannes Toaspern nebst dem Vorsitzenden des Landesausschusses DEKT KPS, Lothar Tautz, die Gäste, die es sich inzwischen im großen Saal bequem gemacht haben. Lothar Tautz gibt einen kleinen Überblick über den geplanten Ablauf. Unterstützt werden die beiden Herren dabei vom Berliner Duo „Klaster Royall“, bestehend aus Franziska Weiß (Gesang/Bratsche/Geige) und Ishlar Smolny (Klavier/Gesang), das gewohnt charmant und humorvoll für die musikalische Umrahmung sorgt. Dann ist es auch schon Zeit, sich tiefergehend mit dem Thema des Kirchentagskongresses zu beschäftigen: das Verhältnis der Menschen zu den Tieren. Hierbei hilft der erhellende Vortrag von Pfarrer Dr. Ulrich Seidel, das eigene Verständnis dieses Themas zu überprüfen, und gibt Denkanstöße zu alternativen Sichtweisen. In seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender des Vereines AKUT (Aktion Kirche und Tiere) gelingt es ihm vorzüglich, das biblische Bild der „Verwandtschaft“ so zu malen, dass ein jeder etwas damit anfangen kann.

„Grundlegend für AKUT ist die Erkenntnis, dass sich christliche Verantwortung nicht allein auf den Menschen und seine Interessen begrenzen lässt, sondern allen Geschöpfen gilt. ... AKUT knüpft an die geistlig-religiösen Traditionen der Kirche an, wie sie in Franziskus von Assisi und Albert Schweitzer sichtbar werden und lässt den Gedanken der ´Ehrfurcht vor dem Leben´ für die Gegenwart

fruchtbar werden. Sie würdigt die Erkenntnisse der Tierethik, Naturphilosophie und Biologie, die ein vertieftes Verständnis des Gemeinsamen von Mensch und Tier auf ihre je eigene Weise entwickelt haben und fördern damit den christlich-naturwissenschaftlichen Dialog.“ Zitat aus http://www.aktion-kirche-und-tiere.de An Kritik an unserer aktuellen Lebensweise – Stichworte: industrielle Massentierhaltung und der generelle Umgang mit unseren Mitgeschöpfen – und den daraus entstehenden Konsequenzen wird ebenso wenig gespart wie an möglichen Auswegen und Alternativen. Und – für so manchen von uns überraschend: Tatsächlich hatte Martin Luther zu all dem aktuell anmutende Ansichten. Und in der Bibel ist davon weit mehr aufgenommen, als uns „Alltagschristen“ üblicherweise begegnet. Alles in allem dürfte dieser Vortrag die wenigsten Zuhörerinnen und Zuhörer ungerührt gelassen haben. Nach dem Vortrag und der anschließenden Diskussion gibt es eine kurze Verschnaufpause, denn um 17:00 Uhr steht ein Theaterstück aus „Fräulein Brehms Tierleben an, ein lehrreiches Stück für Kinder und Erwachsene. Am heutigen Abend stellt uns Dafne-Maria Fiedler canis lupus, besser bekannt als Wolf, etwas näher vor

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und berichtet unterhaltsam und anschaulich von seiner Rückkehr in die Fauna Mitteleuropas. So hören wir beispielsweise etwas über die Routen verschiedener Tiere eines Rudels und lernen, dass in einem Wolfsrudel mitnichten das Alphatier den Ton angibt, sondern dass es sich hier vielmehr um eine Form der Demokratie handelt, die wohl die wenigsten von uns diesen fabelhaften Tieren zugetraut hätten. „Fräulein

Brehms Tierleben: Das weltweit einzige Theater für gefährdete Tierarten! Ein wandelndes, sprechendes, wohl erforschtes "Lexikon" auf der Bühne. Ein spannendes, lebendiges theatrum scientium, das ganz in der Tradition von Alfred E. Brehm, Wissen und Zusammenhänge zu

freien wilden Tieren Europas auf theatralische Art und Weise zeigt. Es darf geschaut, gerochen, gehört, geschmeckt und angefasst werden! Der Fräuleinforscherkoffer steckt voller Überraschungen und Erstaunlichkeiten... Die reizende Protagonistin Fräulein Brehm hat sich das Kostüm der Wissenschaft übergestreift und zeigt als Naturbotschafterin sondergleichen ein lebhaftes und doch fundiertes

Theatertreiben zu Erstaunlichkeiten über heimische Tierarten.“ (aus http://www.startnext.de/fraeulein-brehms-tierleben. ) Nach dieser Darbietung knurrt vielen Gästen der Magen – da kommt um 19:00 Uhr der nächste Programmpunkt, nämlich der Praxistest zum „gewaltfreien Kochen“ unter Anleitung von Dr. Seidel, gerade

recht. Er demonstriert uns, dass veganes Essen nicht minder lecker und ohne großen Aufwand realisierbar ist.

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Nach dem Abendessen geben Klaster Royall noch ein paar Lieder zum Besten und im Anschluss wird um 20:00 Uhr die Gesprächsrunde zum Thema „Geld kann man nicht essen“ von Lothar Tautz eröffnet. Er geht unter anderem auf den Heiligen Antonius ein, zu dessen Angedenken sich im Altar der Bitterfelder Stadtkirche bei genauerem Hinsehen ein kleines Schwein finden lässt – durchaus eine Besonderheit in unseren Kirchen. Zu dem

Vortrag gibt es gut gewürzten Ohrenschmaus von Klaster Royall. Eine schöne Gelegenheit, über das Erlebte und Gelernte des Tages nachzudenken und sich auszutau-schen. Das zeigt die lebhafte Diskussion, die entsteht. Ein spannendes Thema, bietet es doch jedem die Möglichkeit, die eigene Lebensweise zu überprüfen. Über

mangelnde Anregung, das eigene Konsumverhalten etwas genauer zu beobachten und möglicherweise gar neu zu überdenken, kann sich niemand beschweren. Gegen 21:30 Uhr beschließt Lothar Tautz den Tag im Lutherhaus und bedankt sich bei allen Besuchern und Mitwirkenden, nicht zuletzt aber bei Pfarrer Toaspern, dem er bei dieser Gelegenheit auch sein Geburts-tagsgeschenk überreicht. Mit der Einladung zum Festgottesdienst am nächsten Morgen werden wir alle in die Nacht entlassen, allerdings nicht ohne den Hinweis, dass der letzte Programmpunkt des Tages noch bevor steht: In der Lutherkirche soll um 22:00 Uhr der Film „Gorillas im Nebel“ zu sehen sein, ein Film über die Arbeit der Zoologin und Verhaltensforscherin Dian Fossey. Sie hat

sich den

Schutz der

wenigen noch existierenden Berggorillas zur Aufgabe gemacht und wurde, gerade weil sie darin so erfolgreich war, nach jahrelanger Arbeit in den Bergwäldern des Kongos von afrikanischen Wilderern ermordet.

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Ein toller Film, doch für die meisten der Teilnehmer/innen wohl etwas zu spät angesetzt. Der einzige Gast, der um diese Uhrzeit in der Kirche auftaucht, bekommt als Trost wegen des „Programmausfalles“ die DVD-Version des Filmes geschenkt. Und so endet der Kongress-Tag versöhnlich, jedoch etwas früher, als geplant. Sonntag, 13. Oktober 2013 Am nächsten Morgen haben die Besucher von 9:30 bis 10:00 Uhr die Gelegenheit, noch einmal die Ausstellung „Europäischer Naturfotograf des Jahres 2012“ in der Lutherkirche zu bewundern, die bereits am vorherigen Sonntag eröffnet wurde und während der Woche großen Zuspruch bei der Bitterfelder Bevölkerung genossen hat. Die Klanginstallation von Annette Hildebrandt, die die ohnehin eindrucksvollen Bilder mit verschiedensten Tierlauten stim-mungsreich untermalt, sorgt eingangs noch bei einigen der Gottesdienstbesucher für Irrita-tionen. Wer rechnet schon beim Betreten der Kirche damit, das Brüllen eines Löwen,

den wehmütigen Ruf des Eis-tauchers oder die wundervollen Walgesänge durch die Kirche hallen zu hören. Wenn man sich aber erst einmal darauf eingelassen hat, wird man von den seltsamen Klängen und den großartigen Fotos in ihren Bann gezogen. Spätestens beim atemtechnisch und klanglich beeindruckenden Chorgesang der Wölfe lässt sich eine Konkurrenz

oder gar Verwandtschaft zu unserer Gestaltung von Ensemblemusik erahnen. Pünktlich um 10:00 Uhr beginnt der Festgottesdienst, in dessen Verlauf auf verschiedenste Weise die Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier, ja, ihre Verbundenheit und das Aufeinander angewiesen sein betont wird. Besonders schön: Bei diesem Gottesdienst sind Tiere ausdrücklich erwünscht. Ein Beispiel, das gerne Schule machen darf! Der Kindergottesdienst zumindest wird durch den mitgebrachten Vierbeiner berei-chert, wobei sich der noch junge Hund allerdings inhaltlich nicht auf Dauer einbinden lässt; möglicher-weise ist er spirituell unterfordert? Nein, er mag nicht so lange still sitzen. Die wunderbare Predigt von Oberkirchenrat Fuhrmann fächert weitere Aspekte unseres Themas

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auf. Deshalb nehmen wir sie in diese kleine Dokumentation auf (vgl. unten). Insgesamt kann über dieses Wochenende gesagt werden: Die Vorträge waren lehrreich, ohne belehrend zu wirken, die Gespräche anregend, ohne aufgeregt zu sein, und die Ausstellung tat ihr übriges, die Menschen an die Schönheit und Anmut ihrer Geschwister zu erinnern. Tobias Bassenge, im November 2013 Predigt Oberkirchenrat Christian Fuhrmann: Ein kleiner, etwa vierjähriger Junge spielt mit seinem Vater. Sie sind an der Nordsee, mitten in den Dünen. Unbeschwert toben beide am Strand. Die flackernden Bilder der Super 8 Ka-mera erzählen von ungetrübter Freude, sie zeigen offene liebende Blicke und blindes Ver-stehen zwischen Vater und Sohn. Diese Szene himmlischen Friedens gehört zu einem Familienfilm, der zu Beginn der 60er Jahre im Urlaub der Familie Schlingensief gedreht wurde. Die Bilder erzählen von Gebor-genheit, von Liebe, Glück und tiefem Vertrauen. Solche Kindheitserlebnisse stiften bei uns allen die Sehnsucht nach einer Welt ohne Leiden. In solchen Bildern berühren sich Himmel und Erde. Durch sie wird die Sehnsucht bestärkt, die Sehnsucht auf ein vollkommenes Leben, auf das Paradies eben. Diese sehr familiäre Filmsequenz aus seiner Kindheit hat der 2010 verstorbene Regisseur, Redakteur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief in das Videoprojekt „www.Kirche der Angst.de“ eingebaut.Das war etwa zwei Jahre vor seinem Krebstod. Die Bilder dieser Szene sind so etwas wie Spurenelemente der eigenen Paradieserfahrung. Und in der provozieren-den Präsentation „www.Kirche-der-Angst.de" bilden sie einen Kontrast zur aktuellen Erfah-rung, dass die zerstörerischen Wucherungen nicht mehr lange mit dem Leben vereinbar sein werden. Die Präsentation von Christoph Schlingensief nimmt auf eigene Weise das Anliegen des A-postel Paulus auf. „Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstigt“. Christoph Schlingensiefs ganz unterschiedliche Bilder stellen daneben die Frage: „Darf ich hoffen? Was darf ich hoffen? Gibt es einen Grund der Hoff-nung, die mich von Kindheit an infiziert hat? Neben der verzweifelten Frage sehe ich in dem Internetvideo Schlingensiefs mit der paradie-sischen Kindheitsszene lauten Protest gegen den Tod, der sich metastasierend in das Leben einwebt. „Das kann und darf doch nicht alles sein. Es muss doch mehr geben als Lebensver-fall und Todesfraß. Der Tod darf nicht das letzte Wort haben!“ Es gibt mehr. Das Sehnen und Seufzen, das Klagen und Protestieren möchte sich vor Gott und der Welt nicht mit dem „so ist das eben" abfinden. Der Apostel protestiert, er bindet die ganze Schöpfung als eine große Familie des Leidens und Protestierens zusammen. Wir wissen – so sagt er – , dass wir alle in der Schöpfung wie Schwestern und Brüder von den gleichen Schmerzen betroffen sind. Wir sind der Vergäng-lichkeit unterworfen. Es ist das Kennzeichen aller Geschöpfe: Mit dem Tod gilt es zu leben.

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Dabei aber bleibt der Apostel nicht stehen, denn er setzt als Hoffnungsbotschaft dazu: Er, der Tod, wird uns nicht fertig machen! Liebe Gemeinde, für Paulus und die Menschen seiner Zeit hatte die Schöpfung und Natur einen weitgehend anderen Stellenwert als heute. Natur und Schöpfung waren Ausdruck von Lebensfeindlich-keit. Die Schöpfung galt als bestialisch, als ungezähmt und brutal. Die Menschen fühlten sich der Natur viel mehr schutzlos ausgeliefert, als wir es heute sind. Und zu dieser alten Menschheitserfahrung kam die Frage: Kann es überhaupt ein Recht auf Hoffnung geben, angesichts dieser unabweislichen Tatsachen? Die Natur bedroht das menschliche Leben – es gilt den Kampf mit ihr aufzunehmen und sie zu domestizieren. Das war die verbreitete Auffassung der Zeit des Paulus. Die Menschen damals kannten das Stöhnen der gesamten Schöpfung unter der Last der Vergänglichkeit. Erlösung allerdings stellten sie sich vor als Befreiung und damit Trennung des Geistes und der Seele vom natür-lichen Körper. In dieses Weltverständnis hinein spricht Paulus von der Geschöpflichkeit von Mensch und Welt. Mensch und Welt sind gleichermaßen auf Erlösung angewiesen. Paulus hofft auf die Erlösung als Neuerschaffung aller Schöpfung. Er ist solidarisch mit der geschöpflichen Welt. Er stellt uns Menschen nicht über sie, sondern mitten hinein. Er versteht Menschen und Na-tur als Geschwister der Geschöpflichkeit. Denn beide haben denselben Schöpfer und beide sind aufeinander angewiesen. Das ist ein interessanter Unterschied des Paulus zu seinen Zeitgenossen. Es geht nicht um die Befreiung der menschlichen Seele von den Fesseln des geschaffenen Leibes. Es geht um die gemeinsame Erlösung von Mensch und Welt. Die Sehnsucht der hellenistischen Zeitgenossen des Paulus von dem geschöpflichen Leib hat weitreichende Folgen und tiefschürfende Narben in der von Gott geschaffenen Welt hin-terlassen. Denn unsere Sorge um die Natur kennt Seiten, die der Apostel Paulus sich kaum vorgestellt hat: Für uns steht fest, dass die Natur nicht nur unser menschliches Leben be-droht, sondern dass wir zum größten Feind der Natur geworden sind. Seit der Zeit des Pau-lus hat es fast eine Umkehrung der Verhältnisse gegeben: Die Natur stöhnt nicht mehr mit dem Menschen gemeinsam angesichts der Vergänglichkeit, sondern die Natur stöhnt mehr und mehr unter der Feindschaft und Rücksichtslosigkeit der Menschen. Wir heizen dem Globus ein, seine Polkappen schmelzen weg. Täglich verschwinden Arten von Tiere unwiederbringlich, weil wir ihnen den Lebensraum nehmen. Wir holen raus, was es raus zu holen gibt, und schütten den giftigen Müll zurück. Und wir alle, die wir hier sitzen, sind dabei beim Heizen, Ausrotten und Wegschütten. Wir sind tatsächlich mittendrin und beteiligt an dem metastasierenden Vernetzen der Todesfäden hinein in die Welt. Wohlfeile Klage über die anderen in Synodenbeschlüssen und Verlautbarungen unserer Kir-che sind kein Weg des Gottvertrauens. Liebe Gemeinde, es tut uns gut, dieser Konfrontation nicht aus dem Weg zu gehen. In seinen letzten Lebensmonaten machte Christoph Schlingensief die Erfahrung, wie der sonst so glaubenssichere Onkel von Zweifeln und Verunsicherungen befallen wurde. Was haben wir der Last der eigenen Hilflosigkeit entgegen zu setzen? Hier gilt nur noch Hoff-nung. Das ist die Botschaft des Paulus.

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Und diese Botschaft muss sich gefallen lassen, dass sie befragt wird. Ist diese Hoffnung nicht billige Vertröstung? Hat sich Paulus in der Schilderung seiner Hoffnung etwa verspro-chen? Wie war das für Christoph Schlingensief, als er die Bilder seines paradiesischen Kindheitser-lebnisses in den Kontext des eigenen Sterbens stellte? Waren sie Protest der guten gegen die schlechten Tage? Waren sie Ausdruck der Hoffnung auf Ewigkeit, deren Spurenelemente in der Kindheit verstreut waren? Paulus verstehe ich so, dass er unumwunden feststellt: Das Leben ist vom Tod umschlos-sen. Es wird immer im Tode ein Ende finden. Es ist aber nicht dem Tod geweiht. Wenn Du dein Leben als Teil der Heilsgeschichte Gottes mit der ganzen Welt verstehst, dann wird dein Erfahrungsraum größer. Er schießt über die Grenze des Todes hinaus. Die Worte des Paulus laden uns ein zu einer neuen Verhältnisbestimmung. Es geht um mehr, um viel mehr als um unser Leben hier und jetzt – es geht um unsere Beziehung zum ewigen Schöpfer, dem wir uns verdanken. Dieser neuen Grundbeziehung des Lebens traut der Apostel viel zu. Diese Hoffnung nämlich trägt nicht zuerst ins Jenseits, sondern sie macht stark im Diesseits. Um diese Stärkung ringt der Apostel. In dieser Verhältnisbestimmung unseres Lebens können wir unser Verhältnis zu den Mitgeschöpfen und der gesamten Natur neu bestimmen. Wir müssen nicht rausholen, was rauszuholen gibt. Wissen wir doch, dass all das uns aus der Vergänglichkeit nicht retten wird. In den Geschöpfen Geschwister zu entdecken heißt, die eigene Hoffnung wohltuend spürbar zu machen. Wissen wir doch, dass die ganze Schöpfung stöhnt und sich nach Erlö-sung sehnt. Liebe Gemeinde, ich bin sehr kritisch, wenn wir Christen hervorheben, wie sehr für uns die Verpflichtung zum Umweltengagement besteht. Nein – um eine Pflicht geht es viel weniger. Viel mehr geht es um die Freiheit, die wir gewinnen können aus der Hoffnung, die mit der Todeserfahrung nicht ans Ende kommt. Wir müssen nicht alles mitnehmen, was es mitzunehmen gibt. Umfangen von der Endlichkeit wird auch das alles endlich sein. Gemeinsam aber mit der geschaffenen Welt die Hoffnung zu leben, dass wir in viel größere Verhältnisse hineingehören – das ist die Grundlage christli-chen Umweltengagements.Auf dieser Ebene lässt sich streiten, was nötig und sinnvoll ist. Von Paul Tillich stammt der Satz: „Echte Hoffnung auf Ewiges Lebens ist nur möglich, wenn wir hier und jetzt an ihm teilnehmen.“ Ein entschiedener Ausdruck dieser Teilnahme am Ewi-gen Leben besteht darin, endlich zu akzeptieren, dass wir Menschen nicht allein von Gott geschaffen sind: Wir gehören zusammen mit der vernarbten Natur. Wenn wir lernen, in dem richtigen Verhältnis zu leben, haben wir und die Welt inmitten aller Endlichkeit einen Vorge-schmack auf die Ewigkeit. Hoffnung heißt für mich in dieser Welt weniger, dass am Ende al-les gut wird. Hoffnung heißt heute zuerst, dass alles einen Sinn hat. Dieser Sinn ist bei Gott geborgen – darauf hin dürfen wir leben. Ein junger Mann zog durch die Dörfer. Er war zufrieden mit dem, was er am Leibe trug. Er war gerne mit denen zusammen, die zu ihm kamen. Er vertraute darauf, satt von dem zu werden, was da ist. Vom Sorgen hielt er nicht viel. Die Lilien auf dem Feld waren ihm Lehre-rinnen der Sorglosigkeit wie die Vögel unter dem Himmel. Etwas zu gelten, war ihm fremd. Er brach mit der Tradition, weil sie ihm den Himmel verstellte. Doch er lebte in allem im rich-tigen Verhältnis. Die Ewigkeit trug er in die Welt, weil Gott der Schöpfer allen Lebens sein Horizont war. Von ihm empfing er die Kraft, Liebe zu leben. Die Menschen erinnerten sich nach seinem Tod an diese paradiesischen Ereignisse. Von und mit ihnen können wir noch heute leben – zum Wohl der ganzen Schöpfung. Jesus Christus sein Dank. Amen.