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Paediatr Paedolog 2013 · [Suppl 1] 48:119–127 DOI 10.1007/s00608-013-0071-9 © Springer-Verlag Wien 2013 R. Kerbl 1 1 Abteilung für Kinder und Jugendliche, LKH Leoben, Leoben Alles sofort und kostenlos? Round Table Diskussion Kerbl: Ich möchte die Einleitungsrunde bei Ihnen beginnen, Frau Dr. Jäger-Roman. Als Präsidentin der European Confedera- tion of Primary Care Paediatricians haben Sie uns schon dargestellt, dass in Europa die Primärversorgung durch Pädiater zu- rückgegangen ist. Das ist für uns natür- lich ein bedenklicher Trend. Sie haben aber auch gezeigt, dass es teilweise schon wieder in die Gegenrichtung geht und ein paar Länder als Beispiele dafür genannt. Meine Frage an Sie lautet nun: Wo würden Sie die derzeitige pädiatrische Versorgung in Deutschland auf einer Skala von eins bis fünf einstufen, wenn eins besonders gut und fünf besonders schlecht ist? Ich bitte Sie auch, Ihre Einstufung zu begrün- den und zugleich Empfehlungen abzuge- ben, wie die pädiatrische Primärversor- gung europaweit verbessert werden kann. Jäger-Roman: Ich denke, dass die pädiatrische Ver- sorgung in Deutschland bei zwei bis drei anzusetzen ist, also eher im Mittelfeld. Das liegt einerseits daran, dass Kinder in Deutschland nicht ausschließlich von Kinderärzten versorgt werden, dass aber auch Kinderärzte individuell Kinder sehr unterschiedlich betreuen und dass wir vielfach noch eine Versorgung in Einzel- praxen haben, die oft wenig vernetzt sind. Ich denke, dass man wesentlich mehr in die Kommunen mit den dortigen päd- agogischen und sozialen Systemen ver- netzt sein sollte. Oft wird ja argumen- tiert, dass wir keine Zeit haben und dass Zeit nicht bezahlt wird, obwohl deutsche Kinderärzte im durchschnittlichen Jah- reseinkommen nicht schlecht dastehen. Eine Sorge in der Pädiatrie haben wir da- mit, dass die allgemeine Pädiatrie zu we- nig definiert ist und immer mehr Sub- spezialisten – die in Deutschland ja auch als Niedergelassene arbeiten – die Aufga- ben der Pädiatrie übernehmen. Gleichzei- tig werden 50% der Kinder durch Allge- meinmediziner versorgt; hier müssten wir mit den Allgemeinmedizinern an einem Strang ziehen. Wir sollten den Kindern zuliebe nicht konkurrierend, sondern ge- meinsam arbeiten. Für Allgemeinmedi- ziner müsste es eine entsprechende Wei- terbildung von mindestens einem halben Jahr geben, wobei niedergelassene Kin- derärzte die Weiterbildner sein sollten. Weiters müssten wir ein abgestuftes Ver- sorgungssystem mit den Allgemeinmedi- zinern entwickeln und gemeinsame Qua- litätszirkel zu bestimmten Themen sowie gemeinsame Fortbildungen organisieren, damit wir alle wissen, was gute Kinderver- sorgung ist. Kerbl: Ich darf das Gespräch mit dem Bundes- fachgruppenobmann der österreichischen Kinderärzte fortsetzen, der ja naturgemäß auch standespolitische Interessen zu ver- treten hat. Darf ich auch Dich bitten, das österreichische pädiatrische Versorgungs- system auf einer Skala von eins bis fünf zu bewerten und darzustellen, was in un- serem österreichischen System gut und was schlecht ist. Und schließlich bitte ich Dich – du bist in Deiner Ordination ja oh- ne ärztliches Team – zu beschreiben, wie man sich als „allein gelassener“ niederge- lassener Kinderarzt fühlt. Baumgartner: Ich bin seit 26 Jahren in einer pädiat- rischen Praxis und das in einer mittelgro- ßen Stadt mit 40.000 Einwohnern. Auch ich würde eine Benotung mit zwei bis drei vornehmen, wobei es entsprechend der demografischen Situation große Unter- schiede gibt. Wir haben in Ballungszent- ren eine Dominanz der pädiatrischen Ver- sorgung. In meiner Stadt lehnen die All- gemeinmediziner kleine Säuglinge als Pa- tienten großteils ab. Das hat aber zur Fol- Round Table Diskussion Moderation F Prof. Dr. R. Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche in Leoben, Präsident der Österreichischen Gesell- schaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) Teilnehmer der Diskussion (. Abb. 1) F MR Dr. D. Baumgartner, niedergelassener Kinderfacharzt, Wiener Neustadt, Bundes- fachgruppenobmann für Kinder- und Jugendheilkunde, Vizepräsident der Ärz- tekammer für Niederösterreich F MMag. M.M. Hofmarcher, Gesundheitsö- konomin, Wien F Dr. E. Jäger-Roman, niedergelassene Kinderfachärztin, Berlin, Präsidentin der European Confederation of Primary Care Paediatricians (ECPCP) F Dr. C. Klein, Stv. Generaldirektor des Hauptverbands der österreichischen Sozi- alversicherungsträger, Wien F Dr. V. Wolschlager, Bundesministerium für Gesundheit, Projektleiterin „Kinderge- sundheitsstrategie“, Wien 119 Pädiatrie & Pädologie · Supplement 1 · 2013|

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Paediatr Paedolog 2013 · [Suppl 1] 48:119–127DOI 10.1007/s00608-013-0071-9© Springer-Verlag Wien 2013

R. Kerbl1

1 Abteilung für Kinder und Jugendliche, LKH Leoben, Leoben

Alles sofort und kostenlos?Round Table Diskussion

Kerbl:Ich möchte die Einleitungsrunde bei

Ihnen beginnen, Frau Dr. Jäger-Roman. Als Präsidentin der European Confedera-tion of Primary Care Paediatricians haben Sie uns schon dargestellt, dass in Europa die Primärversorgung durch Pädiater zu-rückgegangen ist. Das ist für uns natür-lich ein bedenklicher Trend. Sie haben aber auch gezeigt, dass es teilweise schon wieder in die Gegenrichtung geht und ein paar Länder als Beispiele dafür genannt. Meine Frage an Sie lautet nun: Wo würden Sie die derzeitige pädiatrische Versorgung

in Deutschland auf einer Skala von eins bis fünf einstufen, wenn eins besonders gut und fünf besonders schlecht ist? Ich bitte Sie auch, Ihre Einstufung zu begrün-den und zugleich Empfehlungen abzuge-ben, wie die pädiatrische Primärversor-gung europaweit verbessert werden kann.

Jäger-Roman:Ich denke, dass die pädiatrische Ver-

sorgung in Deutschland bei zwei bis drei anzusetzen ist, also eher im Mittelfeld. Das liegt einerseits daran, dass Kinder in Deutschland nicht ausschließlich von Kinderärzten versorgt werden, dass aber auch Kinderärzte individuell Kinder sehr unterschiedlich betreuen und dass wir vielfach noch eine Versorgung in Einzel-praxen haben, die oft wenig vernetzt sind. Ich denke, dass man wesentlich mehr in die Kommunen mit den dortigen päd-agogischen und sozialen Systemen ver-netzt sein sollte. Oft wird ja argumen-tiert, dass wir keine Zeit haben und dass Zeit nicht bezahlt wird, obwohl deutsche Kinderärzte im durchschnittlichen Jah-reseinkommen nicht schlecht dastehen. Eine Sorge in der Pädiatrie haben wir da-mit, dass die allgemeine Pädiatrie zu we-nig definiert ist und immer mehr Sub-spezialisten – die in Deutschland ja auch als Niedergelassene arbeiten – die Aufga-ben der Pädiatrie übernehmen. Gleichzei-tig werden 50% der Kinder durch Allge-meinmediziner versorgt; hier müssten wir mit den Allgemeinmedizinern an einem Strang ziehen. Wir sollten den Kindern zuliebe nicht konkurrierend, sondern ge-meinsam arbeiten. Für Allgemeinmedi-

ziner müsste es eine entsprechende Wei-terbildung von mindestens einem halben Jahr geben, wobei niedergelassene Kin-derärzte die Weiterbildner sein sollten. Weiters müssten wir ein abgestuftes Ver-sorgungssystem mit den Allgemeinmedi-zinern entwickeln und gemeinsame Qua-litätszirkel zu bestimmten Themen sowie gemeinsame Fortbildungen organisieren, damit wir alle wissen, was gute Kinderver-sorgung ist.

Kerbl:Ich darf das Gespräch mit dem Bundes-

fachgruppenobmann der österreichischen Kinderärzte fortsetzen, der ja naturgemäß auch standespolitische Interessen zu ver-treten hat. Darf ich auch Dich bitten, das österreichische pädiatrische Versorgungs-system auf einer Skala von eins bis fünf zu bewerten und darzustellen, was in un-serem österreichischen System gut und was schlecht ist. Und schließlich bitte ich Dich – du bist in Deiner Ordination ja oh-ne ärztliches Team – zu beschreiben, wie man sich als „allein gelassener“ niederge-lassener Kinderarzt fühlt.

Baumgartner:Ich bin seit 26 Jahren in einer pädiat-

rischen Praxis und das in einer mittelgro-ßen Stadt mit 40.000 Einwohnern. Auch ich würde eine Benotung mit zwei bis drei vornehmen, wobei es entsprechend der demografischen Situation große Unter-schiede gibt. Wir haben in Ballungszent-ren eine Dominanz der pädiatrischen Ver-sorgung. In meiner Stadt lehnen die All-gemeinmediziner kleine Säuglinge als Pa-tienten großteils ab. Das hat aber zur Fol-

Round Table Diskussion

Moderation

FProf. Dr. R. Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche in Leoben, Präsident der Österreichischen Gesell-schaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ)

Teilnehmer der Diskussion (.Abb. 1)FMR Dr. D. Baumgartner, niedergelassener

Kinderfacharzt, Wiener Neustadt, Bundes-fachgruppenobmann für Kinder- und Jugendheilkunde, Vizepräsident der Ärz-tekammer für Niederösterreich

FMMag. M.M. Hofmarcher, Gesundheitsö-konomin, Wien

FDr. E. Jäger-Roman, niedergelassene Kinderfachärztin, Berlin, Präsidentin der European Confederation of Primary Care Paediatricians (ECPCP)

FDr. C. Klein, Stv. Generaldirektor des Hauptverbands der österreichischen Sozi-alversicherungsträger, Wien

FDr. V. Wolschlager, Bundesministerium für Gesundheit, Projektleiterin „Kinderge-sundheitsstrategie“, Wien

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ge, dass die Kollegen dann z. B. im Nacht- und Wochenenddienst dafür auch nicht gerüstet sind. Anders ist es in ländlichen Bereichen, wo die Versorgung hauptsäch-lich durch Allgemeinmediziner erfolgt, die aber dann auch meist über das not-wendige Know-how verfügen. Bezüglich der Ausbildung sowohl der Kinderärz-te als auch der Allgemeinmediziner glau-be ich auch, dass diese nicht nur an den Krankenanstalten erfolgen sollte, son-dern auch in der niedergelassenen Pra-xis; dies deshalb, weil wir in der Pädiat-rie einen Paradigmenwandel haben und die Pädiatrie immer mehr zu einem am-bulanten Fach wird. Stationär aufgenom-men werden ja meist nur mehr jene Kin-der, die weiterführende Untersuchungen brauchen oder die schwer krank sind, so-dass sie z. B. einer intensivmedizinischen Betreuung bedürfen. Zur Frage, wie ich mich als „Einzelkämpfer“ fühle: eigent-lich ganz gut – wobei es darauf ankommt, wie gut man mit seinen Fachkollegen vor Ort vernetzt ist. Ich habe das Glück, dass ein Kollege mit mir in die Schule gegan-gen ist – wir spielen zweimal pro Woche Tennis. Auch mit der zweiten Kollegin bin ich gut befreundet. Wir decken gemein-sam die pädiatrische Versorgung so ab, dass zumindest von Montag bis Freitag täglich von 8 bis 17 Uhr immer ein Pädia-ter erreichbar ist. Ich selbst habe am Don-nerstag noch eine Abendordination bis 19 Uhr. Es wurde auch schon angespro-chen, ob wir nicht andere „nichtärztliche“ Dienste in unsere Ordinationen aufneh-men können – das erscheint mir aber aus

finanziellen Gründen im derzeitigen Sys-tem unmöglich.

Kerbl:Als nächstes möchte ich Frau Mag. Hof-

marcher bitten, dass sie uns aus Sicht der EU und v. a. auch aus ökonomischer Sicht darzustellen versucht, wie eine gute päd-iatrische Primärversorgung ausschauen könnte. Brauchen wir Änderungen und könnte ein Teil der Versorgung von pfle-genden Diensten übernommen werden?

Hofmarcher:Zunächst einmal möchte ich auch ger-

ne eine Note vergeben, wobei diese sehr vom Betrachtungswinkel abhängt. Wenn man sich auf den Input von Mitteln in Re-lation zum Ergebnis bezieht, also im Hin-blick auf Ergebnisindikatoren der Kinder-gesundheit, dann schaut es nach meiner Einschätzung nicht so gut aus. Wir ha-ben also offensichtlich das Problem eines nichtoptimalen Einsatzes der Geldmit-tel. Wenn ich eine Note vergeben muss, dann sage ich 3,5. Das soll nicht bedeu-ten, dass die Hands-on-Qualität der pädi-atrischen Versorgung schlecht ist, aber in dem Kontext, in dem sie erfolgt, könnte mehr passieren. Ich glaube, es wäre wich-tig zu überlegen, wie die jetzige Form der Versorgung – hauptsächlich durch Ein-zelpraxen – verändert werden kann, um beispielsweise mit anderen Berufsgrup-pen zusammenzuarbeiten. Dafür sollte es auch Finanzierungsmodelle geben, so etwa für Beratungen bei chronischen Er-krankungen, Ernährungsberatung und dergleichen. Man sollte also weg von der fixen Honorierung von Einzelleistun-

gen kommen und hin zu patientenorien-tierten Pauschalen. Das wäre auch ein wichtiger Schritt zur Multidisziplinarität (.Abb. 2).

Kerbl:Es wurden schon die Honorare und

Kosten angesprochen. Diese sind na-turgemäß nicht beliebig vermehrbar. Herr Dr. Klein, Sie werden wahrschein-lich fast täglich auch mit standespoliti-schen Interessen konfrontiert, wenn je-mand von Ihnen wieder die Honorierung einer neuen Leistung fordert. Meine Fra-ge an Sie lautet: Wie ist denn die Sichtwei-se des Hauptverbands zur pädiatrischen Primärversorgung? Sind Sie zufrieden, so wie es jetzt ist, oder sehen Sie einen Be-darf zur Qualitätsverbesserung? Oder se-hen Sie vielleicht sogar noch ein Einspa-rungspotenzial? Herr Direktor Schelling hat ja heuer beim Forum Alpbach – und das interessanterweise gemeinsam mit dem Vizepräsidenten der Wiener Ärzte-kammer, Herrn Dr. Steinhart – kundge-tan, dass man daran denkt, mehr Geld Richtung Kindermedizin zu verschieben, weil diese bisher benachteiligt sei. Uns in-teressiert jetzt natürlich die Frage, ob das die generelle Sicht des Hauptverbands ist und ob wir uns auf Änderungen zuguns-ten der Kindermedizin freuen dürfen.

Klein:Der Hauptverband hat ja an sich kein

Geld. Dieses liegt bei den Krankenver-sicherungsträgern und kommt von den Versicherten, dort, wo Krankenkassen defizitär sind, auch direkt vom Bund bzw. vom Steuerzahler. Die Zielrichtung beim

Abb. 1 8 Die Teilnehmer an der Round Table Diskussion: M. Hofmarcher, C. Klein, D. Baumgartner, E. Jäger-Roman, V. Wolschlager (v. l. n. r.)

Abb. 2 8 M. Hofmarcher (l.) und C. Klein benoten die Primärversorgung von Kindern mit 3,5 bzw. einer glatten Zwei auf einer Schulnotenskala von eins bis fünf

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Round Table Diskussion

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Hauptverband und bei den Versiche-rungsträgern ist klar: Es ist notwendig, mehr für Kinder zu tun! Da stößt man natürlich sofort auf die Finanzierungsfra-ge. Sie haben gesagt: „Kosten kann man nicht beliebig vermehren.“ Das muss ich korrigieren. Kosten kann man beliebig vermehren! Nur die Finanzierung ist be-grenzt. Nun kann man natürlich mehr Mittel ins System pumpen, wie das immer wieder von Vertretern der Ärztekammer verlangt wird. Dem wird von der Politik entgegengehalten: Steigende Beiträge be-deuten steigende Lohnkosten und wirken sich also auf den Arbeitsmarkt aus. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt. Ich halte es jedenfalls nicht für ausgeschlos-sen, dass man irgendwann mehr Geld ins System bringen muss. Die zweite Mög-lichkeit ist, Mittel zu verschieben. Da ha-ben wir in Wirklichkeit ein Riesenprob-lem durch Fehlallokation, was aber offen-sichtlich sehr schwer politisch veränder-bar ist. Zwei Beispiele dafür: Prof. Koller hat gestern eindrucksvoll geschildert, wie immer wieder die falschen Fälle in den Spitalsambulanzen landen, nämlich eher leicht verlaufende Erkrankungen, die gut in der kinderärztlichen Praxis aufgeho-ben wären. Dazu müsste es aber entlasten-de Maßnahmen geben, z. B. in Form von Gruppenpraxen. Wir müssten also Mit-tel aus dem Spitalswesen in den nieder-gelassenen Bereich verschieben. Das geht aber schlecht, weil wir an das Spitalssys-tem immer die gleiche Pauschale verge-ben. Daher gibt es sowohl für Spitäler als auch für Krankenversicherungen einen starken Anreiz, sich die Leistungen wech-selseitig zuzuschieben. Das ist ein völlig irrational steuerndes System, das – Gott sei Dank – in den Gesundheitssystemre-formgesprächen angegangen wird. Dort wird versucht, durch gemeinsame Fi-nanzziele und Zielsteuerung diese absur-de Schnittstelle zu einer Nahtstelle zu ma-chen, die gemeinsam bewirtschaftet wird. Ob das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Momentan fressen sich die Gespräche an bestimmten Aggressionsstellen fest. Wir können nur hoffen, dass sie erfolgreich sein werden.

Beim zweiten Beispiel komme ich auf unser ureigenes Geschäft, den niederge-lassenen Bereich, auch dort gibt es teil-weise absurde Steuerungsmechanismen.

Lassen Sie mich dazu ein Bild skiziieren: Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit der Fa-milie in den Supermarkt und wollen dort einen großen Einkauf tätigen. Sie kau-fen Schreibwaren für die Schule, Baby-nahrung, Spaghetti für die Größeren, et-was für die Eltern. Dann gehen Sie zur Kasse und die Kassierin sagt: „Nein, das geht nicht, es ist ein anderer Einkaufs-wagen vorgesehen mit ein paar Flaschen Sekt, Trockenfrüchten mit Schokoladen-überzug für die Oma, Heringsalat etc.“ Sie werden antworten: „Nein, das neh-men wir nicht“, und in diesem Augenblick wird die Alarmglocke gedrückt, die Secu-rity und der Kaufhausdetektiv kommen, und es wird Ihnen mitgeteilt, dass Sie das nehmen müssen. Wachen Sie auf aus die-sem kafkaesken Albtraum, aber das ist in Wirklichkeit die Steuerungsfunktion, mit der die Krankenversicherung lebt. Wir haben ein Gesetzeswerk und darauf auf-bauend Gesamtverträge, die dazu führen, dass die Anbieter ganz wesentlich bestim-men, was wir für das Geld der Versicher-ten einkaufen. Ein Beispiel: Wir geben jährlich ungefähr 90 Mio. € für Vorsor-geuntersuchungen aus. In den medizini-schen Grundlagen der Vorsorgeuntersu-chung ist nachzulesen, dass diese je nach Altersgruppe in 2- bis 3-jährigen Abstän-den indiziert ist. Im allgemeinen Sozial-versicherungsgesetz steht, dass es einen jährlichen Anspruch gibt. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man, dass nicht die „medizinferne“ Klientel die Vor-sorgeuntersuchungen konsumiert, son-dern dass jene Leute alljährlich kommen, die ohnehin bestens betreut jedes Quar-tal bei ihrem Allgemeinmediziner auf-tauchen. Es wäre ohne Weiteres möglich, dort 30–40 Mio. € aus dem System her-auszunehmen und beispielsweise in eine bessere Kinderversorgung umzuschich-ten. Ich habe einmal angeklopft bei der Ärztekammer, ob es nicht möglich wäre, auf eine 2- oder 3-jährige Frequenz zu ge-hen. Zunächst wurde das unter der Vor-aussetzung für möglich gehalten, dass es eine Umschichtung ist und dem System kein Geld entzogen wird. In der zwei-ten Gesprächsrunde wurde es aber als unmöglich bezeichnet, weil es um einen unverzichtbaren Einkommensbestand-teil der Allgemeinmediziner gehen wür-de. Der Versuch, für unser Geld etwas an-

deres einzukaufen, ist in diesem Fall also gescheitert. Es gibt viele andere Beispiele, z. B. in der physikalischen Medizin: viele, viele Streichel- und Wohlfühlmassagen, die alle nicht evidenzbasiert sind und für die das Geld zum Fenster hinausgewor-fen wird. Hier sagen wir, dass etwas ge-ändert werden muss. Aber es geht nicht, weil das, was im Gesamtvertrag steht, in Stein gemeißelt ist. Die Ärztekammer ver-tritt natürlich die Interessen ihrer Mitglie-der, aber damit darf sie nicht die steuern-de Institution sein. Wir haben Planstellen, die die Kassen z. B. gern zugunsten eines Kinderarztes umschichten würden, wor-aufhin sich aber die Ärztekammer wehrt und auf der Nachbesetzung mit einer in-ternistischen Planstelle besteht. Hier ist nun auch die Politik gefordert, die Grund-lagen für ein rationales Steuerungssystem zu schaffen (.Abb. 3). Solange wir die Grundfesten des Systems nicht ändern, werden wir weiter eine falsche Ressour-cenallokation haben und dort sparen, wo die Interessen der Schwächsten betroffen sind – und das sind die Kinder. Wir be-kennen uns zu einer besseren Kinderver-sorgung und sind gerade dabei, eine Stra-tegie dafür zu entwickeln, aber für wirk-lich greifende Veränderungen bräuchten wir auch eine Verschiebung der Grund-festen im Rahmen einer Gesundheitsre-form.

Kerbl:Herr Dr. Klein, darf ich Sie noch bitten,

Ihre Schulnote für das österreichische Sys-tem der Kinderprimärversorgung zu ver-geben?

Klein:Gemessen daran, wie schwierig die

Rahmenbedingungen sind, würde ich eher eine positive Note vergeben. Als Va-ter von zwei Kindern habe ich sehr enga-gierte Kinderärzte erlebt, wir haben einen tollen Hausarzt. Sowohl aufseiten der Ärz-te im niedergelassenen Bereich und im Spital als auch bei den Krankenversiche-rungsträgern stößt man auf viel persönli-ches Engagement. Als Note würde ich eine glatte Zwei vergeben. Aber es könnte in einzelnen Bereichen besser sein. Zudem gibt es Teilbereiche, die eher eine Vier mi-nus oder sogar Fünf verdienen würden, wenn man etwa die Patientenzahlen und die dafür zur Verfügung stehende Zeit be-trachtet, speziell bei chronischen Erkran-

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kungen und psychosozialen Fällen. Eine zweite schlechte Note würde ich bei den funktionalen Therapien vergeben, z. B. bei der multidisziplinären Versorgung von Entwicklungsstörungen. Dort, wo Versorgung passiert, ist die Betreuung ex-zellent, teilweise aber mit großen Warte-zeiten, und deshalb verdient das System dort keine gute Note.

Kerbl:Als Letzte in der Runde habe ich

bewusst die Repräsentantin des Ge-sundheitsministeriums vorgesehen. Frau Dr. Wolschlager ist zwar keine Politi-kerin, sondern Beamtin im Gesundheits-ministerium. Ich möchte Sie aber trotz-dem fragen, inwieweit denn die Politik überhaupt die Möglichkeit hat, die Vor-schläge von Dr. Klein umzusetzen, also in die Versorgung einzugreifen und Um-schichtungen zu verordnen. Denn das Mi-nisterium hat ja eines mit dem Hauptver-band gemeinsam – sie haben auch kein Geld! Aber Sie können im Ministerium verordnen, wie das Geld zu fließen hat. Wäre es also denkbar, dass ein Teil jenes in einen „Gesundheitsprofi“ investier-ten Geldes, das für den alljährlichen Kur-aufenthalt dieses Einzelnen aufgewendet wird, der mit Mountainbike und Tennis-schläger auf Kur fährt und nach seiner Rückkehr gleich zur Gesundenuntersu-chung geht, in Richtung Kindermedizin umgeleitet wird?

Wolschlager:Ich bin zwar ein Rädchen im Ministe-

rium, aber eher ein kleines. Daher kann ich diese Frage nicht beantworten. Ich weiß, dass sich der Herr Bundesminister für eine partnerschaftliche Zielsteuerung einsetzt und die von Herrn Dr. Klein an-

gesprochenen Absurditäten durch ein ver-nünftigeres System ersetzt werden sollen. Es ist zu hoffen, dass er damit erfolgreich sein wird.

Kerbl:Frau Dr. Wolschlager, Sie haben ja mit

der Kinder- und Jugendgesundheitsstrate-gie eine sehr wesentliche Initiative ergrif-fen und versuchen, die relevanten Partner an einen Tisch zu bringen.

Wolschlager:Ja, wir verfolgen in der Kinder- und Ju-

gendgesundheitsstrategie ein dialogisches Konzept und das ist wohl auch jene Rolle, die das Ministerium übernehmen kann. Diese Vernetzung soll weiter vorangetrie-ben werden. Die handelnden Personen müssen daran erinnert werden, ihre Auf-gaben wahrzunehmen.

Kerbl:Jetzt fehlt noch die Benotung des Sys-

tems.Wolschlager:Ich stimme da ganz mit Herrn Dr. Klein

überein. Ich glaube, die klassische pädia-trische Versorgung akut kranker Kinder ist erstklassig, in anderen Bereichen ist die Versorgung unzureichend bis schlecht, z. B. in der Kinderpsychiatrie.

Kerbl:In einer nächsten Runde wollen wir

uns der Frage nähern, ob alle medizini-schen Maßnahmen grundsätzlich kos-tenlos angeboten werden sollen. Die Fra-ge lautet also: Sollen in der Kindermedi-zin alle medizinischen Maßnahmen kos-tenlos sein oder wären z. B. Selbstbehal-te ein sinnvolles Steuerungsinstrument? Wir haben ja gestern vom Kollegen Kol-ler gehört, dass die ambulanten „Notfäl-le“ an der Wiener Kinderklinik innerhalb

von 20 Jahren auf das 17-Fache angestie-gen sind – wäre hier eine sinnvolle Ein-schränkung, z. B. durch Kostenbeteili-gung, möglich?

Hofmarcher:Ich bin grundsätzlich gegen Selbstbe-

halte. Jene Selbstbehalte, die im Hinblick auf Steuerung wirklich wirksam wären, müssten relativ hoch sein. Wenn sie aber sehr hoch sind, benachteiligen sie ärme-re Bevölkerungsgruppen. Insbesondere in einer Zeit, in der wir noch länger an den Auswirkungen der Staatsschuldenkrise la-borieren werden, halte ich Derartiges für unverhältnismäßig. Wir müssen die ge-samte Gesundheitspolitik auf andere Bei-ne stellen und uns grundsätzlich mit der Verhinderung und Bekämpfung von Ge-sundheitsrisiken beschäftigen. Dies pas-siert meines Erachtens in Österreich viel zu wenig. Meiner Meinung nach ist auch zu diskutieren, wie wir eine Verbesserung auf der Angebotsseite erzielen und wie wir hier zu einer vernünftigen Steuerung kommen, wie es Herr Dr. Klein schon an-gesprochen hat. Im Rahmen der Gesund-heitsreform müssen wir also gewisse Eck-pfeiler aufstellen, z. B. bezüglich des Um-gangs mit Stellenplänen [Anm.: für Fach-ärzte mit Kassenvertrag]. Wenn es also re-gionale Strukturpläne gibt, muss die Stel-lenplanung auf regionaler Ebene Bestand-teil davon sein. Das könnte zu einer ausge-glicheneren Versorgung führen und wür-de etwa bedeuten, dass man auch der Kin-derversorgung dahingehend Vorschriften macht, wo und auf welchem Niveau Kin-derversorgung stattzufinden hat. Zwei-tens möchte ich sagen, dass es mich be-rührt, wenn Herr Dr. Klein berichtet, dass der Hauptverband eine Kinder- und Ju-gendgesundheitsstrategie entwickelt und gleichzeitig das Gesundheitsministerium eine solche propagiert. Wir haben so viele politische Felder, die unabgestimmt sind, und alle Beteiligten geben vor, „agenda setting“ zum Wohl der Patienten zu be-treiben. Das dialogische Konzept ist rich-tig, ich würde mir wünschen dass die Zu-sammenarbeit in der Zukunft rationaler und fruchtbarer wird.

Klein:Obwohl die Sozialdemokratie meine

politische Heimat ist, habe ich keine so kritische Position zu Selbstbehalten.

Kerbl:

Abb. 3 9 C. Klein, stell-vertretender General-direktor des Hauptver-bands der österreichi-schen Sozialversiche-rungsträger: „Hier ist nun auch die Politik gefordert, die Grund-lagen für ein rationales Steuerungssystem zu schaffen.“

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Round Table Diskussion

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Auch nicht zu pädiatrischen Selbstbe-halten?

Klein:Das ist ein Bereich, bei dem ich nicht

primär an Selbstbehalte denken würde. Und es ist mir auch wichtig, dass Selbst-behalte nicht ausschließend wirken dür-fen, sie müssen also einkommensgestaffelt gestaltet sein. Ich glaube aber im Gegen-satz zu Kollegin Hofmarcher, dass Selbst-behalte steuernde Effekte bringen kön-nen, wie ich es z. B. bei unseren Medika-mentendaten erlebe. Immer dann, wenn die Rezeptgebührenobergrenze schlagend wird, wenn also Personen bereits 2% ihres Jahreseinkommens für Rezeptgebühren ausgegeben haben, steigt der Medikamen-tenkonsum sprunghaft an und Patienten verlassen die Ordinationen mit Plastiksa-ckerln voller Medikamente. Selbstbehalte können also meines Erachtens dort sinn-voll sein, wo sie helfen sollen, Unnötiges nicht zu erbringen.

Hofmarcher:Ich glaube, es ging um die Einführung

neuer Selbstbehalte, nicht um die Ab-schaffung bestehender. Und wir haben ja eine Reihe von Selbstbehalten. In unserem Land ist beispielsweise die Neigung sehr hoch, wahlärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Pro Jahr werden etwa 2,5 Mrd. € für wahlärztliche Hilfe ausgegeben, da ist auch kinderfachärztliche Versorgung da-bei. Insgesamt haben wir ca. 6 Mrd. € pri-vate Ausgaben, davon ist nur ein kleiner Teil private Krankenversicherung. Also gibt es schon jetzt erhebliche Selbstbetei-ligungen.

Baumgartner:Ich bin gegen Selbstbehalte. Es ist zu

begrüßen, dass die Sozialversicherungs-anstalten die Selbstbehalte für Ordinatio-

nen bei Kindern abgeschafft haben. Ich halte die derzeitige Rezeptgebühr allein schon für Selbstbehalt genug. Wenn Sie bedenken, dass ein wirklich krankes Kind mit 3–4 Medikamenten hinausgeht, dann sind an die 20 € für manche Familien schon eine große finanzielle Belastung. In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass es für Kinder immer weniger Medikamente gibt, die im „grü-nen Bereich“ sind. Ich denke da an diver-se Nasentropfen, Augentropfen, Husten-säfte und dergleichen, die alltäglich Ver-wendung finden und auch von Rezeptge-bührenbefreiten bezahlt werden müssen, eben weil sie nicht im „grünen Bereich“ sind. Und auch wenn der Medikamenten-preis unter der Rezeptgebühr liegt, bedeu-tet das für die Ärmsten eine erhebliche fi-nanzielle Belastung.

Kerbl:Da können wir ja gleich bei

Herrn Dr. Klein nachfragen. Können wir nicht heute gleich „ausmachen“, dass das geändert wird.

Klein:Was Sie ansprechen, ist, dass die Re-

zeptgebühren bei jenen Medikamenten nicht wirken, die billiger sind als die Re-zeptgebühr selbst. Wer rezeptgebührenbe-freit ist, kann sich aber ein Rezept ausstel-len lassen, auch für das Medikament, das nur 3 € kostet, und dann das Medikament kostenfrei beziehen.

Baumgartner:Aber nur wenn das Medikament im

„grünen Bereich“ ist! Das gilt z. B. nicht für Vibrocil-Nasentropfen.

Klein:Ah, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Es

gibt Firmen, die früher im Erstattungsko-dex waren und diesen verlassen haben,

weil sie dort gewissen Preisregulatorien unterworfen sind. Diese Firmen sagen: „Wir verlangen, was wir wollen.“ Die Fra-ge ist spannend! Um das zu lösen, müss-te der Gesetzgeber sagen: „Etwas, was im krankenversicherungsrechtlichen Sinn nicht mehr Medikament ist, soll trotzdem bezahlt werden.“

Kerbl:Da können wir ja noch bei Frau

Dr. Wolschlager nachfragen …Baumgartner:Ein Punkt noch: Es sollte meines Er-

achtens auch im Kindesalter das „doctor hopping“ und „doctor shopping“ hintan-gehalten werden. Ich erlebe immer wieder, dass Patienten am Dienstag beim Prakti-ker waren, am Mittwoch beim Kollegen, am Donnerstag kommen sie zu mir und am Freitag gehen sie ins Krankenhaus. Und dann gehen sie vielleicht noch zum HNO-Arzt, weil sie Ohrenstechen haben. Das einzudämmen, könnte schon zu einer Kostenreduktion beitragen (.Abb. 4).

Kerbl:Frau Dr. Jäger, wie stehen Sie zu Selbst-

behalten?Jäger-Roman:Ich bin gegen Selbstbehalte, weil wir in

Deutschland ausgedehnte Selbstbehalte haben. Die haben im Gesundheitssystem zu Einsparungen von 1–2 Mrd. € geführt. Aber das, was sie erreichen wollten, näm-lich die Steuerung im Gesundheitssystem, ist nicht erfolgt. Davon betroffen sind jetzt hauptsächlich die sozial Schwachen und die chronisch Kranken. Und die gibt es ja insbesondere unter Kindern auch. Ich glaube also nicht, dass wir damit irgend-welche Vorteile erreichen.

Wolschlager:Bei uns in der „Kinderstrategie“ kom-

men die Selbstbehalte zweimal vor, und zwar bei den Zielen, die sich explizit mit der gesundheitlichen Chancengerechtig-keit beschäftigen. Dort war es der Ein-druck der Arbeitsgruppe, dass es Sinn macht, die Selbstbehalte abzuschaffen. Derzeit gibt es ja Selbstbehalte für Kin-der im Krankenhaus, und dazu kommen noch die Kosten für die Begleitpersonen. Persönlich glaube ich auch, dass Selbstbe-halte als Steuerungsinstrument untaug-lich sind. Was das „doctor hopping“ be-trifft glaube ich, dass man eher an der Ge-sundheitskompetenz ansetzen muss und

Abb. 4 9 D. Baum-gartner, E. Jäger-Ro-man und V. Wolschla-ger (v. l. n. r.) sprechen sich gegen Selbstbe-halte aus

123Pädiatrie & Pädologie · Supplement 1 · 2013  | 

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an der Stärkung der Fähigkeiten von El-tern in der Frage, was sie mit einem akut kranken bzw. behandlungsbedürftigen Kind machen.

Hofmarcher:Ich möchte ad hoc etwas Provokatives

sagen. Ich glaube, dass es umso besser ist, je öfter die Menschen zu Ärzten gehen – ich glaube, dass das ein Fortschritt ist. Bei allem Respekt für das Stärken von Kom-petenz und Bewusstsein glaube ich, dass es ein gesellschaftlicher Fortschritt ist, wenn Menschen zu qualifizierten Ärzten gehen, bei denen ihnen in der Tendenz ge-holfen wird. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht trotzdem steuern kann. Man muss aber über die Angebotsseite steu-ern, also über den Stellenplan, über die Honorierungssysteme. Es kann sein, dass wir diskutieren müssen, wie hoch das Ein-kommen bestimmter Ärzte bzw. Ärzte-gruppen sein soll und wie das Geld ver-teilt werden soll, um eine gute Versorgung zu gewährleisten.

Kerbl:Prof. Popow, Du möchtest dringend ei-

nen Kommentar loswerden.Prof. Dr. C. Popow, Kinder- und Jugend-

psychiater am AKH Wien:Es gibt Selbstbehalte im System, nur

heißen sie oft nicht so. Es gibt z. B. Selbst-behalte bei funktionellen Therapien, weil sie auf Kassenkosten nicht ausrei-chend verfügbar sind, weshalb die Eltern zu niedergelassenen Freiberuflern gehen müssen. Dafür bekommen sie dann von der Krankenkasse 80% des Kassentarifs aus dem Jahr 1997 refundiert, das sind 22,60 €. Die Kosten liegen aber tatsäch-lich bei etwa 70 €. Wir wissen auch, dass es Selbstbehalte gibt bei Optikern, weil

kein Kind gern mit der Krankenkassen-brille in die Schule geht, bei den Zahnre-gulierungen. Darüber hinaus wissen wir, dass es speziell im Behindertenbereich enorme Selbstbehalte gibt, z. B. bei der Anschaffung eines Rollstuhls. Das scheint hier in der Diskussion gar nicht auf, weil diese Dinge nicht offiziell „Selbstbehalt“ heißen (.Abb. 5).

Kerbl:Dein Wunsch lautet also Valorisie-

rung für die wahlärztliche und therapeu-tische Versorgung. Diesen Wunsch kön-nen wir wohl Herrn Dr. Klein mitgeben, und Ähnliches gilt ja auch für die Mutter-Kind-Pass-Honorare, die auch seit 1995 nicht valorisiert sind. Es gibt sicher kei-nen Installateur, der zum Tarif von 1995 kommen würde – warum wird Derarti-ges im medizinischen Bereich als selbst-verständlich erachtet?

Klein:Für mich sind das eigentlich keine

Selbstbehalte, sondern schwere Leistungs-schwächen im System. Das Leistungsrecht sagt z. B. bei den von Ihnen angesproche-nen Rollstühlen: Das sind „Heilbehelfe“ bzw. „Hilfsmittel“ – dafür ist ein bestimm-ter Tarif vorgesehen und nicht mehr. Bei den angesprochenen Kieferregulierungen sind es detto satzungsmäßige Zuschüs-se, denen ein Vielfaches an tatsächlichen Kosten gegenübersteht. Was Sie mit den 21,80 € angesprochen haben, ist etwas An-deres. Das ist der Zuschuss zu einer pri-vat in Anspruch genommenen Psycho-therapie.

Popow:Das gilt auch für Physiotherapie, Logo-

pädie, Ergotherapie …Zwischenruf:

Und es gibt Länder, in denen es für die-se Therapien keinen einzigen Vertrags-partner gibt.

Klein:Ja, sowohl bei der Psychotherapie wie

auch bei den anderen angesprochenen Therapieformen hängt das mit der grund-sätzlichen Finanzierungspolitik der Kran-kenversicherungen zusammen, dass man – um sozial Schwächere nicht zu benach-teiligen – an sich Verträge mit Sachleis-tungspartnern will. Bezüglich der Psy-chotherapie hat z. B. jeder Versicherungs-träger Verträge mit sog. Versorgungsver-einen oder mit psychotherapeutischen Sozialambulatorien. Es wird darauf ge-achtet, dass es dort – soweit die Mittel reichen – kostenfreie Therapieangebo-te gibt. Jene, die es sich eher leisten kön-nen und nicht die lange Wartezeit auf sich nehmen wollen, gehen privat in Therapie und holen sich dann diesen bescheidenen Zuschuss. Das ist sozusagen ein hilfloser Versuch an Mängelverwaltung, indem man sagt: „Schauen wir lieber, dass wir jenen, die es am dringendsten brauchen, die entsprechende Sachleistung zur Gän-ze geben, und geben wir bei den anderen nur diesen „eingefrorenen“, mickrigen Be-trag von 21,80 €.“ Sinnvoller wäre natür-lich eine umfassendere Sachleistungsver-sorgung, dafür fehlt aber das Geld. Und damit sind wir wieder bei der Ursprungs-debatte: entweder mehr Geld ins System oder sinnvollere Verteilung.

Hofmarcher:Aber es war 1993 ein Sündenfall, dass

für die psychotherapeutische Versorgung kein Gesamtvertrag zustande gekommen ist.

Klein:Man kann diskutieren, ob das ein Sün-

denfall war. Zustande gekommen ist der – an sich abschlussreife – Gesamtver-trag damals deswegen nicht, weil die Psy-chotherapeuten den Gesamtvertrag zwar unterschrieben haben, aber gleichzeitig eine Resolution gefasst haben, dass sie je-den Psychotherapeuten, der den Gesamt-vertrag klageweise beeinsprucht, unter-stützen werden. Daraufhin haben wir ge-sagt, dass wir auf dieser Basis keinen Ver-trag abschließen können und dass wir es dann lieber mit den Versorgungsver-einen machen. Wir haben damals auch erfragt, wie viele Psychotherapeuten be-

Abb. 5 9 Teilnehmer aus dem Publikum bringen ihre Fragen und Kommentare an den Round Table

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Round Table Diskussion

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reit wären, einen Kassenvertrag anzuneh-men – es waren fast keine. Fast alle woll-ten „Wahlpsychotherapeuten“ bleiben, um die höheren Tarife verrechnen zu können. Das ist also damals alles nicht sehr fein ab-gelaufen.

Kerbl:Deswegen sind wir auch heute hier, um

zu überlegen, ob man vielleicht doch noch bessere Lösungen finden kann.

DDr. F. Sator, niedergelassener Kinder-arzt in Bisamberg (Niederösterreich):

Ich finde es auch gut, dass Kinder gern und oft zu Ärzten gehen können. Ich kann das mit der Studie „Armut in Korneu-burg“ belegen, die wir 2010 gemacht ha-ben. Wir haben untersucht, an wen sich arme Familien mit Kindern wenden. Der Kontakt zu Ärzten ist dreimal höher als zu Sozialarbeitern – das sollte uns zu denken geben. Wir müssen als Ärzte Dinge tun, die an sich nicht unsere Profession sind. Wir müssen daher umdenken: Gesund-heitspolitik ohne Sozialpolitik ist nicht möglich.

Dr. E. Tatzer, Sprecher der Politischen Kindermedizin:

Ich möchte gern zurückkommen auf die Steuerung der kindermedizinischen Primärversorgung. Ein Hauptproblem ist, dass es den Ärzten an Zeit mangelt, um mit den Patienten ausreichend zu reden. Das ist aber nicht ein Zeitmangel an sich. Er ergibt sich aus dem derzeitigen Hono-rarsystem, in dem nämlich „die Zeit“ we-nig kostet im Unterschied zur maschinel-len oder instrumentellen Medizin. Hier und heute sind wir aber in einem Kreis, der über diese Steuerungsmechanismen sehr gut reden könnte, weil führende Ver-treter von Ärztekammer, Hauptverband

und Ministerium an einem Tisch sitzen. Man muss sich eben entscheiden, ob man die Kinderärzte weiter über ein „Mogel-system“ finanzieren will, in dem man sagt: „Machen’s halt mehr EKGs“, oder ob man Leistungen endlich so bezahlt, wie sie an-fallen und wie sie tatsächlich notwendig sind. Ich glaube diese Änderung sollte ge-rade auch von den Kinderärzten einge-fordert werden, statt ständig in den Ho-norarverhandlungen Balanceakte zu voll-führen, um nichts zu verlieren.

Kerbl:Ich denke, diese Anfrage geht jetzt an

Dr. Baumgartner und Dr. Klein. Wäre es denkbar, dass man das bisherige Sys-tem der Honorierung, das meines Wis-sens dem Kinderarzt die Abrechnung von über 30 Positionen ermöglicht bzw. ihn dazu zwingt, durch eine pauschale Leis-tung für „gute Versorgung“ ersetzt?

Baumgartner:Wir haben jetzt in Niederösterreich für

den niedergelassenen Bereich eine neue Kammerführung, und wir sind angetre-ten, um in den nächsten 5 Jahren ein neu-es Honorarmodell zu erarbeiten. Wir wol-len das auch im Verein mit dem Vertrags-partner, der Gebietskrankenkasse (GKK), erstellen. Das Grundkonzept besteht da-rin, dass eine Honorierung hauptsäch-lich über „Zeit“ erfolgt. Wir können aber sicher nicht ein reines Pauschalsystem einführen – es muss ein gemischtes Sys-tem bleiben, weil sonst auch die Qualität der Versorgung wahrscheinlich schlech-ter wird. Denn wenn ich nichts dafür be-komme, kaufe ich mir kein Ultraschallge-rät. Aber tatsächlich sind die derzeitigen Systeme aller Leistungskataloge technisch und chirurgisch dominiert. Für die direkt

am Patienten erbrachten Leistungen gibt es in allen Krankenversicherungen zu ge-ringe Honorare. Dies führt dazu, dass die Pädiater die schlechtestbezahlte Gruppe aller Fachärzte sind. Wir brauchen jedoch eine generelle Änderung, wir können sie nicht nur für unsere Fachgruppe realisie-ren (.Abb. 6).

Kerbl:Herr Dr. Klein, meines Wissens wurde

das für die niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater ja schon so ähnlich ge-regelt. Zwar gibt es meines Wissens keine direkte Abrechnung des benötigten Zeit-aufwands, aber es werden doch zeitauf-wendige Leistungen relativ hoch bewer-tet.

Dr. MAS C. Hartl, niedergelassene Kin-der- und Jugendpsychiaterin in Purkers-dorf (Niederösterreich), Bundesfachgrup-penobfrau für Kinder- und Jugendpsychi-atrie:

Tatsächlich repräsentieren wir ein Fach, das gar keine technischen Leistun-gen erbringt. Die Leistung besteht somit im diagnostischen und therapeutischen Kontakt. Damit ist primär eine andere Definition unseres Sonderfachs gegeben. Und deshalb war es klar, dass das in dieser Form auszuverhandeln ist. Mit dem kann man wunderbar leben: So funktioniert auch die Netzwerkarbeit gut. Ich glaube, man könnte einen Teil unseres Modells für die Pädiatrie übernehmen. Aber es braucht für die Pädiatrie wahrscheinlich ein Mischsystem, weil sie teilweise auch technifizierter ist als unser Fach.

Klein:Es hat mir gefallen, dass Dr. Tatzer ge-

sagt hat: „Das ist zum Teil ein Mogelsys-tem.“ Die Ärzte sind fast gezwungen, ihr Einkommen zu optimieren, indem sie Po-sitionen verbuchen, die der Patient mögli-cherweise gar nicht braucht. Das geht aber auch quer durch alle anderen Fächer. Teil-weise wird diese Optimierung der Positi-onsabrechnung auch von der Ärztesoft-ware vorgenommen, um z. B. die verein-barten Limits nicht zu überschreiten. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich eine gewisse Sympathie für Selbstbehalte habe. Dann schaut auch der Patient darauf und sagt: „Muss das wirklich sein?“ oder „Das wurde ja gar nicht gemacht.“ Man braucht also bessere Honorarsysteme, ein anderes gesetzliches Grundverständnis

Abb. 6 9 D. Baumgart-ner, Vizepräsident der Ärztekammer für Nie-derösterreich: „… wir sind angetreten, um … ein neues Hono-rarmodell zu erarbei-ten. … Das Grund-konzept besteht darin, dass eine Honorierung hauptsächlich über ‚Zeit‘ erfolgt“

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für die Gesamtverträge. Die wahre Funk-tion der Gesamtverträge ist meines Erach-tens der Schutz des einzelnen Arztes vor dem übermächtigen Monopolisten Kran-kenversicherung. Dabei muss unbedingt die Einkommenshöhe in den Gesamtver-trägen mit verhandelt werden. Das Leis-tungsportfolio sollte aber natürlich auch durch Ärztinnen und Ärzte nach wissen-schaftlichen Grundlagen und auf Basis von Gesundheitszielen definiert werden, z. B. evidenzbasiert mehr Gesprächsmedi-zin, weniger chirurgische und „Apparate-medizin“. Auf dieser Basis sollten die Ein-kommenshöhen vereinbart werden, aber nicht die Planstellen und die Zusammen-setzung des Portfolios in den Gesamtver-trägen. Denn das verführt wieder dazu, es einkommensorientiert zu betrachten. Ich wäre also dafür, das Leistungsspektrum auf neue juristische Füße zu stellen. Da-zu hätte natürlich auch der Gesundheits-minister eine Möglichkeit, auch wenn er es nicht allein beschließen kann. Das wäre Aufgabe des demokratisch gewählten Na-tionalrats, aber der Gesundheitsminister könnte die Vorschläge vorlegen.

Hofmarcher:Wie würde eine optimale Aufteilung

zwischen Pauschal- und Einzelleistungen aussehen?

Kerbl:Ich fürchte, dass man das jetzt nicht

über den Daumen schätzen kann.Tatzer:Verstehe ich das richtig, dass in Nie-

derösterreich für alle Fächer verhandelt wird? Oder gilt das nur für die Pädiatrie?

Baumgartner:Wir beginnen jetzt bei den Allgemein-

medizinern, dann müssen wir bei den Fachgruppen nachfragen und das ein-arbeiten.

Tatzer:Aber warum macht man nicht – wo es

doch so klar ist – diese Anpassung für die Pädiatrie zuerst – nach dem Motto „Das Kind zuerst“?

Kerbl:Ich bin überzeugt, dass der Herr Ärz-

tekammerpräsident diese Anregung nach Niederösterreich mitnehmen wird.

Prim. Dr. A. Kamper, Klinikum Wels-Grieskirchen  (Oberösterreich),  Facharzt für  Kinder-  und  Jugendheilkunde  sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie:

Es war zuerst die Rede vom „Sünden-fall“ 1993. Wie lange müssen wir noch mit diesem leben bzw. wann dürfen wir mit der Absolution rechnen? Oder anders ge-fragt: Wann dürfen wir damit rechnen, dass Psychotherapien für Kinder bezahlt werden?

Klein:Ich bin jetzt nicht sicher, ob ich die

Frage richtig verstehe, aber ich versuche trotzdem zu antworten. Der „Sünden-fall“ war übrigens nicht 1993, sondern im Jahr 2000. Damals ist der Gesamtvertrag gescheitert an den zuerst beschriebenen Querelen. Die Träger haben aber damals gesagt: „Wir müssen Psychotherapie anbie-ten“, und haben andere Vertragskonstruk-tionen gesucht als die klassischen Gesamt-verträge. So wurden in jedem Bundesland mit unterschiedlichen Vertretern Verträ-ge über die psychotherapeutische Versor-gung geschlossen. Dort können sich El-tern auch mit ihren Kindern anmelden, sind nach unterschiedlichen Wartezeiten an der Reihe und erhalten die Psychothe-rapie, und zwar gratis. Manche Träger ha-ben ganz geringe Selbstbehalte von 5–6 €. Meines Wissens sind aber Kinder übli-cherweise von diesen Selbstbehalten be-freit. Die Wartezeiten – wir haben das er-hoben – betragen zwischen 0 und 5 Mo-naten im Schnitt, je nach Träger. Wenn es 5 Monate im Schnitt sind, kann es natür-lich sein, dass es im Einzelfall eine länge-re Wartezeit gibt. Bei Kindern sind meines Erachtens zudem auch 2, 3 oder 4 Monate zu lang, weil man im Entwicklungsablauf dabei ja wichtige Entwicklungsfenster versäumt. Die Wartezeiten deuten darauf hin, dass es mehr solche Sachleistungs-plätze geben sollte; das ist wieder eine Fi-nanzierungsfrage. Wir geben für Psycho-therapie und psychologische Diagnostik derzeit etwas mehr als 70 Mio. € jährlich aus. Das ist deutlich mehr, als der Gesetz-geber 1992 – damals ist erst unter gleich-zeitiger Anhebung der Krankenversiche-rungsbeiträge die gesetzliche Möglichkeit dafür geschaffen worden – unter Hoch-rechnung auf heutige Verhältnisse vor-gesehen hat. Nach dieser Hochrechnung wären heute etwa 60 Mio. € dafür vorge-sehen. Die Träger haben sozusagen ohne-hin schon 12 Mio. € aus anderen Berei-chen dorthin umgeschichtet, aber natür-lich bräuchten wir noch mehr Mittel. Un-

ter den gegebenen Bedingungen ist das je-doch schwer. Jene Eltern, die die Wartezeit nicht in Kauf nehmen wollen, nehmen dann einen Wahlpsychotherapeuten und bekommen so nur die zuerst beschriebe-nen 21,80 €.

Kerbl:Ich möchte die Diskussionsrunde mit

einer visionären Frage beschließen: Neh-men wir an, Herr Stronach gewinnt die nächste Nationalratswahl, errichtet das „Supergesundheitsministerium“, das alle Geldmittel bekommt, die dem gesamten Gesundheitssystem zur Verfügung stehen, und macht Sie zum Gesundheitsminister und damit zum Verwalter all dieser Mit-tel. Wie würden Sie im Hinblick auf eine optimale pädiatrische Primärversorgung diese Geldmittel einsetzen?

Hofmarcher:Zuerst würde ich in Ausbildung in-

vestieren, damit die Ausbildungsstan-dards auch bei den Hausärzten gesichert sind. Zweitens würde ich in regionale Pro-jekte investieren, die neue Zusammenar-beitsformen zwischen Hausärzten, Pädia-tern, aber auch anderen Gesundheitsbe-rufen erproben. Das würde ich in allen Regionen machen. Weiters würde ich das derzeit bestehende Ost-West-Gefälle eva-luieren, auch im Hinblick auf die neu ge-setzten Maßnahmen. Und dann würde ich entscheiden, ob bzw. was ich in den Regel-betrieb übernehme.

Klein:Ich möchte statt eines Wünsch-dir-

was-Spiels lieber einen realistischeren Ansatz wählen, der dennoch visionär ist. Einen Gesetzesvorschlag habe ich zuerst schon gemacht, einen zweiten möchte ich jetzt machen. Man sollte den Krankenver-sicherungsträgern ermöglichen, im Be-reich Kinderversorgung durchaus Schul-den zu machen und in diesen wichtigen Bereich zu investieren; dafür müssten sie jedoch eine Art Businessplan machen, nach dem Motto „Wir erwarten, dass sich das oder das in 5 Jahren rechnet“. Das soll-te sich aber auch auf andere Bereiche wie die Schul- und Lehrlingsausbildung er-strecken. Ein Ziel könnte hier sein, dass mehr Jugendliche eine Lehre positiv ab-schließen, was sich dann z. B. in 15 Jahren durch weniger Arbeitslose rechnen wür-de. Andere Visionen sind: weniger Dro-genkonsum, weniger Missbrauch und

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Round Table Diskussion

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niedrigere Gefängniskosten. Sie sehen, ich spreche da ganz andere gesellschaftliche Felder an, auf denen dann die Erträge er-wirtschaftet werden und wovon die Kran-kenversicherungsträger nichts haben – die werden trotzdem für ihre Schulden ge-prügelt. Die Krankenversicherungsträger müssten die Möglichkeit haben, zu sagen: „Unser Tun rechnet sich in anderen po-litischen und gesellschaftlichen Gebieten, und das wird uns aufgrund eines Busines-splans zugutegehalten – dafür dürfen wir Schulden machen.“

Baumgartner:Ich würde mir wünschen, dass im

Versorgungsbereich die Bundesländer-grenzen fallen. Das heißt, dass ich nicht für Perchtoldsdorf eine Kinderarztpra-xis fordere, denn über der Ketzergasse ist Wien und dort sind genug Kinderärzte mit einem Kassenvertrag. Weiters wün-sche ich mir eine wirklich gute dezentrale kinderärztliche Versorgung. Das heißt, es müssten wesentlich mehr sein als jetzt. In diesem Zuge sollte eine enge Kooperati-on mit den Kinderpsychiatern geschehen, weil man sie „draußen“ genauso braucht. Ich sehe das jetzt in Wiener Neustadt, wo wir das Glück haben, einen Kinderpsych-iater zu haben, der noch dazu vis-à-vis im Haus neben mir ordiniert. Den kann ich anrufen und ihm sofort einen Patienten hinüberschicken. Das ist Qualität, das ist Kooperation, und das wünsche ich mir.

Kerbl:Frau Dr. Jäger, bei Ihnen wird es nicht

Herr Stronach sein, bei Ihnen wird wohl Frau Merkel auf Lebenszeit bleiben. Aber angenommen sie kommt zu Ihnen mit dem zuerst geschilderten Angebot – was würden Sie denn machen?

Jäger-Roman:Ich würde zuerst Gesundheitsziele ent-

wickeln, die in einer Region oder kommu-nal durchgesetzt werden können, und mit einem Masterplan definieren wollen, wie diese Gesundheitsziele innerhalb einer absehbaren Zeit – z. B. 5 Jahre – erreicht werden können. Zudem würde ich mitde-finieren, wie die Prävention aussehen soll-te. Denn die größten Probleme in meinem Tätigkeitsbereich sind Übergewicht, Be-wegungsmangel, psychische Probleme und Sprachentwicklungsstörungen – für diese 4 Hauptziele könnte man kommu-nal etwas erreichen. Und das würde ich

eben über Prävention durchzusetzen ver-suchen.

Kerbl:Ja, dann bitte ich um die letzte Wort-

meldung durch die Vertreterin des Ge-sundheitsministeriums. Österreich inves-tiert (nur) 2% der gesamten Gesundheits-ausgaben in Prävention – Frau Dr. Jäger hat den Ball aufgeworfen …

Wolschlager:Ich muss meinen Vorrednern recht

geben: Es muss uns gelingen, mehr Geld in Gesundheitsförderung und Präventi-on umzuschichten. Ich glaube, dass di-ese gesamtgesellschaftliche Verantwor-tung für Gesundheit in den Köpfen aller Verantwortlichen mehr und mehr veran-kert werden muss. Ich glaube, dass wir mit dem Kindergesundheitsdialog einen wich-tigen Beitrag dazu geleistet haben. Dies ist mit der Entwicklung der Rahmenge-sundheitsziele fortgesetzt worden und es ist eine gesamtgesellschaftliche Entwick-lung, die man hier vorantreiben muss. Es ist notwendig, dass wir genau das darstel-len, was Dr. Klein gerade gesagt hat, näm-lich, dass eine Investition am Anfang des Lebens sich „hinten“ rechnet, und zwar in der gesamten Gesellschaft, z. B. in der Ju-gendwohlfahrt, bei den Schulabbrechern etc. etc. Es gibt Belege aus Deutschland, wo beispielsweise in frühe Hilfen inves-tiert wird und wo herauskommt, dass dort die geringsten Kosten für Jugendwohl-fahrt anfallen. Das Zweite ist: Wir müssen uns mehr und mehr mit den anderen Sek-toren vernetzen, aber auch innerhalb des Gesundheitssystems, wo die Versorgung der „neuen Morbidität“ integriert vor sich gehen muss.

Kerbl:Ich bedanke mich herzlich bei unseren

Diskutantinnen und Diskutanten am Po-dium, aber auch im Publikum, und hof-fe, dass wir uns in einem Jahr in Salzburg bei der nächsten Jahrestagung der Poli-tischen Kindermedizin wieder zu einem ähnlich anregenden „Round Table“ tref-fen können.

D. Baumgartner. Matura 1970 in Wiener Neustadt, danach Studium an den Uni-versitäten Graz und Wien mit Promoti-on am 16.12.1976; Ausbildung zum Fach-arzt für Kinder- und Jugendheilkunde an der Kinderabteilung des LKH Mödling

bei Prim. Dr. Helmut Lothaller; Ordinati-on mit Verträgen zu allen Kassen seit 1986 in Wiener Neustadt; seit 1990 in Niederös-terreich Fachgruppenobmann der Fach-ärzte des Sonderfachs Kinder- und Ju-gendheilkunde, seit 1993 auch bundesweit in dieser Funktion tätig; daneben mehre-re Jahre Impfreferent der niederösterrei-chischen Ärztekammer; seit der Kammer-wahl im März 2012 nun Obmann der Ku-rie der niedergelassenen Ärzte und in die-ser Funktion Vizepräsident der niederös-terreichischen Ärztekammer.

E. Jäger-Roman. siehe S. 22

R. Kerbl. siehe S. 70

C. Klein. Studium der Rechtswissen-schaften in Salzburg und Stockholm, As-sistententätigkeit an der Universität Salz-burg, Gerichtspraxis; 1987–2009 Tätigkeit in der Arbeiterkammer Wien (ab 2002 als Leiter des Bereichs Soziales); seit 2009 stv. Generaldirektor des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungs-träger.

M.M. Hofmarcher. siehe S. 28

V. Wolschlager. Medizinerin, Master of Public Health; seit 2009 im Bundesmi-nisterium für Gesundheit (BMG); 2010/11 Projektleiterin des „Kindergesundheits-dialogs“, mit dem die Kinder- und Jugend-gesundheitsstrategie erarbeitet wurde; seit 2012 Leiterin der Koordinationsstelle für Kinder- und Jugendgesundheit im BMG. Zwei Kinder überwiegend allein großge-zogen, seit 2009 wieder verheiratet.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. R. KerblAbteilung für Kinder und Jugendliche, LKH LeobenVordernbergerstr. 42, 8700 LeobenÖ[email protected]

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