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DIE ALCHEMIE * Die Alchemie ist der Boden, aus dem unsere Chemie hervorging, ihre unsicheren und tastenden Versuche halfen, das moderne methodische Experiment mitbegr¨ unden, und ihre großen und kleinen, voreiligen und selbstbetr¨ ugerischen Vorstellungen des Unbekannten f¨ uhrten oft zu Entdeckungen und Erfindungen, die selbst wieder neue wissenschaftliche Bed¨ urfnisse schufen. Viele Inhalte ihrer Erkenntnisse gelten auch heute noch, wenn auch die Formen andere sind, in denen sie sich ausdr¨ ucken“. Mit diesem Worten hatte FRANZ STRUNZ 1 vor nunmehr sechzig Jahren die Alchemie v¨ ollig richtig charakterisiert. Dennoch trifft sein Urteil nur einen Teil des außerordentlich komplexen Ph¨ anomens der Alchemie. Sie war eine Vorl¨ auferin der Chemie“ 2 , gewiß. Aber sie war viel mehr. Sie war eine Naturphilosophie, die nicht nur die unbelebte Materie erforschen und die Transmutation der Metalle lehren, sondern den ganzen Zusammenhang der Welt erkl¨ aren wollte. Mit dem Neuplatonismus und der Gnosis im Hintergrund tat sie dies notwendig in den Formen der spirituellen Spekulation, sie bediente sich der Astrologie und Magie und dr¨ uckte ihre Vorstellungen in Visionen, Allegorien und mythischen Erz¨ ahlungen aus. Um ihre Erkenntnisse vor Profanierung zu bewahren, verkleidete sie sie in Decknamen und dunklen Ausdr¨ ucken, und so mußte die Geschichte der Alchemie den Aufkl¨ arern als die Geschichte der menschlichen Narrheit“ 3 erscheinen. Gegen¨ uber dem rationalistischen Standpunkt, nach dem die Alchemie ein einziger großer Irrtum gewesen war, ist in neuerer Zeit der spirituelle Aspekt dieser Wissen- schaft st¨ arker betont worden. J. EVOLA 4 hat die mittelalterliche Alchemie als eine seit dem Altertum fortdauernd ¨ uberlieferte hermetische Geheimtradition bewertet. F¨ ur CARL GUSTAV JUNG 5 ist die Alchemie, mit all ihren Symbolen und Prozessen, eine Projektion der Archetypen und des kollektiven Unbewußten auf die Materie. Das opus alchymicum sei in Wirklichkeit der Individuationsprozeß, durch den man zum Selbst wird. MIRCEA ELIADE 6 hat durch viele religionsgeschichtliche Parallelen die These zu erh¨ arten versucht, daß die Alchemie in ihrer Gesamtkonzeption eine große geistige Sch¨ opfung archaischen, mythischen, mystischen und gnostischen Denkens sei. Alle drei Autoren haben zweifellos etwas Richtiges gesehen, aber ihre Arbeiten sind unhistorisch. Ihre Methode, Quellen aus den verschiedensten Zeiten und L¨ andern unterschiedslos f¨ ur ihre Thesen heranzuziehen, kann nicht zur Erkenntnis der histo- rischen Wirklichkeit f¨ uhren. Wesentliches ¨ uber das Zusammengehen von praktischer Alchemie und religi¨ oser Spekulation hat WILHELM GANZENM ¨ ULLER erkannt, der mit * MANFRED ULLMANN, Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam, Leiden 1972, S. 145 – 147 [Handbuch der Orientalistik]. 1 Strunz Naturwissenschaften p. 5. 2 Rosenthal Fortleben 323. 3 Johann Christoph Adelung, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen ber¨ uhmter Schwarzk¨ unstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schw¨ armer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden, Theil I – VII, Leipzig 1785-1789. 4 J. [Giulio Cesare Andrea] Evola, La tradizione ermetica nei suoi simboli, nella sua dottrina e nella sua arte regia“, Bari 1931, seconda edizione riveduta, Bari 1948. 5 Carl Gustav Jung, Die Visionen des Zosimos, in: Eranos-Jahrbuch 5, 1937, 15 – 54; ders., Psychologie und Alchemie, Z ¨ urich 1944, 2. Aufl. 1952; Walter Pagel, Jungs Views on Alchemy, Isis 39, 1948,44 – 48. 6 Mircea Eliade. Forgerons et Alchimistes, Paris 1956, deutsche ¨ Ube. Emma von Pelet, Stuttgart 1960.

Alchemie [Ullmann HdO Erg I 6-2-145-147]

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Alchemie als Ausdruck des Strebens,die Welt ganzheitlich zu deuten.

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DIE ALCHEMIE*

”Die Alchemie ist der Boden, aus dem unsere Chemie hervorging, ihre unsicherenund tastenden Versuche halfen, das moderne methodische Experiment mitbegrunden,und ihre großen und kleinen, voreiligen und selbstbetrugerischen Vorstellungen desUnbekannten fuhrten oft zu Entdeckungen und Erfindungen, die selbst wieder neuewissenschaftliche Bedurfnisse schufen. Viele Inhalte ihrer Erkenntnisse gelten auchheute noch, wenn auch die Formen andere sind, in denen sie sich ausdrucken“. Mitdiesem Worten hatte FRANZ STRUNZ1 vor nunmehr sechzig Jahren die Alchemie volligrichtig charakterisiert. Dennoch trifft sein Urteil nur einen Teil des außerordentlichkomplexen Phanomens der Alchemie. Sie war eine ”Vorlauferin der Chemie“ 2, gewiß.Aber sie war viel mehr. Sie war eine Naturphilosophie, die nicht nur die unbelebteMaterie erforschen und die Transmutation der Metalle lehren, sondern den ganzenZusammenhang der Welt erklaren wollte. Mit dem Neuplatonismus und der Gnosisim Hintergrund tat sie dies notwendig in den Formen der spirituellen Spekulation, siebediente sich der Astrologie und Magie und druckte ihre Vorstellungen in Visionen,Allegorien und mythischen Erzahlungen aus. Um ihre Erkenntnisse vor Profanierungzu bewahren, verkleidete sie sie in Decknamen und dunklen Ausdrucken, und so mußtedie Geschichte der Alchemie den Aufklarern als die ”Geschichte der menschlichenNarrheit“ 3 erscheinen.

Gegenuber dem rationalistischen Standpunkt, nach dem die Alchemie ein einzigergroßer Irrtum gewesen war, ist in neuerer Zeit der spirituelle Aspekt dieser Wissen­schaft starker betont worden. J. EVOLA4 hat die mittelalterliche Alchemie als eineseit dem Altertum fortdauernd uberlieferte hermetische Geheimtradition bewertet. FurCARL GUSTAV JUNG 5 ist die Alchemie, mit all ihren Symbolen und Prozessen, eineProjektion der Archetypen und des kollektiven Unbewußten auf die Materie. Das opusalchymicum sei in Wirklichkeit der Individuationsprozeß, durch den man zum Selbstwird. MIRCEA ELIADE 6 hat durch viele religionsgeschichtliche Parallelen die These zuerharten versucht, daß die Alchemie in ihrer Gesamtkonzeption eine große geistigeSchopfung archaischen, mythischen, mystischen und gnostischen Denkens sei.

Alle drei Autoren haben zweifellos etwas Richtiges gesehen, aber ihre Arbeitensind unhistorisch. Ihre Methode, Quellen aus den verschiedensten Zeiten und Landernunterschiedslos fur ihre Thesen heranzuziehen, kann nicht zur Erkenntnis der histo­rischen Wirklichkeit fuhren. Wesentliches uber das Zusammengehen von praktischerAlchemie und religioser Spekulation hat WILHELM GANZENMULLER erkannt, der mit

* MANFRED ULLMANN, Die Natur­ und Geheimwissenschaften im Islam, Leiden 1972, S. 145 – 147[Handbuch der Orientalistik].

1 Strunz Naturwissenschaften p. 5.2 Rosenthal Fortleben 323.3 Johann Christoph Adelung, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen

beruhmter Schwarzkunstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen­ und Liniendeuter, Schwarmer,Wahrsager und anderer philosophischer Unholden, Theil I – VII, Leipzig 1785­1789.

4 J. [Giulio Cesare Andrea] Evola, La tradizione ermetica nei suoi simboli, nella sua dottrina e nellasua ”arte regia“, Bari 1931, seconda edizione riveduta, Bari 1948.

5 Carl Gustav Jung, Die Visionen des Zosimos, in: Eranos­Jahrbuch 5, 1937, 15 – 54; ders., Psychologieund Alchemie, Zurich 1944, 2. Aufl. 1952; Walter Pagel, Jungs Views on Alchemy, Isis 39, 1948,44 –48.

6 Mircea Eliade. Forgerons et Alchimistes, Paris 1956, deutsche Ube. Emma von Pelet, Stuttgart 1960.

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2 Die Alchemie

Bezug auf die Alchemie des christlichen Mittelalters sagt:7”Die Verbindung zwischen

alchemistischen Vorgangen und religiosen Ideen war aber keine rein theoretische,gleichsam nachtraglich am Schreibtisch ersonnene, vielmehr gehorte die praktischeTatigkeit des einzelnen Alchemisten dazu. Das konkrete Denken des Mittelalters ver­langte auch in der Alchemie die Verbindung des inneren Geschehens mit einer außerenHandhabung. Wie im kirchlichen Leben die Spendung eines Sakraments sich in einerbestimmten außeren Handlung vollzog so waren auch dem Alchemisten die chemi­schen Verrichtungen nicht rein praktische Handlungen, an die man außerdem nochgewisse Spekulationen knupfen konnte, sondern die Vorgange im Kolben waren furihn in geheimnisvoller, logisch nicht klar erfaßbarer Weise mit den entsprechendenmetaphysischen Vorgangen verknupft“ 8.

Die fruheste Stufe der schriftlich fixierten Alchemie sind griechische Texte ausnachchristlicher Zeit (die Ansatze schwanken vom 1. bis 3. Jhdt.)9. Es handelt sichuni Pseudepigrapha, die Autoritaten der Hermetik (Hermes, Thot, Agathodaimon), derjudisch­christlichen Gnosis (Salomon, Moses, Maria, Jesus), der griechischen Philoso­phie (Demokrit) oder auch persischen und agyptischen Weisen (Zarathustra, Ostanes,Kleopatra) beigelegt sind. Der erste Autorenname, hinter dem sich eine historischePersonlichkeit verbirgt, ist der des Zosimos von Panopolis, dessen Lebenszeit gewohn­lich in den Anfang des 4. Jhdts. gesetzt wird. In seinem Werk zeichnet sich der Ubergangder gnostisch­hermetischen Alchemie zur neuplatonischen Alchemie ab. Einerseits ge­braucht er die gleichen symbolischen Ausdrucke wie seine Vorganger, andererseits –besonders in seinen Briefen an Theosebeia – interpretiert er die alten Texte in der alle­gorischen Weise der Alexandriner. Zur praktischen Alchemie hat er wenig beigetragen.Das Werk des Zosimos wurde durch den neuplatonischen Philosophen Olympiodor(Ende des 6. Jhdts.) kommentiert. Bei ihm finden sich zum erstenmal spezifisch philo­sophische Elemente in der alchemistischen Theorie. Spatere Autoren bauen auf dieserTradition auf. Hier sind vor allem zu nennen: ”Der Christ“ (ś WqistiamÑr) Stepha­nos (Zeitgenosse des Kaisers Herakleios), sowie Heliodor, Theophrast, Hierotheos undArchelaos, die angeblichen Autoren der Iambengedichte10

Die griechischen alchemistischen Schriften sind nur zu einem Teil erhalten geblie­ben; außerdem sind sie sehr schlecht uberliefert, durch Kopisten verderbt und durch

7 Wilhelm Ganzenmuller, Alchemie und Religion im Mittelalter, in: Deutsches Archiv fur Geschichtedes Mittelalters 5, 1942, 329, abgedruckt in: Ganzenmuller Beitrage p. 334.

8 Vgl. noch: H. J. Sheppard, Gnosticism and Alchemy, in: Ambix 6, 1957, 86 – 101; Wilhelm Gan­zenmuller, Wandlungen in der geschichtlichen Betrachtung der Alchemie, in: Chymia 3, 1950,143 – 154, abgedruckt in: Ganzenmuller Beitrage 349 – 360; ders., Zukunftsaufgaben der Geschichteder Alchemie, in: Chymia 4, 1953, 31 – 36. Einen sehr nutzlichen Uberblick uber den gegenwartigenStand der Forschung und die Literatur gibt: Karl Frick, Einfuhrung in die alchemiegeschichtlicheLiteratur, in: Arch. Gesch. Med. 45, 1961, 147 – 163.

9 F. Sherwood Taylor, The Origins of Greek Alchemy, in: Ambix 1, 1937, 30 – 47. Der Versuch Eislers,aus Keilschrifttexten aus der Zeit Assurbanipals auf das Vorhandensein einer babylonischen Alchemiezu schließen (Robert Eisler, Der babylonische Ursprung der Alchemie, in: Chemiker­Zeitung 83 u.86, 1925; ders., Die chemische Terminologie der Babylonier, in: ZA 37 [N.F. 3], 1927, 109 – 131)ist durch Ernst Darmstaedter (Vorlaufige Bemerkungen zu den assyrischen chemischtechnischenRezepten, in: ZA 36 21, 1925,302 – 304; ders., Nochmals Babylonische ”Alchemie“ in: ZA 37 [N.F.3], 1927, 205 – 213) und Julius Ruska (Kritisches zu R. Eislers chemiegeschichtlicher Methode, in:ZA 37 [N. F. 3], 1927, 273 – 282) mit Recht zuruckgewiesen worden.

10 C. A. Browne, The poem of the philosopher Theophrastos upon the sacred art. A metrical translaticnwith comments upon the historv of Alchemy, in: The Scientific Monthly 11, 1920, 293 – 224;Lippmann Entstehung II 29ff.

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Die Alchemie 3

Interpolationen entstellt. Sie wurden von byzantinischen Gelehrten des 10. Jhdts. ge­sammelt, aber diese Sammlung ist im Grunde nur eine Masse unzusammenhangenderFragmente. Der Hauptzeuge ist der Codex Marcianus 299 (saec. XI)11; die auf PariserHandschriften basierende Edition von BERTHELOT und RUELLE12 ist unzuverlassig. Einekritische Edition hat die Union Academique Internationale in die Wege geleitet, zu derder Catalogue des manuscrits alchimiques grecs, Bd. I­VIII, Bruxelles 1924ff., dieVorarbeiten bilden sollte.

Zu verstellen ist die außerordentliche Wirkung der Astrologie nur, wenn man bedenkt,daß sie nicht allein der Versuch war, die Zukunft und das Schicksal des Menschenvorauszusagen. Sie war vielmehr Ausdruck des Strebens, die Welt ganzheitlich zudeuten; die menschliche Seele suchte durch sie den Frieden im Universum. Damit aberwurde die Astrologie eine gefahrliche Konkurrentin der Religion, und so konnte esnicht ausbleiben, daß immer wieder Theologen aufstanden, um einen entschiedenenund erbitterten Kampf gegen sie zu fuhren.

M. Ullmann, l. c., S. 274.

11 Ausfuhrlich beschrieben von Otto Lagercrantz, CMAG II, 1927, 1 – 22. Vgl. auch: Taylor Survey110 – 113; A. Rehm, Zur Uberlieferung der griechischen Alchemisten, in: Byzantinische Zeitschrift39, 1939, 394 – 434.

12 Collection des anciens alchimistes grecs, publiee par Marcellin Berthelot, avec la collaboration deCharles­Emile Ruelle, Vol. I­III, Paris 1987­1888.

Herzog
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