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Seite 22 RotFuchs / Juni 2014 Gegen durchgängige Privatisierung von Schulen in den USA Alarmsignale aus dem Yankee-Land D ie jüngste Geschichte scheint Marx wieder einmal recht zu geben mit sei- nem Befund, daß der real existierende Kapitalismus neben anderen Pathologien zugleich auch hochgradig selbstzerstö- rerisch ist. Dies dürfte niemandem ent- gangen sein, der die kürzlich gerade noch einmal vertagte Zahlungsunfähigkeit der USA zur Kenntnis nahm. Nicht nur langfristige soziale und öko- logische Probleme unterminieren die Fundamente des gegenwärtigen Systems, sondern auch bittere Grabenkämpfe innerhalb der herrschenden Schich- ten. Michael Lind und andere intelli- gente Beobachter des amerikanischen Politikgeschäfts betonen immer wieder, wie sich ideologische, sozial-kulturelle, wirtschaftliche, religiöse, ethnische und nicht zuletzt regionale Probleme über- schneiden und zu ernsthaften Konflikten innerhalb des Systems bündeln. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die der politisch herbeigeführten US-Haushaltskrise von den marktbeherrschenden Medien auf beiden Seiten des Atlantiks entgegenge- bracht wird, werden andere und für das Allgemeinwohl nicht minder gefährliche Entwicklungen von eben diesen Medien entweder bagatellisiert oder völlig igno- riert. Dies trifft besonders auf die akute Krise des amerikanischen Bildungssy- stems zu. In den vergangenen drei Jahr- zehnten ist es immer mehr ausgehöhlt worden, angefangen vom Kindergarten bis hin zum College- und Universitäts- studium. Unter dem Schleier der Zauberworte „Reform“, „freier Markt“ und „Entschei- dungsfreiheit“ hat sich eine bestens orga- nisierte und finanzierte Allianz aus der Privatwirtschaft und ihren politischen Helfershelfern darauf spezialisiert, das öffentliche, allgemein zugängliche Bil- dungssystem bewußt zu zerschlagen und durch zunehmende Privatisierun- gen jedweder demokratischen Kontrolle zu entziehen. Beiderseits des Atlantiks können die Schlagworte „Reform“ und „Privatisierung“ längst nicht mehr mit positiven Entwicklungen assoziiert wer- den – sie bedeuten erfahrungsgemäß Qualitätsverlust, Kostenexplosion und Demokratieabbau. Die von den Groß- konzernen gesteuerten Medien und Stif- tungen propagieren die teils offene und teils verdeckte Privatisierung mit immer aggressiveren Marketing-Tricks. So inve- stiert die Bill & Melinda Gates Foundation seit Jahren Hunderte Millionen Dollar, um das amerikanische Bildungssystem im Interesse der Großkonzerne umzu- strukturieren. Ihr „corporate business model“ soll Schüler und Studenten in Bil- dungskunden verwandeln. Einseitige und oft fragwürdige Effizienz- kriterien ersetzen eine wirkliche Ausein- andersetzung mit den Bildungsinhalten, während Spontaneität und auch unab- hängig-kreatives sowie kritisches Den- ken zunehmend unerwünscht sind. Nicht sofort quantifizierbaren und damit in Kapitalverwertungskategorien erfaßba- ren Bildungsbereichen wie Kunst und Kultur wird das Wasser durch drastische Mittelkürzungen und Stellenabbau abge- graben. Bildung im herkömmlichen Sinne mutiert so zur einer bloßen Ware und zu einer ausschließlich auf die Bedürf- nisse der Konzerne orientierten Ausbil- dung. Am Ende dieses Prozesses soll nicht mehr der mündige, gut informierte und zu kritischem Urteil fähige Citoyen ste- hen, sondern der angepaßte, unkritische, unpolitische, aber auf seinem Arbeits- platz effiziente Mensch. Das ist nicht nur ein Abgesang auf die Bildungsideale Goe- thes und Humboldts, sondern auch auf die Demokratie, die ohne vielseitig gebildete und zu kritischem Urteil fähige Bürger nicht funktionieren kann. Lehrer, Schüler, Eltern wie auch Studenten und Dozenten verlieren in diesem Privatisierungsschub immer mehr an Einfluß zugunsten von zunehmend hierarchischen und zentra- lisierten Verwaltungsstrukturen. Die erschreckend aggressiv expandierende Education Technology Industry etabliert sich als neuer Profitbereich mit schon jetzt über acht Milliarden Dollar Jah- resumsatz. Extremistische Republikaner und auch Obamas Demokraten propagieren immer aggressiver die Privatisierung des Schul- systems. Obamas Bildungsminister Arne Duncan hat sich dabei in den letzten Jahren besonders hervorgetan. Diane Ravitch kritisiert in ihrem Werk „Tod und Leben des großen amerikanischen Schulsystems“ und in ihrem neuesten Buch „Herrschaft des Irrtums: Der üble Scherz der Privatisierungsbewegung und die Gefahr für Amerikas öffentli- che Schulen“ die Reorganisierung des Bildungssystems der USA durch Mecha- nismen der Marktwirtschaft als Allheil- mittel für die Misere. Angeblich ist das seit längerem schlechte Abschneiden amerikanischer Schüler in internatio- nal vergleichenden Untersuchungen in erster Linie die Schuld von unfähigen Lehrern und Schulleitern. Daher sollen die Lehrergewerkschaften vollständig entmachtet und die beschä- mend unterbezahlten Lehrer nur dann weiterbeschäftigt werden, wenn ihre Schüler bei den angeblich objektiven und von den Bildungskonzernen entwik- kelten standardisierten Tests deutlich besser abschneiden. Öffentliche Schu- len, in denen Schüler bei diesen Prüfun- gen in größerer Zahl weiterhin schlecht abschneiden, sollen baldigst geschlos- sen und durch private Schulen ersetzt werden. Die Rhetorik ist dabei von interessierter Seite manipulativ auf die traditionell amerikanischen Werte von Freiheit, Eigeninitiative und Staatsskep- sis abgestimmt. In der Praxis werden derartige Lösungsansätze die Bildungs- krise jedoch nur verschlimmern. Die von den Großkonzernen im „Bildungsge- schäft“ immer geschickter vermarktete Diagnose der Bildungsmisere ist dabei ebenso kontraproduktiv wie ihr deutlich eigennütziger Therapievorschlag. Das Schulsystem ist in erster Linie ein Spie- gel der amerikanischen Gesellschaft. Die Verarmung immer weiterer Bevölkerungs- schichten bei gleichzeitig immer obszö- nerem Reichtum einer winzigen Schicht von Milliardären, verbunden mit immer extremeren Mittelkürzungen im öffentli- chen Bildungssystem haben zur Bildungs- krise viel mehr beigetragen als angeblich unfähige Lehrer und Schulleiter, die es natürlich auch gibt. Daß man mit dem- agogischen Seitenhieben auf Pädagogen leider nicht nur im Stammtischmilieu erfolgreich fischen kann, hat vor Jahren schon der hannoveranische „Genosse der Bosse“ mit seiner Faulen-Säcke-Bemer- kung gezeigt. Diane Ravitch weiß inzwischen nur zu gut, wie die Transferierung öffentlicher Gelder hin zu privatwirtschaftlichen Bil- dungseinrichtungen und Management nicht nur das öffentliche Schulsystem zunehmend zerstückelt, sondern zugleich eine große Anzahl unregulierter Privat- schulen geschaffen hat. Die Schultore wurden für ausbeuterische und betrü- gerische Geschäftspraktiken weit geöff- net. Empirische Untersuchungen haben wieder und wieder bewiesen, daß die Überführung von ehemals öffentlichen Schulen in private Trägerschaft zwar die Tresore der Bildungskonzerne mit beträchtlichen Umsätzen füllt, aber in den meisten Fällen keineswegs zu besse- ren Leistungen der Schüler führt. Wer die Schulleistungen gerade der sozial schwa- chen Bevölkerungsschichten wirklich verbessern möchte, sollte sich in erster Linie für eine größere Chancengleichheit einsetzen. Und diese Chancengleichheit ist mit privatwirtschaftlichen Mitteln ganz und gar nicht zu haben. Axel Fair-Schulz Leicht gekürzt aus „Deutsche Rundschau“, Kanada Am 26. Juni um 16 Uhr spricht der Öko- nom Dr. Klaus Blessing auf einer Veran- staltung der RF-Regionalgruppe Suhl im Hotel „Thüringen“ über das Thema Welche Lehren vermittelt heute die DDR-Wirtschaft?

Alarmsignale aus dem Yankee-Land

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Gegen durchgängige Privatisierung von Schulen in den USA

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Page 1: Alarmsignale aus dem Yankee-Land

Seite 22 RotFuchs / Juni 2014

Gegen durchgängige Privatisierung von Schulen in den USA

Alarmsignale aus dem Yankee-Land

Die jüngste Geschichte scheint Marx wieder einmal recht zu geben mit sei-

nem Befund, daß der real existierende Kapitalismus neben anderen Pathologien zugleich auch hochgradig selbstzerstö-rerisch ist. Dies dürfte niemandem ent-gangen sein, der die kürzlich gerade noch einmal vertagte Zahlungsunfähigkeit der USA zur Kenntnis nahm.Nicht nur langfristige soziale und öko-logische Probleme unterminieren die Fundamente des gegenwärtigen Systems, sondern auch bittere Grabenkämpfe innerhalb der herrschenden Schich-ten. Michael Lind und andere intelli-gente Beobachter des amerikanischen Politikgeschäfts betonen immer wieder, wie sich ideologische, sozial-kulturelle, wirtschaftliche, religiöse, ethnische und nicht zuletzt regionale Probleme über-schneiden und zu ernsthaften Konflikten innerhalb des Systems bündeln. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die der politisch herbeigeführten US-Haushaltskrise von den marktbeherrschenden Medien auf beiden Seiten des Atlantiks entgegenge-bracht wird, werden andere und für das Allgemeinwohl nicht minder gefährliche Entwicklungen von eben diesen Medien entweder bagatellisiert oder völlig igno-riert. Dies trifft besonders auf die akute Krise des amerikanischen Bildungssy-stems zu. In den vergangenen drei Jahr-zehnten ist es immer mehr ausgehöhlt worden, angefangen vom Kindergarten bis hin zum College- und Universitäts-studium. Unter dem Schleier der Zauberworte „Reform“, „freier Markt“ und „Entschei-dungsfreiheit“ hat sich eine bestens orga-nisierte und finanzierte Allianz aus der Privatwirtschaft und ihren politischen Helfershelfern darauf spezialisiert, das öffentliche, allgemein zugängliche Bil-dungssystem bewußt zu zerschlagen und durch zunehmende Privatisierun-gen jedweder demokratischen Kontrolle zu entziehen. Beiderseits des Atlantiks können die Schlagworte „Reform“ und „Privatisierung“ längst nicht mehr mit positiven Entwicklungen assoziiert wer-den – sie bedeuten erfahrungsgemäß Qualitätsverlust, Kostenexplosion und Demokratieabbau. Die von den Groß-konzernen gesteuerten Medien und Stif-tungen propagieren die teils offene und teils verdeckte Privatisierung mit immer aggressiveren Marketing-Tricks. So inve-stiert die Bill & Melinda Gates Foundation seit Jahren Hunderte Millionen Dollar, um das amerikanische Bildungssystem im Interesse der Großkonzerne umzu-strukturieren. Ihr „corporate business model“ soll Schüler und Studenten in Bil-dungskunden verwandeln.Einseitige und oft fragwürdige Effizienz-kriterien ersetzen eine wirkliche Ausein-andersetzung mit den Bildungsinhalten,

während Spontaneität und auch unab-hängig-kreatives sowie kritisches Den-ken zunehmend unerwünscht sind. Nicht sofort quantifizierbaren und damit in Kapitalverwertungskategorien erfaßba-ren Bildungsbereichen wie Kunst und Kultur wird das Wasser durch drastische Mittelkürzungen und Stellenabbau abge-graben. Bildung im herkömmlichen Sinne mutiert so zur einer bloßen Ware und zu einer ausschließlich auf die Bedürf-nisse der Konzerne orientierten Ausbil-dung. Am Ende dieses Prozesses soll nicht mehr der mündige, gut informierte und zu kritischem Urteil fähige Citoyen ste-hen, sondern der angepaßte, unkritische, unpolitische, aber auf seinem Arbeits-platz effiziente Mensch. Das ist nicht nur ein Abgesang auf die Bildungsideale Goe-thes und Humboldts, sondern auch auf die Demokratie, die ohne vielseitig gebildete und zu kritischem Urteil fähige Bürger nicht funktionieren kann. Lehrer, Schüler, Eltern wie auch Studenten und Dozenten verlieren in diesem Privatisierungsschub immer mehr an Einfluß zugunsten von zunehmend hierarchischen und zentra-lisierten Verwaltungsstrukturen. Die erschreckend aggressiv expandierende Education Technology Industry etabliert sich als neuer Profitbereich mit schon jetzt über acht Milliarden Dollar Jah-resumsatz.Extremistische Republikaner und auch Obamas Demokraten propagieren immer aggressiver die Privatisierung des Schul-systems. Obamas Bildungsminister Arne Duncan hat sich dabei in den letzten Jahren besonders hervorgetan. Diane Ravitch kritisiert in ihrem Werk „Tod und Leben des großen amerikanischen Schulsystems“ und in ihrem neuesten Buch „Herrschaft des Irrtums: Der üble Scherz der Privatisierungsbewegung und die Gefahr für Amerikas öffentli-che Schulen“ die Reorganisierung des Bildungssystems der USA durch Mecha-nismen der Marktwirtschaft als Allheil-mittel für die Misere. Angeblich ist das seit längerem schlechte Abschneiden amerikanischer Schüler in internatio-nal vergleichenden Untersuchungen in erster Linie die Schuld von unfähigen Lehrern und Schulleitern. Daher sollen die Lehrergewerkschaften vollständig entmachtet und die beschä-mend unterbezahlten Lehrer nur dann weiterbeschäftigt werden, wenn ihre Schüler bei den angeblich objektiven und von den Bildungskonzernen entwik-kelten standardisierten Tests deutlich besser abschneiden. Öffentliche Schu-len, in denen Schüler bei diesen Prüfun-gen in größerer Zahl weiterhin schlecht abschneiden, sollen baldigst geschlos-sen und durch private Schulen ersetzt werden. Die Rhetorik ist dabei von interessierter Seite manipulativ auf die

traditionell amerikanischen Werte von Freiheit, Eigeninitiative und Staatsskep-sis abgestimmt. In der Praxis werden derartige Lösungsansätze die Bildungs-krise jedoch nur verschlimmern. Die von den Großkonzernen im „Bildungsge-schäft“ immer geschickter vermarktete Diagnose der Bildungsmisere ist dabei ebenso kontraproduktiv wie ihr deutlich eigennütziger Therapievorschlag. Das Schulsystem ist in erster Linie ein Spie-gel der amerikanischen Gesellschaft. Die Verarmung immer weiterer Bevölkerungs-schichten bei gleichzeitig immer obszö-nerem Reichtum einer winzigen Schicht von Milliardären, verbunden mit immer extremeren Mittelkürzungen im öffentli-chen Bildungssystem haben zur Bildungs-krise viel mehr beigetragen als angeblich unfähige Lehrer und Schulleiter, die es natürlich auch gibt. Daß man mit dem-agogischen Seitenhieben auf Pädagogen leider nicht nur im Stammtischmilieu erfolgreich fischen kann, hat vor Jahren schon der hannoveranische „Genosse der Bosse“ mit seiner Faulen-Säcke-Bemer-kung gezeigt. Diane Ravitch weiß inzwischen nur zu gut, wie die Transferierung öffentlicher Gelder hin zu privatwirtschaftlichen Bil-dungseinrichtungen und Management nicht nur das öffentliche Schulsystem zunehmend zerstückelt, sondern zugleich eine große Anzahl unregulierter Privat-schulen geschaffen hat. Die Schultore wurden für ausbeuterische und betrü-gerische Geschäftspraktiken weit geöff-net. Empirische Untersuchungen haben wieder und wieder bewiesen, daß die Überführung von ehemals öffentlichen Schulen in private Trägerschaft zwar die Tresore der Bildungskonzerne mit beträchtlichen Umsätzen füllt, aber in den meisten Fällen keineswegs zu besse-ren Leistungen der Schüler führt. Wer die Schulleistungen gerade der sozial schwa-chen Bevölkerungsschichten wirklich verbessern möchte, sollte sich in erster Linie für eine größere Chancengleichheit einsetzen. Und diese Chancengleichheit ist mit privatwirtschaftlichen Mitteln ganz und gar nicht zu haben.

Axel Fair-Schulz

Leicht gekürzt aus „Deutsche Rundschau“, Kanada

Am 26. Juni um 16 Uhr spricht der Öko-nom Dr. Klaus Blessing auf einer Veran-staltung der RF-Regionalgruppe Suhl im Hotel „Thüringen“ über das Thema

Welche Lehren vermittelt heute die DDR-Wirtschaft?