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2018. 424 S., mit 15 Abbildungen ISBN 978-3-406-72990-4 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/25611265 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses

Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des

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Page 1: Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des

2018. 424 S., mit 15 Abbildungen ISBN 978-3-406-72990-4

Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/25611265

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses

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Seit Jahrtausenden treffen Menschen Vorkehrungen, um vergangenesWissen zu konservieren. Woher kommt dieses Interesse am Aufbau vonErinnerungsräumen? Wie werden Erinnerungen, die doch zunächstimmer individuell sind, allgemein verbindlich? Wie nutzt man solcheErinnerungen – zur Bestätigung der Gegenwart, zum Anstoß einer Er-neuerung oder zur Relativierung des eigenen Standpunkts? Und wiewirken sich die Medien der Erinnerung wie Buchdruck, Photographieoder digitale Speicherung auf die kulturellen Erinnerungsräume aus? Umdiese Fragen zu beantworten, überschreitet Aleida Assmann souverändie Grenzen der Nationen, Epochen, Künste und wissenschaftlichenDisziplinen. Und obwohl literarische Texte im Mittelpunkt der Unter-suchungen stehen, kommen ebenso historische, kunsthistorische, phi-losophische und psychologische Fragen zu Sprache.

Aleida Assmann ist Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Litera-turwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie hat außerdem inLos Angeles, Princeton, Houston, Chicago, Wien und an anderenOrten gelehrt und geforscht und wurde vielfach ausgezeichnet, etwamit dem Max-Planck-Forschungspreis (2009), Ernst-Robert-Curtius-Preis (2011), A.H.-Heineken-Preis für Geschichte (2014), Karl-Jaspers-Preis (mit Jan Assmann, 2017), Balzan Preis (mit Jan Assmann, 2017)sowie dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Jan Assmann,2018). Bei C.H.Beck erschienen von ihr außerdem „Der lange Schattender Vergangenheit“ (3. Auô. 2018), „Geschichte im Gedächtnis“(2. Auô. 2014) und „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“(2. Auô. 2016).

2 Titel

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ALEIDA ASSMANN

ERINNERUNGSRÄUME

Formen und Wandlungendes kulturellen Gedächtnisses

C.H.BECK

Titel 3

Page 5: Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des

Dieses Buch erschien zuerst 1999 in gebundener Formin der Reihe C.H.Beck Kulturwissenschaft.

Durchgesehene broschierte Sonderausgabe. 20033. Auôage. 2006

4., durchgesehene Auôage. 20095., durchgesehene Auôage. 2010

Mit 15 Abbildungen

1. Auôage in C.H.Beck Paperback. 2018

© Verlag C.H.Beck oHG, München 1999Satz: ottomedien GmbH, Darmstadt

Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenUmschlagentwurf: Konstanze Berner, München

Umschlagabbildung: David de Heem (1606–1683/84), «Vanitas».© Kunstsammlungen Graf von Schönborn, Pommersfelden

Printed in GermanyISBN: 978 3 406 72990 4

www.chbeck.de

4 Titel

Page 6: Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des

V ORWORT

Bevor die vorliegende Arbeit das Licht der Publikation erblickte, hat sieverschiedene Metamorphosen durchlaufen. In einer frühen Fassung istsie 1992 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelbergals Habilitationsschrift angenommen worden.ZweiAbschnitte aus jenerArbeit sind stark überarbeitet separat in Buchform erschienen:Arbeit amnationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee(Frankfurt a. M.1993) und Zeit undTradition.Kulturelle Strategien der Dau-er (Wien 1998).Auch der Rest hat sich in einem langen Gärungsprozeßgegenüber der ersten Fassung durchgreifend verändert. ProduktiveAnstöße zum Um- undWeiterschreiben gingen dabei insbesondere vonzwei Forschergruppen aus, von denen ich im März 1995 am GettyCenter in Santa Monica und im Sommersemester 1995 am Zentrum fürInterdisziplinäre Forschung in Bielefeld profitieren durfte. SalvatoreSettis danke ich für die Anbindung an die ‹Gedächtnisgruppe› in SantaMonica, Jörn Rüsen für die Aufnahme in seine Forschergruppe‹Historische Sinnbildung›.

Streckenweise nahm der Schreibprozeß die Qualität eines Penelope-Gewebes an, das sich wohl noch lange auflösend und erneuernd imGleichgewicht gehalten hätte, wenn da nicht die regelmäßigen Briefegewesen wären, in denen nach demVerbleib des Buches gefragt wurde.Denn unvorsichtigerweise hatte JanAssmann in einem seiner Bücher dasbaldige Erscheinen meiner Arbeit angekündigt und damit, wie ich be-fürchte, viel zu hohe Erwartungen geweckt. Ich danke diesen unbe-kannten Leserinnen und Lesern in spe für den sanften psychologischenDruck, der nun schließlich doch zum materiellen Druck geführt hat.Bei der Endredaktion des Manuskripts standen mir Andreas Kraft mitseiner unendlichen Sorgfalt, Loyalität und Ausdauer sowie Ernst-PeterWieckenberg mit seinem großen Engagement, seiner Kompetenz undunfaßlichen Einsatzbereitschaft zur Seite. Danken möchte ich vor allemJan Assmann für unser animiertes Dauergespräch und meinen KindernVincent, David, Marlene,Valerie und Corinna, die die Eskapaden ihrerwissenschaftlichen Mutter nicht nur geduldig ertragen, sondern auchsubstantiell mitgetragen haben. Ihnen ist das Buch gewidmet.

Konstanz, im August 1998 Aleida Assmann

Titel 5

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INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Erster TeilFUNKTIONEN

I. Das Gedächtnis als ‹ars› und ‹vis› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

II. Die Säkularisierung des Andenkens – Memoria, Fama,Historia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331. Gedächtniskunst und Totenmemoria . . . . . . . . . . . . . . . 332. Fama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Alexanders Tränen am Grabe Achills . . . . . . . . . . . . . . . 39Ruhmestempel und Denkmäler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

3. Historia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Herkommen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Der historische Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50Das Grab desVergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Monumente, Relikte, Gräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

III. Der Kampf der Erinnerungen in ShakespearesHistorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621. Erinnerung und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642. Erinnerung und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693. Erinnerung und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754. Nachspiel auf dem Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

IV. Wordsworth und die Wunde der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 891. Memoria und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892. Erinnerung und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

John Locke und David Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95William Wordsworth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

3. Recollection: Erinnerung und Imagination . . . . . . . . . . 1034. Anamnesis: mystische Spiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

V. Gedächtniskisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141. Das Gedächtnis als Arche – Hugo von St.Viktors

christliche Mnemotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1152. Das Kästchen des Darius – Heinrich Heine . . . . . . . . . . 1193. Die grausame Kiste – E. M. Forster . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Titel 7

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VI. Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis –Zwei Modi der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1301. Geschichte und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1302. Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis . . . . . . . . . 133

Aufgaben des Funktionsgedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . 138Aufgaben des Speichergedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 140

3. Ein Gespräch mit Krzysztof Pomian über Geschichteund Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Zweiter TeilMEDIEN

I. Zur Metaphorik der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491. Schriftmetaphern:Tafel, Buch, Palimpsest . . . . . . . . . . . . 1512. Raum-Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Ausgraben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1623. Zeitliche Gedächtnis-Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Verschlucken,Wiederkäuen,Verdauen . . . . . . . . . . . . . . 166Einfrieren und Auftauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168Schlafen und Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Geister-Beschwörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

II. Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1791. Schrift alsVerewigungsmedium und

Gedächtnisstütze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1812. Zur Konkurrenz von Schrift und Bild als

Gedächtnismedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Schrift als Energiekonserve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Francis Bacon und John Milton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

3. Der Niedergang der Buchstaben – Burton, Swift . . . . . . 1974. Von Texten zu Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

William Wordsworth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205Thomas Carlyle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

5. Schrift und Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2096. Spuren und Abfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

III. Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2181. Imagines agentes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2212. Symbole und Archetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2243. Frauenbilder im Männergedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Mona Lisa als Magna Mater (Walter Pater) . . . . . . . . . . . 229Der Liebhaber als Sammler (Marcel Proust) . . . . . . . . . . 233Rekonstruktives und explosives Bildgedächtnis(James Joyce) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

8 Inhalt

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IV. Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2411. Körperschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2412. Stabilisatoren der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

3. Falsche Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265Die amerikanische ‹False-Memory-Debate› . . . . . . . . . . 266Kriterien der Glaubwürdigkeit von Erinnerungenin der oral history . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270Die ‹Wahrheit› falscher Erinnerungen –Vier Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

4. Kriegstrauma in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278Trauma und Mythos – HofmannsthalsDie ägyptische Helena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279Trauma und Phantastik – KurtVonnegutsSlaughterhouse Five . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284Trauma und ethnisches Gedächtnis –Leslie Marmon Silkos Ceremony . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

V. Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2981. Das Gedächtnis der Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2982. Generationenorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3013. Heilige Orte und mythische Landschaften . . . . . . . . . . . 3034. Exemplarische Gedächtnisorte – Jerusalem und Theben . 3055. Gedenkorte – Petrarca in Rom, Cicero in Athen . . . . . . 3086. Genius Loci – Ruinen und Geisterbeschwörung . . . . . . 3147. Gräber und Grabsteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3228. Traumatische Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329Gedächtnisorte wider Willen: die Topographiedes Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334Die Aura der Gedächtnisorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Dritter TeilSPEICHER

I. Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

II. Dauer,Verfall, Rest – Konservierungsprobleme und dieÖkologie der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

III. Gedächtnis-Simulationen im Brachland desVergessens –Installationen von Gegenwartskünstlern . . . . . . . . . . . . . . . 3591. Anselm Kiefer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Inhalt 9

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2. Sigrid Sigurdsson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3643. Anne und Patrick Poirier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

IV. Das Gedächtnis als Leidschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3721. Christian Boltanski – ‹The Missing House› . . . . . . . . . . . 3752. Naomi Tereza Salmons Photographienzyklus ‹Asservate› . 378

V. Jenseits der Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3831. Lumpensammler – ZumVerhältnis von Kunst

und Abfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3842. Ein kleines Museum für den Rest der Welt –

Ilya Kabakow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3903. Die Enzyklopädie der Toten – Danilo Kis . . . . . . . . . . . . 3974. Die Bibliothek der Gnade – Thomas Lehr . . . . . . . . . . . 4015. Lava und Müll – Durs Grünbein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

Schluß: Zur Krise des kulturellen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . 408

Bibliographische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

10 Inhalt

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EINLEITUNG

«Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehrgibt» lautet ein vielzitierter Satz von Pierre Nora.1 Dieser Satz bestätigtdie bekannte Logik, nach der ein Phänomen erst abhanden gekommensein muß, um voll ins Bewußtsein zu gelangen. Bewußtsein entwickeltsich generell «im Zeichen des Abgelaufenen».Diese Logik paßt gut zumretrospektiven Charakter der Erinnerung: setzt diese doch erst dann ein,wenn die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, abgeschlossen im Rückenliegt.Nehmen wir uns zunächst den zweitenTeil des Satzes vor,dieThe-se, daß es kein Gedächtnis mehr gibt. Stimmt das? Gibt es wirklich keinGedächtnis mehr? Und was für ein Gedächtnis gäbe es nicht mehr?

Wer zum Beispiel wirkliches Wissen mit Auswendigwissen gleich-setzt, wird feststellen müssen, daß es mit dieser Kunst heute nicht weither ist. Das Erlernen vielstrophiger Balladen gehört nicht mehr zumPensum des Deutschunterrichts. Gewiß gibt es auch heute noch Ge-dächtnisvirtuosen, die alljährlich in London zu einem Memorier-Wett-kampf antreten und für das Guinness-Buch der Rekorde mit spektakulärenSpitzenleistungen aufwarten.2 Doch ist nicht zu leugnen, daß die kul-turelle Blüte dieser Kunst lange vorüber ist.Während man in der Anti-ke die Fähigkeit eines überragenden Gedächtnisses noch Feldherren,Staatsmännern und Königen zuschrieb, rücken heute die Gedächtnis-virtuosen eher in die Sphäre des Varietés oder gar des Pathologischen:der Schritt von der Gedächtniskunst zur Gedächtniskrankheit erscheintnicht mehr als sehr groß.Warum soll man auch auswendig lernen, wasman doch überall in Büchern nachlesen kann? Dem Rückgang desAus-wendiglernens korrespondiert die sprunghaft angestiegene Kapazitätder elektronisch hochgerüsteten externen Wissensspeicher. Doch langebevor die Computer dem Gedächtnis seine Arbeit abnahmen, war derWert des Auswendiglernens bereits in Frage gestellt. Schon Platon hat-te die Meinung vertreten, daß auswendig gelerntes Wissen kein echtesWissen ist. In seinem Dialog Phaidros hatte er ja nicht nur die Schrift kri-tisiert, sondern sich auch über die neue sophistische Technik lustig ge-macht, die dazu verhelfen sollte, Geschriebenes im Wortlaut zu memo-

Titel 11

1 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, 11.2 Gedächtnisvirtuosen von der Antike bis zur Gegenwart, in der Fiktion und im

Leben hat Ulrich Ernst mit Akribie zusammengestellt. «Die Bibliothek im Kopf:Ge-dächtniskünstler in der europäischen und amerikanischen Literatur», in: Zeitschriftfür Literaturwissenschaft und Linguistik 105 (1997), 86–123.

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rieren. Die Geschichte der Gedächtniskunst war von Anfang an von ei-ner fundamentalen Kritik an ihr begleitet, zumal das,was tiefsitzend ein-geprägt war, nicht immer den Standards der Vernunft und Empiriestandhielt. «Die Ammenmärchen rupfe ich dir aus dem Kopf!» heißt esin einer Satire des Persius3, und in der Mitte des 17. Jahrhunderts kün-digte der Arzt undTheologe SirThomas Browne die Allianz von Über-lieferung,Wissen und Gedächtnis auf, als er schrieb: «Wissen wird durchVergessen gewonnen; wenn wir also einen klaren und triftigen Bestandan Wahrheiten erwerben wollen, müssen wir uns von vielem trennen,was in unseren Köpfen festsitzt.»4 In der Epoche der Renaissance, dieeinen neuen Aufschwung der Gedächtniskunst erlebte, wurde auch dieGedächtniskritik erneuert. Harald Weinrich hat auf diese Tradition auf-merksam gemacht, zu der u. a. Montaigne und Cervantes gehören. DerRoman Don Quijote kann als ein Manifest für «die grundsätzliche Dis-soziation von Geist und Gedächtnis» gelesen werden, und in den Essaisfindet sich eine radikale «Absage an die Pädagogik des Hochleistungs-gedächtnisses».5 Überhaupt fanden sich bei neuzeitlichen Autorenschon immer Diffamierungen des Gedächtnisses im Namen der Ver-nunft, der Natur, des Lebens, der Originalität, der Individualität, der In-novation, des Fortschritts und wie die Götter der Moderne alle heißenmögen.Weinrich konstatiert:

«Bemerkenswert ist jedenfalls, daß die erstmalig von Huarte festgestellte ‹Feind-schaft› zwischen derVernunft und dem Gedächtnis seit der Aufklärung in ganzEuropa zu einem allgemeinen Krieg gegen das Gedächtnis geführt hat, bei demdie aufgeklärte Vernunft schließlich die Siegerin geblieben ist. Seitdem habenwir alle, ohne uns dessen zu schämen, ein schlechtes Gedächtnis; die Klage hin-gegen, von schwachemVerstande zu sein, hört man seltener.» (579)

Möglicherweise meint Nora mit ‹Gedächtnis› jedoch weniger das Lern-gedächtnis der Mnemotechnik als die kulturelle Tradition im allgemei-nen, das Bildungsgedächtnis, durch das der einzelne mit einer bestimmtenNation oder Region verbunden ist.6 In den Feuilletons unserer Zei-tungen können wir regelmäßig Klagen über kulturellen Gedächtnis-schwund lesen und bei Joachim Fest z. B.dieThese finden,daß der «En-

12 Einleitung

3 « . . . ueteres auias tibi de pulmone reuello.» A. Persi Flacci et D. Ivni Ivvenalis,Satirae. Edidit Breviqve Adnotatione Critica Denvo Instrvxit W. V. Clausen, OxfordUniversity Press 1992. SatvraV, 92/21 (meine Übersetzung).

4 «Knowledge is made by oblivion, and to purchase a clear and warrantable bodyof Truth, we must forget and part with much we know.» Sir Th. Browne, SelectedWritings, ed. by Sir G. Keynes, London 1968, 227.

5 HaraldWeinrich, «Gedächtniskultur – Kulturgedächtnis», in:Merkur 508 (1991),569–582. Der Essay ist inzwischen als Kapitel des Buches: Lethe. Kunst und KritikdesVergessens, München 1997 zu lesen.

6 Beides,Lern- und Bildungsgedächtnis,wird von Gedächtnis-Psychologen in derKategorie des «semantischen Gedächtnisses» zusammengefaßt.

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thusiasmus der Zerstörung» kein neues Phänomen sei. Im Deutschlanddes 19. und 20. Jahrhunderts seien «ein ums andere Mal aus Überdrußoder Wirrnis» die Zusammenhänge im Politischen wie im Kulturellenzerrissen, und zuletzt habe die Jugendrevolte der späten sechziger Jahre«neben vielem Überlebten, Autoritäten, Tabus» auch Herkunftslinienund Erinnerungen getilgt.7 Der Germanist und GoetheforscherAlbrecht Schöne konstatiert in der Gegenwart eine schleichende Kul-turrevolution, eine «epochale Verschiebung», bei der «ein ganzer geist-lich-geistiger Kontinent» abdriftet:

«Was da wegbricht im kulturellen Fundament und verlorengeht an kollektiven,die Generationen übergreifenden Verständigungsgrundlagen und Verstehens-fähigkeiten, betrifft ja keineswegs nur die großen alten Werke. Es gilt nicht we-niger für die Tagebücher unserer Urgroßväter oder die Großmutterbriefe.»8

Die Kommunikation zwischen den Epochen und Generationen brichtab,wenn ein bestimmter Fundus an gemeinsamemWissen abhanden ge-kommen ist.Ebenso,wie die «großen altenTexte» wie Goethes Faust nurlesbar bleiben vor dem obligatorischen Hintergrund großer, ältererTex-te wie der Bibel,die vonWilliam Blake «the great Code ofArt»9 genanntworden ist,bleiben dieAufzeichnungen der Urgroßväter und Großmüt-ter nur lesbar vor dem Hintergrund mündlich weitererzählter Famili-engeschichten. Es besteht also eine Parallele zwischen dem kulturellen,epochenübergreifenden Gedächtnis, das durch normativeTexte gestütztist, und dem kommunikativen, in der Regel drei Generationen verbin-denden Gedächtnis der mündlich weitergegebenen Erinnerungen.Aufbeiden Ebenen, im kulturellen wie im kommunikativen Gedächtnis,diagnostiziert Schöne Gedächtnisschwund.

Nora beschreibt die Gedächtniskrise als eine Abkoppelung der Ge-genwart von derVergangenheit. Er spricht von einem «immer schnelle-renAbsturz in eine unwiderruflich toteVergangenheit»,von einem Her-ausreißen dessen, «was an Erlebtem noch in der Wärme der Tradition,im Schweigen des Brauchtums und in der Wiederholung des Überlie-ferten wurzelte», und er identifiziert auch die zerstörerische Kraft, diehier am Werke ist: «fortgespült von einer Grundwelle der Historizität».Alles, was man heute noch als Gedächtnis ansieht, ist «dessen endgülti-gesVerschwinden im Feuer der Geschichte».10 Man könnte diese Sätzeauf eine aktuelle Krise des Erfahrungsgedächtnisses beziehen, welche dar-

Einleitung 13

7 Joachim Fest,«Das Zerreißen der Kette.Goethe und dieTradition», in:FAZ vom21. Juni 1997, Nr. 141. Die Formulierung vom «Enthusiasmus der Zerstörung»stammt von Goethe.

8 Albrecht Schöne, Dankrede bei derVerleihung des Reuchlin-Preises am 17. Ju-ni 1995 in Pforzheim, in: Die Zeit Nr. 34, vom 18. 8. 1995, S. 36.

9 Vgl. Northrop Frye,The Great Code.The Bible and Literature, London 1982.10 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 11, 18.

Page 14: Aleida Assmann Erinnerungsräume Formen und Wandlungen des

in besteht, daß mit einem weiteren Generationenwechsel die über-lebenden Zeugen der größten Katastrophe dieses Jahrhunderts, derShoah, allmählich aussterben. Dazu schreibt der Historiker ReinhartKoselleck:

«Mit dem Generationswechsel ändert sich auch der Gegenstand der Betrach-tung. Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überleben-den wird eine reineVergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat. (. . . ) Mitder aussterbenden Erinnerung wird die Distanz nicht nur größer, sondern ver-ändert sie auch ihre Qualität. Bald sprechen nur noch die Akten, angereichertdurch Bilder, Filme, Memoiren.»11

Den Wandel von noch gegenwärtiger zu reiner Vergangenheit be-schreibt Koselleck als Ablösung von lebendiger Geschichtserfahrungdurch wissenschaftliche Geschichtsforschung.Was bedeutet das im ein-zelnen?

«Die Forschungskriterien werden nüchterner, sie sind aber auch – vielleichtfarbloser, weniger empiriegesättigt, auch wenn sie mehr zu erkennen oder zuobjektivieren versprechen. Die moralische Betroffenheit, die verkapptenSchutzfunktionen, die Anklagen und die Schuldverteilungen der Geschichts-schreibung – all diese Vergangenheitsbewältigungstechniken verlieren ihrenpolitisch-existentiellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicherEinzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen.»12

Farblos werden,Verlieren,Verblassen – das sind Umschreibungen einesunaufhaltsamenVergessensprozesses, der nach Kosellek zielstrebig in dieVerwissenschaftlichung mündet. Damit stellt er persönlich leibhaftigeErinnerung und wissenschaftlich abstrakte Geschichtserforschung ein-ander gegenüber. Die Geschichte, so legt dieses Modell nahe, muß inden Köpfen,Herzen und Körpern der Betroffenen erst ‹gestorben› sein,ehe sie sich als Wissenschaft wie der Phoenix aus der Asche der Erfah-rungen erheben kann. Solange es noch Betroffene und damit konkreteAffekte, Ansprüche, Einsprüche gibt, unterliegt die wissenschaftlichePerspektive der Gefahr derVerzerrung. Objektivität ist also nicht alleineine Frage der Methode und der kritischen Standards, sondern auch derMortifikation, des Absterbens,desVerblassens von Leid und Betroffenheit.

Man möchte behaupten, daß gegenwärtig das genaue Gegenteil desvon Koselleck geschilderten Prozesses stattfindet. Das Ereignis des Ho-locaust ist mit zeitlicher Distanz nicht farbloser und blasser geworden,sondern paradoxerweise näher gerückt und vitaler geworden. For-mulierungen wie die folgende sind nicht selten: «Je weiter wir uns vonAuschwitz entfernen, desto näher tritt dieses Ereignis, die Erinnerung

14 Einleitung

11 Reinhart Koselleck, Nachwort zu: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich desTraums, Frankfurt a. M. 1994, 117–132, hier: 117.

12 Koselleck, Nachwort, meine Hervorherbung,A. A.

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an diesesVerbrechen an uns heran.»13 Wir haben es heute nicht mit ei-ner Selbstaufhebung, sondern umgekehrt mit einer Verschärfung desGedächtnis-Problems zu tun. Das liegt daran, daß das Erfahrungsge-dächtnis der Zeitzeugen, wenn es in Zukunft nicht verlorengehen soll,in ein kulturelles Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden muß. Daslebendige Gedächtnis weicht damit einem mediengestützten Gedächt-nis, das sich auf materielle Träger wie Denkmäler, Gedenkstätten, Mu-seen und Archive stützt.Während im Individuum Erinnerungsprozesseweitgehend spontan ablaufen und den allgemeinen Gesetzen psychi-scher Mechanismen folgen, werden auf kollektiver und institutionellerEbene diese Prozesse durch eine gezielte Erinnerungs- bzw.Vergessens-politik gesteuert. Da es keine Selbstorganisation eines kulturellen Ge-dächtnisses gibt, ist es auf Medien und Politik angewiesen. Der Über-gang vom lebendigen individuellen zum künstlichen kulturellenGedächtnis ist allerdings problematisch, weil er die Gefahr der Verzer-rung,der Reduktion,der Instrumentalisierung von Erinnerung mit sichbringt. Solche Verengungen und Verhärtungen können nur durch öf-fentliche begleitende Kritik, Reflexion und Diskussion aufgefangenwerden.

Noras Aussage über Gedächtnisschwund in unserer Gegenwart stehtdieThese eines Buches entgegen, das von einer Gruppe amerikanischerÄrzte, Psychologen und Kulturwissenschaftler verfaßt ist. Dort ist näm-lich gerade umgekehrt von der wachsenden Rolle der Erinnerung imöffentlichen Leben die Rede,von einer neuen,ungekannten Bedeutungdes Gedächtnisses in der Gegenwartskultur:

«Wir leben in einer Zeit, in der die Erinnerung wie noch niemals zuvor zu ei-nem Faktor öffentlicher Diskussion geworden ist.An die Erinnerung wird ap-pelliert, um zu heilen, zu beschuldigen, zu rechtfertigen. Sie ist zu einem we-sentlichen Bestandteil individueller und kollektiver Identitätsstiftung gewordenund bietet einen Schauplatz für Konflikt ebenso wie für Identifikation.»14

Während bestimmte Arten von Gedächtnis im Rückzug begriffen sind,wie das Lerngedächtnis, das Bildungsgedächtnis und, in bezug auf dieShoah,das Erfahrungsgedächtnis, nehmen andere Formen des Gedächt-nisses wie das der Medien oder der Politik offensichtlich an Bedeutungzu. Denn dieVergangenheit, von der wir uns zeitlich immer weiter ent-fernen,geht nicht vollends in die Obhut professioneller Historiker über,sie drückt in Gestalt von rivalisierenden Ansprüchen undVerpflichtun-gen auch weiterhin auf die Gegenwart. Der abstrakten Synthese einerGeschichte im Singular stehen heute die vielen unterschiedlichen und

Einleitung 15

13 Linda Reisch, Geleitwort in: Hanno Loewy, Hg., Holocaust: Die Grenzen desVerstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, 7.

14 Paul Antze, Michael Lambek, Hgg.,Tense Past. Cultural Essays in Trauma andMemory, NewYork und London 1997,VII.

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z. T. einander widerstreitenden Gedächtnisse gegenüber, die ihr Rechtauf gesellschaftlicheAnerkennung geltend machen.Niemand wird leug-nen, daß diese Gedächtnisse mit ihren je eigenen Erfahrungen und An-sprüchen zu einem umkämpften, vitalen Teil der Gegenwartskultur ge-worden sind.

Der erste Teil des von Nora zitierten Satzes ist viel leichter zu be-stätigen.Daß seit einem Jahrzehnt viel vom Gedächtnis die Rede ist,be-zeugt eine ständig angewachsene und in ihrer Dichte noch immer nichtnachlassende Forschungsliteratur. Das Interesse am Gedächtnis geht da-bei deutlich über die üblichen Konjunkturphasen wissenschaftlicherMode-Themen hinaus. Die nachhaltige Faszination des Gedächtnis-themas scheint ein Indiz dafür zu sein, daß sich hier unterschiedlicheFragen und Interessen kreuzen, stimulieren und verdichten: kulturwis-senschaftliche, naturwissenschaftliche und informationstechnische. DerComputer als ein simuliertes, ausgelagertes Gedächtnis bildet ebensowie die Hirnforschung mit ihren neuen Erkenntnissen über den Auf-und Abbau neuronaler Netzwerke einen signifikanten Horizont kultur-wissenschaftlicher Fragestellungen. Schon diese Vielfalt der Zugängemacht deutlich,daß das Gedächtnis ein Phänomen ist, auf das keine Dis-ziplin ihr Monopol anmelden kann.

Das Phänomen des Gedächtnisses ist in derVielfalt seiner Erscheinun-gen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, daß es von keiner Professionaus abschließend und gültig zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalbder einzelnen Disziplinen als widersprüchlich und kontrovers. «Memoryis inexplicable», heißt es bei Virginia Woolf.15 Diese Arbeit ist von demInteresse geleitet, möglichst viele Ansichten auf das komplexe Erinne-rungsphänomen zu ermöglichen und dabei längere Entwicklungslinienund Problemkontinuitäten aufzuzeigen. Deshalb werden im folgendenimmer wieder die Traditionen – Mnemotechnik und Identitätsdiskurs, diePerspektiven – individuelles, kollektives, kulturelles Gedächtnis, die Medien– Texte, Bilder, Orte, sowie die Diskurse – Literatur, Geschichte, Kunst,Psychologie usw. gewechselt.Auch nach einer einheitlichen Theorie wirdman auf den folgenden Seiten vergebens suchen, weil diese der Wider-sprüchlichkeit der Befunde kaum gerecht werden würde. Diese Wider-sprüchlichkeit ist aber selbst ein irreduziblerTeil des Problems.

I would enshrine the spirit of the past / For future restoration

Ich möchte den Geist derVergangenheit für zukünftige Heilung einbalsamieren

schrieb der DichterWilliamWordsworth, und die folgenden Zeilen vonT. S. Eliot klingen wie ein direkter Widerruf dieserVerse:

There’s no memory you can wrap in camphor / But the moths will get in.

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15 Virginia Woolf, Orlando.A Biography (1928), Harmondsworth 1975, 56.

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Es gibt keine Erinnerung, die man in Kampfer einwickeln kann, um die Mot-ten fernzuhalten.16

Und noch zwei weitere Beispiele.Anfang des 20. Jahrhunderts schriebItalo Svevo:

«Die Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Lebenfortschreitet.Teile von ihr,die inVergessenheit versunken schienen,tauchen wie-der auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind. Die Gegen-wart dirigiert die Vergangenheit wie die Mitglieder eines Orchesters. Siebenötigt diese Töne und keine anderen. So erscheint die Vergangenheit baldlang, bald kurz. Bald klingt sie auf, bald verstummt sie. In die Gegenwart wirktnur jenerTeil desVergangenen hinein,der dazu bestimmt ist, sie zu erhellen oderzu verdunkeln.»17

Und etwa gleichzeitig betonte Marcel Proust: «Das Buch mit den in unseingegrabenen, nicht von uns selbst eingezeichneten Charakteren istunser einziges Buch.»18 Svevos Beschreibung nimmt die Position der sy-stemischen Gedächtnistheorie vorweg, nach der dieVergangenheit einefreie Konstruktion auf dem Boden der jeweiligen Gegenwart ist. NachProusts Gedächtniskonzept dagegen ist die Gegenwart in einer Weisevon einer bestimmten Vergangenheit geprägt, die sich subjektiver Ver-fügbarkeit entzieht.Nach dieser Anschauung steht die Gegenwart in ei-ner weit komplizierteren Relation zurVergangenheit. Proust vergleichtdiese Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart des menschlichenBewußtseins mit photographischen Negativen, von denen nichtgrundsätzlich vorhersagbar ist, ob sie irgendwann einmal entwickeltwerden oder nicht.

Es sind viele Gründe angeführt worden, um die neue Dominanz undanhaltende Faszination des Gedächtnis-Paradigmas zu erklären: das En-de der Geschichtsphilosophie mit ihrer Betonung von Gegenwarts-vollendung und Zukunftserwartung,das Ende einer Subjektphilosophiemit ihrer Konzentration auf das rationale und souveräne Individuum,das Ende eines disziplinären Wissenschaftsparadigmas mit seiner fort-schreitenden Spezialisierung. Die kulturwissenschaftliche Thematik desGedächtnisses erweist sich in dieser Sicht nicht nur als ein neues Pro-blemfeld, sondern auch als eine besondere Art und Weise, gesamtgesell-schaftliche Problemüberhänge zu bearbeiten.

Doch diese Erklärungen reichen schwerlich aus, um jenen obsessivenZug in der Gedächtnisforschung zu erfassen, zu dem sich auch diese

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16 WilliamWordsworth,Prelude 1805,XI,v.342–43;T. S.Eliot,The Cocktail Party,London 1969, 49.

17 Italo Svevo, Zeno Cosini, übers. v. Piero Rismondo, Hamburg 1959, 467.18 Marcel Proust,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. v. Eva Rechel-

Mertens, Frankfurt 1957, Band 7, 275; frz.Ausgabe:A la Recherche duTemps Perdu.Band III, Edition Gallimard, 1964, 880.

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Studie bekennt.Anders als die kontinuierlich fortgezeugte und weiter-getragene Tradition sind die Bewegungen des Gedächtnisses sporadischund enerviert, sie stehen gewissermaßen unter Strom. Erinnerung be-darf immer eines Anstoßes; nach Heiner Müller geht Erinnerungsarbeitvon Schocks aus. Es gibt wohl nichts, was die Erinnerung so nachhaltigin Gang gesetzt hat wie die Katastrophe der Zerstörung und des Ver-gessens in der Mitte dieses Jahrhunderts. Es ist deshalb nur folgerichtig,wenn am Ende dieses Jahrhunderts, als dessen Signatur aus europäischerund zumal deutscher Sicht eine ungekannte Entschränkung der Zer-störungsgewalt erkennbar ist, Anwälte des Gedächtnisses auf den Plantreten, um, wie Simonides in der römischen Legende, die Schauplätzeder Katastrophen zu besichtigen.Wer von diesem Zusammenhang vonZerstörung und Erinnerung ausgeht, kann den eingangs von Nora zi-tierten Satz kaum noch paradox finden und wird in derThematisierungvon Erinnerung auch eine Form erkennen, in der die Nachgeborenendie Schrecken dieses Jahrhunderts erben und bearbeiten.

Die Arbeit ist in drei Teile geteilt, von denen der erste den Funktio-nen, der zweite den Medien und der dritte den Speichern des kulturel-len Gedächtnisses gewidmet ist. Da sich die verschiedenen Funktionendes Gedächtnisses auch in unterschiedlichen Gedächtnistheorien und-diskursen spiegeln, beginnt und endet dieser Teil mit begrifflichenKlärungen. An die Unterscheidung von ‹Speichern› und ‹Erinnern›schließt sich die vom Gedächtnis als Kunst und Kraft an,womit,wie sichzeigt, auch zwei weitgehend unabhängige Diskurstraditionen benanntsind, einerseits die wohlbekannte Tradition der rhetorischen Mnemo-technik und andererseits die psychologischeTradition, die das Gedächt-nis als eine von drei Seelenfakultäten, auch innere Sinne genannt, aus-weist.Während die eine Tradition auf die Organisation und gestalthafteOrdnung von Wissen abzielt, geht es in der anderen Tradition um dieInteraktion des Gedächtnisses mit Imagination und Vernunft. Die Ge-genüberstellung vom Gedächtnis als ‹ars› und ‹vis› wird in diesem Teiljedoch noch allgemeiner gefaßt, da ein leitendes Interesse dieser Arbeitdarin besteht, neben der mnemotechnischen Ordnungsfunktion vonWissen etwas von der Vielfalt anderer Gedächtnisfunktionen freizule-gen.Alle diese kreisen grundsätzlich um den Zusammenhang von Erin-nerung und Identität.

Totengedenken, Nachruhm und historische Erinnerung sind dreiFormen desVergangenheitsbezugs, die sich in der frühen Neuzeit aus-differenzieren und als konkurrierende Funktionen des kulturellen Ge-dächtnisses nebeneinander treten. Die darauf folgenden beiden Kapitelillustrieren an literarischen Beispielen Fälle von Erinnerungspolitik imweitesten Sinne. In beiden Fällen geht es um die Bedeutung von Erin-nerungen beim Projekt der Identitätsbildung. In Shakespeares Historienwird eine nationale Identität über historische Erinnerungen, in Words-

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worths Prelude wird eine individuelle Identität über biographische Er-innerungen konstruiert. In beiden Fällen steht die Bedeutung einer re-konstruktiv umschaffenden Erinnerung im Mittelpunkt, die dasVerges-sen als notwendigen Anteil am Prozeß immer miteinschließt. Dasfolgende Kapitel, ‹Gedächtniskisten›, wirft die Frage nach Auswahl undBedeutung von Gedächtnisinhalten auf. Was ist wichtig, was ist un-wichtig? Und wie kann das Wichtige gesichert werden?Vom Gedächt-nis als einer Arche ist hier die Rede, die so ausgerüstet ist, daß sie daswichtige christliche Wissen in einem geistigen Gedächtnisraum ein-schließt, aber auch von einem Kästchen, das Heine als einen Schrein fürlebens- (und sterbens-)wichtige Lektüre besungen hat, und schließlichvom Sturz einer Bücherkiste, mit der die Bürde eines lebensfeindlichenkulturellen Gedächtnisses in einem Abgrund zerschellt. Das letzteKapitel des ersten Teils nimmt die Frage nach der Auswahl und Spei-cherkapazität auf und führt eine Unterscheidung in ‹Speicher-› und‹Funktionsgedächtnis› ein, die sowohl einen Bogen zum Gedächtnis als‹ars› und ‹vis› zurückschlägt als auch auf den letzten Teil dieser Arbeitvorausweist.

Solange man über das Gedächtnis aus medizinischer oder psycholo-gischer Perspektive forscht, mag es legitim sein, sich ausschließlich aufdie organische Dimension der neuronalen Strukturen und Prozesse zukonzentrieren. Sobald man das Thema jedoch aus einer kulturwissen-schaftlichen Perspektive in den Blick faßt, sieht man sich auf die tech-nischen und kulturellen Medien des Gedächtnisses verwiesen. Als dierussischen Kultursemiotiker der Tartu-Schule Jurij Lotman und BorisUspenskij Kultur als ein «nicht vererbbares Gedächtnis des Kollektivs»definierten, haben sie damit die Angewiesenheit des kulturellen Ge-dächtnisses auf bestimmte Praktiken und Medien betont.19 Dieses Ge-dächtnis setzt sich nicht einfach fort, es muß immer neu ausgehandelt,etabliert, vermittelt und angeeignet werden. Individuen und Kulturenbauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache,Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen undKulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speicher-medien und kultureller Praktiken. Ohne diese läßt sich kein genera-tionen- und epochenübergreifendes Gedächtnis aufbauen, was zugleichbedeutet, daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieserMedien auch dieVerfaßtheit des Gedächtnisses notwendig mitverändert.Die technischen Medien umfassen Aufschreibesysteme im weitestenSinne, die seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr nur Sprache, sondernauch Bilder und seit dem 20. Jahrhundert zusätzlich auch Stimmen undTöne konservieren.

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19 Jurij M. Lotman, Boris A. Uspenskij,The Semiotics of Russian Culture, AnnArbor 1984, 3.

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Der zweite Teil ist deshalb den Medien gewidmet, die als materielleStützen das kulturelle Gedächtnis fundieren, flankieren und mit denmenschlichen Gedächtnissen interagieren. Jedes individuelle Gedächt-nis ist heute von einem Ensemble technischer Gedächtnismedien um-geben, die die Grenze zwischen intrapsychischen und extrapsychischenProzessen verwischen. Daß diese Grenze überhaupt schwer aufrechtzu-erhalten ist, zeigt insbesondere die Metaphorik, in der Philosophen,Künstler und Wissenschaftler die Mechanismen des menschlichen Ge-dächtnisses beschrieben haben. Bereits die ältesten Beschreibungen desGedächtnisses ziehen Metaphern technischer Aufzeichnungssystemeheran, die ihrerseits denWandel der Mediengeschichte reflektieren: vonWachstafel und Pergament zu Photographie, Film, PC. Hier zeichnetsich gegenwärtig eine Epochenwende ab, bei der die zweieinhalb-tausendjährige Leitmetapher des Gedächtnisses, die Schrift, durch dieMegatrope des elektronischen Netzes abgelöst wird. Schreiben ent-wickelt sich immer mehr in Richtung Verknüpfung. In welcherRichtung haben sich die Grundprämissen der Gedächtnistheorie ver-schoben? Von den Anfängen des Schreibens im Ägypten des 2. vor-christlichen Jahrtausends bis weit in dieses Jahrhundert gibt es Zeugnis-se, die die Schrift allen anderen Gedächtnismedien vorziehen und alszuverlässigstes Dispositiv der Dauer rühmen. Dieses kulturelle Ziel ei-ner überzeitlichen Dauer scheint eng mit der abendländischen Schrift-metaphysik verbunden zu sein,die den Geist als eine immaterielle,über-historische Kraft erfand und die Schrift zu ihrem kongenialen Mediumerklärte. Im Zeichen elektronischer Speichertechnologie wiederum giltin der Gedächtnisforschung das Prinzip des permanenten Überschrei-bens und der Rekonstruktivität von Erinnerungen. In der Speicher-technologie wie in der Erforschung der Hirnstruktur erleben wirderzeit einen Paradigmawechsel, bei dem dieVorstellung von einer dau-erhaften Einschreibung ersetzt wird durch das Prinzip fortgesetztenÜberschreibens.

Jedes Medium eröffnet einen je spezifischen Zugang zum kulturellenGedächtnis. Die Schrift, die der Sprache folgt, speichert anders und an-deres als die Bilder, die sprachunabhängige Eindrücke und Erfahrungenfesthalten. Den sogenannten ‹imagines agentes› wird seit der römischenMnemotechnik eine besondere Gedächtniskraft zugesprochen, späterentdeckte man diese in Symbolen und Archetypen, die in individuelleTraumwelten und das kulturelle Unbewußte reichen. Als ein eigenesMedium kann aber auch der Körper gelten, sofern die psychischen undmentalen Erinnerungsprozesse nicht nur neuronal, sondern auch soma-tisch verankert sind. Der Körper stabilisiert Erinnerungen durch Habi-tualisierung und verstärkt sie durch die Kraft der Affekte. Der Affekt alskörperliches Ingredienz von Erinnerungen hat eine ambivalente Qua-lität: Er kann sowohl als Zeichen von Authentizität wie auch als Motor

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derVerfälschung angesehen werden.Wenn eine in den Körper eingela-gerte Erinnerung vom Bewußtsein gänzlich abgeschnitten ist, sprechenwir von einem Trauma. Darunter wird eine körperlich eingekapselteErfahrung verstanden, die sich in Symptomen ausdrückt und einerrückholenden Erinnerung versperrt. Zu den externalisierten Gedächt-nismedien gehören schließlich Schauplätze, die durch ein religiös, hi-storisch oder biographisch bedeutsames Geschehen zu Gedächtnisortenwerden.Orte können ein Gedächtnis auch über Phasen kollektivenVer-gessens hinweg beglaubigen und bewahren. Nach Intervallen einer ab-gerissenen Überlieferung kehren Pilger undVergangenheitstouristen andie für sie bedeutsamen Orte zurück, wo sie eine Landschaft, Monu-mente oder Ruinen finden. Dabei kommt es zu ‹Reanimationen›, wo-bei der Ort die Erinnerung ebenso reaktiviert wie die Erinnerung denOrt. Denn biographisches und kulturelles Gedächtnis läßt sich nicht indie Orte auslagern; diese können Erinnerungsprozesse nur imVerbundmit anderen Gedächtnismedien anstoßen und abstützen. Wo jeglicheÜberlieferung abgerissen ist, entstehen Geisterorte, die dem freien Spielder Imagination oder der Wiederkehr desVerdrängten überlassen sind.

Im drittenTeil geht es um einen Gedächtnisort ganz anderer Art, dasArchiv. Im Gegensatz zu einem in Körpern und Orten sinnlich konkre-tisierten Gedächtnis ist das Archiv von beiden getrennt und damit ab-strakt und allgemein.Voraussetzung für das Archiv als einen kollektivenWissensspeicher sind materiale Datenträger, die als Gedächtnisstützeneingesetzt werden, allen voran Schrift.Archive sind also von technischenMedien abhängig. Die Archivierbarkeit von Daten ist inzwischen durchdie Technologie neuer Aufzeichnungssysteme wie Photographie, Film,Tonbänder und Video sprunghaft angestiegen, was die Archivare aller-dings auch mit neuen Konservierungsproblemen konfrontiert.

Das Archiv ist nicht nur ein Ort, wo Dokumente aus derVergangen-heit aufbewahrt werden, sondern auch ein Ort, wo Vergangenheitkonstruiert, produziert wird. Diese Konstruktion ist nicht nur abhängigvon gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Interessen, sondernauch wesentlich mitbestimmt von den herrschenden Kommunikations-medien und Aufzeichnungstechniken. Das Archiv ist mit einer materi-ell fixierenden Schrift entstanden, die Informationen so kodiert, daß sieauch für die Nachwelt noch lesbar sind. Mit dem Übergang zu einerelektronisch-dynamischen Aufzeichnungsform wird sich die Strukturdes Archivs grundlegend ändern. An die Stelle von Regalmetern mitOrdnern und Kästen, auf denen sich der Staub der Jahrhunderte abla-gert, treten High-tech-Informations-Maschinen mit immer größererSpeicher- und immer schnellerer Datenverarbeitungs-Kapazität. Dasdigitale Zeitalter wird möglicherweise ganz neue Formen des Archi-vierens erfinden und das Archiv selbst als ein obsolet gewordenes Denk-mal archivieren.

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Jedoch ist die Krise des kulturellen Gedächtnisses in der Gegenwartnicht allein den Problemen geschuldet, die die neuen Medien mit sichbringen. Das bezeugen Künstler und Künstlerinnen, die, nach demzweiten Weltkrieg geboren, sich vor einem zerbrochenen kulturellenGedächtnis sehen. Sie stellen ihre Kunst in den Dienst einer selbstrefle-xiven Erinnerungsarbeit, indem sie Speicher wie das Buch oder das Ar-chiv als künstlerische Gestaltungsformen neu entdecken. Es fällt dabeiauf, daß sich die Kunst in dem Augenblick verstärkt des Gedächtnissesanzunehmen beginnt, da die Gesellschaft dieses zu verlieren droht oderabzustreifen wünscht. Künstlerische Erinnerung funktioniert dabeinicht als Speicher, sondern simuliert Speicher, indem sie die Prozessevon Erinnern undVergessen thematisiert. Denn es geht den Künstlernnicht um technische Speicher, sondern um einen ‹Leidschatz›, in demsie einen künstlerischen Fundus erkennen. Damit wird diese Kunst zu-gleich zu einem Spiegel bzw., wie Heiner Müller betonte, zu einemGradmesser für den aktuellen Stand von Vergessen und Verdrängen imkollektiven Bewußtsein.Von einem pauschalen Verlust des kulturellenGedächtnisses kann also keine Rede sein. Heute ist es vor allem dieKunst, die die Krise des Gedächtnisses als ihrThema entdeckt und neueFormen findet, in denen die Dynamik des kulturellen Erinnerns undVergessens Gestalt gewinnt.

Außerhalb derArchive zirkulieren dieWaren und lagert sich der Abfallab. Der wachsende Abfall als nicht gesammelter und sich dennochansammelnder Überrest der Zivilisation ist unschwer als ein inversesBild des Archivs zu entziffern. Der Abfall als ein ‹negativer Speicher› istaber nicht nur ein Emblem für Entsorgung undVergessen,er ist auch einneues Bild für das Latenzgedächtnis, das zwischen Funktions- und Spei-chergedächtnis angesiedelt ist und von Generation zu Generation ineinem Niemandsland zwischen Präsenz und Absenz fortbesteht. DieGrenze zwischen Archiv und Müll erscheint dabei als durchaus beweg-lich. Krzysztof Pomian hat darauf hingewiesen, daß Abfall nicht not-wendig die letzte Stufe in der Karriere eines Dings sein muß; der Abfallmarkiert lediglich eine Phase der Entfunktionalisierung, in der ein Ge-genstand aus einem Nützlichkeitskreislauf herausgefallen ist. Nach die-ser Neutralisierung kann er wieder eine neue Bedeutung gewinnen,ge-nauer: kann er den neuen Status eines bedeutungtragenden Zeichenserlangen. Auf diesem Wege wird der unscheinbare Überrest zu einem«Semiophor», d. h. zu einem sichtbaren Zeichen für etwas Unsichtbaresund Ungreifbares wie z. B. die Vergangenheit oder die Identität einerPerson.20

Selbst wenn der historische oder künstlerische Blick die Prosa derRückstände noch in die Poesie der Erinnerung verwandeln kann, so

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20 Krzysztof Pomian,Der Ursprung des Museums.Vom Sammeln,Berlin 1986,92.

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bleibt doch immer noch unendlich vieles übrig, das man nicht zurück-holen will und das nicht zurückgeholt werden kann. Der Rest ist das,was übrigbleibt; und damit kann wiederum sowohl das Archiv wie derAbfall gemeint sein. Überreste jedenfalls lassen sich niemals ganz auf-heben. Der Abfall ist für das Archiv strukturell ebenso wichtig wie dasVergessen für das Erinnern.Das bringen ex negativo jene künstlerischenInstallationen und phantastischen Erzählungen zu Bewußtsein, die dasGedankenexperiment einer Gesamtarchivierung des Abfalls durch-führen.

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