Alles Zu Seiner Zeit_ Mein Leben (German - Gorbatschow, Michail

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Michail Gorbatschow Alles zu seiner Zeit Mein Leben

Aus dem Russischen von Birgit Ve it

Dem Gedenken an meine Frau

Prolog

Aus dem Tagebuch 21. September 2000 Ein Jahr ohne Raissa. Wir, die Angehrigen und enge Freunde, haben uns heute versa mmelt, um den Grabstein zu enthllen. Er stammt von dem Bildhauer Friedrich Sogoja n. Eine farbige Marmorplatte wie ein blhendes Feld. Groe Steine. Die Inschrift: Rai ssa Maximowna Gorbatschowa. 5. Januar 193220. September 1999. Die Gestalt einer ju ngen Frau, die Raissa sehr hnlich sieht. Sie bckt sich, um Feldblumen auf die Grab platte zu legen. Ein Jahr ist vergangen, das allerschwerste vielleicht. Mein Leben hatte seinen e igentlichen Sinn verloren. Ich brauchte Monate, um zu mir zu kommen. Was mich ge rettet hat, ist die Nhe zu meiner Tochter Irina, meinen Enkelinnen Xenia und Anas tasia sowie Freunde. Nach Raissas Tod stellte ich fr einige Monate meine Reisen und ffentlichen Auftrit te ein. Ich verbrachte die ganze Zeit auf meiner Datscha. Nie zuvor habe ich mic h so furchtbar einsam gefhlt. Fast fnfzig Jahre waren Raissa und ich zusammen, ein er an der Seite des anderen, und nie haben wir das als Last empfunden, im Gegent eil: Es ging uns immer gut zu zweit. Wir liebten uns, obwohl wir auch unter vier Augen nicht gro darber sprachen. Die Hauptsache war: Wir wollten all das bewahren , was uns in unserer Jugend zusammengebracht hatte. Wir verstanden uns und hteten unsere Beziehung. Ich werde das Gefhl nicht los, dass ich schuld bin an Raissas Tod. Ich rufe mir a lles ins Gedchtnis zurck, um herauszufinden, wie es mglich war, dass ich sie nicht habe retten knnen. Ich habe gesehen, wie sehr ihr die Ereignisse der letzten Zeit zusetzten: Wie konnte es geschehen, dass unanstndige, gewissen- und verantwortun gslose Menschen in unserem Land die Oberhand gewonnen hatten? Raissa kam stndig a uf dieses Thema zu sprechen, und wenn ich ihr vorhielt, man knne nicht die ganze

Zeit an ein und dasselbe denken, zog sie sich in ihr Schneckenhaus zurck und schw ieg. Sie tat mir leid. Es qulte mich, dass sie litt. Immer wieder kommt mir die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie lebte, die Na cht vom 19. auf den 20. September. Raissa starb am 20. September 1999, um 2 Uhr 57. Sie starb ohne Schmerzen, lag im Koma. Wir konnten einander nichts zum Absch ied sagen. Sie starb zwei Tage vor der geplanten Stammzellentransplantation aus dem Rckenmark ihrer Schwester Ljudmila fnf Tage vor dem 46. Jahrestag unserer stan desamtlichen Trauung in Moskau. Bis zum Ende glaubte ich an ihre Rettung und konnte das Geschehene lange nicht f assen. Hilflos und verstrt standen Irina und ich an ihrem Bett: Geh nicht fort, Sa charka.[1] Hrst du? Ich ergriff ihre Hnde in der Hoffnung, sie wrde mir vielleicht m it einem Hndedruck antworten. Raissa schwieg sie war tot. Vor der Krankheit hatten Raissa und ich wiederholt ber unsere Zukunft gesprochen. Einmal hrte ich von ihr: Ich mchte nicht ohne dich zurckbleiben. Das ist kein Leben fr mich. Du, du heiratest dann eben und lebst weiter. Ich war erschttert darber, wa s ihr durch den Kopf ging. Was redest du?! Wie kommst du darauf? Wieso sprichst d u vom Tod? Du bist jung, schau dich im Spiegel an. Hr, was die Leute sagen. Du bi st einfach mde! Ich will keine alte Frau sein, sagte sie oft. Als dann die Enkel kamen, musste ent schieden werden, wie sie uns beide anreden sollten. Sie wollte Babulja genannt wer den. Babuschka, das klingt so klapprig, aber Babulja, da steckt doch Energie drin ! So war sie eben Raissa mochte den Spruch vom Alter einer Frau: Kind, Mdchen, junge Frau, junge Fra u, junge Frau, junge Frau eine alte Frau ist eine tote Frau. In den letzten Jahren unseres Zusammenlebens trumte sie oft davon, dass einer von uns stirbt. Immer hufiger merkte ich, dass sie Angst hatte. Manchmal sagte sie: L ass uns weniger reisen. Es fiel ihr zunehmend schwer, weite Reisen mit mir zu unt ernehmen. Doch wie ich an ihren traurigen Augen ablas, fiel es ihr noch schwerer , allein zurckzubleiben. In jener Nacht standen Irina und ich an ihrem Bett. Wir weinten und konnten nich ts mehr machen. 5. Januar 2001 Raissas Geburtstag. Sie wre 69 Jahre alt geworden. In unseren Gesprchen ber die Zuk unft hat sie oft gesagt: Wenn ich bis zum Anbruch des neuen Jahrhunderts und Jahr tausends leben wrde, wre das vollkommen ausreichend. Sie hat dieses Ziel um drei Mo nate verfehlt. Dabei hatten wir einen Plan: Wir wollten das Jahr 2000 so begren, d ass wir es nie vergessen wrden. Und da Irina und die Kinder noch nie in Paris war en, hatten wir vor, das Jahr 2000 auf den Champs-lyses in dieser wunderbarsten Sta dt der Welt zu begren. Darauf freuten wir uns, bis uns dieser schreckliche Verlust traf. Und trotzdem b in ich mit den Mdchen nach Paris gefahren, ihr Weihnachtsgeschenk von Raissa.

Heute waren wir auf dem Neujungfrauenfriedhof. Wir haben viele Blumen mitgebrach t Vorweihnachtszeit. In der Nacht ist Schnee gefallen. Ich habe Raissas Liebling sblumen mitgebracht: rote Rosen. Ein unvergessliches Bild: die roten Rosen auf d em bltenweien Schnee. Auf der Grabplatte.

Als wir zurckkamen, haben wir uns an den Tisch gesetzt. An der Wand ein groes Port rt von ihr, im Zimmer Blumen, brennende Kerzen, der geschmckte Weihnachtsbaum und der Duft von Nadelholz. Auf dem Tisch alles, womit sie uns immer verwhnte. Kurz: eine russische Tafel mit sibirischem Anstrich in Gestalt von Pelmeni und der Tor te namens Avantgarde, die in der Kreml-Konditorei zubereitet wurde und deren Name von Raissa stammt. Wir hoben die Glser und standen schweigend da Mit Irina, Anastasia und Xenia, 2009 Quelle: A. Trukhachew

Nach dem Abendessen ging ich nach oben in mein Arbeitszimmer. Ich machte kein Li cht und stand am Fenster. Das von Laternen beleuchtete Datschengrundstck, der dic hte russische Wald und der unentwegt fallende Schnee ich kam mir vor, als se ich i m Bolschoj-Theater, im Nussknacker. Wir hatten eine Familientradition, nach der wir jedes Jahr an Silvester ins Bolschoj-Theater gingen. Wir schauten uns den Nu ssknacker an, und wenn wir nach Hause kamen, feierten wir den Ausklang des alten Jahres und verteilten die Geschenke, die Vterchen Frost trotz der erhhten Sicherh eitsstufe in die Prsidentenvilla geschleust und uns unter den Weihnachtsbaum gele gt hatte. Musik, frhliches Beisammensein All das sind nun Erinnerungen an ein vergangenes Leben, an die Zeit, da wir alle noch zusammen waren. Raissa liebte den russischen Winter, besonders wenn es ordentlich strmte und schn eite. So war es schon, als wir noch in der Region Stawropol wohnten, wo wir uns sogar einmal bei einem Schneetreiben verirrt haben. Und so war es auch in Moskau . Raissa stammt aus dem Altai-Gebirge und wuchs in Sibirien auf. Ein paar Jahre lebte die Eisenbahnbauer-Familie auch im Nordural in der Taiga. Oft erzhlte sie von Schlittenfahrten, bei denen die drei Kinder Raissa, Shenja un d Ljudotschka in Pelzmntel eingepackt an einen neuen Wohnort gebracht wurden. An Winterabenden war es in den Familien Brauch, die berhmten Pelmeni zu kneten, sibi rische Teigtaschen, die man einfror und in einem Sack an der eiskalten Luft aufb ewahrte. Pelmeni, das war Raissas Leibgericht. Wieder komme ich auf ihre letzten Tage zurck. Tapfer kmpfte sie um ihr Leben und e rtrug geduldig alles, was die rzte mit ihr anstellten. Es war eine Qual, das mit ansehen zu mssen. In Minuten der Verzweiflung suchte sie in meinen Augen und in d enen ihrer Tochter nach einer Antwort auf die Frage, wie es mit ihr weitergehen wrde. Als Raissa am 19. Juli nach der Diagnose ins Krankenzimmer gebracht wurde, ging ich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und fragte: Was haben die rzte gesagt? Vorsichtig sagte ich: Sie sagen, es handle sich um eine akute Blutkrankheit. Ist das das Ende?, fragte sie. Nein. Wir haben beschlossen, morgen mit dir nach Deutschland zu fliegen, wo man z ustzliche Untersuchungen vornehmen wird, um sich ein genaues Bild von der Krankhe it zu verschaffen. Dort wird auch entschieden, wie sie zu heilen ist. Wir flogen nach Mnster mit der Hoffnung auf Raissas Genesung. Am 21. September mu ssten wir mit der toten Raissa zurckkehren.

Ich or, die ssa

beschloss, brachte es ganze Zeit ihrem Buch

ein Buch ber unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange v aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen. Ich stand unter dem Eindruck des mit Rotstift geschriebenen Titels, den Rai geben wollte: Was mir auf der Seele liegt.

Meine Erinnerungen widme ich dem Andenken an Raissa. Mit Raissa, 1986

Vorbemerkung Dieses Buch ist anders als alle Bcher, die ich bisher verfasst habe. Es gibt kein e feste Struktur, es handelt sich um keine Memoiren im eigentlichen Sinne, sonde rn einfach um meine Sicht unseres Lebens. Diejenigen, die ich gebeten habe, dieses Buch zu lesen und zu beurteilen, haben gesagt, es gefalle ihnen. Wenn sie keinerlei Beanstandungen gehabt htten, htte ich das als Wunsch gewertet, mir nach dem Mund zu reden, um mich zu untersttzen. Abe r neben der positiven Bewertung hat es durchaus auch sehr ntzliche Kritik gegeben , die ich bei der Schlussredaktion nach Mglichkeit bercksichtigt habe. Ich hoffe, es ist mir gelungen, eine umfassende Vorstellung von der Geschichte m eines Lebens zu geben. Dieses Buch ist meine Antwort auf die Frage nach den Fakt oren, die letztlich ausschlaggebend waren fr meinen politischen Weg.

Teil I Meine Universitten

1. Kapitel

Wo ich herkomme Von den etwas ber achtzig Jahren meines Lebens habe ich zweiundvierzig in der Reg ion Stawropol verbracht, die anderen in Moskau. Im Nordkaukasus treffen verschie dene Kulturen und Religionen aufeinander. Die facettenreiche Geschichte dieser R egion hat mich immer lebhaft interessiert. Mit der Erstarkung des Russischen Reiches suchten die Kaukasusvlker Schutz bei ih m vor allen mglichen Eroberern. Im August 1555 kehrte Andrej Schtschepetow, von I wan dem Schrecklichen in den Nordkaukasus entsandt, mit einer Botschaft der Frste

n von Adygeja zurck. Der Zar erklrte das Reich von Pjatigorsk zu russischem Territ orium. Die russische Seite legte Grenzbefestigungen an. Unter Katharina der Groen begann der Bau der Grenzlinie von Asow bis Mosdok mit sieben Festungen, darunte r die Festung von Stawropol. Die ersten Grenzwchter waren Kosaken vom Fluss Chopj or (Gouvernement Woronesch) und Grenadiere des Wladimir-Regiments (Gouvernement Wladimir). Und dann entstand eine Kosakensiedlung nach der anderen. Erst flchteten die Bauer n vor der Leibeigenschaft in den Sden. Spter siedelte man sie zwangsweise dort an. Das Gouvernement Stawropol, ein Vorlufer der Region Stawropol, der ich spter vors tehen sollte, ist eine relativ spte Verwaltungseinheit des Russischen Reiches. De n Status eines Gouvernements bekam es erst 1848, Hauptstadt ist das auf dem hchst en Punkt gelegene Stawropol, das von einem vorwiegend ebenen Steppengebiet von 4 00 Kilometern Lnge und 200 Kilometern Breite umgeben ist. Vom eigentlichen Kaukas us trennten es die Lndereien der Terek-Kosaken sowie im Sdwesten die Lndereien der Kuban-Kosaken, die Katharina die Groe von der Ukraine in den Nordkaukasus umgesie delt hatte. Im Nordwesten erstreckte sich das Territorium der Don-Kosaken, im No rdosten das Gouvernement Astrachan. Die Region Stawropol gehrt zum Nordkaukasus. Sie liegt an der Grenze zwischen Eur opa und Asien. Im Osten, an der Grenze zu Tschetschenien, gibt es 14 Prozent San dboden und 31 Prozent Trockensteppe; die restliche Flche bilden fruchtbare Kastan ien- und Schwarzerdebden. Die Winter sind streng. Oft fllt die Temperatur auf minus 20 bis minus 30 Grad. A ber das Hauptproblem sind die heien Winde, die Staubstrme regenarmer Jahre. Es ist statistisch belegt, dass diese in den letzten hundert Jahren stark zugenommen h aben. Der Aprilsturm des Jahres 1898, der 200000 Stck Vieh vernichtete, ist in di e Geschichte eingegangen. Die Staubstrme des Frhlings 1948 fegten die oberste Schi cht des Bodens weg, 1975/76 (als ich Erster Sekretr des Regionskomitees der KPDSU war) herrschte eine katastrophale Drre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten ca. eine Million Menschen in der Region. D as waren im wesentlichen Russen (beziehungsweise Grorussen, wie sie damals offiziel l hieen), ein Drittel waren Ukrainer (offiziell: Kleinrussen), dann Nogaier, Turkme nen, Kalmcken, Armenier, Grusinier, Griechen, Esten, Juden und Polen. Die Deutsch en mit ihren groen, reichen Farmen lebten abgesondert von den anderen in der Step pe. Es gab auch reiche russische Hfe. Einer, der seinerzeit ziemlich bekannt war in der Region Stawropol, gehrte der Familie, aus der Solschenizyn stammt. 40 Proz ent der Flche des Gouvernements Stawropol war von Nomaden bevlkert: Nogaiern, Turk menen und Kalmcken. Die eigentlichen Bergvlker des Kaukasus (Karatschaier, Tscherk essen und Abasinzen) kamen erst in der sowjetischen Zeit hinzu. Im Gouvernement lagen zwei Stdte (die Stadt Stawropol hatte vor der Revolution et was mehr als 40000 Einwohner) und 130 Drfer, darunter zehn grere (das heit mit einer Einwohnerzahl von bis zu 15000). Es gab elf Bahnstationen, neun Telegrafenmter, 21 Postmter, 22 staatliche rzte in der Stadt, zu denen ebenso viele frei praktizie rende hinzukamen, ein paar Krankenhuser auf dem Land mit je fnf Betten, fnf Mittels chulen, 313 Schulen mit nur einer Klasse und drei Buchhandlungen, die alle in de r Stadt Stawropol ansssig waren. Vorherrschend war die Landwirtschaft: Ackerbau, Vieh- und Schafzucht. Die landwi rtschaftlichen Erzeugnisse waren zum Export bestimmt: nach Petersburg, Moskau un d Paris. An Industrie gab es: Mllerei- und Wachsbetriebe (die auch Kerzen herstel lten), Buttereien, Schnapsbrennereien, Ledergerbereien, Ziegeleien, kurz: alles, was charakteristisch fr ein lndliches Gouvernement ist. Die soziale Schichtung war charakteristisch fr die Provinz jener Zeit: eine recht groe Zahl von Adligen, Grogrundbesitzer, Geistliche, Kaufleute und Hndler, Kleinbrg er (Angestellte, Beamte, Hausbesitzer); die Bauernschaft (mit Lndereien einer Aus

dehnung von 2 bis 5 Desjatinen[2]) stellte 90 Prozent der Bevlkerung; hinzu kamen Arbeiter unterschiedlicher Art (darunter viele Tagelhner) und arme Leute ohne be stimmte Beschftigung. So sah das Gouvernement Stawropol vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1917 aus. Die Geschichte dieses Landstrichs ist reich an Ereignissen. ber einige sind bis h eute Legenden im Umlauf. Mit der Zeit erfuhr ich, dass 25 der Offiziere, die 182 5 am Dezemberaufstand gegen den Zaren teilgenommen hatten, hierhin verbannt word en waren. Das Leben vieler von ihnen endete whrend der Kaukasuskriege in den zahl losen Zusammensten mit den Bergbewohnern. Unter den Verbannten war auch der Dichte r Alexander Odojewskij, der Verfasser einer in Versform gefassten Antwort auf Pu schkins Sendschreiben an die Dekabristen, das die berhmte Zeile enthlt: Der Funken wird zu einer Flamme. Im Lermontow-Museum in Pjatigorsk ist ein Tagebuch Odojewskijs ausgestellt. Auf den vergilbten Seiten begegnet man Namen, die einem aus der Schule bekannt sind. Hier freundete sich Odojewskij mit Lermontow an und traf Ogarjow, den Freund Al exander Herzens. Und als ich in einem Lehrbuch las, die Dekabristen haben Herzen aufgerttelt, erschien mir das wie eine lebendige Verbindung zu den frheren mir beka nnten und vertrauten Menschen meiner Heimat. Wie der Fluss nach dem Frhjahrshochwasser groe und kleine Seen an den Ufern zurcklss t, so haben auch die Umsiedlungen und Wanderungen verschiedener Vlker in den Step pen und Vorgebirgen des Stawropoler Landes viele Spuren hinterlassen. Neben russ ischen Namen begegnet man immer wieder Namen wie Antusta, Dshalga und Tachta, di e mongolischen Ursprungs sind, oder Atschikulak und Arsgir, die turksprachig sin d. Eine solche Mischung von Ethnien auf kleinem Raum, einen solchen Reichtum von Sp rachen, Kulturen und Religionen haben nur wenige Regionen der Welt aufzuweisen. Auer den Russen, die 83 Prozent ausmachten, lebten im Stawropoler Land zu meiner Zeit Karatschaier, Tscherkessen, Abasinzen, Nogaier, Osseten, Griechen, Armenier und Turkmenen. Es ist unmglich, alle aufzuzhlen. Und jedes Volk bringt nicht nur seine Sprache, sondern seine Bruche, Sitten und Trachten mit, ja sogar seine jewe ilige Gestaltung und Aufteilung des Hofs. Heute sehen die Siedlungen ganz anders aus, sie sind einheitlicher geworden. Abe r noch Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man den typischen kaukasischen Aul der Bergbewohner antreffen und daneben eine Kosakensiedlung oder ein russisches Dor f mit Samankaten unter einem Stroh- oder Schilfdach. Und um jede Kate zog sich e in Zaun, geflochten aus den Ruten junger Bume. Ich verstand mich damals auch nich t schlecht auf diese Flechtkunst, und genauso wusste ich, wie man ein Dach deckt und mit welcher Lsung man das Stroh begieen muss, damit die Vgel es nicht rauben. Die Bewohner des Landstrichs sind gesellig und kompromissbereit. Das Auskommen m it Menschen verschiedener Ethnien war ja die wichtigste Voraussetzung fr ein berle ben im Nordkaukasus. Sich in einem mehrsprachigen, multikulturellen Milieu beweg en zu mssen, erzog zu Toleranz und einem respektvollen Umgang miteinander. Wenn m an einen Bergbewohner beleidigte oder krnkte, hatte man sich einen Todfeind gemac ht. Respekt vor der Wrde und den Bruchen eines Bergbewohners hie, einen treuen Freu nd gewonnen zu haben. Ich hatte eine Vielzahl solcher Freunde, denn schon damals kam ich, ohne entsprechende hochtrabende Worte zu kennen, immer mehr zu der Ein sicht, dass nur Toleranz und Eintracht den Frieden zwischen den Menschen sichers tellen knnen. Hier in meiner Heimat bekam ich den ersten Unterricht in internationaler Erziehu ng. Nicht in der Theorie, sondern als fundamentalen Bestandteil des Alltagsleben s. Im Nordkaukasus leben Menschen verschiedener Ethnien nebeneinander, manchmal sogar in ein und demselben Dorf, derselben Siedlung, demselben Aul oder derselbe n Ortschaft. Sie bewahren ihre Kultur und ihre Traditionen, helfen einander aber

auch, besuchen sich, bemhen sich, eine gemeinsame Sprache zu finden, und arbeite n zusammen. Als ich Prsident der UDSSR wurde und es mit den Konflikten der Nationalitten in me inem Land zu tun bekam, war ich kein Neuling in diesen Fragen: Hier in der geist igen Atmosphre des Nordkaukasus sehe ich den Ursprung meiner Neigung, in Konflikt fllen nach einem Kompromiss zu suchen; nicht aus Charakterschwche, wie einige mein en. Rebellen gab es im Nordkaukasus mehr als genug. Gerade hier haben viele Anfhr er echter Volksbewegungen ihr Heer um sich geschart und ihren Vormarsch begonnen : Kondratij Bulawin, Ignat Nekrassow, Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow. Der b erlieferung nach stammt auch Jermak, der Eroberer Sibiriens, aus dieser Gegend. Die zahllosen berflle von Eroberern in alter Zeit und die langjhrigen Kaukasuskrieg e in jngster Vergangenheit haben eine Menge Menschenleben gekostet. Auch der Brger krieg des vergangenen Jahrhunderts hat eine furchtbare Blutspur in unserer Gegen d hinterlassen. Die Sowjetmacht drang von Rostow aus in Richtung Stawropol vor. Unsere Orte waren die ersten auf diesem Weg, und so formierten sich auf dem Bode n meiner Region die ersten Abteilungen der Roten Garde. Bekannt ist Lenins Grusch reiben an die Front von Medweschje. Am 1. Januar 1918 wurde die Stawropoler Sowjetrepublik ausgerufen und ein Rat de r Volkskommissare gebildet. Eine halbe Million Bauern erhielten Land von der neu en Regierung. Man fhrte den Achtstundentag ein, errichtete eine Arbeiterkontrolle in den Fabriken, und der Schulunterricht war von nun an kostenlos. Doch schon i m Mrz kam es im Landkreis Medweschje zu Kmpfen mit Offizierseinheiten des weien Gen erals Kornilow und im April mit der Freiwilligenarmee des Generals Alexejew. Im Juli 1918 schloss sich die Stawropoler Sowjetrepublik mit der Kuban- und Schwarz meerrepublik sowie der Republik Terek zur Sowjetrepublik Nordkaukasus zusammen, die bis zum Januar 1919 Bestand hatte. Danach bernahmen die weien Generle Denikin u nd Schkuro die Macht. Die Kmpfe im Nordkaukasus wurden mit uerster Erbitterung gefhrt. Ein Teil der Kosake n ging in die Rote Armee, sodass in der zweiten Hlfte des Jahres 1918 an der Sdfro nt vierzehn rote Kosakenregimenter im Einsatz waren, die spter zu Brigaden und Re iterarmeen umformiert wurden. Wie unsere rtlichen Veteranen versicherten, waren i n der berhmten 1. Reiterarmee von Budjonnyj und Woroschilow nahezu 40 Prozent der Soldaten aus Stawropol. Ein anderer, nicht unbetrchtlicher Teil der Kosaken dage gen schloss sich den Weien an. Als es am Don zu einer Meuterei kam und General Kr asnow mit Hilfe deutscher Truppen eine Militrdiktatur errichtete, wurden 45000 mi t der Sowjetmacht sympathisierende Kosaken erschossen oder erhngt. Aber auch die Roten machten keine Umstnde und schreckten nicht vor den brutalsten Manahmen zurck, sogar gegen Alte, Frauen und Kinder. Ich erinnere mich noch an folgende Episode , von der General Kniga erzhlte. 1967 feierte man den 50. Jahrestag der Sowjetmacht. Zahlreiche Teilnehmer des Brg erkriegs fuhren in die Stdte und Drfer und erzhlten von ihren Erinnerungen. Besonde rs viele Begegnungen fanden fr die Jugendlichen statt. Auch General Kniga, ein He ld des Brgerkriegs, wurde gebeten, seine Heimat im Norden des Gouvernements aufzu suchen, wo er fr die Sowjetmacht gekmpft hatte. Der General erklrte sich einverstan den, bat aber zur allgemeinen Verwunderung um Begleitschutz. Wofr brauchst du denn Begleitschutz, Wasilij? Ich brauche ihn unbedingt. Wir haben dort im Brgerkrieg ein ganzes Dorf niedergesbe lt. Wie niedergesbelt? Na so

Alle Dorfbewohner? Mglicherweise eben nicht alle, deshalb denke ich, vielleicht hat einer berlebt und erinnert sich daran. Wie oft habe ich zu hren bekommen, beim bergang zu einer neuen Gesellschaft sei Ge walt nicht nur gerechtfertigt, sondern eine Notwendigkeit. Dass sich Blutvergieen bei Revolutionen tatschlich oft nicht vermeiden lsst, ist ein Faktum. Aber in der Gewalt ein Allheilmittel fr die Lsung von Problemen zu sehen, zu ihr aufzurufen, um irgendwelche vermeintlich hehren Ziele zu erreichen, also im Zweifelsfall wiede r das Volk niederzusbeln, das ist unmenschlich.

Die Familie der Gorbatschows war nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in der z weiten Hlfte des 19. Jahrhunderts in das Stawropoler Land gekommen. Mein Urgrovate r, Moisej Gorbatschow, siedelte sich mit seinen drei Shnen Alexej, Grigorij und A ndrej am Rand des sehr viel frher entstandenen Dorfes Priwolnoje an. Die Gorbatsc hows wohnten zuerst alle zusammen, eine Grofamilie von 18 Personen. In der Nhe leb ten ihre nahen und fernen Verwandten, ebenfalls Gorbatschows. Spter wurden fr die Shne mit ihren Familien Htten gebaut. Auch mein Grovater Andrej Moisejewitsch, der meine Gromutter Stepanida heiratete, trennte sich mit der Familiengrndung von sein en Eltern. 1909 kam Sergej zur Welt, mein Vater. Am Rand des Dorfes Priwolnoje, das von den Gorbatschows und ihren engen Verwandt en besiedelt war, wohnten auch Pantelej Jefimowitsch und Wasilisa Gopkalo. Auch sie waren zugereist: Er stammte aus der Gegend um Tschernigow, sie aus der Gegen d um Charkow, ihrem Ursprung nach waren sie also Ukrainer. Offenbar kamen sie zu r selben Zeit wie die Gorbatschows und lieen sich am Rande des Dorfes nieder. Sie hatten eine Tochter Maria, meine Mutter. 1929, als mein Vater zwanzig und meine Mutter achtzehn war, heirateten sie. Aus der mndlichen Familienberlieferung ist bekannt, dass meine Mutter meinen Vater nic ht heiraten wollte, die Grovter sich aber abgesprochen hatten. Meinem Vater gefiel meine Mutter. Er liebte sie. Er liebte sie sein ganzes Leben und kmmerte sich um sie. Er verzieh ihr vieles. Wenn er wegfuhr, brachte er bei der Rckkehr immer Ge schenke mit. Geschenke fr Maria! Ich wurde am 2. Mrz 1931 geboren und in der Kirche des Nachbardorfs Letnizkoje ge tauft. Infolge der Revolution von 1917 wurde die Religion ja verfolgt, und die K irchen in Priwolnoje waren zerstrt worden. Meine Mutter und mein Vater hatten mir bei der Geburt den Namen Viktor gegeben. Doch bei der Taufe antwortete Grovater Andrej auf die Frage des Geistlichen nach meinem Namen, ich solle Michail heien. Dann packte man mich in einen warmen Schafpelz und brachte mich nach Priwolnoje zurck. Dies geschah weniger, damit ich nicht erfror, sondern weil es Reichtum ver spricht so will es der Brauch. Die Htte von Grovater Andrej erstreckte sich von Osten nach Westen und bestand aus drei Rumen. Zuerst kam die gute Stube, wo Grovater und Gromutter schliefen. Die Os tecke dieses Zimmers nahm eine groe, wunderschne Ikonenwand ein. Der Lehmboden war mit selbstgewebten Lufern bedeckt. Der zweite Raum war der Gemeinschaftsraum fr d ie Familie mit einem russischen Ofen, an den ein kleiner Ofen angebaut war. An d er Fensterwand standen ein Esstisch und eine Bank. Im groen Ofen wurde das Brot g ebacken, alles andere wurde in dem fchen zubereitet. Die kleinen Kinder schliefen oben auf dem Ofen. Als Vater und Mutter geheiratet hatten, wurde ein Teil dieses Zimmers fr die beid en abgetrennt. Dann gab es noch einen Flur. Der dritte Teil der Htte diente als V orratsraum, wo man Getreide, Futter und Saatgut aufbewahrte. Unter dem Dach hing en Scke mit Zwieback. Als ich schon grer war, ging ich gern auf den Speicher dieses

Raums und suchte mir ein stilles Pltzchen, wo ich oft einschlief. Einmal entdeck te ich zwei Scke mit merkwrdigen farbigen Scheinen. Es stellte sich heraus, dass d as Kerenki waren, Geldscheine, die 1917 unter der von Kerenskij angefhrten provis orischen Regierung ausgegeben worden waren. Sie lagen da noch lange. Grovater hof fte wohl darauf, sie knnten noch einmal von Nutzen sein. Wie Bauern eben so denke n! Im vierten Raum war das Vieh untergebracht. Daneben befand sich Futter und ein T eil des Heizmaterials. So war die Htte aufgeteilt. Vor vielen Jahren erzhlte meine Mutter meiner Tochter Irina, ihrer ersten Enkelin , wie ich auf die Welt gekommen bin. Als die Wehen einsetzten, brachte man meine Mutter in den Vorratsraum. Man legte Stroh auf den Boden und bettete sie auf ei n Lager. Zwischen dem Wohnraum und dem Stall, da wurde ich also geboren. Als Iri na erwachsen war, kam sie auf diese Geschichte zu sprechen und sagte: Papa, hr mal , du bist ja geboren wie Jesus Christus. Ja! Schreib es dir hinter die Ohren. Aber sag es niemand weiter, sagte ich aus Spa.

Ich mchte jetzt von meinen beiden Grovtern erzhlen. Ihr Schicksal ist typisch fr das Schicksal der Bauern unter der Sowjetmacht. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte Grov ater Pantelej von der trkischen Front zurck, Grovater Andrej von der sterreichischen . Beide Familien waren bettelarm. Grovater Pantelej verlor mit 13 Jahren seinen V ater und hatte noch vier jngere Geschwister. Obwohl von Natur aus ruhig, stand ih m der Sinn nach Vernderungen, er grndete erst eine Bauernkommune und dann eine Gen ossenschaft zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, eine damals berhmte Form des Zusammenschlusses. Die Sowjetmacht hat uns nicht gerettet, sie hat uns Land gegeben. Diese Worte habe ich von Grovater Pantelej immer wieder gehrt. Und das war entscheidend fr sein Ver hltnis zur Sowjetmacht. Die Kollektivierung begann. Er wurde Organisator und Vors itzender einer Kolchose. Grovater Andrej, von Natur aus schroff, erkannte die Kolchose nicht an und bewirt schaftete sein Land allein. Mein Vater schlug sich auf die Seite von Grovater Pan telej, trat in die Kolchose ein, wurde Traktorist und riskierte den Bruch mit se inem Vater. Bei Grovater Andrej lief alles gut. Er bekam vom Staat Auflagen, wie viel Getreid e er zu sen und wie viel er abzugeben habe, und erfllte sie gewissenhaft. In beide n Familien normalisierte sich das Leben allmhlich, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Da kam das Jahr 1933 mit der schrecklichen Hungersnot. Grovater Andrejs Familie w ar in einer uerst kritischen Lage. Sie wussten nicht, wie sie die Kinder ernhren so llten. Drei von ihnen verhungerten im Winter. Als der Frhling kam, hatten sie kei n Saatgut. Die Behrden werteten das als Sabotage, als Nichterfllung des Aussaatpla ns. Grovater Andrej wurde zu Holzfllerarbeiten nach Sibirien verbannt. Er kam vor der Zeit frei, 1935, und brachte einige Auszeichnungen mit. Er rahmte die Urkund en ein und hngte sie neben die Ikonen. Nach seiner Rckkehr aus der Verbannung trat Grovater in die Kolchose ein und arbeitete dort bis zu seinem Tod. Und fast imme r wurde seine Arbeit als die beste ausgezeichnet, und er bekam eine Prmie. 1938 brach ein neues Unglck ber uns herein. Grovater Pantelej wurde auf einmal verh aftet und des Trotzkismus beschuldigt. Sie verhrten und folterten ihn vierzehn Mo nate lang. Als sie ihn verhaftet hatten, zog Gromutter Wasilisa zu uns. Sofort nderte sich vi

eles. Die Nachbarn besuchten uns nicht mehr, und wenn doch, dann nur nachts. Es war, als stnde das Haus unter Quarantne: Das Haus eines Volksfeindes! Man bemhte sich in der Familie, die schreckliche Zeit zu vergessen. Ich habe nie Einzelheiten gehrt. Zu fragen war unangenehm. Spter begriff ich dann, dass sie sic h nicht so verhielten, um so schnell wie mglich zu vergessen, sondern einfach aus Angst. Solche Gesprche sah die Sowjetmacht nicht gerne.

Fast zwanzig Jahre kam ich nicht aus Priwolnoje heraus. Nur einmal fuhr ich in e inem Lastwagen mit einer Gruppe von Mechanikern nach Stawropol, wo uns Auszeichn ungen der Regierung fr besondere Arbeitsleistungen ausgehndigt wurden. Und noch da vor fuhren Tante Sanja (eine Schwester meines Vaters) und ich mit dem Getreidewa gen-Tross zum staatlichen Getreidespeicher der Bahnstation Pestschanokopsk. Das war unheimlich interessant: meine erste weite Reise mit einer bernachtung in der Steppe am Brunnen, wo sich alle niederlieen. Wir aen zusammen zu Abend und sch liefen auf den Getreidewagen. Und am Bahnhof, da sah ich zum ersten Mal eine Lok omotive! Oft war ich bei Grovater Pantelej und Gromutter Wasilisa, die mit der Zeit ins Nac hbardorf zogen, wo Grovater zum Kolchosvorsitzenden gewhlt worden war. Darber waren nicht nur meine Gromutter (das wurde sie brigens, als sie gerade mal achtunddreiig war) und ich sehr glcklich, sondern besonders meine Eltern. Manchmal versuchten sie, mich im Dorf Priwolnoje zu behalten, aber ich wollte wieder zu Grovater und Gromutter zurck. Alle Versuche meiner Eltern endeten mit einem Sieg meinerseits. I ch lief einen und anderthalb Kilometer hinter dem Fuhrwerk des Grovaters her, bis er sich erbarmte und mich mitnahm. Mit der Mutter Maria Pantelejewna, 1941

Gromutter wusste spter immer wieder davon zu erzhlen, wie gut wir miteinander auska men, wie ich sie zum Beispiel im Haus einsperrte, weil sie mir nicht so viel Zuc ker gab, wie ich wollte. Was ist da nicht so alles vorgekommen! Ihr ganzes Leben blieb ich der Lieblingsenkel.

Krieg Ende der dreiiger Jahre brgerte es sich ein, dass man an Sonn- und Feiertagen in d en Waldgrtel der Steppe ging, um sich zu erholen. Ganze Familien zogen los, auf P ferden, Stieren oder, wenn es nicht weit war, zu Fu. Allen gefiel das friedliche Leben. Die Kinder spielten Schlagball, warfen Stcke in die Luft, die man auffange n musste, oder jagten hinter einem selbstgebastelten Ball hinterher. Die Mtter sc hwatzten und klatschten. Die Vter besprachen ihre Mnner-Probleme. Dabei wurde getrun ken und gesungen. Und wenn einer zu viel getrunken hatte und auer sich geriet, ka m es auch zu Schlgereien. Nur die Frauen konnten die Raufbolde auseinanderbringen , indem sie sich mit vereinten Krften auf sie strzten. Whrend eines solchen Ausflugs ins Grne, am Sonntag, dem 22. Juni, kam auf einmal e in Reiter an und meldete: Es ist Krieg! Alle mssen um 12 Uhr auf dem Zentralen Pla

tz in Priwolnoje sein. Molotow wird eine Rede halten. In Priwolnoje gab es kein R adio. Es wurde extra eine Funkanlage herbeigeschafft. Wir Kinder nahmen das anders auf als die Erwachsenen, die mit versteinerten Gesi chtern dastanden. Wir meinten: Wir werden es den Faschisten schon zeigen! Dann set zte die Mobilisierung ein, und im Herbst kamen die ersten Gefallenenmeldungen. I n der Regel trafen sie abends ein. Wir standen da und lauschten, wo der Beritten e stehenbliebe, bei welchem Haus. Es waren junge Mnner, die umkamen: unsere Vter, Brder und Nachbarn. Heute wissen wir: Die Ersten, die in den Kampf mit den Faschisten verwickelt wur den, waren unsere Grenztruppen. Jungen der Jahrgnge 1921/22 und etwas lter. Die Me hrheit von ihnen kam nicht zurck. Etwa fnf Prozent der Mnner dieses Alters berlebte. Ein entsetzlicher Schlag fr die Mtter, Frauen, Kinder und Brute. Mein Vater und ein paar Mechaniker wurden fr die Erntezeit zurckgestellt. Er wurde erst am 3. August 1941 einberufen. Ich war dabei, als er mit anderen Eingezogen en fortgebracht wurde. Die einen fuhren auf Karren, die anderen liefen hinterher , um zum letzten Mal mit den ins Unbekannte Aufbrechenden zu sprechen. Die Mensc hen nahmen voneinander Abschied, denn niemand wusste, ob er zurckkommt. 20 Kilometer trennen Priwolnoje vom Kreiszentrum. Sie kamen mittags an der Einbe rufungsstelle an. Vater spendierte mir ein Eis, das beste meines Lebens. Es war hei, das Eis zerfloss. Ich a einen ganzen Becher. Und dann kaufte Vater mir auch n och eine Balalaika. Als er von der Front zurckkam, war sie noch da und blieb dann noch viele Jahre in unserer Familie. Gerade erst waren die Menschen nach den Erschtterungen des Welt- und Brgerkriegs, der Kollektivierung und der Repressionen zu sich gekommen, gerade hatte sich das Leben gebessert, es gab einfache Schuhe zu kaufen, Kattun, Salz, Haushaltswaren , Hering, Anchovis, Streichhlzer, Petroleum, Seife und schon wieder stand Russlan d vor einer extremen Prfung, bei der es um das nackte berleben ging. Ich erinnere mich immer noch an meine Fassungslosigkeit, als unsere Truppen zurck weichen mussten und die Faschisten ins Landesinnere vorrcken konnten. Wir Kinder waren nicht weniger entsetzt darber als die Erwachsenen. Fr uns war das einfach ei ne Tragdie. Wie war das mglich? Im Winter 1941/42 waren die deutschen Truppen bei Moskau, 27 Kilometer vom Kreml entfernt, und bei Taganrog, das ca. 200 Kilometer von Priwolnoje entfernt war. Mein Vater hatte viele Jahre die kleine Kreiszeitung und die Prawda abonniert, d ie wir auch weiterhin bekamen. Besonders im Herbst und Winter versammelten sich die Frauen hufig abends in unserer Htte, und ich las ihnen die Meldungen von der F ront vor. Sie legten Karten, whrend ich auf dem Ofen lag und sie betrachtete. Ich verstand nicht, was sie einander beweisen wollten und was die Karten sagten. Es g ing alles um ihre Mnner. Die Sorge um das tgliche berleben nahm die ganze Zeit in Anspruch. Man brauchte Es sen, man brauchte Wasser, man brauchte Wrme, und man musste sich um das Vieh kmmer n. Der Winter des Jahres 1941 war hart. Bei uns im Sden fiel schon am 8. September d er erste Schnee, ein einzigartiges Vorkommnis. Schneefall und Wind hielten ein p aar Tage an. Alle Htten, die sich dem Ostwind entgegenstellen, waren eingeschneit . Nur die Schornsteine ragten heraus. Als sich das Wetter beruhigt hatte, halfen diejenigen, die aus ihrem Haus herauskamen, den anderen, sich freizuschaufeln. So einen Winter habe ich mein Lebtag nicht mehr erlebt. Ein paar Tage lang gab es keine Post und auch keine andere Verbindung zur Auenwel t. Und gerade da tobte die erbitterte Schlacht auf Leben und Tod vor Moskau. Spte

r erfuhren wir, dass die Deutschen bei Moskau vernichtend geschlagen worden ware n. Moskau hatte standgehalten. Einer der Zeitungen lag ein Bchlein bei, das von d er Heldentat der Soja Kosmodemskaja erzhlte. Die Zeitung hie Tanja. Alle waren ent setzt ber die Brutalitt der Deutschen, und alle weinten. Die Gefallenenmeldungen rissen nicht ab. Der Krieg verschlang alles: das Leben d er Menschen, Stdte und Drfer. Groe Teile des Landes waren von den Faschisten besetz t: die Ukraine, Weirussland, das Baltikum, Moldawien und der Westen Russlands. Der Schnee blieb bis zum Frhling liegen, ein richtiges Schneereich. Nur dass eine m in diesem Reich das Leben schwer wurde. Mit dem Essen ging es noch, im Jahr 19 41 waren ja noch Vorrte da. Aber zum Heizen gab es nichts. Man fllte alte Gartenbum e. Die Betreuung des Viehs war schwierig. Und ganz schlecht stand es um das Futt er fr das Kolchosvieh: Das Heu stand auf den Feldern, aber die Wege waren eingesc hneit. Es musste unter den Bedingungen dieses entsetzlichen Winters transportier t werden. Und all das war den jungen Frauen aufgebrdet, darunter auch meiner Mutt er. Eines Tages kehrten Mutter und einige andere Frauen nicht vom Einfahren des Heus zurck. Es vergingen ein, zwei Tage, und sie waren immer noch nicht da. Erst am d ritten Tag kam die Meldung, die Frauen seien verhaftet und ins Kreisgefngnis gebr acht worden. Wie sich herausstellte, hatten sie sich verirrt und die Schlitten m it dem Heu von Heuschobern beladen, die einer staatlichen Aufbereitungsorganisat ion fr Viehfutter gehrten. Die Wache hatte sie verhaftet. Damals konnte man fr so e twas hart bestraft werden. Ihre Rettung war, dass alle Diebe Ehefrauen von Frontso ldaten waren, alle Kinder hatten und das Futter nicht fr den eigenen Gebrauch, so ndern fr die Kolchose genommen hatten, und auch das nicht mit Absicht, sondern ir rtmlich. Es ist schwer, alle Belastungen aufzuzhlen, denen die Frauen in jenen Jahren ausg esetzt waren: die krftezehrende Arbeit in der Kolchose, der Haushalt, der Mangel an allem und jedem, Kinder, die nichts anzuziehen und nichts zu essen hatten, di e Angst um die Mnner. Vater schrieb uns oft Briefe und fragte nach allem. Und ich lie mir manchmal von Mutter etwas diktieren oder antwortete ihm selbst, was hufiger vorkam. Ich glaube , er verstand unsere Notlgen in den Briefen. Mit dem Weggehen meines Vaters an die Front musste auch ich viel im Haus tun. Ab dem Frhjahr 1942 mussten wir uns um den Gemsegarten kmmern, der die Familie ernhrte . Frhmorgens machte sich Mutter schnell im Haushalt zu schaffen, ging dann in die Kolchose aufs Feld, und von da an lag alles auf meinen Schultern. Meine wichtig ste und schwerste Arbeit bestand in der Aufbereitung des Heus fr die Kuh und in d er Beschaffung von Heizmaterial. Das Leben hatte sich total verndert. Wir, die Jungen der Kriegszeit, bersprangen u nsere Kindheit und mussten abrupt das Leben Erwachsener fhren. Spa und Spiele ware n vergessen, Schule gab es nicht. Tagelang war man allein und musste sich um den Haushalt kmmern. Aber manchmal Manchmal verga ich auf einmal alles auf der Welt, in den Bann geschlagen von einem Schneegestber im Winter oder von den raschelnden Gartenblttern im Sommer, und tauchte in Gedanken in eine entfernte, irreale Wuns chwelt ein. Ins Reich der Phantasie Von Rostow aus berrollten im Sommer 1942 mehrere Rckzugswellen unsere Gegend. Die erste Welle bestand aus Tausenden von Evakuierten aus der Ukraine. Die einen war en mit Rucksack oder Scken bepackt, die anderen hatten Kinderwagen oder Handkarre n. Sie trieben Vieh-, Pferde- und Schafherden vor sich her. Gromutter Wasilisa und Grovater Pantelej packten ihre Habseligkeiten und brachen i ns Ungewisse auf. Die lzisternen des Dorfes wurden geffnet, man leitete den ganzen

Brennstoff in das seichte Flsschen Jegorlyk, die Getreidefelder wurden abgefacke lt, alles, damit es nicht dem Feind in die Hnde fiel. Die zweite Welle erreichte uns in der zweiten Hlfte des Monats Juli 1942 nach der Aufgabe von Rostow. Der Rckzug war ungeordnet. In groen und kleinen Gruppen trafe n finstere und mde Soldaten bei uns ein, denen Trauer und Scham ins Gesicht gesch rieben stand. Der Krach der detonierenden Bomben und der Donner der Geschtze kame n immer nher. Zusammen mit unseren Nachbarn hoben wir an dem Flusshang einen Grab en aus, von dem aus ich zum ersten Mal eine Katjuscha[3]-Salve sah: Ein entsetzl iches Pfeifen begleitete die Feuerpfeile, die ber den Himmel flogen Und dann wurde es auf einmal still fr volle zwei Tage. Am 3. August 1942, genau e in Jahr, nachdem mein Vater in den Krieg gezogen war, tauchten Motorrder mit deut schen Kundschaftern auf. Innerhalb von drei Tagen zogen die deutschen Truppen in Priwolnoje ein. Um sich vor den Bombenangriffen zu schtzen, tarnten sie sich und fllten alle unsere Gartenbume, die wir in jahrzehntelanger Arbeit hochgezogen hat ten. Von Rostow drangen die Deutschen bis zur Hauptstadt von Kabardino-Balkarien Nalt schik vor, ohne auf Widerstand zu stoen. Die sowjetischen Truppen waren in Auflsun g begriffen. Aber hinter Naltschik traten Sperrabteilungen in Aktion, zu deren A ufgabe die Umsetzung des Befehls Nr. 227 von Stalin gehrte: Keinen Schritt zurck. Au s den zurckweichenden Soldaten wurden in Windeseile Einheiten gebildet, die sofor t an die vorderste Linie geschickt wurden. Durch den Groeinsatz bei der Stadt Ord schonikidse (heute: Wladikawkas) wurden die deutschen Truppen, die an das l von B aku herankommen wollten, gestoppt, und diesmal endgltig. Als die deutschen Einheiten nach Osten weiterzogen, lieen sie eine kleine Garniso n in Priwolnoje zurck, die spter von einem Trupp abgelst wurde, dessen ukrainischer Dialekt mir in Erinnerung geblieben ist. Nun hatte das Leben unter fremder Besa tzung begonnen. Ein paar Tage spter kehrte Gromutter Wasilisa zurck. Sie war mit Grovater fast bis S tawropol gelangt, aber dort holten die angreifenden deutschen Truppen sie ein. G rovater hatte querfeldein, durch Schluchten und ber Maisfelder die Frontlinie bersc hreiten knnen, aber Gromutter war mit ihren Habseligkeiten zu uns zurckgekehrt. Woh in auch sonst? Die Deserteure aus unserer Armee krochen aus dem Untergrund. Der grte Teil von ihn en kollaborierte mit den Deutschen, in der Regel als Geheimpolizisten. Einmal ka men sie zu uns und fhrten eine Hausdurchsuchung durch. Ich wei nicht, was sie such ten. Danach nahmen sie im Pferdewagen Platz und befahlen Gromutter, ihnen aufs Re vier zu folgen. Sie musste durch das ganze Dorf. Alle sollten sehen: die Frau de s Kolchosvorsitzenden! Lange wurde sie verhrt. Ich wei nicht, was sie herausfinden wollten und was sie htte sagen knnen. Alles lag auf der Hand: Ihr Mann war Kommun ist, der Kolchosvorsitzende war in der Evakuation, Sohn und Schwiegersohn kmpften an der Front. Wenn Mutter vom Arbeitsdienst fr die Deutschen zurckkam, erzhlte sie wiederholt von den ngsten einiger Dorfbewohner: Das ist nicht wie bei den Roten! Gerchte ber Massen erschieungen in den Nachbarstdten kamen auf, Gerchte ber Autos, die die Menschen mit Gas umbrachten (nach der Befreiung besttigte sich das alles). Zigtausende Mensch en, grtenteils Juden, wurden bei der Stadt Mineralnyje Wody erschossen. In Priwoln oje verbreiteten sich Gerchte ber die bevorstehende Abrechnung mit den Familien de r Kommunisten. Unserer Familie war klar, dass wir als Erste drankommen wrden. Mutter und Grovater Andrej versteckten mich auf einer Farm hinter dem Dorf, wo Grovater arbeitete. D ie Strafaktion war fr den 26. Januar 1943 angesetzt, doch am 21. Januar befreiten unsere Truppen Priwolnoje.

Ich habe diese Tage in Erinnerung behalten. Wir sind wohl noch relativ glimpflic h davongekommen. Das ist auch das enorme Verdienst unseres Dorfltesten, des hochb etagten Sawatej Sajzew oder Grovaters Sawka, wie wir ihn nannten. Er hatte sich lan ge und hartnckig geweigert, die Funktion des ltesten zu bernehmen, aber die Dorfbew ohner berredeten ihn, denn er war wenigstens einer von uns. Wir im Dorf wussten, dass Sajzew alles versuchte, um die Menschen zu retten. Aber als die Deutschen v erjagt waren, wurde er wegen Hochverrat zu zehn Jahren Lager verurteilt. Wie vie le Eingaben meine Dorfgenossen auch machten, in denen stand, er habe das Amt des ltesten nicht freiwillig bernommen, er habe Leuten das Leben gerettet, nichts hal f. Grovater Sawka starb als Verrter im Gefngnis. Ich werde nie vergessen, wie wir uns mitten in der Nacht aus dem Haus schlichen, meine Mutter und ich. Ich sollte mich auf der Farm verstecken, wo Grovater Andre j arbeitete, ein paar Kilometer vom Dorf entfernt. berall war Schlamm. Das kommt in der Region Stawropol hufig vor, sie liegt ja im Sden Russlands. Anfangs schien uns, wir seien auf dem richtigen Weg, aber dann verirrten wir uns. Pechschwarze Nacht, nirgends ein Licht, kein Weg, nur Finsternis. Wir gingen und gingen, in d er Hoffnung, auf irgendetwas zu stoen, und tauchten immer weiter ein in die Finst ernis. Auf einmal flammte in dieser Winternacht ein Blitz auf, und es donnerte. Die Finsternis lichtete sich fr einen Augenblick, und wir sahen in der Nhe die Far m. Dort versteckte ich mich dann fr ein paar Tage. Die Deutschen traten in aller Eile den Rckzug an. Aus Angst, wie bei Stalingrad i n einen Kessel zu geraten, zog ihr Kommandostab die Truppen vom Nordkaukasus sch leunigst ab. Wie begeistert wir die Einheiten der Roten Armee begrten! Wir mussten uns nicht mehr vor den Junkers frchten, die aus der Luft unsere Truppenbewegungen verfolgten Noch einmal rckte die Front in unsere Gegend vor, diesmal auf dem Weg nach Westen . Wieder mussten wir von vorn anfangen, die Kolchose wieder einrichten. Aber wie ? Alles war zerstrt, es gab keine Maschinen, kein Vieh, kein Saatgut. Der Frhling kam. Wir pflgten die Erde mit Khen aus dem eigenen Bestand. Dann sammelten wir Saatgut, jeder lieferte so viel ab, wie er konnte. Die Ernte des Jahres 1943 war natrlich schlecht. Woher htte sie auch kommen sollen! Alles, w as wir angebaut hatten, lieferten wir dem Staat fr die Front ab. Im Winter und Frh ling 1944 kam der Hunger. Meine Mutter fuhr mit anderen Dorfbewohnern zusammen a n den Kuban. Es hie, man knne dort Mais kaufen. Wir holten Vaters Sachen aus der T ruhe: zwei Paar neue Chromlederstiefel und einen Anzug, den er kein einziges Mal getragen hatte, um die Sachen gegen Getreide einzutauschen. Als Mutter losfuhr, ma sie mir fr jeden Tag eine Handvoll Mais ab, aus den letzten Bestnden, die wir i m Haus hatten. Ich mahlte die Maiskrner und kochte mir aus dem Mehl einen Brei. Eine Woche verging, zwei Wochen, immer noch war Mutter nicht zurck. Erst ein paar Tage spter tauchte sie auf und brachte einen Sack Mais mit. Der war unsere Rettu ng. Und dann kalbte auch noch unsere Kuh, sodass wir sowohl Milch als auch Mais hatten. Das war damals eine Menge wert. In anderen Familien hatten sie zu wenig zu essen und waren aufgeschwemmt vor Hunger. Hufig kamen befreundete Nachbarkinde r zu uns und standen schweigend an der Tr. Mutter sthnte ein wenig, bevor sie sich erweichen lie und ihnen etwas zu essen gab. Wie ein Gottesgeschenk gab es im Frhling zu unser aller Freude Regenschauer. Auf dem Feld und im Gemsegarten, berall begann es zu sprieen. Auch diesmal war Mutter E rde unsere Rettung. Im April 1943 starb die Mutter meines Vaters, Gromutter Stepanida. Sie starb lang sam, unter entsetzlichem Leiden und in frchterlicher Sorge um ihren Sohn. Es war noch kein Brief von der Front gekommen, buchstblich ein paar Tage nach ihrem Tod traf er ein. Gromutter Stepanida hatte Grovater sechs Kinder geboren. Drei von ihn

en waren 1933 verhungert. Im Unterschied zu Grovater Andrej war sie herzensgut un d frsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit kleinen Kindern. Ihre lte ste Tochter, meine Tante Nastja, blieb allein mit drei Kindern zurck, als ihr Man n an die Front musste. Wie sehr sich Gromutter um die Enkel kmmerte! Alle berlebten und wurden gro, whrend ihr Vater an der Front umkam. Gromutter Stepanida und ich w aren Freunde. Ich hatte Glck. Wir bekamen nun oft Briefe von Vater. Alles, was wir brauchten, war: Wir sind am Leben, er ist am Leben. Mutter dankte dem Herrgott. In diesen schwierigen, schr ecklichen Tagen dachten die Leute auf einmal wieder an Gott. Ende des Sommers 1944 kam ein rtselhafter Brief. Er enthielt Papiere, Familienfot os, die Vater, als er an die Front musste, mitgenommen hatte, und eine kurze Mel dung, Starschina[4] Sergej Gorbatschow sei den Heldentod in den Karpaten gestorb en. Als ich Prsident der UDSSR wurde, machte mir der Verteidigungsminister Jasow ein einzigartiges Geschenk: Er berreichte mir ein Buch ber die Truppenteile, bei denen mein Vater in den Kriegsjahren gekmpft hatte. Mit groer Erregung habe ich damals und auch heute wieder dieses Buch gelesen. Mir wurde noch deutlicher klar, wie s chwer der Weg zum Sieg war und was fr einen Preis unser Volk dafr hat zahlen mssen. Die Division, in der mein Vater diente, beteiligte sich an der groen Panzerschlac ht am Kursker Bogen, bei den Operationen im Raum Ostrogoschsk und Rossosch, an d en Kmpfen bei Charkow, an der berquerung des Dnepr im Raum von Perejaslawl-Chmelni zki und bei der berhmten Verteidigung des Brckenkopfes von Bukrin. Fr das bersetzen ber den Dnepr erhielt Vater die Tapferkeitsmedaille, auf die er se hr stolz war, obwohl er spter auch noch andere Auszeichnungen bekam, darunter zwe i Orden des Roten Sterns. Im November und Dezember 1943 beteiligte sich seine Di vision an der Operation um Kiew, im April 1944 an der um Proskurow und Tschernow itz, im Juli und August desselben Jahres an der um Lemberg und Sandomir und an d er Befreiung der Stadt Stanislaw. Die Division hatte in den Karpaten 461 Tote un d mehr als anderthalbtausend Verwundete zu beklagen. Wie hatte Vater ein so blut iges Gemetzel berstehen und dann doch in den Karpaten umkommen knnen? Drei Tage weinte die ganze Familie. Doch dann kam ein Brief von Vater, in dem st and, er sei wohlauf und gesund. Beide Briefe stammten vom 27. August 1944. Ob er uns geschrieben, dann in die Sc hlacht gezogen und umgekommen war? Vier Tage spter erhielten wir einen weiteren B rief von Vater, datiert vom 31. August. Also war Vater am Leben! Ich schrieb ihm einen Brief und uerte meine Emprung ber diejenigen, die uns den Brief mit der Todes meldung geschickt hatten. In seinem Antwortbrief verteidigte Vater die Frontsold aten: Nein, mein Sohn, schimpf nicht auf die Soldaten an der Front kommt alles Mgl iche vor. Ich nahm mir Vaters Worte zu Herzen. Nach Kriegsende erzhlte er uns dann, was im August 1944 passiert war. Am Vorabend eines Angriffs erhielten die Pioniere den Befehl, nachts am Berg Magur einen Ge fechtsstand einzurichten. Der Berg ist mit Wald bedeckt, nur der Gipfel ist kahl und bietet eine gute Sicht ber den Westabhang. Also richteten sie den Gefechtsst and dort ein. Die Kundschafter gingen vor, whrend Vater mit seinen Pionieren zu a rbeiten begann. Die Tasche mit seinen Papieren und Fotos legte er auf die Brustw ehr des ausgehobenen Grabens. Pltzlich gab es Lrm von unten, dann ertnten Schsse. Di e Pioniere stoben auseinander. Die Dunkelheit rettete sie. Sie verloren keinen e inzigen Mann. Ein Wunder! Vater witzelte: Meine zweite Geburt! In diesem freudigen Zustand schrieb er uns dann den Brief: Ich bin wohlauf und gesund, ohne Einzelhei ten. Am Morgen, als der Angriff begann, entdeckten die Infanteristen oben Vaters Tasc

he. Sie dachten, er sei bei der Erstrmung des Bergs Magur ums Leben gekommen und schickten einen Teil der Papiere und die Fotografien zu uns nach Hause. Und doch hat der Krieg Starschina Gorbatschow fr das ganze Leben seinen Stempel a ufgedrckt Nach einem schwierigen und gefhrlichen Streifzug ins Hinterland des Gegn ers, bei dem sie das Gelnde entminten, die Verbindungslinien zerstrten und einige schlaflose Nchte hatten, bekam die Gruppe eine Woche Urlaub. Sie wurden ein paar Kilometer von der Front abgezogen und schliefen sich die ersten Tage einfach aus . Um sie herum: Wald, Stille, eine absolut friedliche Situation. Die Soldaten en tspannten sich. Aber ausgerechnet ber dieser Stelle kam es zu einem Luftkampf. Va ter und seine Pioniere beobachteten, wie er wohl enden wrde. Da warf ein deutsche s Flugzeug auf der Flucht vor unseren Jgern auf einmal seine ganze Bombenlast ab. Pfeifen, Geheul, Explosionen. Alle warfen sich auf den Boden. Eine der Bomben sc hlug nicht weit von Vater ein, und ein riesiger Bombensplitter riss ihm das Bein auf. Ein paar Millimeter weiter, und er htte ihm das Bein abgerissen. Aber Vater hatte wieder Glck, der Knochen war unversehrt. Das passierte in der Tschechoslowakei, bei der Stadt Koice. Damit war Vaters Fron tleben zu Ende. Man brachte ihn ins Krankenhaus nach Krakau, und dann kam auch s chon bald der 9. Mai 1945, der Tag des Sieges. Wie die anderen habe auch ich in den Kriegsjahren vieles durchgemacht. Aber wenn die Rede auf den Krieg kommt, taucht vor meinen Augen sofort ein entsetzliches Bild auf. Ende Februar, Anfang Mrz 1943 kam ich auf der Suche nach Kriegstrophen m it anderen Kindern auf einen fernen Waldstreifen zwischen Priwolnoje und dem Nac hbardorf am Kuban: Belaja Glina. Wir stieen auf die berreste von Rotarmisten, die hier im Sommer 1942 ihren letzten Kampf ausgehalten hatten. Nicht zu beschreiben : verweste Krper, Schdel in verrosteten Stahlhelmen, aus den vermoderten Feldbluse n ragten gebleichte Hnde. Daneben ein leichtes Maschinengewehr, Granaten, Patrone nhlsen. So lagen sie da, unbeerdigt, in der dreckigen Brhe der Schtzengrben und Bomb entrichter, und glotzten uns aus ihren riesigen schwarzen Augenhhlen an Die anonymen Soldaten wurden in einem Massengrab beerdigt. Wir haben sie nie als fremde, nicht zu uns gehrige Menschen betrachtet. Im Zentrum von Priwolnoje gibt es jetzt einen kleinen Obelisken. Darauf stehen die Namen derer, die nicht aus dem Krieg zurckgekehrt sind. Auch Gorbatschows sind darunter.

Als der Krieg zu Ende ging, war ich vierzehn. Bis heute sehe ich das verwstete Na chkriegsdorf vor mir. Statt Husern Lehmhhlen, berall Zeichen der Verwahrlosung, der Armut. Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unserem Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrckt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklrung dafr, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ndern wollten. Wir Jungen, auf deren Schultern die Verantwortung fr das berleben der ganzen Familie und fr das eigene Durchkommen lag, wurden von einem Tag auf den anderen erwachsen. Der Zus ammenbruch des Lebens, ja der Welt, den wir sahen und an dem wir beteiligt waren , hat uns direkt aus der Kindheit in das Erwachsenenleben katapultiert. Wir habe n uns weiter am Leben gefreut wie Kinder, wir haben weiter die Spiele von Heranw achsenden gespielt, aber irgendwie blickten wir schon halb mit den Augen von Erw achsenen auf unsere Spiele.

Schul- und Nachkriegsjahre Den Unterricht in der Schule nahm ich 1944 nach zweijhriger Unterbrechung wieder auf. Ich hatte keinerlei Lust zum Lernen. Nach all dem, was ich erlebt hatte, er schien es mir zunchst als nicht ernst zu nehmende Beschftigung. Auerdem hatte ich n ichts Rechtes anzuziehen, um zur Schule zu gehen. Vater hatte Mutter einen Brief geschickt, in dem stand: Verkauf alles, kauf ihm K leidung, Schuhe, Bcher, Michail muss unbedingt lernen. Aber schon am ersten Tag blieb ich nicht bis zum Ende des Unterrichts. Zu Mutter sagte ich: Ich gehe nicht mehr in die Schule. Sie verlie das Haus und kehrte abend s mit einem Stapel Bcher zurck. Nachdem ich einmal angefangen hatte zu lesen, las ich bis in die Nacht hinein. Am Morgen stand ich auf und ging zur Schule. Nicht ohne Bewegung denke ich an die Schule jener Jahre, an die Lehrer und Schler . Die Schule war in mehreren Gebuden des Dorfes untergebracht, die zu ganz andere n Zwecken gebaut worden waren. Sie hatte eine lcherliche Anzahl Schulbcher, ein pa ar Landkarten, Anschauungsmaterial und mhsam aufgetriebene Kreide. Das war alles. Der Rest musste von Lehrern und Schlern in Handarbeit hergestellt werden. Hefte gab es berhaupt nicht. Ich behalf mir mit Vaters Bchern ber die Mechanisierung. Auc h Tinte machten wir selbst. Fr Heizstoff musste die Schule selber sorgen, also hi elt sie sich Pferde und ein Fuhrwerk. Ich wei noch, wie die ganze Schule im Winte r die Pferde vor dem Verhungern zu retten suchte. Sie waren so ausgezehrt und en tkrftet, dass sie sich nicht auf den Beinen halten konnten. Woher wir nicht alles Futter fr sie anschleppten! Das war gar nicht so einfach, denn das ganze Dorf ha tte die gleiche Sorge: das private Vieh zu retten. Von den Viehhfen der Kolchose, von denen jeden Tag Kadaver abtransportiert wurden, will ich erst gar nicht red en. Noch eine Erinnerung: Nach seiner Genesung und schon nach Kriegsende, im Sommer 1945, fhrte Vater eine Dienstreise in unsere Nhe, und er bat, seine Familie fr zwei Tage besuchen zu drfen. Er erhielt die Erlaubnis, und wir trafen uns. Ich sa im Hof und bastelte etwas. Da schrie jemand: Mischa, da kommt dein Vater! Da s kam so unerwartet, dass ich ganz verwirrt war. Aber dann lief ich ihm entgegen . Ein paar Schritte voneinander entfernt blieben Vater und ich stehen, wir blickte n uns an. Vater hatte sich sehr verndert, er war in Uniform, trug Orden, ich war gro geworden. Aber die Hauptsache war: Vater sah, wie dnn und abgerissen ich aussa h. Da hrte ich auf einmal seine Worte, die er so verbittert aussprach, dass ich s ie nicht vergessen kann: Und dafr sollen wir gekmpft haben?! Unsere Dorfschule hatte acht Klassen. Es mussten noch ein paar Jahre ins Land ge hen, bis in Priwolnoje endlich eine moderne Mittelschule gebaut wurde. Damals mu sste man noch in die Kreisstadt fahren, um die neunte und zehnte Klasse abzuschl ieen. Wie die anderen Kinder aus meinem Dorf wohnte ich zur Miete und ging ein Ma l pro Woche etwas zu essen einkaufen, sodass ich zu dieser Zeit durchaus schon e in selbstndiger Mensch war. Niemand kontrollierte meine schulischen Fortschritte. Man fand, ich sei alt genug, um meine Aufgaben eigenstndig zu erledigen, ohne da ss mich jemand dazu anhalten musste. Nur einmal in all den Jahren habe ich meine n Vater mit Mhe und Not dazu gekriegt, zur Elternversammlung der Schule zu gehen. Ich lernte leidenschaftlich gern. Ich hatte eine unstillbare Neugier und wollte allem auf den Grund gehen. Mir gefielen Mathematik und Physik. Geschichte und Li teratur zogen mich besonders stark an. Die Journalisten haben mich oft mit der Frage gelchert: Wer hat Sie am strksten bee

influsst? Ich habe unterschiedlich darauf geantwortet. Einmal habe ich spontan ge sagt: die russische Literatur. Heute bin ich berzeugt, dass das stimmt. Schon in unserer Dorfbibliothek von Priwolnoje hatte ich mir einen neuen Band vo n Belinskij[5] ausgeliehen. Ich war begeistert und las ihn mehrere Male. Als ich zum Studium nach Moskau fuhr, schenkte man mir dieses Buch, weil ich der Erste aus unserem Dorf war, der an der Staatlichen Moskauer Universitt angenommen worde n war. Ansonsten mochte ich natrlich, wie alle Russen, Puschkin, Lermontow, Gogol, spter Tolstoj, Dostojewskij, Turgenjew In meiner Jugend war ich ein Lermontow-Fan, ich hatte viel brig fr seine erhabene Romantik. Dann kam die Zeit der Begeisterung fr Majakowskij und Jesenin. Noch heute verblfft mich, wie diese noch ganz jungen Men schen so weitsichtig sein konnten.

An Vaters Seite Unterdessen forderte die Realitt unerbittlich von jedem ihren Tribut, auch von mi r. 1945 wurde Vater aus der Armee entlassen und kehrte zu seiner Arbeit als Mhdre schermechaniker zurck. Von 1946 an arbeitete ich jeden Sommer mit, als sein Gehil fe. Die Schule in Priwolnoje war zwei Kilometer von unserer Htte entfernt. Nach d em Unterricht lief ich zu Grovater Pantelej, der im Dorfzentrum wohnte, zog mir A rbeitskleidung an und rannte zur Maschinen-und-Traktoren-Station, um Vater bei d er Instandsetzung des Mhdreschers zu helfen. Abends gingen wir zusammen nach Haus e. Ich spre, wie sehr es mich bewegt, wenn ich das so niederschreibe Dann kam die Getreideernte. Ende Juni bis Ende August musste ich drauen auf dem F eld arbeiten. Selbst wenn die Ernte wegen Regens unterbrochen wurde, blieben wir auf dem Feld, setzten die Maschinen instand und warteten auf heiteres Wetter. A n solchen Ruhe-Tagen fhrten Vater und ich viele Gesprche ber Gott und die Welt, die A rbeit, das Leben. Unser Verhltnis war nicht nur das von Vater und Sohn, sondern a uch eins zwischen Menschen, die eine gemeinsame Aufgabe haben, die zusammen arbe iten. Vater behandelte mich mit Respekt, wir waren richtige Freunde. Vater galt als bester Mhdreschermechaniker und lernte mich an. Nach zwei, drei Ja hren konnte ich die Mechanik des Mhdreschers allein bedienen. Besonders stolz war ich, dass ich einen Fehler des Mhdreschers sofort dem Gehr nach einordnen konnte. Nicht weniger stolz war ich, dass ich von jeder beliebigen Stelle auf den Mhdres cher klettern konnte, sogar von da aus, wo die Schneideapparate kreischten und s ich die Haspel drehte. Wenn man sagt, die Arbeit mit dem Mhdrescher war schwer, i st das eine starke Untertreibung. Schwerstarbeit war das: 14 oder sogar 20 Stund en am Tag bis zur totalen Erschpfung. Die Arbeit der Bauern in der Kolchose war hart. Aber wir hatten nichts davon. Di e Rettung war das private Hofgrundstck. Dort baute man an, was irgend ging, aber nicht alles gehrte uns. Jeder Bauernhof war zu allen mglichen Steuern und Lieferun gen an den Staat verpflichtet. Noch Jahre spter, als ich Vortrge zur Agrarpolitik hielt, mied ich tunlichst scharfe Bewertungen und Formulierungen, weil ich sehr wohl wusste, was das Leben und die Arbeit eines Bauern bedeuten. Unsere Familie hatte es leichter als andere: Mechaniker bekamen Geld und Natural ien. Zwar waren diese Lhne erbrmlich, sodass wir das, was wir in unserer Privatwir tschaft angebaut hatten, verkaufen mussten, um davon wenigstens das Ntigste an Kl eidung oder Haushaltsgertschaften kaufen zu knnen. Dazu mussten wir nach Rostow, S talingrad oder Schachty auf den Markt fahren. Kurz: Es reichte hinten und vorne

nicht. In diesem Zusammenhang ist mir in Erinnerung, immer war Mutter in der Nhe , immer untersttzte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod . Sie war eine wunderschne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf si e, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem. Das spornte meinen Bruder Alexander und mich an. Eins allerdings nahm ich ihr bel: wenn sie mich bei Vater verpetzte, dass ich mir zu viel herausgenommen hatte. Wenn ich mich hier an unse re Familie erinnere, von der nur ich noch am Leben bin, bedaure ich, nicht mehr fr sie getan zu haben, besonders fr meinen Bruder. Auf meinen Rat absolvierte er d ie Hhere Militrschule in Leningrad, war bei der Nachrichtenabteilung der Raketentr uppen im Moskauer Umland ttig und zuletzt bei den Raumfahrttruppen. Er war ein se hr guter Mensch. Familie Gorbatschow mit den Shnen Michail und Alexander, 1950

Schwer, sehr schwer verdiente man sein Brot in jenen Jahren. 1946 gab es eine Mi ssernte. Ausgerechnet in den Getreideanbaugebieten kam es zu einer Drre. 1947 war ein besseres Jahr fr unser Land. 65,9 Tonnen Getreide wurden geerntet. Aber im S tawropoler Land hatte es auch dieses Jahr eine Missernte gegeben. Irgendwie kame n wir ber den Winter. Unsere ganze Hoffnung richtete sich auf die Ernte des Jahre s 1948. Und da kam es Anfang des Frhjahrs, im April, zu Staubstrmen, dem Begleitphn omen einer Drre. Schon wieder eine Katastrophe, sagte Vater, schon das dritte Jahr i n Folge nach dem Krieg. Doch ein paar Tage spter kam ein warmer, warmer Regen. Es regnete einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Und das Getreide begann zu wachsen. Die Ernte des Jahres 1948 war die erste ordentliche Ernte im Stawropoler Land. I n unserer Kolchose ernteten wir 22 Dezitonnen pro Hektar. Fr die damalige Zeit be sonders nach den jahrelangen Missernten ein einzigartiges Ergebnis. Seit 1947 wa r ein Erlass des Prsidiums des Obersten Sowjets der UDSSR in Kraft: Wer 10000 Dez itonnen Getreide mit dem Mhdrescher schafft, erhlt die Auszeichnung Held der Sozial istischen Arbeit, wer 8000 schafft, bekommt den Leninorden. Vater und ich hatten 8888 Dezitonnen geschafft. Vater bekam den Leninorden, ich den Orden des Roten B anners. Ich war erst siebzehn, und dieser Orden ist mir bis heute der teuerste. Die Nachricht von der Auszeichnung kam im Herbst. Es gab eine feierliche Versamm lung in der Schule. Ich erlebte so etwas zum ersten Mal, und obwohl ich sehr ver legen war, war ich natrlich trotzdem froh. Damals musste ich meine erste ffentlich e Rede halten. Das Jahr 1948 war fr meine Familie zwar kein Glcksjahr, aber ein erfolgreiches Jah r. Am aufreibendsten ist das Leben bekanntlich, wenn man gegen die Unsicherheit kmpf en muss, nicht das Ntigste zum Leben zu haben, einem nur Hindernisse im Weg liege n und man bei null anfangen muss. Ich habe das erlebt. Aber es tut mir berhaupt n icht leid, dass ich einen betrchtlichen Teil meiner jugendlichen Energie auf die b erwindung ungnstiger Umstnde verwenden musste. Die Schwierigkeiten der ersten Jahre meines selbstndigen Lebens und der mhselige Alltag haben mich abgehrtet. Schwierigk eiten dieser Art prfen den Menschen auf seine Festigkeit. Denn das wahre Wesen de s Menschen offenbart sich nicht an den Tagen der Siege und Erfolge, sondern an d en Tagen der Prfungen. In jener Zeit gab es alles: Schweres, Freude, Kummer und Hoffnung. Das ewige Auf und Ab des Lebens. Wer sich heute unsere Geschichte anguckt, muss jede Periode, jedes Faktum in einem weiteren Kontext sehen, sonst versteht er nichts weder di e damaligen Ereignisse noch die damaligen Menschen.

Wenn ich auf meine Vergangenheit zurckblicke, wird mir immer klarer, wie sehr mic h mein Vater und mein Grovater Pantelej mit ihrem Pflichtgefhl, ihrem Leben, ihren Taten, ihrer Einstellung zur Arbeit, zur Familie und zu ihrem Land geprgt haben und mir Vorbild sind. In meinem Vater, einem einfachen Menschen aus dem Dorf, st eckte von Natur aus so viel Intelligenz und Neugier, Verstand und Menschlichkeit . Das unterschied ihn merklich von seinen Dorfgenossen. Die Menschen begegneten ihm mit Respekt und Vertrauen. In meiner Jugend achtete ich meinen Vater nicht n ur als Sohn, sondern hing auch sehr an ihm. Je erwachsener ich wurde, desto bege isterter war ich von ihm. Ich bewunderte sein nie versiegendes Interesse am Lebe n. Ihn bewegten die Probleme seines eigenen Landes, aber auch die ferner Staaten . Spter freundete er sich auf Anhieb mit Raissa an. Er freute sich immer auf die Tr effen mit ihr. Und ganz besonders interessierte ihn Raissas Beschftigung mit der Philosophie. Ich habe den Eindruck, allein das Wort Philosophie hatte schon eine m agische Wirkung auf ihn. Vater und Mutter freuten sich ber die Geburt ihrer Enkel in Irina, die hufig den Sommer bei ihnen verbrachte. Sie liebte es, mit dem Grovat er auf dem zweirdrigen Karren durch die Felder zu fahren, Heu zu mhen und in der S teppe zu bernachten. Die Nachricht von der pltzlichen schweren Erkrankung meines Vaters erreichte mich 1976 in Moskau, wo ich mich anlsslich des 25. Parteitags der KPDSU aufhielt. Sof ort setzten sich Raissa und ich ins Flugzeug nach Stawropol, von wo es weiter na ch Priwolnoje ging. Vater lag bewusstlos im Dorfkrankenhaus, wir konnten uns kei n Wort mehr zum Abschied sagen. Seine Hand drckte meine, zu mehr war er nicht meh r fhig. Er starb an einer Gehirnblutung. Am Tag der Sowjetischen Armee, am 23. Fe bruar 1976, begruben wir ihn. Die Erde von Priwolnoje, wo er geboren war, wo er von klein auf gepflgt, gest, geerntet hatte und die er, ohne sein Leben zu schonen , verteidigt hatte, nahm ihn auf Sein ganzes Leben hat mein Vater fr seine Angehrigen gesorgt, und er ging aus dem Leben, ohne jemand mit seinen Krankheiten zur Last zu fallen. Schade, dass er so kurz gelebt hat. 1995 wurde meine Mutter Maria Pantelejewna neben ihm begraben. Jedes Mal, wenn ich nach Priwolnoje komme, gehe ich als Erstes zu den Grbern. Ich habe noch ein Gesprch mit meiner Mutter in Erinnerung, lange vor ihrem Tod. W ir unterhielten uns auf der Bank vor ihrem Haus, ihrem Lieblingsplatz. Aus heite rem Himmel, von irgendwelchen Gefhlen bewegt, sagte sie: Wenn ich sterbe, begrab m ich neben Vater. Ich fragte: Wie kommst du denn darauf?! Und was wird dann aus uns? Es ist Zeit, Mischa, sagte sie lchelnd. Ich habe Vater schon so viele Jahre nicht ge sehen Das ist, wie schon gesagt, lange her. In den letzten zwei Jahren war sie oft kra nk. Wir fanden, sie brauche eine gute Behandlung, und berredeten sie, bei uns zu wohnen. Dann kam sie ins Kreml-Krankenhaus. Wir besuchten sie regelmig, alle zusam men und einzeln. Das letzte Mal kam ich sie allein am Abend verlie ich sie. Ich kam besser. Am nchsten Tag um 4 Uhr n Moment: Was sollen wir Michail Sie antwortete: Er wei alles. besuchen. Wir unterhielten uns lange. Erst spt gutgelaunt nach Hause und sagte, Mutter fhle sich morgens starb sie. Die rzte fragten sie im letzte Sergejewitsch sagen?

2. Kapitel

Alma Mater Vieles in meinem Leben hngt mit der Moskauer Universitt zusammen. Ohne sie wre mein Leben anders verlaufen, davon bin ich fest berzeugt. Ohne das Wissen, das ich do rt bekommen habe, ohne die Lebenserfahrung in der Hauptstadt mit ihrem enormen k ulturellen und geistigen Reichtum htte ich kaum den Weg eingeschlagen, den ich da nn gehen sollte. 1950 schloss ich die Schule mit einer Silbermedaille ab. Ich war neunzehn, also im Alter der Einberufung zur Armee, und musste mich entscheiden. Mir ist noch ei n Gesprch mit meinem Vater in Erinnerung, das ich nach dem Schulabschluss mit ihm fhrte: Was willst du machen? Willst du studieren, oder wollen wir weiter zusammen arbeit en? Ich wrde gerne studieren Ich brannte darauf, mich weiterzubilden. Das war auch bei vielen meiner Altersge nossen so. Von den Absolventen der zwei Klassen meiner Mittelschule besuchten pr aktisch alle spter Hochschulen. Schlielich war es eine Zeit, wo unser Land wieder aufgebaut wurde und es berall an Ingenieuren, Agronomen, rzten und Lehrern mangelt e. Ganze Klassen gingen geschlossen an die Hochschule. Ich wollte an die Moskaue r Universitt gehen. Wie schon erwhnt, mochte ich Physik und Mathematik, Geschichte und Literatur. Ich bewarb mich an der Technischen Universitt, beim Institut fr Energie und beim Inst itut fr Stahl. Das lag bei meiner mit der Technik verbundenen Lebenserfahrung nah e. Und doch entschied ich mich nach lngerem berlegen fr die Juristische Fakultt der MGU und schickte die Unterlagen an die Zulassungskommission. Ich wartete. Tage v erstrichen keine Reaktion. Also machte ich weiter mit dem Mhdrescher bei der Ernte mit. Als ich das Warten l eid war, ging ich mit Vaters Erlaubnis zur Post und schickte an die Juristische Fakultt der MGU ein Telegramm mit bezahlter Rckantwort. Die Antwort kam prompt. Sie sind immatrikuliert und haben Anrecht auf einen Platz im Wohnheim. Das hie, ich kam in die oberste Kategorie, und das ohne Vorgesprch, von den Aufnah meprfungen ganz zu schweigen. Offenbar spielte alles zusammen fr diese Entscheidun g eine Rolle: meine Arbeiter-und-Bauern-Herkunft, die Berufserfahrung, die Tatsach e, dass ich bereits Kandidat der Partei war, und natrlich die hohe Auszeichnung. Und sicher auch die Tatsache, dass ich schon aktiv am gesellschaftlichen Leben t eilnahm: als Sekretr des Kommunistischen Jugendverbands in der Schule und als Mit glied des Kreiskomitees des Kommunistischen Jugendverbands. Jedenfalls war ich e in idealer Kandidat fr die Optimierung der sozialen Zusammensetzung der Studentensc haft. So waren die Zeiten damals eben. Ich freute mich riesig. Die schwere physische Arbeit auf dem Mhdrescher machte mi r nichts aus. Mir ging nur dauernd durch den Kopf: Ich bin Student der Moskauer U niversitt. Die Reise nach Moskau war fr mich ein Ereignis. Die erste Fahrt mit der Bahn, ich war neunzehn. Zuvor war ich nie aus dem Stawropoler Land herausgekommen. Es beg

ann gleich mit einem Abenteuer. Bis zum Bahnhof Tichoretzk lieen Vater und ich un s von Autos mitnehmen. Dann setzte er mich in den Zug und verlie ihn erst, als ic h einen Platz gefunden hatte. Wir waren beide dermaen aufgeregt, dass Vater beim Abschied verga, mir die Fahrkarte dazulassen. Ich hatte also keine Fahrkarte, und natrlich dauerte es nicht lange, da kam der K ontrolleur. Ich wei nicht, wie es mir sonst ergangen wre, aber auf einmal machte d er ganze Waggon einen Aufstand und las dem Kontrolleur die Leviten: Sein Vater, e in von oben bis unten mit Orden behngter Frontsoldat, hat ihn in den Zug gesetzt, und was machst du?! Der Kontrolleur musste nachgeben, forderte aber, ich solle a m nchsten Bahnhof eine Fahrkarte nach Moskau lsen. Das waren Ausgaben, mit denen i ch nicht gerechnet hatte. Aber was sollte ich tun? So begannen meine Fahrten von Priwolnoje nach Moskau und zurck. Zum ersten Mal befand ich mich auf engstem Raum mit den unterschiedlichsten Mens chen. Durch den Zug liefen viele Bettler, darunter auch Kriegsinvaliden. Man lie sie gewhren. Jedes Mal, wenn einer der Kontrolleure Ordnung schaffen wollte, setzte n sich die Passagiere vehement fr sie ein. Es war ja erst kurz nach Kriegsende, n ur ein paar Jahre spter. Auf den vielen Fahrten von und nach Moskau machte ich Station in Rostow, Charkow , Woronesch, Orjol und Kursk. berall Ruinen, Spuren der verheerenden Zerstrungen d es Krieges. Ein paar Mal fuhr ich ber Stalingrad nach Moskau. Ich richtete es ext ra so ein, dass ich schon morgens dort ankam und erst abends oder nachts weiter nach Moskau musste. Ich ging durch die Stadt, besichtigte den Mamajew-Hgel, besuc hte die Stellen der schweren Kmpfe. Noch Jahre spter war die ganze Erde buchstblich gespickt mit Metallsplittern. Ein paar davon nahm ich mit und hob sie lange auf . Noch eine Sehenswrdigkeit gab es in dieser zerstrten, aber nicht besiegten Stadt : das neue groe Kino Sieg. Wenn es sich einrichten lie, sah ich mir dort einen Film an. Aber zurck zu meiner allerersten Fahrt in die Hauptstadt. An den Haltestellen der gesamten Strecke kamen Ortsbewohner zum Zug und boten Glser mit saurer Sahne, ge salzene Gurken und dampfende gekochte Kartoffeln an. Ich brauchte das alles nich t. Mutter hatte mich mit Lebensmittelvorrten eingedeckt. Aber wer zum Essen ein, zwei, drei Glser Wodka gekippt hatte, kaufte sich Gurken und Sauerkraut. All das ist mir im Gedchtnis geblieben. Und es bewegt mich, wenn ich es erzhle. Da s, was man zum ersten Mal erlebt, besonders, wenn es etwas Bedeutendes ist, blei bt einem offenbar fr immer im Gedchtnis haften. Am Ziel angekommen, lie ich meinen Koffer bei der Gepckaufbewahrung des Kasaner Ba hnhofs, machte mich auf den Weg zur Universitt in die Mochowaja-Strae und staunte b er Moskau. Die Menschen auf der Strae erklrten mir, wie man zur Universitt kommt. D ie erste Begegnung mit der U-Bahn war interessant und komisch, weil ich zunchst n icht wusste, wie ich auf diese Treppe treten sollte, ohne hinzufallen. Heute lac he ich darber, die Rolltreppe benutzt man ja lngst automatisch und sieht gar nicht hin. Und das nicht nur in Moskau, sondern bei Reisen durch die ganze Welt. Im G egensatz zu damals Noch vor Vorlesungsbeginn lud man mich ins Dekanat der Juristischen Fakultt, wahr scheinlich, um mich kennenzulernen. Man nahm mich an der Juristischen Fakultt gut auf und erklrte mir alles. Ich studierte den Stundenplan und alle Aushnge fr die E rstsemester und machte mir Notizen. Als ich zum Wohnheim in der Stromynka-Strae f ahren wollte, sprachen mich Journalisten an und baten, ich solle fr einen Augenbl ick mitkommen. Wir erreichten den Manege-Platz, wo schon eine Gruppe Erstsemeste r von anderen Fakultten stand. Sie fotografierten uns vor der Manege und dem Krem l. Das Foto erschien in der Komsomolskaja Prawda vom 1. September. Ich habe es m ir als Erinnerung an den Beginn meines neuen Lebens aufgehoben.

Die grte Neuigkeit war das Leben in der Hauptstadt: Das war ein richtiger Schock fr mich. Ich kam vom Land, wo es weder Elektrizitt noch Radio noch Telefon gab, wo die sdlichen Nchte abrupt in den Tag bergehen, wo die groen Sterne wie aufgehngte Lat ernen aussehen. Und die Luft ist im Frhling oder Sommer voller Dfte von Blumen, Bum en und Grten. Und pltzlich: das Quietschen der Straenbahnen, der Donner des U-BahnZugs, die von der Elektrizitt erleuchteten Nchte und die ungeheuren Menschenmassen . Anfangs war es schwer, sich an diese Moskauer Hektik zu gewhnen. Whrend ich das niederschreibe, denke ich: Ja, das stimmt, und doch ist es nichts im Vergleich m it der heutigen Hektik auf den Straen, die von Autos und Menschenstrmen verstopft sind. Man hat den Eindruck, damals bedeutete der Mensch noch etwas, whrend ihn heute in der Stadt auf Schritt und Tritt nur Unannehmlichkeiten verfolgen. Er mchte flieh en. Und das tut er auch. Die Menschen fliehen aus der Stadt zurck ins Dorf, von w o sie herkamen. Dieser Prozess hat in den Grostdten der Welt lngst begonnen, die Be vlkerung vieler Grostdte nimmt ab. Aber nicht berall. Mexiko wchst weiter, in Mexiko und dessen Vorstdten wohnt schon ein Drittel der Landesbevlkerung. Und wenn man mi t dem Hochgeschwindigkeitszug Hikari Shinkansen von Tokio nach Kyoto fhrt, kommt es einem vor, als verlasse man Tokio gar nicht, jeder Fleck ist besiedelt. Ich musste zuerst den Weg vom Heim nach Sokolniki und von Sokolniki zum Ochotnyj Rjad finden. Dann entdeckte ich mit Freunden aus meiner Gruppe Moskau. Die Atmo sphre in der Universitt, besonders in den Gruppen, war sehr angenehm, uerst freundsc haftlich. Fr mich war alles neu: der Rote Platz, der Kreml, das Bolschoj-Theater, meine ers te Oper und das erste Ballett, die Tretjakowskij-Galerie, das Puschkin-Museum fr bildende Knste, die erste Bootsfahrt auf der Moskwa, eine Exkursion durch das Mos kauer Umland, der erste Oktober-Umzug Und jedes Mal hatte ich zugleich das unbes chreibliche Gefhl, als erkenne ich alles wieder. Und doch kehrt meine Erinnerung vor allem zu dem unansehnlichen Studentenheim im Stadtteil Sokolniki zurck. Jeden Tag legten wir mit U-Bahn, Straenbahn und zu Fu s ieben Kilometer zu unserer Alma Mater zurck. Und trotzdem haben wir in den fnf Stu dienjahren noch nicht einmal die Hlfte Moskaus kennengelernt. Noch bis heute steh en mir klar vor Augen: smtliche Straen und Gassen um die Universitt herum, alle Ins eln des Studenten-Archipels in der Nhe des Heims, das Kino Hammer in der Russakowsk aja-Strae und der Russakow-Club, das unvergleichliche Kolorit des alten Preobrasc henskij-Platzes (von dem heute leider wenig brig ist), die alten Dampfbder in der Buchwostowskaja-Strae und der Sokolniki-Park. Nicht zu vergessen natrlich der Gork ij-Park, damals der Ort, an dem sich die Moskauer am liebsten erholten. Ich wei noch, wie ich mich vor Raissa, die ich noch nicht lange kannte, in Grund und Boden blamierte Es gab im Park viele Gerte, darunter Kraftmesser. Kraft hatte ich, und das wollte ich meiner Freundin mal vorfhren. Alles lief gut, aber auf e inmal ging etwas schief. Der Apparat war so gebaut, dass man ihn wie eine Pumpe zum Aufpumpen der Rder mit den Fen halten musste. Mit den Hnden musste man aber nich t wie bei einer Pumpe nach unten drcken, sondern nach oben ziehen: Dann schlug de r Zeiger aus und ma die Kraft. Ich dachte, ich fhre Raissa meine Mglichkeiten vor. Aber Es geschah ein Unglck: Auf einmal machte mein Kreuz nicht mit, ich konnte mi ch nicht aufrichten. Raissa lachte aus vollem Hals, aber mir war absolut nicht d anach. Mit Mhe schafften wir es zur U-Bahn. Als Student an der Moskauer Universitt, 1951

Im vierten Studienjahr zogen wir in das neue Gebude der MGU auf den Leninbergen (

oder: Sperlingsbergen) und wohnten auch in dem Studentenheim dort, zu zweit in e iner Wohnraumzelle. Das fhrte dazu, dass wir ein oder auch zwei Wochen lang nicht in die Stadt gingen, sondern in unserem Adelsnest blieben, wie wir den neuen Univ ersittskomplex nannten. In der Stromynka-Strae hausten im ersten Studienjahr zwanz ig Studenten in einem Zimmer, im zweiten Studienjahr waren es elf, im dritten se chs. Wir hatten hier auch eine Mensa mit einem Buffet, wo wir fr ein paar Kopeken ein Glas Tee bekamen und dazu so viel Brot, wie wir wollten. Teller davon standen au f dem Tisch. Noch besser schmeckte es mit Senf oder Salz. Es gab auch einen Fris eur und eine Wscherei, obwohl ich oft von Hand waschen musste, weil ich kein Geld hatte. Auch eine eigene Poliklinik war vorhanden. Das war neu fr mich, denn in m einem Dorf hatte es nur eine Stelle mit einem Arztgehilfen gegeben. Auch eine Bi bliothek mit groen Leserumen und einen Club mit allen mglichen Kunstzirkeln und Spo rtabteilungen hatten wir. Das war eine ganz besondere Welt, eine Studenten-Brude rschaft mit ihren eigenen ungeschriebenen Gesetzen und Regeln. Wir lebten rmlich. Das Stipendium an den geisteswissenschaftlichen Fakultten betru g ganze 22 Rubel. Zwar bekam ich eine Zeitlang fr meine Leistungen im Studium und in der gesellschaftlichen Arbeit ein persnliches Stipendium in Hhe von 58 Rubeln es hie Kalinin-Stipendium. Am Monatsende reichte es aber oft nur fr trockenes Brot , oder wir lebten von dicken Bohnen, die wir im Laden kauften. Und trotzdem gabe n wir den letzten Rubel nicht fr etwas zu essen aus, sondern frs Kino. Von Anfang an war ich vom Universittsstudium begeistert. Es nahm meine ganze Zeit in Anspruch, ich studierte mit groem Interesse. Meine Moskauer Freunde zogen mic h manchmal auf: Vieles, was fr mich neu war, kannten sie schon von der Schulbank. Aber es machte mir nichts aus, dass ich vieles erst lernen musste. Die Moskauer hatten oft Angst, durchblicken zu lassen, dass sie etwas nicht wussten. Im drit ten Studienjahr konnte ich es bei studentischen Diskussionen mit den begabtesten Studenten meines Studienjahres aufnehmen. Die Vorlesungen hielten hervorragende Professoren, in der Regel Verfasser von Le hrbchern zur Jurisprudenz und anderem. Den strksten Eindruck hinterlie bei mir der Professor, der die Vorlesungen zum Strafrecht hielt. Er war ein wunderbarer Refe rent. Vom ersten Studienjahr an liebten wir ihn. Manchmal besuchten wir sogar he imlich seine statt anderer Vorlesungen. Nur ein Problem hatte unser Professor: S eine Stimme machte nicht mit, sie trocknete whrend der Vorlesung aus, eine Berufs krankheit. Deshalb stand auf seinem Tisch immer ein bauchiger Krug mit einem ges chliffenen Glas, das typische Geschirr jener Jahre auf Versammlungen, bei Sitzun gen, Vorlesungen etc. Nach zwei Stunden war der Krug zur Hlfte geleert. Aber einm al kam es zu einem Vorfall Die Vorlesung hatte begonnen. Nach einiger Zeit ffnet sich leise, aber quietschen d die Tr, und eine Frau stellt dem Professor einen Krug und ein Glas hin. Sie kam versptet. Wir waren im vierten Studienjahr, fhlten uns als Herren der Fakultt und nahmen uns einiges heraus. Entsprechend wurde die Hrerschaft beim Erscheinen der Frau mit dem Krug unruhig. Der Professor merkte das und meinte verstndnisvoll: Lie be Kollegen! Die beste Vorlesung, der beste Vortrag kommt nicht ohne Wasserblase n aus! Anderthalb Jahre lang lernten wir Latein. Den Unterricht leitete der Dozent Sake tti. Und mit welcher Leidenschaft! Er wollte in jeder Unterrichtsstunde mehr sag en, als die Zeit zulie. Er berschlug sich und litt, wenn wir etwas nicht verstande n oder Fragen stellten. Vollends in Ekstase geriet er aber, wenn er uns die berhm ten Reden Ciceros vortrug. Saketti gefiel uns sehr als Mensch und Lehrer. Als Andenken wollten wir ihm alle etwas zum Geburtstag schenken. Jemand sagte: Habt ihr gesehen, was fr eine Aktent asche er hat?! Und in der Tat, es war eine groe Aktentasche, aus Leder, alt, speck

ig und aus der Form gegangen. Wir legten zusammen und kauften eine schne groe Akte ntasche. Er war zu Trnen gerhrt. Ich schloss die Universitt mit Auszeichnung ab und bekam das Rote Diplom. Aber ic h habe zwei Zweien in meinem Zeugnis, eine davon in Latein. Als Professor Sakett i sah, dass ich nur sehr gut und nur in Latein ein gut hatte, reagierte er folgender maen: Genosse Gorbatschow! Wie konnte uns beiden das nur passieren? Ich wei nicht. Sie sind schuld. Wir lachten beide herzlich. So war mein dem Diplom beigefgtes Zeugnis mit den Noten ein Andenken an den Dozen ten Saketti. Was war das Besondere an unserer Juristischen Fakultt? Sie vermittelte breite und uerst vielseitige Kenntnisse. An erster Stelle ist der Zyklus historischer Wissen schaften zu nennen: Geschichte und Theorie des Staats und des Rechts; Geschichte der politischen Theorien, Geschichte der Diplomatie; Politkonomie fast in demsel ben Umfang wie an der Wirtschaftsfakultt, Geschichte der Philosophie, dialektisch er und historischer Materialismus; Logik; Latein und Deutsch. Und schlielich eine ganze Reihe juristischer Disziplinen: Kriminal- und Zivilrecht, Kriminalistik, Gerichtsmedizin und -psychiatrie, Kriminal- und Zivilprozessordnung, Verwaltungs -, Finanz-, Kolchose- und Familienrecht, Buchhaltung. Und natrlich: international es ffentliches und privates Recht, Staat und Recht der bourgeoisen Lnder etc. Das Studienprogramm ging davon aus, dass die Aneignung der juristischen Fcher ein e grndliche Kenntnis der modernen soziokonomischen und politischen Prozesse erford ert und deshalb die Beherrschung der Grundlagen anderer Gesellschaftswissenschaf ten umfassen muss. In meinen Augen war die Universitt ein Tempel der Wissenschaft, ein Zentrum der Kp fe, die unseren nationalen Stolz darstellten, eine Quelle frischer Energie, des Aufbruchs und des Suchens. Hier war der Einfluss der jahrhundertealten russische n Kultur zu spren, die demokratischen Traditionen der russischen Hochschule hatte n sich trotz allem erhalten. Viele berhmte Wissenschaftler und Akademiemitglieder hielten es fr eine Ehre, an der MGU lehren und Vorlesungen halten zu drfen. Viele hatten Berufungen an andere Universitten hinter sich und waren Verfasser Dutzend er Bcher und Lehrbcher. Ihre Vorlesungen erffneten uns eine neue Welt, ganze Bereic he des menschlichen Wissens, die uns vorher unbekannt waren, und fhrten uns ein i n die Logik des wissenschaftlichen Denkens. Selbst in den finstersten Jahren fhlt e man in den Mauern des Gebudes in der Mochowaja-Strae den Puls des gesellschaftli chen Lebens. Obwohl sie verdrngt waren, hatten sich der Geist der Wahrheitssuche un d eine gesunde kritische Einstellung erhalten. Natrlich darf man die damalige Situation an der Universitt auch nicht schnreden. Di e ersten drei Jahre meines Studiums fielen mit den Jahren des Sptstalinismus zusamm en, mit einer neuen Runde von Repressionen, einer hemmungslosen Kampagne gegen d en vaterlandslosen Kosmopolitismus und die Kriecherei vor dem Westen, mit der berhmte n rzteverschwrung. Die Atmosphre war extrem ideologisiert. Wie berall, so dominierten auch in der Ges ellschaft die sakrosankten Schemata von Stalins Kurzem Lehrgang der Geschichte d er Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), der als Nonplusultra de s wissenschaftlichen Denkens galt. Die Universittsleitung und die Parteiorgane zi elten von den ersten Wochen des Studiums an darauf ab, die jungen Kpfe zu sthlen, ihnen einen Haufen eiserner Dogmen einzubluen und sie von der Versuchung abzuhalt en, selbstndig denken, analysieren oder vergleichen zu wollen. Der ideologische Z

wang wirkte sich auf die eine oder andere Weise auch auf die Vorlesungen, Semina re und Streitgesprche bei studentischen Treffen aus. Auf einer Parteiversammlung machte ich einmal eine kritische Bemerkung ber einen Lehrer wegen seiner Methode, ein Problem zu analysieren. Walerij Schapko, mein K amerad im Wohnheim, ein ehemaliger Frontsoldat und ltester unseres Studienjahrgan gs (heute Professor seligen Angedenkens und Verfasser vieler Arbeiten), sagte: So lche uerungen sollte man sich fr die Zeit nach dem Examen aufbewahren. Ich lachte ber seine berechnende Haltung. Doch dann kam die Examenszeit. Ich war mir bei der P rfung sicher, bezog mich aber an einem Punkt auf ein Buch, dessen Titel ich nicht ganz richtig zitierte. Der Prfer machte ein erstauntes Gesicht. Ich korrigierte mich sofort, doch es war zu spt. Mit einem bissigen Lcheln notierte sich der Lehre r etwas und hrte gar nicht mehr zu, was ich sagte. Als ich schloss, sagte er, ohn e seine Schadenfreude zu verbergen: Tja, Gorbatschow, eine klare Zwei , und trug di e Note ohne zu zgern ein. Obwohl ich bei den anderen Examina die Note sehr gut bekommen hatte, wiederholte i ch dieses Examen nicht. Das bedeutete den Verlust meines persnlichen Stipendiums. Ein sprbarer Schlag fr mein Selbstbewusstsein und erst recht fr mein Portemonnaie. Wie mir scheint, wurde der Universitt, Professoren wie Studenten, gegenber eine be sondere Wachsamkeit an den Tag gelegt. Offenbar herrschte ein eingespieltes Syst em allgegenwrtiger Kontrolle. Bei der geringsten Abweichung von der allgemeinen L inie oder dem Versuch, etwas anzuzweifeln, hatte man im besten Fall eine Rge bei der Komsomol- oder Parteiversammlung zu gewrtigen. Auch Nachrichten ber die neuen Suberungswellen unter den Universittsprofessoren dra ngen zu uns vor. Die Absurditt der Anklagen sprang manchmal so ins Auge, dass sie die Machthaber zum Rckzug zwang. So schlugen sie zum Beispiel den Professor S. W . Juschkow, einen groen Gelehrten, der sein ganzes Leben dem Studium der Kiewer R us[6] gewidmet hatte, den Vaterlandslosen Kosmopoliten zu! Bei der Versammlung des Wissenschaftsrats, bei der Juschkow in die Mangel genomm en wurde, bestieg dieser verstimmt die Tribne, und statt Gegenargumente zu seiner Verteidigung anzufhren, sagte er nur den Satz: Schaut mich an! Er stand vor den Zu hrern in seinem mit einer Kordel gegrteten Russenkittel, einen abgerissenen Strohh ut in der Hand, uerlich die ideale Verkrperung eines alten anstndigen russischen Ang ehrigen der Intelligenzija. Im Saal erscholl Gelchter. Statt der Untersuchung nebu lser pseudowissenschaftlicher Anklagen legte der gesunde Menschenverstand der hit zigen Versammlung eine einfache Frage nahe: Sind wir denn verrckt geworden, das so ll ein Kosmopolit sein? Die Kritik an Juschkow wurde sofort eingestellt. Wir liebten die Vorlesungen von Juschkow. Es waren weniger Vorlesungen als Gesprch e im Wohnzimmer, spannende Erzhlungen von den alten Zeiten, vom Leben unserer Vorf ahren. Er war