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1 Allgemeine und Anorganische Experimentalchemie für Studierende der Physik, Geowissenschaften und des Lehramts Chemie (Beifach) Inhaltsverzeichnis: Chemie für Physiker und Geowissenschaftler 1 Einleitung 1.1 Organisation 1.2 Hörerkreis 1.3 Literatur 2 Definitionen 2.1 Nachbarfächer 2.2 Chemie 3 Chemische Stoffe 3.1 Phasen und Gemische 3.2 Trennmethoden 4 Atombau I 4.1 Aufbau des Atoms 4.2 Aufbau der Elektronenhülle 5 Das Periodensystem der Elemente 5.1 Historisches <E1 Anmerkungen zur Chemiegeschichte> 5.2 Der Aufbau des Periodensystems 6 Die Elemente der Gruppe 18 (Edelgase) 6.1 Allgemeines <E2 Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität> <E3 Atomradien> 6.2 Eigenschaften 6.3 Vorkommen, Gewinnung, Verwendung 7 Der Wasserstoff 7.1 Allgemeines <E4 Die Atombindung I> 7.2 Vorkommen, Gewinnung, Eigenschaften, Verwendung <E5 Isotope> 8 Die Chemische Reaktion 8.1 Allgemeines 8.2, Der Molbegriff; Mengen und Konzentrationen 8.3 Thermodynamik

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Allgemeine und Anorganische Experimentalchemiefür Studierende der Physik, Geowissenschaften

und des Lehramts Chemie (Beifach)

Inhaltsverzeichnis:

Chemie für Physiker und Geowissenschaftler

1 Einleitung1.1 Organisation1.2 Hörerkreis1.3 Literatur

2 Definitionen2.1 Nachbarfächer2.2 Chemie

3 Chemische Stoffe3.1 Phasen und Gemische3.2 Trennmethoden

4 Atombau I4.1 Aufbau des Atoms4.2 Aufbau der Elektronenhülle

5 Das Periodensystem der Elemente5.1 Historisches

<E1 Anmerkungen zur Chemiegeschichte>5.2 Der Aufbau des Periodensystems

6 Die Elemente der Gruppe 18 (Edelgase)6.1 Allgemeines

<E2 Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität><E3 Atomradien>

6.2 Eigenschaften6.3 Vorkommen, Gewinnung, Verwendung

7 Der Wasserstoff7.1 Allgemeines

<E4 Die Atombindung I>7.2 Vorkommen, Gewinnung, Eigenschaften, Verwendung

<E5 Isotope>

8 Die Chemische Reaktion8.1 Allgemeines8.2, Der Molbegriff; Mengen und Konzentrationen8.3 Thermodynamik

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8.4 Kinetik8.5 Stöchiometrie

9 Die Elemente der Gruppe 17 (Halogene)9.1 Allgemeines9.2 Verbindungen mit Wasserstoff

<E6 Das Chemische Gleichgewicht><E7 Brönstedt-Säuren und –Basen><E8 Die Elektronegativität><E9 Die Wasserstoffbrückenbindung>

9.3 Interhalogen-Verbindungen<E10 Räumliche Orientierung der Bindungen und Hybridisierung><E11 Das VSEPR-Modell>

9.4 Verbindungen mit Edelgasen

10 Die Elemente der Gruppe 1 (Alkalimetalle)10.1 Allgemeines

<E12 Die Metallische Bindung I>10.2 Vorkommen, Eigenschaften, Verwendung10.3 Verbindungen mit Wasserstoff

<E13 Die Ionenbindung I><E14 Oxidationszahlen und Redoxreaktionen>

10.4 Verbindungen mit Halogenen<E15 Die Elektrolyse><E16 Die Ionenbindung II>

11 Die Elemente der Gruppe 16 (Chalkogene)11.1 Allgemeines11.2 Sauerstoff

11.2.1 Das Element<E17 Die Atombindung II><E18 Die Atombindung III><E19 Einige Begriffe der Atombindung im Rückblick>11.2.2 Verbindungen mit Wasserstoff

<E20 Der pH-Wert><E21 Das Redox-Potential>

11.2.3 Verbindungen mit Edelgasen11.2.4 Verbindungen mit Halogenen11.2.5 Halogensauerstoffsäuren

<E22 Komproportionierung und Disproportionierung><E23 Anhydride und Säurehalogenide>

11.2.6 Verbindungen mit Alkalimetallen11.2.7 Hydroxide

11.3 Schwefel, Selen, Tellur11.3.1 Die Elemente

<E24 Die Doppelbindungsregel>11.3.2 Verbindungen mit Wasserstoff11.3.3 Verbindungen mit Halogenen

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11.3.4 Verbindungen mit Alkalimetallen11.3.5 Verbindungen mit Sauerstoff11.3.6 Chalkogensauerstoffsäuren und Säurehalogenide<E25 Katalyse I>

12 Die Elemente der Gruppe 2 (Erdalkalimetalle)12.1 Allgemeines

<E26 Die Metallische Bindung II>12.2 Beryllium

<E27 Komplexverbindungen I>12.3 Magnesium, Calcium, Strontium, Barium, Radium

<E28 Löslichkeit und Löslichkeitsprodukt>

13 Die Elemente der Gruppe 15 (Pnikogene)13.1 Allgemeines13.2 Stickstoff

13.2.1 Das Element13.2.2 Verbindungen mit Wasserstoff13.2.3 Verbindungen mit Halogenen13.2.4 Verbindungen mit Alkali- und Erdalkalimetallen13.2.5 Verbindungen mit Sauerstoff13.2.6 Stickstoff-Sauerstoffsäuren und Säurehalogenide

13.3 Phosphor, Arsen, Antimon, Wismut13.3.1 Die Elemente13.3.2 Verbindungen mit Wasserstoff13.3.3 Verbindungen mit Halogenen13.3.4 Verbindungen mit Sauerstoff13.3.5 Element-Sauerstoffsäuren

14 Die Elemente der Gruppe 13 (Erdmetalle)14.1 Allgemeines14.2 Bor

14.2.1 Das Element14.2.2 Verbindungen mit Wasserstoff

<E29 Die Atombindung IV>14.2.3 Verbindungen mit Halogenen

<E30 Die Atombindung V>14.2.4 Verbindungen mit Sauerstoff, Sauerstoffsäuren14.2.5 Verbindungen mit Stickstoff

<E31 Das Isoelektronische Konzept>14.2.6 Komplexverbindungen

<E32 Lewis-Säuren und –Basen>14.3 Aluminium, Gallium, Indium

14.3.1 Die Elemente14.3.2 Verbindungen des Aluminiums mit Wasserstoff14.3.3 Verbindungen des Aluminiums mit Halogenen14.3.4 Verbindungen des Aluminiums mit Sauerstoff14.3.5 Verbindungen des Galliums und Indiums

14.4 Thallium<E33 Der Effekt des Inerten Paares>

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15 Die Elemente der Gruppe 14 (Kohlenstoff-Gruppe)15.1 Allgemeines15.2 Der Kohlenstoff

15.2.1 Die Sonderstellung des Kohlenstoffs15.2.2 Das Element15.2.3 Berbindungen mit Halogenen15.2.4 Verbindungen mit Sauerstoff15.2.5 Verbindungen mit Stickstoff15.2.6 Carbide

15.3 Silizium, Germanium15.3.1 Die Elemente15.3.2 Verbindungen mit Wasserstoff15.3.3 Verbindungen mit Halogenen15.3.4 Verbindungen mit Sauerstoff

<E34 Glas>15.3.5 Sauerstoffsäuren und Silikate15.3.6 Verbindungen mit Kohlenstoff

15.4 Zinn, Blei15.4.1 Die Elemente15.4.2 Verbindungen der vierwertigen Elemente15.4.3 Verbindungen der zweiwertigen Elemente

16 Die Hauptgruppenelemente im Überblick16.1 Oxidationszahlen16.2 Azidität16.3 Bindungsarten16.4 Stabilitätskriterien

17 Atombau II17.1 Das Bohr’sche Atommodell17.2 Die Emissionsspektren des Wasserstoffs17.3 Die Unschärferelation17.4 Das wellenmechanische Atommodell

18 Die Elemente der Nebengruppen18.1 Allgemeines18.2 Die Elemente des d-Blocks

18.2.1 Das Periodensystem der d-Blockelemente18.2.2 Die d-Blockelemente in wässriger Lösung

<E35 Komplexverbindungen II>18.2.3 Halogenide der d-Blockelemente18.2.4 Oxide der d-Blockelemente

<E36 Magnetochemie>18.2.5 Nichtstöchiometrische Verbindungen18.2.6 Legierungen

18.3 Die Elemente des f-Blocks18.3.1 Lanthanoide18.3.2 Actinoide

<E37 Kernphysikalische Prozesse>

19 Einführung in die Organische Chemie

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19.1 Einleitung19.2 Systematik organischer Verbindungen

19.2.1 Das Kohlenstoffgerüst19.2.2 Funktionelle Gruppen19.2.3 Nomenklatur

19.3 Die organisch-chemische Reaktion19.3.1 Reaktionskoordinaten und Reaktionsverlauf19.3.2 Klassifizierung von Reaktionen

19.3.2.1 Allgemeines19.3.2.2 Additionsreaktionen19.3.2.3 Eliminierungsreaktionen19.3.2.4 Substitutionsreaktionen

19.3.3 Nachbargruppeneffekte19.4 Ausgewählte Substanzklassen

19.4.1 Alkane und Cycloalkane19.4.2 Alkene19.4.3 Alkine19.4.4 Arene

<E38 Arbeitssicherheit und Toxizität>19.4.5 Heterozyklen19.4.6 Alkohole

<E39 Siedediagramme>19.4.7 Ether19.4.8 Amine und Nitroverbindungen19.4.9 Aldehyde und Ketone19.4.10 Carbonsäuren und ihre Derivate

19.5 Spezielle Kapitel der Organischen Chemie19.5.1 Hochmolekulare Stoffe

19.5.1.1 Polymerisate19.5.1.2 Polykondensate19.5.1.3 Polyaddukte

19.5.2 Naturstoffe19.5.2.1 Fette19.5.2.2 Kohlehydrate19.5.2.3 Aminosäuren und Proteine

<E40 Symmetrie und Chiralität>19.5.3 Metallorganische Verbindungen

19.5.3.1 Übersicht19.5.3.2 Verbindungen der Hauptgruppenelemente19.5.3.3 Verbindungen der Nebengruppenelemente

<E41 Katalyse II>

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1 Einleitung

1.1 OrganisationDie Vorlesung findet im Pflichtteil (3 SWS) jeweils Mo 12-13 Uhr(Hörsaal N5) und Do 10-12 Uhr (Hörsaal N5) statt. Hinzu tritt ergänzendim Umfang von 1 SWS eine Experimentalvorlesung (Di 14-15 Uhr,Hörsaal N5, Termine nach Ankündigung). Der Inhalt des Pflichtteils istGegenstand der die Vorlesung abschließenden Prüfung.Sprechstunde: nach der Vorlesung bzw. nach Vereinbarung

(Tel. 29 76218, E-mail: [email protected])

1.2 HörerkreisDie Vorlesung wendet sich an Studierende der Studiengänge Physik(Diplom), Geowissenschaften (Diplom, B.Sc.) und Biologie (Lehramtohne Beifach Chemie). Gäste anderer Studienrichtungen sind will-kommen.

1.3 LiteraturZur Ergänzung der Vorlesung und zum Selbststudium werden empfohlen:

C. E. Mortimer, U. MüllerChemieGeorg Thieme, Stuttgart

E. Riedel*Anorganische ChemieWalter de Gruyter, Berlin

M. Schmidt*Anorganische Chemie (Band 1)BI Hochschultaschenbücher, Mannheim

R. Demuth, F. Kober*Grundlagen der KomplexchemieSalle + Sauerländer, Frankfurt a.M.

E. Breitmaier, G. Jung*Organische ChemieGeorg Thieme, Stuttgart

W. SträhleAllgemeine und Anorganische Experimentalchemiehttp://casgm3.anorg.chemie.uni-tuebingen.de/akkuhn/Abb/grundvorlesung.pdf

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N. KuhnAllgemeine und Anorganische Experimentalchemiehttp://casgm3.anorg.chemie.uni-tuebingen.de/akkuhn/experimentalchemie.pdf

*im Leihbestand der UB Tübingen (Außenstelle Morgenstelle)

2 Definitionen

2.1 NachbarfächerMathematik: Lehre von den ZahlenPhysik: Lehre von den KräftenBiologie: Lehre vom LebenGeologie: Lehre von der Erde

2.2 ChemieChemie: Lehre von den Stoffen

Die Chemie ist die Lehre von der Materie, ihrem Aufbau, ihrenEigenschaften und ihrer Umwandlung. Aus in der Traditionverankerten organisatorischen Gründen unterscheidet man zwischenden TeilgebietenOrganische Chemie (Stoffchemie der Kohlenwasserstoffe)Anorganische Chemie (sonstige Stoffchemie)Physikalische Chemie (Anwendung physikalischer Methoden auf

chemische Fragestellungen)Theoretische Chemie (Bearbeitung chemischer Fragestellungen mit

Rechenmethoden)Biochemie (Chemie des Lebens)Geochemie (Bearbeitung geologischer Fragestellungen mit

chemischen Methoden)u.a.m.Die Teilgebiete „Anorganische Chemie“ und „Organische Chemie“lassen sich in die BereicheSynthese (Herstellung von Stoffen)Analyse (Charakterisierung von Stoffen)Reaktionen (Chemisches Verhalten von Stoffen)gliedern.

3 Chemische Stoffe

3.1 Phasen und GemischeJede Materie ist aus chemischen Bestandteilen aufgebaut. Man sprichtdaher von Chemischen Systemen. Diese können heterogen, d.h. ausKomponenten mit verschiedenen physikalischen und chemischen Eigen-schaften aufgebaut sein, oder homogen sein; in diesem Falle haben sie

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durchgehend identische Eigenscnaften. Homogene Systeme könnenLösungen oder Reine Stoffe sein. Reine Stoffe wiederum lassen sichAtomsorten) oder Elemente (Moleküle bzw. Atome nur einer Atomsorte)(Abb. 1).

Abb. 1: Chemische Stoffe

3.2 TrennmethodenHeterogene Systeme und Lösungen lassen sich unter Ausnutzung ihrerverschiedenen physikalischen Eigenschaften in die zu Grunde liegendenReinen Stoffe auftrennen. Hierbei handelt es sich um physikalischeVorgänge, da chemische Bindungen weder gespalten noch geknüpftwerden. Die Überführung der Reinen Stoffe hingegen in die zu Grundeliegenden Atome gelingt nur unter Durchführung Chemischer Reaktionen.Die Auftrennung von Heterogenen Systemen oder Lösungen kann jedochauch den Einsatz chemischer Reaktionen erfordern, wenn sich dieKomponenten hinsichtlich ihrer physikalischen Eigenschaften nurgeringfügig unterscheiden. Allerdings wird hierbei wenigstens eine derKomponenten in eine andere chemische Verbindung überführt.Tab. 1 gibt Beispiele der Eigenschaftsunterschiede und der verwendetenMethoden

Tab. 1: Trennmethoden

4 Atombau I

4.1 Aufbau des AtomsIm vorstehenden Kapitel haben wir erfahren, dass Materie (ChemischeSysteme) aus Molekülen aufgebaut ist, die wiederum durch Verknüpfungvon Atomen (Chemische Bindung, Atombindung) gebildet werden. DasKnüpfen und Lösen solcher Bindungen bezeichnet man als ChemischeReaktion. Demgegenüber ist die Spaltung und Verschmelzung vonAtomen ein physikalischer Vorgang der später besprochen werden soll(vgl. E37). Zum Verständnis der Chemischen Bindung, mithin derChemischen Reaktion, benötigen wir jedoch eine zunächst stark ver-einfachte Kenntnis des Aufbaus der Atome.Atome bestehen aus einem Kern (zusammengesetzt aus Protonen undNeutronen), sowie einer Hülle aus Elektronen. Aus diesen dreiElementarteilchen (Tab. 2) ist die gesamte Materie aufgebaut. Es istersichtlich, dass sich die Masse des Atoms im Kern konzentriert, derjedoch ein sehr geringes Volumen aufweist. Die Ausdehnung des Atomswird von der Elektronenhülle bestimmt.

Tab. 2: Bausteine der Atome

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Die Kernbausteime sind angenähert massengleich, unterscheiden sichjedoch hinsichtlich der elektrischen Ladung. Das Proton (p+) trägt einepositive elektrische Elementarladung, während das Neutron (nto)ungeladen ist.Dem Elektron (e-) kommt die negative elektrische Elementarladung zu. Ineinem Atom ist die Zahl der Protonen im Kern gleich der Zahl derElektronen in der Elektronenhülle, so dass sich die elektrischen Ladungenkompensieren und das Atom insgesamt ungeladen, d.h. elektroneutral ist.Die chemischen Eigenschaften eines Atoms werden von der Zahl derElektronen in der Elektronenhülle und deren Struktur festgelegt. Wirkönnen die Atomsorte somit auch durch Angabe der Zahl der Protonen imKern charakterisieren; diese Zahl nennt man auch Ordnungszahl (p).Die Neutronen im Kern werden offensichtlich zur Stabilisierung desKerns benötigt. Tatsächlich unterliegen ja die positiv geladenen Protonender elektrostatischen Abstoßung, die durch die Gravitation (Massen-anziehung) ausgeglichen wird. Hierzu leisten die Neutronen einen unver-zichtbaren Beitrag. Die Zahl der Neutronen kann bei gleicher Ordnungs-zahl variieren. Auf die chemischen Eigenschaften des Atoms nimmt dieZahl der Neutronen kaum Einfluß. Lediglich bei der Atomsorte(„Element“) der Ordnungszahl 1 ist wegen der hier nicht auftretendenAbstoßung der Protonen voneinander die Gegenwart von Neutronen imKern entbehrlich.Einer Konvention und der Historie entsprechend gibt man die Ordnungs-zahl p sowie die relative Masse (nt+p) in Gestalt von Indices zusätzlichzum Elementsymbol E an.

nt+ppE

Die Kenntnis der Elementsymbole (Tab. 3) ist wichtige Voraussetzungzur Formulierung von Chemischen Reaktionen.

Tab. 3: Die Elemente und ihre Symbole

4.2 Der Aufbau der ElektronenhülleAuf Grund der entgegengerichteten elektrischen Ladung sollten sichAtomkerne und die Elektronen der Hülle anziehen, woraus eine Ver-schmelzung beider Teile unter Zerstörung des Atoms folgen sollte. Unterbestimmten Bedingungen (Quantenbedingungen), deren Grundlage später(Kap. 17) besprochen werden soll, unterbleibt diese Verschmelzung mitder Folge, dass die Elektronenhülle bestimmten Aufbauprinzipiengehorchen muß. Hierbei lassen sich den Elektronen bestimmte Energie-zustände zuordnen, die nur diskrete (d.h. nicht beliebige Energiewerte inForm eines Kontinuums) Werte annehmen können. Diese Energiezu-

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stände lassen sich durch die sog. Quantenzahlen beschreiben. DieQuantenzahlen können nur bestimmte Werte annehmen.Eine mathematische Behandlung der Wechselwirkung zwischen Atom-kern und Elektronenhülle ergibt zudem, dass die Lage der Elektronenrelativ zum Kern nicht exakt, sondern nur mit einer bestimmtenWahrscheinlichkeit angegeben werden kann (Unschärferelation). In einerbildlichen Vorstellung weist man deshalb den Elektronen, charakterisiertdurch ihre Quantenzahlen, die Anwesenheit in mathematisch definiertenRaumsegmenten, deren Zentrum der Atomkern bildet, zu. Diese Raum-segmente nennt man Orbitale. Die Energie des Elektrons wird von derKernanziehung und der interelektronischen Abstoßung gesteuert. Für dieQuantenzahlen n (Hauptquantenzahl), l (Nebenquantenzahl) und m(magnetische Quantenzahl) gilt im Einzelnen:

n kann alle ganzzahligen positiven Werte beginnend mit 1 annehmen:[n = (1),(2),(3)…∞]; n beschreibt die Ausdehnung des Orbitals und somit,wegen der Abhängigkeit der Anziehung zwischen Kern und Elektron,dessen Energie. Aus historischen Gründen werden in der Chemie an Stelleder Zahlenwerte 1,2,3,4… gelegentlich die Buchstaben K,L,M,N…verwendet.

l kann alle ganzzahligen (positiven) Werte im Intervall zwischen 0 und n-1 annehmen:[l = 0,1,…,(n-1)] beschreibt die Gestalt des Orbitals, innerhalb dergleichen Hauptquantenzahl sind Elektronen verschiedenerNebenquantenzahl wegen der unterschiedlichen interelektronischenAbstoßung nicht energiegleich. Aus historischen Gründen werden in derChemie an Stelle der Zahlenwerte 0,1,2,3,4… die Buchstaben s,p,d,f,g…verwendet.

m kann alle ganzzahligen Werte im Bereich +l und –l annehmen:[m = +(l),+(l-1),+(l-2),…(0),…-(l-2),-(l-1),-(1)]; m beschreibt dieOrientierung des Orbitals im Raum, der durch ein kartesischesKoordinatensystem (x,y,z) definiert wird.

Gestalt (l) und Ausrichtung (m) der s-, p- und d-Orbitale sind in Abb. 2wiedergegeben. Es ist leicht ersichtlich, dass die Superposition aller durchm unterschiedenen Orbitale nl wieder zur Kugelsymmetrie führt.

Abb. 2: Gestalt und Orientierung der Orbitale

Da die Zugehörigkeit der Elektronen zur Hauptquantenzahl n denprimären Beitrag zur Enegie des Elektrons leistet (Schalenstruktur),spricht man auch von der K,L,M…-Schale des Atoms. Die chemischen

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Eigenschaften eines Atoms (Knüpfen und Lösen von Bindungen) werdendurch die Elektronen der äußersten Schale (Valenzelektronen) gesteuert,die am wenigsten fest mit dem Kern verbunden sind. Die Konfigurationder Valenzelektronen wird üblicherweise durch den Term

nlx (x = Anzahl der Elektronen in nl)

angegeben.Eine vierte Quantenzahl s (Spinquantenzahl) resultiert aus dem Eigen-drehimpuls jedes Elektrons.s kann die Werte +1/2 und -1/2 (unabhängig von den sonstigen Quanten-zahlen) annehmen; die nur durch die Spinquantenzahlen unterschiedenenElektronenzustände sind energiegleich (entartet).Für die Besetzung der Orbitale (Energiezustände der Elektronen) gilt das

Pauli-Prinzip:In einem Atom dürfen zwei Elektronen nicht in allen vier Quantenzahlenübereinstimmen.

Dies bedeutet, das jedes Orbital, charakterisiert durch die Quantenzahlenn, l und m, jeweils zwei Elektronen (unterschieden durch s = +1/2, -1/2)aufnehmen kann.Hieraus und aus dem zuvor genannten zahlenmäßigen Zusammenhang derQuantenzahlen ergibt sich für jede Schale (Hauptquantenzahl) die Art dermöglichen Orbitale und somit der maximal möglichen Anzahl derElektronen:

K-Schale (n = 1):l = 0; m = 0; (s-Elektronen)

Zahl der Orbitale: 1maximale Anzahl der Elektronen: 2

L-Schale (n = 2):l = 0, m = 0 (s-Elektronen)l = 1; m = +1,0,-1 (p-Elektronen)

Zahl der Orbitale: 4maximale Anzahl der Elektronen: 8

M-Schale (n = 3):l = 0, m = 0 (s-Elektronen)l = 1; m = +1,0,-1 (p-Elektronen)l = 2; m = +2,+1,0,-1,-2 (d-Elektronen)

Zahl der Orbitale: 9maximale Anzahl der Elektronen: 18

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N-Schale (n = 4)l = 0, m = 0 (s-Elektronen)l = 1; m = +1,0,-1 (p-Elektronen)l = 2; m = +2,+1,0,-1,-2 (d-Elektronen)l = 3; m = +3,+2,+1,0,-1,-2,-3 (f-Elektronen)

Zahl der Orbitale: 16maximale Anzahl der Elektronen: 32

usw.

Orbitale des Typs l > 3 (g,h…-Orbitale) sind für die Chemie nichtrelevant.Beim Aufbau der Elektronenhülle eines Atoms gemäß der Schalenstruktur(Hauptquantenzahl) führt die Aufspaltung der Energieniveaus durch dieNebenquantenzahlen zu einer „Störung“ der Termfolge (Abb. 3), derenKenntnis für den Aufbau des Periodensystems und die Vorhersage derchemischen Eigenschaften eines Atoms von Bedeutung sind.

Abb. 3: Energieniveauschema der Orbitale

Bei der Besetzung energiegleicher, d.h. nur durch m unterschiedenenOrbitale mit Elektronen gilt die

Hund’sche-Regel:Energiegleiche (entartete) Orbitale werden zunächst nur einfach mitElektronen besetzt.

Hierdurch wird die zur Aufnahme zweier Elektronen im gleichen Orbitalaufzuwendende Spinpaarungsenergie (elektrostatische Abstoßung derElektronen) vermieden. Hieraus ergibt sich für die schrittweise Abfolgeder Besetzung beispielsweise der L-Schale (n = 2) folgendes Schema(Abb. 4):

Abb. 4: Die schrittweise Besetzung der L-Schale (n = 2) mit Elektronen

Die energetische Abfolge der Orbitale ergibt sich aus Abb. 5.

Abb. 5: Die energetische Abfolge der Orbitale

5. Das Periodensystem der Elemente

5.1 HistorischesWir haben bereits gesehen, dass die Chemischen Eigenschaften einesAtoms wesentlich von der Konfiguration seiner Valenzelektronen nlx

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bestimmt wird. Genauer gesagt: Atome, die sich bezüglich der Valenz-elektronenkonfiguration nur durch die Hauptquantenzahl n unterscheiden,sollten ähnliche Chemische Eigenschaften aufweisen. Dies steht mit derKonstruktion des Periodensystems der Elemente, in dem die Atomsortennach aufsteigender Ordnungszahl p gegliedert in Zeilen und Spaltenaufgeführt werden, in Zusammenhang.Die erstmalige Aufstellung des Periodensystems durch Lothar Meyer undDimitri Mendelejew (1868) stellt eine der bedeutendsten geistigenLeistungen auf dem Gebiet der Chemie dar und hat deren weitere Ent-wicklung wesentlich beeinflusst. Der zu Grunde liegende Gedankengangsoll deshalb kurz vorgestellt werden.Schon zu einem früheren Zeitpunkt war das ähnliche Chemische Ver-halten bestimmter Elemente (Li, Na, K; Cl, Br, I; Cu, Ag, Au) erkanntworden. Zum Zeitpunkt der Arbeiten von Meyer und Mendelejew.konnten die Atommassen bereits hinreichend genau bestimmt werden.Den Autoren erschien es (zeitgleich und voneinander unabhängig) sinn-voll, die Elemente mit aufsteigender Masse dergestalt anzuordnen, dassAtomsorten ähnlicher Eigenschaften jeweils untereinander, also in ge-meinsamen Spalten, zu stehen kamen. Abgesehen von einigen zeit-bedingten Irrtümern (Masse statt Ordnungszahl als Ordnungsprinzip,Fehlen der noch nicht bekannten Edelgase etc.) entstand so ein zwei-dimensionales Schema, in dem auch Leerstellen für noch nicht bekannteElemente aufgeführt waren. Die korrekte Vorhersage der Eigenschaftensolcher Elemente bestätigte die Validität des Konzepts; so stimmten dievorhergesagten Eigenschaften des Elements Eka-Silizium mit denen deswenig später entdeckten und „Germanium“ genannten Elementshervorragend überein.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E1 Anmerkungen zur Chemiegeschichte>Chemie ist eine vergleichsweise „junge“ Wissenschaft; dies soll heißen,dass die heute als „wissenschaftlich gültig“ akzeptierten Grundlagen erstinnerhalb etwa der letzten 250 Jahre gefunden wurden. Als Ursache hier-für kann die wegen der geringen Größe nicht direkt durch die Sinnes-organe mögliche Beobachtung der Atome und Moleküle gelten.Die Kenntnis der Chemiegeschichte ist nicht notwendige Voraussetzungfür das Verständnis dieser Disziplin. Dennoch soll hier ein kurzer Abrißder historischen Entwicklung vorgestellt werden.

ca. 400 v.Chr. Formulierung einer Atomtheorie durch Demokrit,wonach die Materie aus kleinsten unteilbaren Teilchenbesteht

ab ca. 700 n.Chr. Entwicklung der Alchemie durch die Araber und ihreÜbertragung unter Einbezug christlich sanktionierter

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Werte (Aristoteles). Im Mittelpunkt stand dieUmwandlung aller Stoffe ineinander (z.B. Herstellungvon Gold) unter Zuhilfenahme magischer Kräfte(„Stein der Weisen“)

ab ca. 1750 Beginn der modernen WissenschaftPostulat der „zweckfreien“ experimentell gestütztenGrundlagenforschung (Boyle)

1776 Verbindungen besitzen eine konstanteZusammensetzung (Lavoisier)

1808 Formulierung der Atomhypothese (Dalton):Aufbau der Materie aus unteilbaren Teilchen (Atome)Bestimmung der Atommassen (ungenau)Gesetz der konstanten und multiplen Proportionen

1828 Darstellung von Harnstoff (eine organischeVerbindung) aus dem anorganischen SalzAmmoniumcyanat (Wöhler)

ab 1835 Entwicklung der Agrikulturchemie (Liebig)1868 Konstruktion des Periodensystems (Meyer und

Mendelejew)ab 1903 Entdeckung der Elementarteilchen (Rutherford) sowie

der Radioaktivität (Bequerel, Curie)ab 1913 Postulat des physikalisch relevanten

Quantenmechanischen Atommodells (Bohr,Sommerfeld) unter Rückgriff auf die Quantentheorie(Planck, 1900)

1924 Postulat der Wellennatur des Elektrons (de Broglie) inAnalogie zum Welle/Teilchendualismuns des Lichts(Compton, Einstein)

ab 1925 Das Wellenmechanische Atommodell (Schroedinger,Jordan, Heisenberg u.a.)

ab 1925 Wissenschaftliche Konzepte der Chemischen Bindung(Pauling) und ihre quantenchemischen Berechnung(Hückel, Heitler, London u.a.)

1938 Entdeckung der Kernspaltung (Hahn, Meitner,Strassmann)

ab 1950 Entwicklung moderner spektroskopischer Verfahrenals Routinemethoden (UV, IR, NMR, Röntgen-beugung, MS)

…..

Bereits im Altertum wurden, ohne Kenntnisse der Wissenschaft Chemie,chemische Prozesse in z.T. noch heute verwendeten Verfahren zurProduktion, z.B. von Farbstoffen (Ägypten) oder Metallen (Hethiter),verwendet. Die gezielte Entwicklung von Produkten ist jedoch erst in

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Kenntnis der wissenschaftlichen Zusammenhänge, also etwa seit 1850,möglich. Seither hat der Aufbau der Chemischen Industrie, speziell inDeutschland (die BASF AG ist derzeit der weltweit größte Chemie-konzern) eine stürmische, durch die Weltkriege nur kurzzeitig unter-brochene Entwicklung genommen. Heute stehen im Zentrum industriellerTätigkeit neben der Produktion bekannter Grundstoffe die Entwicklungneuer Materialien und Pharmazeutika.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

5.2 Der Aufbau des PeriodensystemsDer zuvor geschilderten historischen Konzeption stellt das Perioden-system der Elemente nunmehr eine nach steigender Ordnungszahl geord-nete Reihung der Atomsorten (Elemente) dar, wobei Atomsorten gleicherValenzelektronenkonformation nlx jeweils in Spalten (Gruppen) unter-einander stehend angeordnet sind und ähnliche chemische Eigenschaftenaufweisen. Die Zeilen, den „Schalen“ entsprechend, enthalten Atomsortengleicher Hauptquantenzahl im Valenzbereich und werden, entsprechendder periodischen Änderung der Eigenschaften ihrer Elemente wegen, auchPerioden genannt (Abb. 6)

Abb. 6: Das Periodensystem der Elemente

Der Aufbau des Periodensystems spiegelt somit die zuvor besprocheneStrukturierung der Elektronenhülle, darstellbar durch die Quantenzahlen,wieder. Es ergibt sich hierdurch

1s1,2 H, He2s1,2 Li, Be2p1-6 B - Ne3s1,2 Na, Mg3p1-6 Al - Ar4s1,2 K, Ca3d1-10 Sc – Zn4p1-6 Ga – Kr5s1,2 Rb, Sr4d1-10 Y - Cd5p1-6 In – Xe6s1,2 Cs, Ba5d1 La4f1-14 Ce – Lu5d2-10 Hf – Hg6p1-6 Tl – Rn (ab Po sind sämtliche Atomsorten instabil, d.h.

radioaktiv)7s1,2 Fr, Ra

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6d1 Ac5f1-14 Th – Lr (ab U sind keine in der Natur vorkommenden Atomsorten

bekannt)6d2-6 Unq – Uns (Namensgebung umstritten) …Dies entspricht dem in Abb. 5 genannten Schema.Auch die Elemente Tc und Pm sind nur in Form radioaktiver Isotopebekannt.Neben der Kenntnis der Elementsymbole ist die Kenntnis ihrer Stellungim Periodensystem und somit der Valenzelektronenkonfiguration nlx zurAbschätzung ihrer Eigenschaften unerlässlich.Auf die vorhersehbare Änderung der Eigenschaften von Atomsorteninnerhalb einer Gruppe (geringfügig) und Periode (ausgeprägt) wird nach-folgend bei der gruppenweise geordneten Besprechung der Elemente ein-gegangen. Zunächst werden die Hauptgruppenelemente (ns1 bis np6) undihre wichtigen Verbindungen mit den zuvor abgehandelten Elementenanderer Hauptgruppen besprochen.

6. Die Elemente der Gruppe 18 (Edelgase)

6.1 AllgemeinesDie Elemente der Gruppe 18 heißen Edelgase, weil man früher irrtümlichglaubte, sie könnten sich prinzipiell nicht mit anderen Elementen ver-binden. Das ist nicht der Fall. Dennoch nehmen diese Elemente insoferneine Sonderstellung ein, als sie als einzige Elemente unter Normal-bedingungen (1at, 20 °C) atomar vorkommen. Sie vereinigen sich alsonicht mit sich selbst zu Edelgasmolekülen.Diese Tatsache lässt sich aus dem Atombau verstehen. Im Grundzustandsind die s-Orbitale und (ab n = 2) auch die p-Orbitale der höchstenHauptquantenzahl mit 2 (He, 1s2) bzw. 8 (Ne–Rn, ns2p6, n = 2-6)Elektronen vollständig besetzt. Dieser elektronisch gesättigte, auch alsEdelgaskonfiguration bezeichnete Zustand reduziert die Bereitschaft derAtome zur Ausbildung von chemischen Bindungen auf ein Minimum.Auch die Entfernung von Elektronen aus der Elektronenhülle bzw. dieHinzufügung unter Bildung positiv (Kationen) oder negativ (Anionen)geladener Ionen erfordert einen hohen Energiebetrag.

E → E+ + e- (Ionisierungspotential)E + e- → E- (Elektronenaffinität)

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E2 Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität>Die Energie, die erforderlich ist, um einem Atom das im Grundzustandam lockersten gebundene Elektron unter Bildung positiv geladenenerIonen zu enreißen, heißt sein Ionisierungspotential [eV] (genauer: das 1.

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Ionisierungspotential; das 2., 3. usw. Ionisierungspotential sind dann diesich in jeder Stufe erheblich steigernden Energiebeträge, die zurEntfernung weiterer Elektronen aus den bereits positiv geladenen Ionenerforderlich sind). Das Ionisierungspotential (auch Ionisierungsenergiegenannt) ist wegen der Abschirmung der Kernladung durch die innerenElektronen keine direkte Funktion der Kernladung (sog. EffektiveKernladungszahl), sondern ändert sich mit der Stellung der Elemente imPeriodensystem (Abb. 7). Hier ist deutlich zu sehen, dass das 1.Ionisierungspotential bei den Hauptgruppenelementen innerhalb einerGruppe mit steigender Ordnungszahl abnimmt, innerhalb einer Periodejedoch anwächst.

Abb. 7: Ionisierungspotentiale in Abhängigkeit von der Ordnungszahl

Die zum Einfügen von Elektronen in die Elektronenhülle unter Bildungnegativer Ionen aufzuwendende oder freigesetzte Energie heißtElektronenaffinität [eV] (analog spricht man von 1., 2. usw. Elektronen-affinität). Auch dieser Energiebetrag steht in Zusammenhang mit derStellung des Atoms im Periodensystem. Die 1. Elektronenaffinität einesAtoms entspricht der Ionisierungsenergie des zugehörigen Anions.Eine Ausnahme vom erwarteten Verlauf bilden die Elemente Fluor undSauerstoff; hier erreichen die 1. Elektronenaffinitäten nicht dieMaximalwerte innerhalb ihrer Gruppe, da die hohe Ladungsdichte derElektronenhülle (kleine Atomradien) den Einbau zusätzlicher Elektronenbehindert.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

<E3 Atomradien>Als Atomradius können wir den Abstand des Atomkerns von seinemäußersten Valenzelektron annehmen. Wie später bei der Behandlung desWellenmechanischen Atommodells (Kap. 17.4) gezeigt wird, ist dieserWert für ein isoliertes Atom nicht definiert. In der Umgebung gleich-artiger Atome können wir die Hälfte des Atomabstandes bestimmen; diesgilt für die Edelgase in der Kristallpackung des festen Zustandes bei tiefenTemperaturen wie auch für mit der gleichen Atomsorte über die später zubesprechenden kovalenten Bindungen („Atombindungen“) verknüpftenAtome (hier spricht man auch von Kovalenzradius).Innerhalb einer Gruppe des Periodensystems nehmen die Radien beisteigender Ordnungszahl durch den Aufbau neuer Schalen zu. Innerhalbeiner Periode jedoch beobachten wir eine kontinuierliche Abnahme derAtomradien, bedingt durch die stärker werdende elektrostatische Anzieh-ung als Folge der mit der Ordnungszahl wachsenden Kernladung.

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Im Vergleich mit den Atomradien weisen die zugehörigen Ionen starkveränderte Ionenradien auf; erwartungsgemäß sind die Ionenradien derKationen kleiner, während für die Anionen ein Zuwachs beobachtet wird.Die experimentelle Bestimmung von Kovalenzradien von mit unter-schiedlichen Atomsorten verbundenen Atomen sowie von Ionenradien istproblematisch, da Elektronen nicht direkt sichtbar gemacht werdenkönnen. Kovalenzradien und Ionenradien zeigen eine deutliche Bandbreitein Abhängigkeit von der chemischen Umgebung.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

6.2 EigenschaftenDie nachfolgende Tabelle (Tab. 4) informiert über einige Eigenschaftender Edelgase, deren stetige Änderung in dieser Gruppe besonders deutlichwird. Die niedrigen Siede- und Schmelzpunkte und die gleichfallsniedrigen Verdampfungswärmen reflektieren den atomaren Aufbau derElemente. Der innerhalb der Gruppe beobachtete Anstieg der Werte hängtin erster Linie nicht mit der Masse, sondern mit der steigenden Polarisier-barkeit der Atome zusammen; durch Verschiebung der Elektronenhüllegegenüber dem Kern wird hierbei ein Dipolmoment induziert, das eineinteratomare elektrostatische Wechselwirkung auslöst.

Tab. 4: Einige Eigenschaften der Edelgase

6.3 Vorkommen, Gewinnung, VerwendungSämtliche Edelgase kommen auf der Erde als Bestandteil der Luft [Vol%]in geringer Konzentration vor: He 5x10-4, Ne 2x10-3, Ar 0,9, Kr 10-4, Xe10-5. Helium, das im Welall zweithäufigste Element, findet sich zudem inErdgasquellen (bis zu 9%), woraus es ausschließlich gewonnen wird. Dieschwereren Edelgase werden durch fraktionierte Destillation der Luft (vgl.E39) oder durch Aufarbeitung des beim Haber-Bosch-Verfahren (Kap.13.2.2) anfallenden Restgases (Ar) gewonnen.Seines niedrigen Siedepunktes bzw. seiner niedrigen Dichte wegen findetHelium umfangreiche Verwendung als Tieftemperaturkühlmittel sowie alsFüllgas. Argon als billigstes Edelgas wird als Schutzgas (Vermeidung vonOxidation), z.B. beim Elektroschweißen oder als Füllgas für Glühbirnen,verwendet. Alle Edelgase finden Verwendung in der Beleuchtungstechnikzur Füllung von Leuchtröhren („Neonröhren“).

7. Der Wasserstoff

7.1 AllgemeinesWährend die Edelgase sich durch vollständig besetzte Valenzschalen (1s2

bzw. ns2np6) und eine hiermit verbundene geringe Bereitschaft zurAusbildung chemischer Bindungen auszeichnen, sind die repräsentativen

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Elemente (zur Definition vgl. Kap. 18.1) durch teilweise besetzteValenzorbitale, die über vollständig besetzten inneren Orbitalen liegen,charakterisiert. Hieraus resultiert für diese Atome eine hohe Bereitschaftzur Abgabe oder Aufnahme von Elektronen, um die Edelgaskonfigurationzu erreichen.Das Wasserstoffatom erfüllt mit seiner Elektronenkonfiguration 1s1 dieseVorgabe. Seiner chemischen Eigenschaften wegen wird es jedochüblicherweise nicht den später zu besprechenden Elementen der Gruppe 1(ns1) zugerechnet. Der Unterschied wird deutlich beim Vergleich derIonisierungsenergien (Abb. 7): im Unterschied zu den sehr viel leichterionisierbaren Elementen der Gruppe 1 erreicht das Ionisierungspotentialdes Wasserstoffs (13.2 eV) die Werte der schweren Edelgase. Als Ursachefür die sehr feste Bindung des Valenzelektrons an den Kern ist dasvollständige Fehlen der abschirmenden Rumpfelektronen zu beachten; imGegensatz zu den Hydridionen H- ist das zugehörige, Proton genannteKation H+ unter chemischen Bedingungen nicht existent.Das Element Wasserstoff liegt bei Normalbedingungen als zweiatomigesMolekül H2 vor. Hierin werden die beiden Atomkerne durch zweigemeinsame Elektronen, ein sogenanntes Elektronenpaar, verbunden;hierdurch erreicht jedes Wasserstoffatom die stabile, der Edelgas-konfiguration des Heliums entsprechende Valenzelektronenzahl 2. Dasgemeinsame Elektronenpaar wird in der Chemie als Bindestrich zwischenden Atomen geschrieben.

H–H

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E4 Die Atombindung I>Die Verbindung von mehreren Atomen durch gemeinsameElektronenpaare wird als Atombindung, häufiger auch als KovalenteBindung bezeichnet. Von den beiden zur Beschreibung grundsätzlichgeeigneten Modellen (VB, MO) wollen wir zunächst das Verfahren derValenzbindung (Valence Bond, VB) betrachten.Die Energie eines Wasserstoffatoms (Aa) ist in erster Näherung durch dieelektrostatische Wechselwirkung zwischen dem positiv geladenemAtomkern und dem negativ geladenen Elektron gekennzeichnet. BeiAnnäherung eines zweiten Wasserstoffatoms (Bb) kommt es zusätzlich zueiner anziehenden Wechselwirkung zwischen dem Kern A und demElektron b sowie dem Kern B und dem Elektron a. Außerdem tritt eineabstoßende Wechselwirkung zwischen den gleichgerichtet geladenenKernen (AB) und Elektronen (ab) ein. Bei starker Annäherung der Atomedominiert bei Unterschreitung des bindenden Abstandes der Atome dieAbstoßung AB. Das Energieminimum kann rechnerisch nur näherungs-weise bestimmt werden.

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Wichtig für die Charakterisierung der Atombindung ist der Begriff derResonanz. Man kann durch Berechnungen zeigen, dass sich dieGesamtverteilung der Elektronen durch die folgenden 4 Resonanzformen(I-IV) beschreiben lässt:

AabB ↔ Ab

aB ↔ Aab- B+ ↔ A+ a

bB-

I II III IV

Zur Erläuterung der aus drucktechnischen Gründen mißverständlichenGleichung sei erwähnt, daß in I und II die Elektronen a und b jeweilsbeiden Kernen, in III und IV jedoch nur einem Kern zugehören sollen.Der Begriff Resonanz meint keinen „dynamischen“, d.h. zeitabhängigenVorgang mit bewegten Elektronen etwa im Sinne einer „Moment-aufnahme“; vielmehr tragen alle Resonanzformeln „in der Summe“(allerdings mit geringerem Gewicht von III und IV) zur Beschreibung derGesamtsituation bei.In der VB-Vorstellung erfolgt die Wechselwirkung der Elektronenhüllendurch „Überlappung“ der Orbitale der beteiligten Atome (im Falle des H2-Moleküls durch Überlappung der beiden 1s-Orbitale). Wie bereits erwähntwerden die im „Überlappungsintegral“, im von beiden Orbitalengemeinsam gebildeten Raumsegment, befindlichen Elektronen jeweilsbeiden Atomen in der Elektronenbilanz zugerechnet, was im Falle von H2

zum Erreichen der Edelgaskonfiguration für beide Atome führt.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

7.2 Vorkommen, Gewinnung Eigenschaften, VerwendungWasserstoff, im Weltall das häufigste Element überhaupt, steht auf derErde mit 0.9 Gew.-% Häufigkeit erst an neunter Stelle. Praktisch liegt dergesamte Wasserstoff in chemisch gebundener Form vor. Hauptvor-kommen ist das Wasser (ca. 1.5 1018 to), die häufigste chemischeVerbindung überhaupt. Daneben ist Wasserstoff in allen organischenVerbindungen, insbesondere der Biomaterie und ihren Abbauprodukten(fossile Stoffe) enthalten.Die Darstellung von elementarem Wasserstoff erfolgt durch die später zubesprechende Zerlegung des Wassers (Kap. 11.2.2) oder durch thermischeZersetzung von Kohlenwasserstoffen („Crack-Prozesse“, vgl. Kap.19.4.1).Die chemische Bindung im H2-Molekül ist ungewöhnlich stabil; zu ihrerSpaltung, d.h. Zerlegung des Moleküls in die Atome, müssen 100kcal/mol (zur Definition des Molbegriffs vgl. Kap. 8.2) aufgewendetwerden, die umgekehrt beim Zusammentreten von zwei Wasserstoff-atomen freigesetzt werden. Die Erzeugung von kurzlebigen Wasserstoff-

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atomen (mittlere Lebensdauer ca. 0.3 sec) erfolgt durch Durchblaseneines H2-Stromes durch einen Lichtbogen zwischen Wolframelektroden.Wasserstoff findet in großem Umfang Verwendung in der organischenund anorganischen Synthesechemie sowie als Brennstoff in sog. Brenn-stoffzellen. Seine sehr zahlreichen Verbindungen mit anderen Elementenwerden bei deren Beschreibung besprochen.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E5 Isotope>Wir haben eingangs gesehen, dass der Elementbegriff (ausgedrückt durchdie Ordnungszahl) an Atome gleicher Protonen- und Elektronenzahlgekoppelt ist. Tatsächlich ist jedoch in Atomen des gleichen Elements dieGegenwart einer unterschiedlichen Anzahl von Neutronen möglich undweit verbreitet. Solche Atome gleicher Ordnungszahl, jedoch unter-schiedlicher Neutronenzahl, unterscheiden sich durch ihre Masse, nichtjedoch durch ihre chemischen Eigenschaften. Man nennt sie Isotope.Im Falle des Wasserstoffs liegt durch die hohe prozentuale Massen-differenz der bekannten Isotope

11H Wasserstoff (99.9 %)

21D Deuterium (0.1 %)

31T Tritium (< 10-17 %)

eine besondere Situation vor, die auch zur historisch bedingten, sonstunüblichen Vergabe eigener Elementsymbole geführt hat. Die hoheMassendifferenz von jeweils 100 % führt zu geringfügigen Unterschiedenin den physikalischen Eigenschaften, etwa der Siedepunkte von H2O undD2O („schweres Wasser“), die ihre Trennung ermöglicht. Deuterium-haltige Verbindungen finden Verwendung in der Diagnostik undKerntechnik. Tritium ist radioaktiv und zerfällt mit einer Halbwertszeitvon 12.4 a (vgl. E37).xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

8 Die Chemische Reaktion

8.1 AllgemeinesGehen Elemente oder Verbindungen (A,B…) eine Chemische Reaktionunter Bildung von C,D... ein, so formuliert man diesen Vorgangentsprechend

aA + bB + … → cC + dD + … (Reaktionsgleichung)

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A,B,… werden als Edukte, C,D,… als Produkte bezeichnet. a,b,c,d bildendie stöchiometrischen Faktoren. Wichtig für den Ablauf der Reaktion sinddie Energiebilanz (Thermodynamik) und die Reaktionsgeschwindigkeit(Kinetik). Die Reaktionsgleichung bildet die Grundlage der Mengenbilanzund –berechnung (Stöchiometrie).

8.2 Der Molbegriff, Mengen und KonzentrationenIm Periodensystem der Elemente finden sich, den Elementen zugeordnet,neben der Ordnungszahl auch Angaben zur Atommasse („Atomgewicht“).Zur Vermeidung der unhandlichen, sehr kleinen absoluten Massen, diesich additiv aus den Massen der Elementarteilchen zusammensetzen (vgl.Tab. 2) werden in der Chemie relative Atommassen, eben das sog. Atom-gewicht verwendet. Willkürlich wird hierbei als Normierungsgröße 1/12der Masse des Kohlenstoffisotops 12

6C der Zahlenwert 1 zugewiesen. Dierelativen Massen der Moleküle und Salze („Formelgewicht“) setzen sichdann additiv aus den relativen Atommassen der Atomsorten zusammen(vgl. Tab. 3).Die dem Atomgewicht eines Elements bzw. dem Formelgewicht einerVerbindung in Gramm entsprechende Masse enthält 6.023 x 1023

Formeleinheiten (Atome Moleküle, Formeläquivalente). So bestehen beiNormalbedingungen 2.016 g Wasserstoff aus 6.023 x 1023 H2-Molekülen.Diese unvorstellbar große Zahl wird Lohschmidt’sche Zahl NL (in derneueren Literatur auch Avogadro-Zahl) genannt.NL Teilchen, entsprechen dem Formelgewicht [g] und bilden 1 Mol einerChemischen Substanz.Zur üblichen Massenangabe [g] einer Substanz tritt folglich die in Kennt-nis der relativen Formelmasse über den Dreisatz leicht zu berechnendeMengenangabe [mol].Zur Berechnung von Stoffumsätzen gleichfalls wichtig ist die Kenntnis,dass 1 Mol eines (idealen) Gases, entspr. NL Atomen oder Molekülen, beiNormalbedingungen unabhängig von seinem Formelgewicht und seinerDichte das Volumen von 22400 cm3 (22.4 lit.) einnimmt.Zur Umrechnung von Massen in Volumina von Lösungen (S = gelösteSubstanz, LM = Lösungsmittel) wird die Angabe der Dichte benötigt.Konzentrationen a von Lösungen werden in der Chemie üblicherweise

in Gew.-%:a[Gew.-%] = {Masse (S)[g]/Masse (S)[g] + Masse (LM)[g]}x100,

in Mol.-%:a[Mol-%] = {Menge (S)[mol]/Menge (S)[mol] + Menge (LM)[mol]}x100

als Massenbruch:a = {Masse (S)[g]/Masse (S)[g] + Masse (LM)[g]},

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als Molenbruch:a = {Menge (S)[mol]/Menge (S)[mol] + Menge (LM)[mol]}

oder als Molare Konzentration:a[Mol/lit. = m(molar)] = Menge (S)[mol]/lit. Lösungangegeben.

8.3 ThermodynamikDie Thermodynamik behandelt den Energieumsatz ChemischerReaktionen. Unabhängig von der Art der freigesetzten oder aufgenom-menen Energie wird er als Wärmeenergie [kcal/mol bzw. kJ/mol] ange-geben. Entsprechend einer Konvention werden freigesetzte Energie-mengen mit negativem Vorzeichen notiert. Eine anschauliche Vorstellungder Reaktionsenergie (Enthalpie) liefert Abb. 8, die den Ablauf einerReaktion im Energieprofil skizziert. Ist die freiwerdende Energie kleinerals die zum Reaktionsablauf benötigte Anregungsenergie, ist während derReaktion ständige Energiezufuhr nötig. Man unterscheidet zwischenexothermen Reaktionen (Wärmefreisetzung, ΔE < 0) und endothermenReaktionen (Wärmeentzug, ΔE > 0). Physikalisch gesehen handelt es sichbei einer Chemischen Reaktion um einen Prozeß, bei dem „ChemischeEnergie“ und andere Energieformen ineinander umgewandelt werden.

Abb. 8: Energiediagramm chemischer Reaktionen

Bei endothermen Reaktionen stellt sich die Frage nach der Triebkraft ihresAblaufs. Tatsächlich stellt man fest, dass zahlreiche Versuche, Salze, diein hoch geordnetem Zustand als Ionengitter (vgl. Kap. 10.3) vorliegen, inWasser zu lösen, enotherm, d.h. unter Abkühlen der Lösung verlaufen.Ein Maß für die Ordnung eines Zustandes ist die Entropie (E). Endo-therme Reaktionen sind mit einem Abbau der Ordnung verbunden.Wärmetönung (Enthalpie, H) und Entropie sind durch die Freie Enthalpie(G) verbunden:

ΔG = ΔH – TxΔS (T = Temp. [K])

Die Differenzbildung Δ markiert G, H und S als sog. Zustandsgrößen.Edukte und Produkte beinhalten intrinsische Werte der Zustandsgrößen,deren Differenz beim Reaktionsablauf gebildet wird.Für freiwillig verlaufende Reaktionen gilt: ΔG < 0.

8.4 Kinetik

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Die Geschwindigkeit einer Reaktion wird von der Thermodynamik nichtbehandelt. Sie lässt sich beschreiben als Änderung der Konzentrationeines der bei der Reaktion beteiligten Stoffe in der Zeiteinheit:

A + B → C + D

-d cA(B)/dt = k x cA x cB

Zur Reaktion von A mit B ist ein Zusammenstoß zweier Teilchenerforderlich, dessen Wahrscheinlichkeit von der Konzentration beiderStoffe abhängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zusammenstoß zurReaktion führt, kommt in der für die Reaktion charakteristischenKonstante k zum Ausdruck. Dies bedeutet, dass sich die Reaktions-geschwindigkeit im Verlauf der Reaktion wegen der Abnahme von cA undcB verlangsamt. Der Wert von k ist u.a. von der Temperatur abhängig.Der komplexe Zusammenhang zwischen der Reaktionsgeschwindigkeitund der Anregungsenergie, der Kinetik und Thermodynamik verbindet,soll hier nicht näher behandelt werden.

8.5 StöchiometrieDa im Verlauf einer Chemischen Reaktion Atomsorten weder neugebildet noch vernichtet werden können, müssen in der zuvor aufge-stellten Reaktionsgleichung die in den Komponenten A,B… sowie C,D…enthaltenen Atomsorten mittels der Koeffizienten a,b…, c,d… derart aus-geglichen werden, dass auf der Seite der Edukte und Produkte jeweils diegleiche Zahl der Atomsorten zu stehen kommt.Da nach der Reaktionsgleichung a Äquivalente A und b Äquivalente B zuc Äquivalenten C und d Äquivalenten D reagieren, müssen auch NL x aÄquivalente A mit NL x b Äquivalenten B, oder anders ausgedrückt, aMol A und b Mol B zu der entsprechenden Zahl an Äquivalenten C und Dreagieren. Da diese Mengenbegriffe über die Definition des Molbegriffs(1 Mol = eines Stoffes, NL Teilchen, entspricht der Masse des Formel-äquivalents in Gramm) mit den Massen verbunden sind, lassen sichhieraus die entsprechenden Massen der Komponenten beliebiger Molzahlleicht errechnen.Zur Beherrschung dieser für die chemische Laborpraxis wichtigenRechnungen bedarf es einer gewissen Übung.

9 Die Elemente der Gruppe 17 (Halogene)

9.1 Allgemeines

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Den Elementen der Gruppe 17 ist die Valenzelektronenkonfigurationns2p5 gemeinsam. Ihr chemisches Verhalten wird folglich dominiert vondem starken Bestreben, ein Elektron unter Bildung der nächstliegendenstabilen Edelgasschale aufzunehmen. Diese Tendenz macht die Halogenein ihrer elementaren Form zu reaktiven Substanzen.Fluor, Chlor, Brom und Iod kommen deshalb in der Natur nur in Formihrer Verbindungen vor (NaCl, NaBr, NaI gelöst im Meerwasser, NaCl,KCl, CaF2 und CaIO3 in Salzlagerstätten). Die Darstellung von Fluor undChlor erfolgt durch Elektrolyse (vgl. E15) von Halogenid-Salzen, Bromund Iod hingegen werden aus den Halogenid-Salzen durch Oxidation mitChlor erhalten (vgl. E14).

2 NaBr + Cl2 → 2 NaCl + Br2

Das radioaktive Astat soll hier nicht näher besprochen werden.Tabelle 5 informiert über einige Eigenschaften der Elemente, deren Gangdem der Edelgase entspricht. Elementar liegen alle Halogene, wie auchder Wasserstoff, als zweiatomige Moleküle vor, in denen die Atome dieEdelgaskonfiguration erreichen. Anders als beim Wasserstoff tragen dieHalogenatome hier zusätzlich zum bindenden Elektronenpaar nochjeweils 3 nichtbindende Elektronenpaare, die meist gleichfalls als jeweilsnur einem Atom zugeordnete Striche symbolisiert werden.

Tab. 5: Einige Eigenschaften der Halogene

Eine Betrachtung der Bindungsenergien (Dissoziationsenergien) derDihalogen-Moleküle ergibt im Vergleich mit dem H2-Molekül deutlichniedrigere Werte. Allgemein nimmt die Bindungsstärke kovalenterBindungen infolge des geringer werdenden Überlappungsintegrals beimÜbergang zu den schwereren Elementen deutlich ab; hinzu kommt bei denHalogenen die beim Wasserstoff nicht gegebene Abstoßung der nicht-bindenden Elektronenpaare. Der innerhalb der Gruppe 17 beim Chlorbeobachtete Höchstwert kann als Ergebnis der Superposition zweiergegenläufiger Effekte (Überlappungsintegral und bei den leichtenElementen auf Grund des geringeren Atomabstandes stärkere Abstoßungder nichtbindenden Elektronenpaare) interpretiert werden; eine weitereErklärungsmöglichkeit als Folge einer π-Wechselwirkung wird an andererStelle (Kap. 11.2) besprochen.

9.2 Verbindungen mit WasserstoffSämtliche Halogene (X = F, Cl, Br, I) reagieren spontan mit Wasserstoffzu den Halogenwasserstoffen H-X, die gleichfalls, unter Erreichen derEdelgaskonfiguration für H und X, als zweiatomige Moleküle vorliegen.

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H2 + X2 → 2 HX

Da Wasserstoff nicht über freie Elektronenpaare verfügt, nimmt dieBildungsenergie gem. der Reaktionsgleichung beim Übergang zu denschwereren Halogenen kontinuierlich ab: ΔH[kcal/mol] = -128 (F), 44(Cl), 25 (Br), 3 (I).Bei der Umsetzung von Wasserstoff mit Iod beobachtet man, dass dieEdukte nicht vollständig umgesetzt werden. Offensichtlich ist derBildungsreaktion von HI eine Zerfallsreaktion unter Rückbildung derEdukte überlagert. Man spricht vom Chemischen Gleichgewicht.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E6 Das Chemische Gleichgewicht>Grundsätzlich sind alle chemischen Reaktionen Gleichgewichts-reaktionen. Korrekt müsste man schreiben:

H2 + I2 <=> 2 HI

Sie lassen sich kinetisch quantitativ beschreiben, wenn der „Hinreaktion“

H2 + I2 → 2HI ; -dcH2/dt = k→ x cH2 x cI2

die “Rückreaktion”

2 HI → H2 + I2; -dcHI/dt = k← x cHI x cHI

gegenübergestellt wird. Die Reaktion kommt scheinbar zum Stillstand,wenn sich die Konzentrationen der beteiligten Komponenten nicht mehrändern; in Wirklichkeit laufen beide Reaktionen unverändert, jedoch mitgleicher Geschwindigkeit, nebeneinander ab. Die Bildungs- und Zerfalls-geschwindigkeiten aller Komponenten sind nunmehr gleich, es gilt folg-lich:

-dcH2 = -dcHI = dcH2 = dcHI;

k→ x cH2 x cI2 = k← x cHI x cHI;

oder

k→ cHI x cHI── = ────── = Kk← cH2 x cI2

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Allgemein gilt für die Reaktion

A + B <=> C + D

k→ cC x cD── = ────── = Kk← cA x cB

Diese Gleichung wird aus historischen Gründen als Massenwirkungs-gesetz bezeichnet. Für jede beliebige Reaktion existiert eine individuelle,nur von den Reaktionsbedingungen (z.B. der Temperatur) abhängigeGleichgewichtskonstante K, die bei „vollständig“ ablaufenden Reaktionen>> 1 wird. Entfernen einer Komponente, beispielsweise von C, aus demGleichgewicht durch Ausfällen, Entweichen in die Gasphase oderEinbindung in eine Folgereaktion führt zur „Verschiebung“ des Gleich-gewichts durch Nachbildung von C.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Die sämtlich gasförmigen Halogenwasserstoffe HCl, HBr und HI sind inWasser starke Säuren (die wäss. Lösung von HCl wird „Salzsäure“genannt), während der kurz oberhalb Raumtemperatur siedende Fluor-wasserstoff HF als wäss. Lösung („Flusssäure“) nur eine mittelstarkeSäure darstellt.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E7 Broenstedt-Säuren und –Basen>Zur Definition des Säure/Base-Begriffs sind mehrere, meist historischgewachsene Denkansätze sichtbar. Hier soll die für verdünnte wäss.Lösungen gültige nach Broenstedt vorgestellt werden.In wäss. Lösung reagieren Broenstedt-Säuren HX als Protonendonatoren,während Broenstedt-Basen B als Protonenakzeptoren fungieren (manbeachte, dass freie Protonen H+ in chemischer Umgebung nicht existentsind):

HX + H2O <=> H3O+ + X-

B + H2O <=> BH+ + OH-

X- wird als korrespondierende Base der Säure HX, HB+ alskorrespondierende Säure der Base B bezeichnet. In der Säurereaktion

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agiert H2O als Base (korrespondierende Säure H3O+), während in derBasereaktion H2O als Säure (korrespondierende Base OH-) fungiert.Säure-Base-Reaktionen nach Broenstedt sind folglich Konkurrenz-reaktionen um Protonen, in denen jeweils 2 korrespondierende Säure/Base-Paare auftreten.Auch diese Reaktionen sind selbstverständlich Gleichgewichtsreaktionen.Durch Anwendung des Massenwirkungsgesetzes lassen sich Gleich-gewichtskonstanten KS und KB definieren:

CH3O+ x cX-────── = KS’ ; cH2O = const.cHX x cH2O

KS’ x cH2O = KS

CBH+ x cOH-────── = KB’; cH2O = constcB x cH2O

KB’ x cH2O = KB

KS und KB sind ein direktes Maß für die Stärke der Säure und Base; einelogarithmische Formulierung der Konstanten ist allgemein üblich:

- log KS(B) = pKS(B)

d.h.: je stärker negativ die pK-Werte, desto starker die Säuren bzw. Basen.Tabelle 6 gibt einen Überblick über die pKS-Werte wichtiger Säuren.

Tab. 6: pKS-Werte einiger Säure/Base-Paare

Man kann zeigen, dass die pK-Werte von Säure/Base-Paaren in wäss.Lösung folgender Beziehung gehorchen (vgl. auch Kap. 11.2.1, E20):

KS x KB = 10-14; pKS + pKB = 14

Dies bedeutet, dass die korrespondierenden Basen starker Säurenschwache Basen sind, und umgekehrt.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

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Die relativ geringe Säurestärke von HF gegenüber den anderen Halogen-wasserstoffsäuren erklärt sich aus der hohen Bindungsenergie; dies istnicht auf den ersten Blick einleuchtend, da der tabellierten Bindungs-energie die homolytische Spaltung in Atome zu Grunde liegt, während dieSäurestärke eher der heterolytischen Spaltung in Ionen (H+ und X-)zuzuordnen wäre. Eine genauere, hier nicht durchzuführende Betrachtung(Born-Haber’scher Kreisprozeß) macht jedoch den experimentellenBefund verständlich.Dennoch soll nachfolgend auf das Problem der Polarität von Atom-bindungen eingegangen werden.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E8 Die Elektronegativität>Bei der Erklärung des Begriffes „Resonanz“ am Beispiel des H2-Moleküls (Kap. 7.1, E4) haben wir 4 Grenzformeln gefunden, wobei denunpolaren I und II gegenüber den polaren III und IV ein höheres Gewichtbei der Beschreibung des Bindungszustandes zukam, die beiden Paare I/IIund III/IV jedoch untereinander gleichgewichtet waren. Beim Übergangzum HF-Molekül tritt eine andere Situation ein (A = H, B = F); nun wirdaus Berechnungen ersichtlich, dass der Grenzform IV wesentlichesGewicht zu kommt, wohingegen die Grenzform III zur Beschreibung derBindungssituation fast bedeutungslos ist.Ein Vergleich der Ionisierungsenergien der Atomsorten H und F (13.2bzw 17.4 eV) weist dem Fluoratom gegenüber dem Wasserstoffatom diedeutlich höhere Fähigkeit, sein äußerstes Elektron festzuhalten, zu. In derkovalenten Bindung H-F hat dies offensichtlich zur Folge, dass dasFluoratom das bindende Elektronenpaar stärker anzieht und somit inRichtung auf seinen Kern verschiebt; dies hat eine Umgewichtung derResonanzformeln und somit auch eine Verschiebung der elektrischenLadung („Polarisierung“) zur Folge.Die Fähigkeit einer Atomsorte, in einer kovalenten Einfachbindung dasbindende Elektronenpaar anzuziehen, wird Elektronegativität genannt.Der Gang der Elektronegativität und der des Ionisierungspotentials unterBerücksichtigung der Stellung der Elemente im Periodensystem sindvergleichbar. Anders als das physikalisch definierte und messbareIonisierungpotential ist die Elektronegativität jedoch eine dimensionsloseVergleichsgröße, wobei dem elektronegativsten Element Fluor auf dersog. Pauling-Skala willkürlich, zur Vermeidung negativer Werte bei denelektropositiven Alkalimetallen, der Wert 4.0 zuerkannt wurde (Tab. 7)

Tab. 7: Elektronegativität der Elemente

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Spätere Überlegungen haben den Begriff „Elektronegativität“ durchErweiterung der Definition auch Berechnungen zugänglich gemacht,worauf hier nicht eingegangen werden soll.Die Ladungsverschiebung bei der Verknüpfung von Atomen ver-schiedener Sorten und somit Elektronegativitäten bewirkt entlang dieserBindung die Ausbildung eines elektrischen Dipols. Das Ausmaß derLadungsverschiebung in Xδ+-Yδ- wird auch als Partielle Ladungbezeichnet. In mehratomigen Molekülen, d.h. solchen mit mehrerenBindungen, addieren sich die Dipolmomente der einzelnen Bindungenvektoriell, d.h. in Abhängigkeit von der Struktur (Symmetrie) desMoleküls. Bei hochsymmetrischen Molekülen kann dann, trotz hoherPolarität einzelner Bindungen, das Dipolmoment entfallen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Die große Elektronegativitätsdifferenz der Elemente Wasserstoff undFluor bewirkt ein hohes Dipolmoment des H-F-Moleküls, dasAuswirkungen auf die physikalischen und chemischen Eigenschaften hat.Es kann zur Ausbildung einer besonderen Bindungsform führen.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E9 Die Wasserstoffbrückenbindung>Bei der Betrachtung der Edelgase und Dihalogen-Moleküle haben wir diemit der Ordnungszahl steigende Polarisierbarkeit der Systeme als Ursachefür die in gleicher Richtung ansteigenden Siede- und Schmelzpunkteerkannt. Es ist verständlich, dass die Phasenübergänge in besonderemMaße auch von den permanenten Dipolmomenten beeinflußt werden, da,insbesondere beim Siedevorgang und Übertritt der Atome bzw. Moleküleals isolierte Teilchen in die Gasphase, die interatomaren (bei denEdelgasen) bzw. intermolekularen Kräfte, die ihren Zusammenhalt in derkondensierten Phase bewirken, gebrochen werden müssen.Beim Fluorwasserstoff (und in ähnlicher Weise auch beim später zubesprechenden Wasser) finden wir selbst in der Gasphase, nahe demSiedepunkt, noch Aggregate (HF)n, deren intermolekulare Bindungs-energie die üblicher Dipolwechselwirkungen offenbar deutlich übersteigt.Im festen Zustand von HF liegen polymere Ketten hinsichtlich der Längealternierender HF-Bindungen vor, wobei an den Wasserstoffatomen einelineare, an den Fluoratomen jedoch eine gewinkelte Anordnung derBindungen beobachtet wird. Noch extremer scheint die Situation imisolierten, sehr stabilen Anion HF2

- (formal ein Addukt aus HF und F-),das einen linearen, hinsichtlich der beiden Bindungen symmetrischenAufbau aufweist (Abb. 9).

Abb. 9: Die Struktur von HF

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Offensichtlich bewirkt die Präsenz einer hohen positiven PartiellenLadung am Wasserstoffatom die Ausbildung spezieller Bindungen mitAtomen hoher negativer Ladungsdichte, die nichtbindendeElektronenpaare tragen. Solche Bindungen, die hinsichtlich ihrerBindungsenergie zwischen Atombindungen und „normalen“Dipolwechselwirkungen liegen, werden Wasserstoffbrückenbindungengenannt. Ihre Beschreibung durch das VB-Modell verstößt auf den erstenBlick gegen das Pauli-Prinzip (4 Bindungselektronen im 1s-Orbital desWasserstoffs), ist jedoch unter Zuhilfenahme der Resonanz möglich.

F- H – F ↔ F – H F-

Man beachte die unterschiedlichen Symbole für chemische Gleich-gewichte (s.o.) und Resonanzgleichgewichte.Wir werden später ein besseres Verfahren zur Beschreibung dieserBindung kennenlernen (vgl. E18).xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

9.3 Interhalogen-VerbindungenÄhnlich wie mit sich selbst oder mit Wasserstoffatomen können sichHalogenatome auch mit anderen Halogenatomen zu zweiatomigenMolekülen X–Y (X, Y = F, Cl, Br, I) verbinden. Die Darstellung erfolgt,wie auch bei den nachfolgend besprochenen mehratomigen Interhalogen-verbindungen, aus den Elementen. Die hier vorliegende polarisierteBindung führt gegenüber den Molekülen X–X zu einer deutlich erhöhtenReaktivität.

X2 + Y2 → 2 XYX2 + 3 Y2 → 2 XY3X2 + 5 Y2 → 2 XY5X2 + 7 Y2 → 2 XY7

Tatsächlich sind auch Interhalogenverbindungen der ZusammensetzungXY3 (ClF3, BrF3, IF3, ICl3), XY5 (ClF5, BrF5, IF5) und XY7 (IF7) bekannt.In diesen Verbindungen fungiert das jeweils schwerere Atom alsZentralatom, das von n jeweils einfach gebundenen Y-Substituenten um-geben ist. Da diese durch Atombindungen verknüpft sind, überschreitendie Zentralatome X die Edelgaskonfiguration, was zur geringen Stabilitätdieser Verbindungen beiträgt. Sämtliche Verbindungen sind wegen dergeringen Elektronegativitätsdifferenz der beteiligten Elemente molekularaufgebaut.

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xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E10 Räumliche Orientierung der Bindungen und Hybridisierung>Wir haben gesehen, dass bei Ausbildung von AtombindungenAtomorbitale (Kap. 4.2, E4) überlappen. Die räumliche Orientierung derOrbitale (Abb. 2) sollte folglich den Bindungswinkel eines dreiatomigenFragments, hier Y-X-Y, bestimmen. Wie wir, beispielsweise am später zubesprechenden Wassermolekül, noch sehen werden, sind Bindungswinkelvon 90°, die wir bei Verwendung von zwei p-Orbitalen von X im obigenFragment erwarten würden, selten. Tatsächlich werden meist größereWinkel beobachtet.An dieser Stelle sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass es sich beiOrbitalen um mathematisch konstruierte Raumsegmente handelt; sielassen sich nicht im Bedarfsfall „verbiegen“. Hingegen lassen sichOrbitale rechnerisch „mischen“; diesen Vorgang bezeichnet man alsHybridisierung. Bei der Bildung von Hybridorbitalen bleibt die Gesamt-zahl der Orbitale erhalten.Es werden im Bereich der Hauptgruppenelemente jeweils Orbitalegleicher Hauptquantenzahl, aber verschiedener Nebenquantenzahlhybridisiert. Abb. 10 zeigt gängige Formen der Hybridisierung und dieAusrichtung der Hybridorbitale im Koordinatensystem.

Abb. 10: Gestalt und Ausrichtung der Hybridorbitale spn (n = 1-3)

Wichtige Winkel zwischen Orbitalen unter Einbezug von Hybridorbitalen(und somit Bindungswinkel) sind in Tabelle 8 aufgelistet. Die Angabe vonWinkeln unter Beteiligung nicht-hybridisierter s-Orbitale ist wegen derenKugelsymmetrie (fehlende räumliche Vorzugsausrichtung) nicht möglich.

Tab. 8: Bindungswinkel zwischen Orbitaltypen

In Wirklichkeit zeigen die experimentell gefundenen Bindungswinkel vonden in Tab. 8 genannten Werten deutliche Abweichungen. Dies wirddurch eine Variation des Mischungsverhältnisse erreicht. Hierauf kannhier nicht näher eingegangen werden.Triebkraft der Hybridisierung ist das Erreichen des energetischgünstigsten Zustandes. Folglich ist die Hybridisierung nicht die Ursacheeiner Molekülgeometrie, sondern die Anpassung an eine energetischeVorgabe. Ein Molekül ist nicht tetraedrich gebaut, weil das Zentralatomsp3-hybridisiert ist; vielmehr ist das Zentralatom sp3-hybridisiert, weil dieTetraedergeometrie das Energieminimum darstellt.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E11 Das VSEPR-Modell>

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Sind an ein Zentralatom verschiedene Substituenten gebunden oder sindnichtbindende Elektronenpaare zugegen, so regelt das VSEPR-Konzeptdie Besetzung der Koordinationsstellen und die Beeinflussung derWinkel.Hierbei wird zunächst die Summe der Bindungspartner und der nichtbindenden Elektronenpaare (hier als Koordinationszahl KZ bezeichnet)ermittelt und hieraus der energetisch günstigste Koordinationspolyedergebildet. Dieser folgt aus der Verteilung der entsprechenden Zahl vonnegativen Ladungen auf einer Kugeloberfläche (Prinzip der minimalenAbstoßung) und liefert die Geometrien linear (KZ 2), trigonal planar (KZ3) tetraedrisch (KZ 4) trigonal-bipyramidal (KZ 5) und oktaedrisch(KZ6), wie in Abb. 11 angegeben.

Abb. 11: Gestalt von Molekülen der Koordinationszahlen 2-6

Zur Berücksichtigung der „Verzerrung“ der idealen Polyedergeometrieentsprechend den in Tabelle 8 angegebenen Winkeln ist nun Folgendes zubeachten: Die in den Valenzorbitalen des Zentralatoms befindlichenElektronenpaare stoßen sich, entsprechend ihrer negativen Ladung, von-einander ab. Diese Abstoßung wird umso größer, je höher die Elektronen-dichte im betrachteten Orbital in Kernnähe ist. Hieraus ergibt sich für dieAbstoßung (manchmal irreführend als „Platzbedarf“ bezeichnet; dieGröße der Substituentenatome findet im VSEPR-Konzept keine Berück-sichtigung) folgende Hierarchie der bindenden (b) und nichtbindenden(nb) Elektronenpaare:

nb/nb > nb/b > b/b

Nichtbindende Elektronenpaare sind nur dem Zentralatom zugehörig,während bindende Elektronenpaare ihre „Elektronendichte“ (negativeLadung) auf zwei Atome verteilen.Einen Sonderfall der Polyeder bildet die Trigonale Bipyramide (KZ 5), dahier die Koordinationspartner aus Sicht der Symmetrie unterschiedlichePositionen (2 axiale und drei äquatoriale Positionen) besetzen können.Hier gilt die Dominanz des kleinsten Winkels: ein NichtbindendesElektronenpaar besetzt bevorzugt eine äquatoriale Position, da hier nurzwei Nachbarn (in der axialen Position drei Nachbarn) im Winkel von 90°vorliegen.Für KZ > 6 liefert das VSEPR-Konzept keine verlässlichen Vorhersagen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Übertragen wir nun die gewonnenen Erkenntnisse auf die Stereochemieder Interhalogenverbindungen:

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Im Verbindungstyp XY5 verwendet das Zentralatom X 5 seiner 7 Valenz-elektronen zur Asbildung der 5 Atombindungen, so dass 2 Valenzelek-tronen als Nichtbindendes Elektronenpaar verbleiben. Hieraus resultiertdie KZ 6 (wegen der Präsenz eines Nichtbindenden Elektronenpaarsspricht man von „Ψ–Oktaeder“). Die fünf Substituenten Y bilden also mitdem Zentralatom X eine Quadratische Monopyramide, während dasNichtbindende Elektronenpaar die 6. Koordinationsstelle Stelle desOktaeders besetzt. Wegen der o.gen. Abstoßungshierarchie wird dieQuadratische Monopyramide durch die Abstoßung nb/b in Art einerRegenschirmgeometrie verzerrt, d.h. die 4 äquatorialen Substituentenwerden in Richtung auf den axialen Substituenten verschoben (Yax-X-Yeq

< 90°).Im Verbindungstyp XY3 liegt wegen der Präsenz zweier nichtbindenderElektronenpaare eine Ψ-Trigonale Bipyramide vor, in der die nicht-bindenden Elektronenpaare equatoriale Positionen besetzen. Durch dieo.gen. Abstoßungshierarche werden die axialen Substituenten in Richtungauf die äquatoriale Position unter Verzerrung der idealen T-Geometrieverschoben (Yax-X-Yax < 180°).YF7 weist wegen der Abwesenheit nichtbindender Elektronenpaare amZentralatom die Idealgeometrie der Pentagonalen Bipyramide auf.Den elektroneutralen Interhalogen-Molekülen sind zahlreiche ionischeInterhalogen-Verbindungen zur Seite zu stellen, die formal und meistauch in der Synthesepraxis aus den Neutralverbindungen durchAbstraktion oder Addition von Y- entstehen. So lässt sich etwa BrF3 inBrF2

+ (Abstraktion von F-) oder BrF4- (Addition von F-) überführen.

BrF3 → BrF2+ + F-

BrF3 + F- → BrF4-

Für beide Ionen gilt die Strukturvorhersage des VSEPR-Konzeptes. DasTriiodid-Ion, die bekannteste ionische Interhalogenverbindung, ist inwäss. Lösung aus Iod und Kaliumiodid zugänglich („Iodiodkali“) undlinear gebaut (KZ 5, Ψ-Trigonale Bipyramide, Besetzung der äquatorialenPositionen durch die Nichtbindenden Elektronenpaare).Hinsichtlich der Orbitalbeteiligungen an den Chemischen Bindungenlassen sich den Koordinationspolyedern die in Tabelle 8 angegebenenHybridisierungen zuordnen. So entspräche dem linearen Aufbau desTriiodidions eine sp3d-Hybridisierung des zentralen Iodatoms. Zur Ver-meidung einer Beteiligung der energetisch hochliegenden (d.h.ungünstigen) d-Orbitale kann auch die Resonanzschreibweise

I – I I- ↔ I- I – I

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angewendet werden. Wir werden später (vgl. E18) eine günstigereBeschreibung dieser Bindungssituation finden.

9.4 Verbindungen mit EdelgasenWir haben gesehen, dass die Edelgase wegen der bereits in ihren Atomenvorliegenden Edelkonfiguration nur eine geringe Neigung zur Ausbildungvon Chemischen Bindungen, d.h. zur Betätigung ihrer Valenzelektronenaufweisen. Ein Vergleich der Ionisierungsenergien der Edelgase (Tab. 4)ergibt unter Vernachlässigung von Rn für das Element Xenon dasgeringste Ionisierungspotential; umgekehrt weist innerhalb der Gruppe 17das Element Fluor die größte Befähigung, Elektronen aufzunehmen, auf.Tatsächlich ist eine Reihe stabiler Xenonfluoride

Xe + F2 → XeF2Xe + 2 F2 → XeF4Xe + 4 F2 → XeF6

bekannt, die sämtlich aus den Elementen als hochreaktive, jedochisolierbare Feststoffe gewonnen werden. XeF2 und XeF4 bilden im festenZustand Gitter aus isolierten Molekülen, deren Aufbau der Vorhersagedes VSEPR-Konzepts genügt (XeF2: linear, KZ 5, Ψ-trigonal bipyramidal,Besetzung der äquatorialen Positionen mit nichtbindendenElektronenpaaren; XeF4; quadratisch planar, KZ 6, Ψ-oktaedrisch, nicht-bindende Elektronenpaare in trans-Stellung). XeF6 (KZ 7!) ist im festenZustand nicht aus isolierten Molekülen aufgebaut.XeF2 ist im Handel erhältlich und wird bei Fluorübertragungsreaktionenals Ersatz für das schwer handhabbare Gas Fluor verwendet.

10. Die Elemente der Gruppe 1 (Alkalimetalle)

10.1 AllgemeinesAuch in der Gruppe 1 zeigen die Elemente den bei den Edelgasen undHalogenen gefundenen Gang der Eigenschaften (Tab. 9).

Tab. 9: Einige Eigenschaften der Alkalimetalle

Auf Grund der Valenzelektronenkonfiguration ns1 ihrer Atome weisendiese Elemente die ausgeprägte Eigenschaft aus, unter Abgabe desValenzelektrons einfach positiv geladene Ionen der Valenzelektronen-konfiguration (n-1)s2p6 zu bilden. Hingegen wird, anders als bei denHalogenen, die Edelgaskonfiguration durch Ausbildung von Atom-bindungen nicht erreicht. Man spricht von einem Elektronenmangel, der

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für die Elemente im Grundzustand die Ausbildung einer neuen Bindungs-art zur Folge hat. Diese wird als Metallische Bindung bezeichnet.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E12 Die Metallische Bindung I>Wir wollen an dieser Stelle zunächst eine sehr einfache Beschreibung derMetallischen Bindung wählen. Durch Metallische Bindungen aufgebauteElemente, Metalle eben, bilden im festen Zustand ein dreidimensionalesPolymersystem mit geordnetem Aufbau. Man kann sich ein Gitter vonAtomrümpfen (Kationen) vorstellen, in dessen Zwischenräumen sich dieValenzelektronen als „Elektronengas“aufhalten. Im Sinne der VB-Theoriekann auch das Phänomen der Resonanz zur Beschreibung dienen. Nach-folgend ist ein eindimensionaler Ausschnitt aus dem dreidimensionalenNetzwerk gezeigt:

-M M-M M-M M-M M-M ↔ M-M M-M M-M M-M M-

Beide Betrachtungsweisen implizieren eine freie Beweglichkeit derValenzelektronen im gesamten Metallgitter; hierdurch wird für jedeseinzelne Atom die Situation des Elektronenmangels verbessert und diebesondere Eigenschaft des metallischen Zustandes (vgl. E26) begründet.Die Anordnung der Metallatome entspricht bestimmten Baumustern oderGittertypen; generell ist die Tendenz eines engen Zusammenrückens derelektroneutralen Atome unter Bildung dichter Packungen zu beobachten(die elektrostatische Abstoßung der Kationen im Konzept der Elektronen-gas-Vorstellung wird durch die negative Ladung des Elektronengasesneutralisiert).Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Metallstrukturen drei Gitter-typen zuzuordnen. Dies sind die:

Kubisch dichteste Packung (a)Hexagonal dichteste Packung (b)Kubisch raumzentrierte Packung (c)

Die Elementarzellen (kleinste Symmetrieeinheiten) sind in Abb. 12wiedergegeben.

Abb. 12: Elementarzellen der Metallstrukturen

Das Bauprinzip der Dichtesten Kugelpackungen a und b lässt sich leichterdurch Betrachtung der hierbei vorliegenden Schichten verstehen (Abb.13):Schiebt man auf einer ebenen Unterlage Kugeln (oder Münzen) gleicherGröße möglichst dicht zusammen, so resultiert eine Anordnung, bei der

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jede Kugel von 6 Nachbarn in Form eines gleichseitigen Sechsecksumgeben ist; hierbei berühren alle Kugeln des Sechsecks die zentraleKugel und die zwei Nachbarn des Sechsecks, so dass innerhalb einerSchicht (A) jede Kugel 6 Nachbarn aufweist. Legt man die nächsteSchicht (B) in der Aufsicht gegenüber der ersten zur Gewährleistung einerdichtesten Packung „auf Lücke“, so resultieren zwei Arten von Löchern(Tetraederlücken und Oktaederlücken), die jedoch in den Metallgitternfrei bleiben. Beim Aufbringen einer dritten Schicht kann diesedeckungsgleich zu A (Schichtfolge ABA…) oder gegenüber dieserverschoben (Schichtfolge ABCA…) angeordnet sein; hieraus resultierendie Hexagonal dichteste Kugelpackung (b, ABA) und die Kubischdichteste Kugelpackung (a, ABCA).

Abb. 13: Dichteste Kugelpackungen

Die Kubisch raumzentrierte Packung ist aus Schichten eines anderen,nicht-dichtesten Typs aufgebaut:Ihr zu Grunde liegen Schichten einer quadratischen Anordnung derKugeln, die innerhalb der Schicht nur 4 Nachbarn aufweisen (D). Wirddie nächste Schicht (E) „auf Lücke“ gelegt, so ergibt sich bei der Schicht-folge DED… die Kubisch raumzentrierte Struktur. Zum selben Ergebnisgelangt man, wenn man Schichten „auf Deckung“ stapelt (DDD…, sog.„Kubisch primitives Gitter“) und jede der hierbei entstehenden Lücken(Kubische Lücken) mit einer weiteren Kugel besetzt (Abb. 14).

Abb. 14: Zweidimensionale Gitter

Im dreidimensionalen Gitter weist in a und b jedes Atom 12 nächsteNachbarn („Dichteste Packung“), in c jedoch nur 8 nächste Nachbarn auf.

Die Alkalimetalle kristallisieren sämtlich im Gittertyp c. Häufig liegenjedoch innerhalb der Metalle einer Gruppe verschiedene Gittertypen vor,die sich offenbar aus der Valenzelektronenkonfiguration der Atome nichtherleiten lassen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

10.2 Vorkommen, Eigenschaften, VerwendungAuf Grund ihrer hohen Chemischen Reaktivität, insbesondere gegenüberLuft und Wasser, kommen auch die Elemente der Gruppe 1 nichtelementar als Metalle, sondern in Form ihrer Verbindungen vor.Hauptvorkommen sind die im Meerwasser gelöst, sowie in mineralischenLagerstätten ohne Wasserzutritt fest vorliegenden Chlorid-Salze (vgl.Kap. 10.4), aus denen sie aufwendig mittels Schmelzflusselektrolyse (vgl.E15) gewonnen werden.

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M+ + e- → M (M = Li,Na,K,Rb,Cs)

Alle Alkalimetalle bilden in reiner Form weiche, „silberfarbige“, tiefschmelzende Feststoffe, deren Atome der Flamme eine charakteristischeFärbung verleihen. Sie werden, wie bereits erwähnt, rasch unter demEinfluß von Luft (Sauerstoff) und Wasser unter Abgabe des Valenz-elektrons in ihre einwertigen Kationen überführt.

4 M + O2 → 2 M2O2 M + 2 H2O → 2 MOH + H2 (M = Li,Na,K,Rb,Cs)

Natrium wird in großen Mengen als Ausgangsmaterial für ChemischeVerbindungen verwendet. Gemische der leichteren Gruppenelemente(Schmp. Na/Ka ca. -10 °C) werden wegen ihrer hohen Wärmekapazitätals Kühlflüssigkeit in Hochtemperaturanlagen (z.B. Reaktoren) eingesetzt.

10.3 Verbindungen mit WasserstoffAlle Alkalimetalle (M) reagieren mit Wasserstoff in exothermer Reaktionzu den entsprechenden Metallhydriden MH:

2 M + H2 → 2 MH

Aufgrund der hohen Elektronegativitätsdifferenz der Alkalimetalle unddes Wasserstoffs (ΔEN > 1.4) sind in diesen Verbindungen die Atome nicht durch Atombindungen verknüpft; eine Beschreibung der Bindungnach dem VB-Modell würde zu einer Dominanz der Grenzstruktur IV(E4) führen. Vielmehr sind diese Verbindungen aus Alkalimetall-Kationen K+ und Hydrid-Anionen H-, aufgebaut, die im festen Zustand einIonengitter bilden; diese Bindungsart nennt man Ionenbindung.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E13 Die Ionenbindung I>Grundlage der Ionenbindung ist die Coulombenergie Ec, die für einIonenpaar Ma+Xb- gem.

abe2 (e = Elektr. Elementarladung, εo = Dielek-Ec = ─── trititätskonst. i. Vak., r = Ionenabstand)

4πεor

definiert ist. In einem Ionenkristall summieren sich die anziehenden undabstoßenden Wechselwirkungen der Koordinationssphären (s.u.) DieGitterenergie ist definiert als Betrag der beim Zusammentreten der Ionen

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eines Mols der Formeleinheit aus der Gasphase zum Kristall freiwerdenEnergie.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E14 Oxidationszahlen und Redoxreaktionen>Mit der Bildung der Alkalimetallhydride haben wir einen neuenReaktionstyp kennengelernt: die Redoxreaktion. Hierbei werden, aus-gehend von Atomen, Elektronen unter Bildung von Ionen übertragen. AlsGleichgewicht formuliert, ist die Redoxreaktion also eine Konkurrenz-reaktion um Elektronen, die sich, ähnlich wie die Säure/Base-Reaktion, inTeilschritte zerlegen lässt Die Abgabe von Elektronen bezeichnet man alsOxidation, die Aufnahme von Elektronen als Reduktion.

M → Ma+ + a e- OxidationX + b e- → Xb- Reduktion

Da Elektronen in einer chemischen Reaktion weder erzeugt nochvernichtet werden können, ist jede Oxidation eines Reaktionspartners vonder Reduktion eines anderen begleitet. Bei der Reaktion wird dasOxidationsmittel X reduziert und das Reduktionsmittel M oxidiert. Da dieSumme der Teilreaktionen keine Elektronen aufweisen darf, müssen diestöchiometrischen Faktoren a und b entsprechend angepasst werden. Dieserfolgt durch Multiplikation der Teilreaktionen jeweils mit der Faktor deranderen Teilreaktion:

(M → Ma+ + a e-) x b = b M → b Ma+ + a x b e-

(X + b e- → Xb) x a = a X + a x b e- → a Xb

als Summenreaktion ergibt sich

b M + a X <=> b Ma+ + a Xb-

Die Anzahl der Ionenladungen muß auf beiden Seiten der Gleichunggleich sein. Die Indizes a und b bezeichnet man als Oxidationszahlen oderOxidationsstufen xon M und X. Sie sind in den Elementen immer gleichNull.Tatsächlich haben wir schon vor der Besprechung der AlkalimetallhydrideRedoxreaktionen kennengelernt. Auch bei der Bildung der Halogen-wasserstoffe HX (Kap. 9.2) tritt ein Wechsel der Oxidationszahlen ein.Da die Verbindungen HX (X = F,Cl,Br,I) nicht als Salze vorliegen,sondern die Atome durch Atombindungen verknüpft sind, muß dieBestimmung der Oxidationszahlen hier anders erfolgen. Hierzu werden, in

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einem Gedankenexperiment, die bindenden Elektronen der Atombindungvollständig dem elektronegativeren Bindungspartner, hier dem Halogen-atom X, zugerechnet:

H – X ≡ H(-X ≡ H+ und X-

Die Oxidationszahlen, als hochgestellte Indices römischer Zahlengeschrieben, entsprechen nun den Ionenladungen der „fiktiven“ Ionen.

H+I – X-I

Die Summe der Oxidationszahlen entspricht der elektrischen Ladung desMoleküls bzw. Molekülions. Bei dieser Reaktion wird also der Wasser-stoff oxidiert und das Halogen reduziert.Sind zwei Atome gleicher Sorte durch eine Atombindung verknüpft,werden zur Berechnung der Oxidationsstufen die bindenden Elektronenzu gleichen Teilen auf die Atome verteilt. Hierdurch erhalten in jedemElement die Atome die Oxidationsstufe 0.Auch in den Interhalogenverbindungen und Xenonfluoriden lassen sichdie Oxidationszahlen der beteiligten Elemente auf diese Weisebestimmen:

BrF4- ≡ Br3+ und (4) F- , folglich [Br+IIIF4

-I]-I

Molekülionen werden üblicherweise im [ ] gesetzt unter Hinzufügen derIonenladung als hochgestellter arabischer Index.Die Aufstellung der Redoxgleichungen von Molekülverbindungen folgtdem o.gen. Schema und bedarf sorgfältiger Übung.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

10.4 Verbindungen mit HalogenenAlkalimetallhalogenide MX sind in allen denkbaren Kombinationenbekannt; sie werden durch direkte Umsetzung der Elemente in einerRedox-Reaktion erhalten:

2 M + X2 → 2MX (M = Li,Na,K,Rb,Cs; X = F,Cl,Br,I)

Die auf Grund der hohen Elektronegativitätsdifferenzen sämtlich salzartigaufgebauten Verbindungen lösen sich gut in Wasser. Die Salze dienen alsAusgangsstoffe zur Darstellung der Metalle sowie, im Falle von Na undK, zur Synthese weiterer wichtiger Verbindungen dieser Elemente.

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<E15 Die Elektrolyse>Führt man in die Schmelze einer ionogenen Verbindung zwei Elektrodenein, so fließt bei Anlegen einer genügend hohen Gleichspannung einStrom (Abb. 15). Hierbei wandern die positiv geladenen Kationen zurnegativ geladenen Kathode und die negativ geladenen Anionen zur positivgeladenen Anode.

Abb. 15: Elektrolyse am Beispiel der Zersetzung von Salzsäure

An den Elektroden werden die Ionen unter Aufnahme (Kationen) bzw.Abgabe (Anionen) der ihrer Ladung entsprechenden Elektronen entladen;die an der Anode freigesetzten Elektronen fließen als Gleichstrom durchden Leitungsdraht zur Kathode und schließen so den Stromkreis.Insgesamt laufen hierbei folglich zwei Teilschritte einer Redoxreaktionab: die Kationen werden an der Kathode reduziert, die Anionen an derAnode oxidiert. Der gesamte Vorgang wird als Elektrolyse bezeichnet.Voraussetzung für den Ablauf einer Elektrolyse ist das Vorliegenbeweglicher Ionen. Diese können auch durch Auflösen eines Salzes ineinem Lösungsmittel erzeugt werden. Hier ist jedoch darauf zu achten,dass auch das Lösungsmittel mit den geladenen Elektroden reagierenkann.Hier kann nun auch die zuvor erwähnte Darstellung der Alkalimetalle ausihren Chloridsalzen als konkretes Beispiel einer Elektrolyse besprochenwerden. Die technische Darstellung von Natrium aus einer Kochsalz-schmelze verläuft wie folgt:

Na+ + e- → Na Kathodische Reduktion

Cl- → Cl + e- Anodische Oxidation(2 Cl → Cl2)

Da bei der zur Elektrolyse von NaCl erforderlichen Spannung (ca. 7 V;vgl. E21) an der Kathode an Stelle der Natriumionen das Wasser entladenwird, kann die Elektrolyse zur Darstellung von Natrium nicht in wäss.Lösung erfolgen.

H2O + e-+ → H + OH-

(2 H → H2)

Die Alkalimetallhalogenide kristallisieren, wie auch die Alkalimetall-hydride, in Ionengittern, deren Systematik hier besprochen werden soll.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

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xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E16 Die Ionenbindung II>Wir hatten zuvor die Ionenbindung als Wechselwirkung von Ionen imKristallverband charakterisiert und am Beispiel der Metallbindung denAufbau einiger Typen von Atomgittern besprochen. Die Kristallgitter vonSalzen, deren Kenntnis zum Verständnis der Gitterenergie erforderlich ist,lassen sich hieraus ableiten.Die Mehrzahl der Alkalimetall-Halogenide kristallisiert, wie auch alleAlkalimetallhydride, im NaCl-Typ. Dieser geht von der kubisch dichtestenKugelpackung der Chloridionen aus und besetzt die Oktaederlücken mitNatriumionen. Analog aufgebaut sind alle Halogenide von Li, Na, K, Rbsowie CsF (Abb. 16). Im NaCl-Typ weisen die Natrium-Ionen, da inOktaederlücken platziert, 6 nächste Chlorid-Nachbarn auf. Umgekehrtsind auch alle Chlorid-Ionen von jeweils 6 Natrium-Ionen in Form einesOktaeders umgeben.

Abb. 16: Die Elementarzelle des NaCl-Typs

Die Caesiumsalze der schwereren Halogenide gehören einem anderenTyp, den CsCl-Typ an. Er entspricht dem kubisch raumzentriertenAtomgitter c, stellt also keine dichteste Kugelpackung dar (Abb. 17).Hierhin gelangt man wenn man aus den Halogenidionen ein kubischprimitives Gitter (vgl. E12) aufbaut und die kubischen Lücken mitKationen besetzt. Hierbei weisen beide Ionenarten jeweils 8 Gegenionenals nächste Nachbarn auf und befinden sich im Zentrum eines Würfels.

Abb. 17: Die Elementarzelle des CsCl-Typs

Beide Gittertypen stellen sog. „Invertierbare Gittertypen“ dar, d.h., diePlätze der Ionensorten sind gegeneinander ohne Änderung des Gittertypsvertauschbar. Das ist nicht bei allen Gittertypen der Fall.Man kann zeigen, dass in beiden Gittertypen die Anzahl der Packungs-teilchen (in unserem Beispiel die Anionen) der Anzahl der zu besetzendenOktaeder- bzw. Würfellücken entspricht. Im NaCl-Typ treten außerdemnoch Tetraederlücken in der doppelten Zahl der Packungsteilchen auf.Auch weisen grundsätzlich in AB-Gittern die Ionen jeweils die gleicheAnzahl der Gegenionen als Nachbarn auf (sog. Koordinationszahl).Die Ursache der Bildung unterschiedlicher Gittertypen bei den Alkali-metallhalogeniden hängt mit dem Problem der Radienquotienten rKat

+/rAn-

zusammen. Hierbei ist zu beachten, dass im Ionengitter (anders als imAtomgitter) die gleichsinnig geladenen Packungsionen einander abstoßenund durch die gegensinnig geladenen Lückenionen getrennt werden. AlsPackungsion wird meist die größere Ionensorte, in der Regel das Anion,

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aufgefasst. Dies bedeutet, dass die zur Besetzung von Lücken in Ionen-gitter verwendeten Ionen die Lücke füllen müssen, folglich kaum zu groß,wohl aber zu klein sein können. Da die Natriumionen, anders als diegrößeren Caesiumionen, die Würfellücke der Anionen im Chloridgitterdes CsCl-Typs nicht ausfüllen können, wird hier unter Ausbildung dasNaCl-Typs die kleinere Oktaederlücke gebildet.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

11. Die Elemente der Gruppe 16 (Chalkogene)

11.1 AllgemeinesDie Elemente E der Gruppe 16 weisen als Atome die Valenzelektronen-konfiguration ns2p4 auf. Sie benötigen zum Erreichen der Edelgas-konfiguration zwei zusätzliche Elektronen, die sie unter Bildung derDianionen E2- aufnehmen.Ein Vergleich der Eigenschaften (Tab. 10) zeigt die zuvor bei denElementen der Gruppen 1 und 17 beobachtete Abfolge. Allerdings tretenhier insbesondere die Elektronegativität und das Ionisierungspotential vonSauerstoff gegenüber den Gruppennachbarn deutlich abgesetzt auf.Zudem fehlen diesem Element im Valenzbereich die unbesetzten d-Orbitale. Dies führt zu deutlich differenzierten Eigenschaften, die einegesonderte Besprechung des Kopfelements nahe legen.

Tab. 10: Einige Eigenschaften der Chalkogene

11.2 Der Sauerstoff11.2.1 Das ElementDer Sauerstoff ist mit einer Massenhäufigkeit von 46% das häufigsteElement auf der Erdoberfläche. Hauptvorkommen sind neben oxid-haltigen Gesteinen (Carbonate, Sulfate, Silikate u.a.) insbesondere dasWasser sowie die Luft, worin der Sauerstoff in elementarer Form als O2-Molekül zu ca. 20% vorliegt. Die Gewinnung erfolgt nahezu ausschließ-lich durch fraktionierte Tieftemperaturdestillation der Luft (Linde-Verfahren, vgl. E39).Elementarer Sauerstoff kann in Form zweier verschiedener Modi-fikationen, als O2- und O3-Molekül vorliegen. Wir wollen zunächst daswesentlich stabilere O2-Molekül betrachten.Ähnlich wie beim Wasserstoff und bei den Halogenen kann das Sauer-stoff-Atom sein Elektronendefizit durch Ausbildung von Atombindungenmit einem weiteren Sauerstoffatom beheben. Zur Erreichung des Oktettsmüssen im O2-Molekül hierbei vier Elektronen jeweils beiden Atomenzugehören; man bezeichnet dies als Doppelbindung. Auch hierbei werdendie Bindungen durch Überlappung von Atomorbitalen gebildet.

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Tatsächlich ist die Bindungsenergie des O2-Moleküls (117 kcal/mol)deutlich höher als die des F2-Moleküls (38 kcal/mol). Offensichtlich sindDoppelbindungen stabiler als Einfachbindungen.

O2

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E17 Die Atombindung II>Gemäß der VB-Vorstellung werden zur Aufnahme von 4 bindendenElektronen 4 Atomorbitale benötigt. Wenn wir willkürlich annehmen, daßzunächst die Bindung des zweiatomigen Moleküls auf der z-Achse desKoordinatensystems platziert ist, können wir eine der Bindungen aus denpz-Orbitalen der Atome bilden. Die zweite Bindung kann durch Über-lappung der zweier auf der z-Achse senkrecht stehenden p-Orbitale (z.B.px) gebildet werden. Liegen, wie beim später zu besprechenden N2-Molekül, 6 bindende Elektronen vor, kann auch das 3. Paar der p-Orbitale(py) zur Bindungsbildung, nun einer dritten Bindung (Dreifachbindung),herangezogen werden (Abb. 18).

Abb. 18: Schematische Darstellung von σ- und π-Bindungen

Die drei Bindungen der Dreifachbindung unterscheiden sich in derSymmetrie: während die durch die pz-Orbitale gebildete Bindung auf derBindungsachse orientiert ist, liegt der Überlappungsbereich der px- und py-Orbitale außerhalb der Bindungsachse.Bindungen, deren Überlappungsintegral rotationssymmetrisch zurBindungsachse orientiert ist nennt man σ-Bindungen.Bindungen, deren Überlappungsintegral nicht rotationssymmetrisch zurBindungsachse orientiert ist, nennt manπ-Bindungen.Einfachbindungen sind immer σ-Bindungen. Doppelbindungen setzensich aus jeweils einer σ- und π-Bindung zusammen, während Dreifach-bindungen eine σ- und zwei π-Bindungen enthalten. Die Anzahl derBindungen zwischen zwei Atomen wird auch als Bindungsordnungbezeichnet.Aus Abb. 18 wird ersichtlich, dass π-Bindungen ein geringeres Über-lappungsorbital aufweisen als σ-Bindungen und somit weniger stabil sind.Deshalb ist eine Doppelbindung weniger stabil als die Summe zweierEinfachbindungen gleicher Atomsorten.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

In der Valenzstrich-Schreibweise liegen im O2-Molekül nur Elektronen-paare, d.h. spingepaarte Elektronen vor. Magnetische Messungen ergebenjedoch das Vorliegen von zwei ungepaarten Elektronen pro Molekül. Zur

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Erklärung dieses Befunds müssen wir ein neues Bindungskonzept ein-führen.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E18 Die Atombindung III>Wir sind bislang bei der Ausbildung von Atombindungen von derÜberlappung von Atomorbitalen (VB-Methode) ausgegangen. Ein hiervonunabhängiges Modell behandelt die Bindungen durch Ausbildung vonMolekülorbitalen (MO-Methode). Dieses Verfahren ist weniger anschau-lich, liefert jedoch eine bessere Grundlage zur quantitativen Berechnungvon Bindungseigenschaften und erklärt manche zuvor unklar gebliebenenBefunde. Wir wollen die Methode auf rein qualitativer Basis am Beispielzunächst des H2-Moleküls betrachten:Molekülorbitale werden durch Kombination von Atomorbitalen gebildet.Hierbei entspricht die Anzahl der verwendeten Atomorbitale der dergebildeten Molekülorbitale. Durch Kombination der 1s-Orbitale derWasserstoff-Atome resultieren folglich zwei Molekülorbitale. Die±-Zeichen der Orbitale stellen die mathematischen Vorzeichen derWellenfunktion (Kap. 17), nicht etwa elektrische Ladungen dar. DieKombination von Atomorbitalen gleicher Symmetrie und gleichenVorzeichens führt zu bindenden Molekülorbitalen, die ungleichenVorzeichens zu antibindenden Molekülorbitalen (Abb. 19).

Abb. 19: MO-Diagramm am Beispiel des F2-Moleküls

Die Bindungsordnung (BO) ergibt sich entsprechend der Beziehung

BO = (zb-za)/2(Zb = Zahl der in bindenden MO’s befindlichen Elektronen,Za = Zahl der in antibindenden MO’s befindlichen Elektronen)

Es ist ersichtlich, dass in der Reihe der denkbaren Teilchen H22+, H2

+, H2,H2

-, H22- das neutrale Molekül (BO = 1) die größte Stabilität aufweist,

während das zu H22- „isoelektronische“ Molekül He2 (BO = 0) nicht

existenzfähig ist (Abb. 20).

Abb. 20: MO-Diagramm des H2-Moleküls

Bei der Konstruktion des MO-Schemas für das O2-Molekül müssen nunalle Atomorbitale der Atome berücksichtigt werden. Hierbei ist zubeachten, dass die im Atom entarteten p-Orbitale nunmehr durch dieanisotrope Orientierung der Bindungsachse (z-Achse) zur energetischenAufspaltung pz ≠ px,y und somit der zugehörigen Molekülorbitale führt(Abb. 21).

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Abb. 21: MO-Diagramm des O2-Moleküls

Bei der Besetzung der Molekülorbitale mit den 16 Elektronen desMoleküls ergibt sich für n = 1 kein bindender Zusstand (BO = 0). Gemäßder Hund’schen Regel werden die beiden energiegleichen, aus px und py

resultierenden Molekülorbitale jeweils einfach besetzt, woraus dieGegenwart von zwei ungepaarten Elektronen pro Molekül resultiert. DieBindungsordnung 2 ergibt sich durch Anwendung der o.gen. Formel [BO= (10-6)/2 bzw. (8-4)/2 = 2]; im zweiten Ausdruck sind, wie auch in Abb.21, die 1s-Atomorbitale und die hieraus resultierenden Molekülorbitalenicht berücksichtigt.Auch dreiatomige Moleküle lassen sich unter Zuhilfenahme von MO-Diagrammen leicht erklären. Abb. 21a zeigt das MO-Diagramm desTriiodid-Ions (analog XeF2 bzw. HF2

-).

Abb. 21a: MO-Diagramm des Triiodid-Ionsxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Das O2-Molekül ist ein starkes Oxidationsmittel, das in verdünntemZustand (Luft) jedoch eine hohe Aktivierungsenergie aufweist.Im Gegensatz zu O2 liegen im dreiatomigen Ozonmolekül O3 (Sdp- -112°C, Schmp. -93 °C) keine ungepaarten Elektronen vor. Das Molekül lässtsich als Valenzstrichformel mit äquidistanten O-O-Bindungen nur unterAnwendung der Resonanz abbilden; für die Bindung resultiert hiermit BO= 1.5 und somit eine deutliche Schwächung gegenüber dem O2-Molekül.Entsprechend dem VSEPR-Konzept liegt eine gewinkelte Struktur vor.

O3

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E19 Einige Begriffe der Atombindung im Rückblick>An dieser Stelle seinen rückblickend nochmals einige Begriffe der Atom-bindung zusammengefasst:Resonanz meint die Beschreibung einer Elektronenverteilung durchGrenzformeln, die nicht gleiches Gewicht haben müssen. Sie werdendurch den Resonanzpfeil ↔ verbunden. Die Superposition ergibt den realen Zustand. In den Resonanzformeln müssen die Atome gleiche Lagenhaben (keine Änderung der Bindungslängen- und winkel).Partialladungen geben die Verteilung der Elektrischen Ladung innerhalbeiner Bindung in Folge der Elektronegativitätsdifferenz als real-physikalische Größe an. Hieraus resultiert ein Dipolmoment.Formalladungen beschreiben die Formale Ladungsverteilung einerResonanzstruktur. Zur Ermittlung werden die bindenden Elektronen einer

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Bindung auf die Bindungspartner zu gleichen Teilen aufgeteilt und sodanndie Elektronenbilanzen der Atome durch Vergleich mit dem freien Atomerstellt.Wertigkeit nannte man früher, unter Rückgriff auf die Mengenverhältnissebei der Ausbildung von Verbindungen (Gesetz der KonstantenProportionen) den Faktor, in dem sich eine bestimmte Atomsorte mitWasserstoff (Wertigkeit +1) bzw. Sauerstoff (Wertigkeit -2) verband.Heute wird dieser Begriff zur besseren Differenzierung durch diefolgenden ersetzt.Oxidationszahl meint in der Atombindung das Resultat der formalenSpaltung der Bindung gem. der Elektronegativität (in Ionenverbindungenentspricht sie der Ionenladung).Koordinationszahl eines Atoms nennt man die Zahl seiner nächstenNachbarn (der Begriff wird auch für Ionengitter verwendet).Bindigkeit bezeichnet die Anzahl der Atombindungen eines Atoms; siekann in einem Resonanzgleichgewicht für die einzelnen Resonanzformelnunterschiedlich ausfallen.Die Verdeutlichung der Begriffe an Beispielen ist sinnvoll.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Ozon bildet sich durch Einwirkung von Energie auf O2-Moleküle

O2 → 2 OO + O2 → O3

Dies geschieht in den oberen Schichten der Atmosphäre durchEinwirkung von UV-Strahlung. Die so gebildete Ozonschicht schützt dieErdoberfläche durch Absorption der „harten“ UV-Strahlung aus demWeltall; in neuerer Zeit wurde ein Abbau der Ozonschicht („Ozonloch“),möglicherweise unter Einwirkung der leicht flüchtigen Fluorchlorkohlen-wasserstoffe (FCKW, weit verbreitet als Kühl- und Treibmittel)beobachtet.In der organischen Synthese wird Ozon, in situ erzeugt durch Einwirkungeiner elektrischen Entladung auf O2, in hoher Verdünnung als selektivesOxidationsmittel verwendet.

11.2.2 Verbindungen mit WasserstoffSauerstoff bildet mit Wasserstoff zwei stabile Verbindungen

H2O WasserH2O2 Wasserstoffperoxid

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Wasser kommt in großen Mengen (s.o.) in der Natur in Form von Flüssen,Seen, Meeren, in der Atmosphäre sowie als Bestandteil der belebten Welt(der Mensch besteht zu ca. 60% aus Wasser) vor.Wasser bildet sich aus den Elementen in einer stark exothermen Reaktion(ΔH = -68 kcal/mol):

H2 + ½ O2 → H2O

Die hohe Bildungswärme wird zum autogenen Schweißen („DaniellscherHahn“, T ca. 2000 °C) sowie in Verbrennungsmotoren („Walther-Motoren“) verwendet. Zur Einleitung der Reaktion muß die stabile H-H-Bindung gespalten werden (hohe Aktivierungsenergie); anschließenderfolgt eine Radikalkettenreaktion („Knallgasreaktion“):

H2 → 2 H (Startreaktion)

H + O2 → OH + O (Kettenreaktion)OH + H2 → H2O + H

OH + H → H2O (Kettenabbruch)O + H2 → H2O

Im festen Zustand (Eis) liegen die Wassermoleküle, durchWasserstoffbrücken verknüpft, in einer große Hohlräume enthaltendenStruktur vor (Abb. 22).

Abb. 22: Die Kristallstruktur von Eis

Offensichtlich bricht die Struktur beim Schmelzen (0 °C) nur schrittweisezusammen, was die Anomalie des Wassers (größte Dichte bei 4 °C)erklärt; dieser Umstand ist für die Biologie (Zufrieren der Gewässer „vonoben“) essentiell. Auch jenseits des Siedepunktes (100 °C) werden in derGasphase zunächst Oligomere, (H2O)n (n = 3-8) und erst bei höherenTemperaturen isolierte monomere Moleküle beobachtet. In der belebtenNatur laufen sämtliche Reaktionen in kondensierter Phase in wäss.Lösungen ab. Das für die sehr guten Lösungseigenschaften des Wassersverantwortliche hohe Dipolmoment resultiert aus der gewinkelten Strukturdes Moleküls (H-O-H 104.4 °); die O-H-Bindungen werden entsprechenddem VSEPR-Konzept (vgl. E11) aus Sauerstofforbitalen mit hohem p-Anteil gebildet (p-Anteil sp3 = 75%, Bindungswinkel 109 °; p-Anteil p3 =100%, Bindungswinkel 90 °; vgl. Tab. 8).

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xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E20 Der pH-Wert>Wir haben zuvor (vgl. E7) gesehen, dass sich Säure/Base-Reaktionen nachBroenstedt in wäss. Lösung abspielen. Wir wollen nun den Säuregehaltsolcher Lösungen quantitativ betrachten.Wasser zeigt selbst in hochreiner Form eine geringe elektrische Leitfähig-keit, die auf das Vorliegen von Ionen gem. nachfolgender Gleichungzurückzuführen ist:

H2O + H2O <=> H3O+ + OH-

CH3O+ x COH

-

Kc = ───────CH2O

2

Da nur ein geringer Bruchteil der Wassermoleküle dissoziiert ist, gilt(Molgew. H2O = 18, cH2O in H2O = 55.5 mol/lit.)

CH2O2 x Kc = Kw

Kw = cH3O+ x cOH

- = 10-14

Dieser Ausdruck wird Ionenprodukt des Wassers genannt.Da cH3O

+ = cOH- gilt

CH3O+ = √10-14 = 10-7 mol/lit.

-log cH3O+ = pH

Der pH-Wert von reinem Wasser (Neutralwert) beträgt folglich 7Für saure Lösungen gilt pH < 7Für basische (alkalische) Lösungen gilt pH > 7Außerdem gilt

pH + pOH = 14

Die zuvor genannten Säure- und Basekonstanten (E7, Tabelle 6) erlaubennun die Berechnung von pH-Werten wäss. Lösungen.Für starke Säuren (pKS < 0) und Basen (pKb < 0) kann in verdünnterLösung (c < 10-1 mol/lit.) vollständige Dissoziation angenommen werden.Es gilt dann

cH3O+ = cHX bzw. cOH

- = cb

Für schwache Säuren HX gilt

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cH3O+ x cX

-

Ks’ = ───────

cHX x cH2O

Bei den Konzentrationen c handelt es sich um die Gleichgewichts-konzentrationen.In verdünnter wäss. Lösung gelten folgende Vereinfachungen:CH2O = const. (55.5 mol/lit.); Ks = Ks’ x const.CHX = Gesamtmenge HXCH3O

+ = cX-

Hieraus folgt

CH3O+ = √Ks x cHX; pH = -log cH3O

+

Analog gilt für die Berechnung des pH-Werts schwacher Basen

COH- = √Kb x cB; pOH = -logcOH

-, pH = pOH – 14

Salze schwacher Säuren HX bzw. Basen B verhalten sich in wäss.Lösung nicht neutral. Es gilt

X- + H2O <=> HX + OH-

HB+ + H2O <=> B + H3O+

Die Anionen schwacher Säuren (korrespondierende Basen) reagieren inwäss. Lösung folglich basich, die Kationen schwacher Basen (korres-pondierende Säuren) hingegen sauer. Dieses Verhalten wird als Hydrolysebezeichnet. Für die Berechnung der pH-Werte gilt (am Beispiel des Salzeseiner schwachen Säure HX, KB’ sei die Basekonstante der zu HXkorrespondierenden Base):

cH3O+ x cX

-

KS’ = ────── KS = KS’ x cH2OCHX x cH2O

cHX x cOH-

KB’ = ────── KB = KB’ x cH2O

cX- x cH2O

cH3O+ x cX

- x cHX x cOH-

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KS x KB = ───────────── = Kw = 10-14

CHX x cX-

pKS + pKB = 14; pKB = 14 – pKS

Für den pH-Wert des Salzes gilt unter Berücksichtigung der zuvorgenannten Näherungen:

cOH- = √KB x cX

-; -log cOH- = pOH; pH = 14 - pOH

Ein weiterer wichtiger Begriff im Bereich des pH-Werts ist der desPuffers.Mischt man verdünnte wäss. Lösungen schwacher Säuren mit denen ihrerSalze, d.h. ihrer korrespondierenden Basen, so gilt:

HX + H2O <=> X- + H3O+

X- + H2O <=> HX + OH -

Das Gleichgewicht beider Gleichungen liegt infolge des geringenDissoziationsgrades auf der Seite der Edukte. Externe Säuren oder Basenwerden bis zum vollständigen Verbrauch von X- bzw. HX unterVerschiebung der Gleichgewichte neutralisiert; der pH-Wert der Lösungbleibt hierbei weitgehend konstant. Puffer dienen somit der Abschirmungdes pH-Wertes wäss. Lösungen gegenüber externen Säuren und Basen; siesind in der Biochemie von essentieller Bedeutung.Für den pH-Wert eines Puffers am Beispiel einer schwachen Säure giltunter Berücksichtigung der zuvor genannten Näherungen:

CH3O x cX- KS x cHX

KS = ───── ; cH3O+ = ─────

cHX cX-

cHX und cX- stellen unter Berücksichtigung der zuvor genannten

Näherungen die Gesamtmengen der eingesetzten Säure bzw. ihres Salzesdar. Sind beide Mengen bzw. Konzentrationen gleich, ergibt sich:

cH3O+ = KS; pH = pKS

Dieser Zusammenhang eignet sich zur Bestimmung der pKS-Werte.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

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Im Wasserstoffperoxid, H2O2, sind die Sauerstoffatome durch eineEinfachbindung zusammengehalten; die Sauerstoffatome weisen hier diefür Peroxoverbindungen charakteristische Oxidationszahl -I auf. Diegegenüber dem O2-Molekül (BO = 2) leichter zu spaltende O-O-Bindungführt zu einer drastisch erhöhten Reaktivität und macht diese Verbindungzu einer wichtigen Industriechemikalie. In reinem, d.h. unverdünntenZustand ist es explosiv, im Handel befindlich sind 30%-ige wäss.Lösungen („Perhydrol“).H2O2 wird technisch u.a. durch Hydrolyse von elektrochemisch erzeugterPeroxodischwefelsäure (Kap. 11.3.6) gewonnen. Die Verbindung ist heuteAusgangsmittel aller anorganischer und organischer Peroxo-Verbindungen (Verwendung z.B. als Bleichmittel in Waschmitteln).

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E21 Das Redox-Potential>Wir haben Redoxreaktionen (E14) als Konkurrenzreaktionen umElektronen kennengelernt. Ähnlich wie die Säure/Basestärke von Säurenund Basen lässt sich die Oxidations/Reduktionskraft von Verbindungen inwäss. Lösung als stoffspezifische Konstante verstehen. Die korrekteAbleitung erfordert die thermodynamische Behandlung des chemischenGleichgewichts und soll hier nicht weiter besprochen werden.Das Elektrochemische Potential [V] einer Teilreaktion, in der die oxidierteForm einer Verbindung bzw. Atomsorte (Ox) im Gleichgewicht mit derreduzierten Form (Red) steht,

Ox + n e- <=> Red

wird durch die Nernst’sche Gleichung beschrieben:

0.059 coxE’ = Eo + ─── log ──

n cRed

Ox/Red wird als Redoxpaar bezeichnet. In der Gleichung bedeutet Eo dassog. Standardpotential, eine für das Redoxpaar (cOx = cRed)charakteristische Stoffkonstante (s.u.); das reale Potential E wird durcheinen Konzentrationsterm beeinflusst. Die vollständige Redoxreaktionsetzt sich aus zwei Redoxpaaren zusammen.

Ox1 + Red1 <=> Ox2 + Red2

Wir wollen den Vorgang am Beispiel der Reaktion

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Cu2+ + Zn <=> Cu + Zn2+

näher betrachten. Die Potentiale beider Teilreaktionen (Redoxpaare)

Cu2+ + 2 e- <=> CuZn <=> Zn2+ + 2 e-

lassen sich in Kenntnis der Standardpotentiale Eo(Cu) und Eo

(Zn) sowie derKonzentrationen der gelösten Ionen errechnen. Bei heterogenenReaktionen (die Metalle weisen in Wasser eine geringe, konstanteLöslichkeit als Metallatome auf) sind die Werte cRed in den Standard-potentialen enthalten.

0.059E = E’ x cRed = E° + ──── x log cOx

n

Taucht man einen Zinkstab in eine Cu2+-Salzlösung, so beobachtet mandie Abscheidung von metallischem Kupfer; zugleich geht Zink in Formvon Zn2+ in Lösung. Hingegen wird beim Eintauchen eines Kupferstabesin eine Zn2+-Salzlösung keine Reaktion beobachtet. Ersichtlich ist Cu2+

das stärkste Oxidationsmittel und Zn das stärkste Reduktionsmittel. EinVergleich der Standardpotentiale (Zn/Zn2+ -0.76, Cu/Cu2+ +0.34 V) zeigt,dass negative Standardpotentiale reduzierenden (d.h. „unedlen“) Metallenzuzuordnen sind (die Konvention des Vorzeichens ergibt sich aus demthermodynamischen Zusammenhang, der hier außer Acht bleiben soll).Taucht man einen Kupferstab in eine Kupfersalzlösung sowie einenZinkstab in eine Zinksalzlösung, so ergeben sich zwei sog.„Halbelemente“, die eine Potentialdifferenz gem. der Nernst’schenGleichung aufweisen. Bei Verbindung der Stäbe mit einem Leiter fließt,entsprechend der Potentialdifferenz (Spannung) ein Strom, wobei dasunedlere Metall Zink in Lösung geht, dass edlere Metall Kupfer sich ausder Lösung abscheidet (Abb. 23).

Abb. 23: Das Daniell-Element

Mit dem Transport der Elektronen durch den Leiter muß zugleich, zumLadungsausgleich, eine gegenläufig gerichtete Wanderung der Anionen inLösung erfolgen.Eine solche Anordnung bezeichnet man als Galvanisches Element. Diehierdurch erzeugte Spannung errechnet sich aus der Potentialsumme (die

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Normalpotentiale sind als Reduktionspotentiale aufzufassen) der Halb-elemente. Da an einem der Halbelemente ein Oxidationsprozeß abläuft, istdort das Vorzeichen zu wechseln; tatsächlich ergibt sich die Spannung desElements also aus der Differenz der Reduktionspotentiale. Für das Fe/Zn-Element (Daniell-Element) ergibt sich somit

0.059EZn/Zn

2+ = EoZn/Zn

2+ + ─── log cZn2+

2

0.059ECu/Cu

2+ = EoCu/Cu

2+ + ─── log cCu2+

2

Die durch das Element erzeugte Spannung beträgt somit

0.059 cCu/Cu2+

|ΔE| = ECu/Cu2+ - Eo

Zn/Zn2+ + ─── log ───

2 cZn/Zn2+

Bei gleicher Konzentration der Ionen (cCu/Cu2+ = cZn/Zn

2+) ergibt sich

|ΔE| = ECu/Cu2+ - Eo

Zn/Zn2+ = 1.1 V

Die Normalpotentiale der chemischen Redoxpaare sind in der sog. Elektr-ochemischen Spannungsreihe (Tab. 11) aufgeführt.

Tab. 11: Die Elektrochemische Spannungsreihe (Ausschnitt)

Die Werte beziehen sich auf die willkürlich als Referenzelektrodegewählte Standardwasserstoffelektrode (Eo = 0 V), bei der ein Platinblech,eintauchend in eine wäss. Lösung des pH-Wertes 0 (cH3O

+ = 1), vonWasserstoff des Drucks 1 bar umspült wird (EH2/H3O

+ = EoH2/H3O

+,heterogener Reaktionsverlauf). Dem Halbelement liegt folgenderReaktionsverlauf zu Grunde:

H2 + 2 H2O <=> 2 H3O+ + 2 e-

Hieraus lässt sich das Potential (auch Elektromotorische Kraft genannt)des neutralen Wassers (Eo = 0 V, cH3O

+ = 10-7 mol/lit.) errechnen:

0.059

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E = 0 + ─── log (10-7)2 = -0.41 V2

Dies bedeutet, dass sich alle Metalle mit Eo < -0.41 V in Wasser lösensollten. In der Praxis (z.B. bei Mg, Al) wird dies vielfach durch sog.Passivierung, d.h. durch Bildung einer schützenden Oxidschicht auf derMetalloberfläche, verhindert.Die Standardpotentiale der Redoxpaare, obwohl für elektrochemischeReaktionsführung normiert, geben wichtige Hinweise zum chemischenVerhalten von redoxaktiven Substanzen in chemischen Reaktionen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

11.2.3 Verbindungen mit EdelgasenWir hatten gesehen, dass nur das schwerste Edelgas Xenon in der Lageist, mit dem Halogen höchster Elektronegativität, dem Fluor, stabileVerbindungen zu bilden.Tatsächlich ist bereits Sauerstoff, das Element mit nach Fluor derhöchsten Elektronegativität, nicht mehr in der Lage, selbst unter extremenBedingungen (Druck, Temperatur) mit Xenon zu reagieren. Jedoch läßtsich das Oxid XeO3 durch gezielte Hydrolyse des Fluorids isolieren:

XeF6 + 3 H2O → XeO3 + 6 HF

Verbindungen des achtwertigen Xenons werden durchDisproportionierung (E22) der Xenate+VI erhalten. Im Gegensatz zu denstabilen Perxenaten+VIII ist das hieraus zugängliche XeO4 extrem explosiv.

XeO3 + H2O → H2XeO4H2XeO4 + Ba(OH)2 → BaXeO4 + 2 H2O2 BaXe+VIO4 → Ba2Xe+VIIIO6 + Xeo + O2Ba2XeO6 + 2 H2SO4 → XeO4 + 2 BaSO4

Perxenate sind sehr starke Oxidationsmittel (Eo = +2.36 V).

XeO3XeO4XeO4

2-

XeO64-

XeO3 und XeO4 sind molekular (KZ Xe = 3, 4) aufgebaut; in den Xenatenund Perxenaten (KZ 4, 6) bewirkt die Erhöhung der Koordinationszahl

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durch die hiermit verbundene Abschirmung eine Stabilisierung derKomplexanionen.

11.2.4 Verbindungen mit HalogenenDie isolierbaren binären, d.h. nur aus zwei Atomsorten bestehendenVerbindungen des Sauerstoffs mit Fluor, Chlor und Brom sind wegen dergeringen Elektronegativitätsdifferenz sämtlich molekular aufgebaut (beiNormalbedingungen gasförmig) und wenig stabil. Gut untersuchteVerbindungen sind

OF2Cl2OClO2Cl2O7

In OF2 liegt Sauerstoff der Oxidationszahl +II vor. In allen anderenVerbindungen weisen die Halogene positive Oxidationszahlen auf.ClO2 bildet ein stabiles Radikal; die Dimerisierung unterbleibt wegen derdurch die hohe Elektronegativität der beteiligten Atomsorten geringenOrbitalenergie (Ionisierungspotential) des ungepaarten Elektrons. Die zurEntkeimung (Trinkwasser) und als Bleichmittel verwendete Verbindungwird trotz ihrer Brisanz (in reiner Form explosiv), verdünnt mitSauerstoff, technisch hergestellt

2 NaClO3 + SO2 + H2SO4 → 2 ClO2 + 2 NaHSO4

Cl2O und Cl2O7 sind Anhydride (E23) der ensprechendenChlorsauerstoffsäuren (Kap. 11.2.5). Die weniger wichtigen Bromoxidesollen hier nicht besprochen werden.Auf Grund seiner höheren Polarität liegt I2O5 bei Normalbedingungen alsmolekular gebauter Feststoff vor und ist von deutlich höherer Stabilität(allerdings gleichfalls ein kräftiges Oxidationsmittel).

I2O5

Es wird als Anhydrid durch Entwässern der Iodsäure bei 200 °Cgewonnen.

2 HIO3 → I2O5 + H2O

11.2.5 Halogensauerstoffsäuren

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Die instabile Unterfluorige Säure HOF, erst in neuerer Zeit dargestellt,enthält Sauerstoff der Oxidationszahl 0 und soll hier nicht weiterbesprochen werden.Chlor, Brom und Iod (E) bilden Sauerstoffsäuren HEOn (n = 1 bis 4; dievollständige Reihe ist nur für E = Cl bekannt), bei denen an das zentraleHalogenatom 1,2,3 oder 4 Sauerstoffatome gebunden sind. EinSauerstoffatom trägt dabei noch ein Wasserstoffatom, das leicht an eineBase abgegeben werden kann. Wir wollen diese Substanzklasse amBeispiel der Chlorverbindungen näher betrachten.

HCl+IO Unterchlorige Säure („Hypochlorige S.“)HCl+IIIO2 Chlorige SäureHCl+VO3 ChlorsäureHCl+VIIO4 Perchlorsäure

Die Bindungen kann man als polare Atombindungen ansehen. Hierbeinehmen die 4 sp3-Hybridorbitale des zentralen Chloratoms die nicht-bindenden Elektronenpaare sowie die zur Ausbildung der σ-Bindungenverwendeten Elektronenpaare auf; dies führt zu einer verzerrt-tetra-edrischen Umgebung der Chloratome. Das Resonanzgleichgewicht der π-Bindungen liegt wegen der energetisch ungünstigen Lage der d-Orbitaledes Chloratoms weitgehend auf der Seite der polaren Grenzstruktur.

Cl = O ↔ Cl+- O-

Die Säurestärke steigt in der o.gen. Reihe an, da die Sauerstoff-substituenten die OH-Bindung mit steigender Zahl zusätzlich polarisieren.Perchlorsäure ist die derzeit stärkste Broenstedt-Säure (pKS = -10).In wasserfreiem Zustand ist nur die Perchlorsäure bekannt; die anderenSäuren, sämtlich durch Umsetzung ihrer Salze mit Schwefelsäure alswäss. Lösungen erhältlich, zersetzen sich beim Versuch der Isolierung.Das beständige Natriumsalz der Hypochlorigen Säure (Natriumhypo-chlorit) wird durch Umsetzung von Chlor mit Natronlauge erhalten. Eslässt sich thermisch zu Natriumchlorat (NaClO3) disproportionieren. Dietechnische Synthese von Natriumperchlorat (NaClO4) erfolgt elektro-chemisch durch anodische Oxidation von Natriumchlorat:

Cl2 + 2 NaOH → NaCl + NaOCl + H2O3 NaClO → NaClO3 + 2 NaClClO3

- + 3 H2O → ClO4- + 2 H3O+ + 2 e-

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Die wasserfreie Perchlorsäure wird durch Umsetzung ihrer Salze mitSchwefelsäure und nachfolgende Destillation im Vakuum (Kp 120 °C)erhalten.

NaClO4 + H2SO4 → HClO4 + NaHSO4

Sämtliche Chlorsauerstoffsäuren und ihre Salze sind starke Oxidations-mittel. Wasserfreie Perchlorsäure explodiert mit brennbaren Substanzen.Natriumhypochlorit wird als Bleichmittel verwendet; ein wichtigestechnisches Produkt ist das aus Kalkmilch (s.u.) und Cl2 zugänglicheCa(OCl)Cl (Chlorkalk). Natriumchlorat und Natriumperchlorat sind alsOxidationsmittel z.B. in Zündholzköpfen und Feuerwerkskörpernenthalten.Die Sauerstoffsäuren des Broms sollen hier nicht näher besprochenwerden. HBrO4 und ihre Salze gehören zu den stärksten Oxidationsmitteln(Radienkontraktion der Elemente Ga-Kr durch zuvor beim Aufbau derElemente erfolgte Besetzung der 3d-Orbitale).Die entsprechenden Sauerstoffsäuren des Iods, HIO3 und HIO4, sindgleichfalls starke Oxidationsmittel, reagieren jedoch schwächer sauer.Iodsäure lässt sich durch direkte Oxidation von Iod erhalten, Periodsäurewird analog der Perchlorsäure hergestellt.

I2 + 6 H2O + 5 Cl2 → 2 HIO3 + 10 HClIO3

- + 3 H2O → IO4- + 2 H3O

+ + 2 e-

Die Säuren und ihre Alkalimetallsalze bilden stabile Feststoffe. Bedingtdurch den gegenüber Chlor größeren Atomradius von Iod bevorzugt dasZentralelement in der Periodsäure und ihren Salzen die KZ 6 (Oktaeder),die durch Ausbildung von Polymeren erreicht wird. Das gleiche Resultatwird erreicht durch Addition von zwei Äquivalenten Wasser; die hierbeientstandene ortho-Periodsäure H5IO6 wie auch ihr Anion sind ausmonomeren IO6-Oktaedern aufgebaut.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E22 Komproportionierung und Disproportionierung>Bei der Betrachtung der Chlorsauerstoffsäuren haben wir gesehen, dassinsbesondere bei thermischer Belastung Elemente oder Verbindungen inKomponenten unterschiedlicher Oxidationszahlen überführt werden; dieseliegen dann oberhalb und unterhalb der des Edukts. Eine solche Reaktionbezeichnet man als Disproportionierung.Auch der hierzu inverse Vorgang ist bekannt, wenn bei Redoxreaktionenzwei Komponenten der gleichen Atomsorte, aber verschiedenerOxidationszahl, zu einem Produkt dieser Atomsorte reagieren. Redox-

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reaktionen diesen Typs bezeichnet man als Komproportionierung oderSynproportionierung. Die Oxidationszahl des Elements im Produkt mußdann folglich zwischen denen der Edukte liegen. Der Vorteil solcherReaktionen liegt, vor allem im Bereich der Metallchemie, im Auftretennur eines Produkts, so dass im Falle vollständig verlaufender Reaktionenkeine Trennprobleme anfallen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E23 Anhydride und Säurehalogenide>Wir haben bereits mehrfach gesehen, dass Verbindungen der Nichtmetalleunter Abspaltung von einem Äquivalent Wasser zu Derivaten, meistOxiden, reagieren können. Umgekehrt neben viele NichtmetalloxideWasser auf unter Bildung von Sauerstoffsäuren. Da hierbei dieOxidationszahl des Zentralelements nicht wechselt, handelt es sich nichtum Redoxreaktionen, auch nicht um Säure/Base-Reaktionen im Sinne derBroenstedt-Definition. Die durch Wasserabspaltung aus den Sauerstoff-säuren erhaltenen Oxide bezeichnet man als deren Anhydride.Verbindungen, in denen die azide OH-Gruppe gegen ein Halogenatomersetzt ist, bezeichnet man als Säurehalogenide. Sie reagieren mit Wasserunter Abspaltung von Halogenwasserstoff (meist HCl) zu denzugehörigen Säuren.Nachfolgend sind einige Beispiele aufgeführt, die z.T. später ausführlicherbesprochen werden (Tab. 12):

Tab. 12: Sauerstoffsäuren und ihre Anhydride bzw. Säurechloride

Nicht alle Anhydride bzw. Säurechloride reagieren mit Wasser zurgenannten Säure (z.B. Kohlensäure, Kieselsäure, Schweflige Säure).Jedoch bilden sich in allen Fällen bei Verwendung von Basen (z.B.NaOH) die Metallsalze der Säuren.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

11.2.6 Verbindungen mit AlkalimetallenSauerstoff reagiert mit Alkalimetallen spontan zu Metalloxiden derZusammensetzung M2O, M2O2 und MO2.

4 M + O2 → 2 M2O (M = Li, Lithiumoxid)2 M + O2 → M2O2 (M = Na, Natriumperoxid)M + O2 → MO2 (M = K,Rb,Cs, Metallhyperoxid)

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Als Ursache für die Bildung unterschiedlicher Produkte wird die für denAufbau stabiler Gitter (Gitterenergie) vergleichbare Ionengröße ange-nommen.Die Oxide der schwereren Alkalimetalle sind durch thermischeZersetzung der Carbonate oder Hydroxide (Kap. 11.2.7) zugänglich,

M2CO3 → M2O + CO22 M(OH) <=> M2O + H2O

zu denen sie mit Wasser als starke Basen reagieren. Die Hydrolyse derPeroxide und Hyperoxide führt zur Bildung von H2O2; beideVerbindungsklassen sind starke Oxidationsmittel.

M2O2 + 2 H2O → 2 M(OH) + H2O22 MO2 + 2 H2O → 2 M(OH) + H2O2 + O2

Sämtliche Verbindungen bilden Salze, in denen neben den Kationen M+

die Anionen O2- (Oxidationszahl –II), O22- (Oxidationszahl –I) und O2

-

(Oxidationszahl -0.5) vorliegen. Der Aufbau der zweiatomigen Anionenlässt sich aus dem MO-Schema des O2-Moleküls (vgl. Abb. 21) herleiten,wobei im Falle von O2

- 1 Elektron (Bindungsordnung 1.5,paramagnetisch), im Falle von O2

2- 2 Elektronen (Bindungsordnung 1,diamagnetisch) in das tiefstliegende antibindende Molekülorbitaleingefügt werden. O2

2- hat folglich die gleiche Elektronenstruktur wie dasF2-Molekül; man sagt es ist hierzu isoelektronisch (vgl. E31).Die Struktur des Salzes Li2O lässt sich aus der zuvor besprochenenKubisch Dichtesten Kugelpackung der Anionen herleiten; hierin besetzendie Kationen sämtliche Tetraederlücken (KZ 4 für Li, KZ 8 für O).Die aus den Carbonaten in großem Umfang in situ erzeugten Oxidespielen eine wichtige Rolle bei der Glasherstellung (vgl. E34).

11.2.7 AlkalimetallhydroxydeDie zuvor bereits genannten Alkalimetallhydroxide sind sämtlich sehr gutin Wasser löslich (stark exotherme Reaktion!). Sie ziehen im festenZustand aus der Luft Wasser an (diese Eigenschaft nennt manhygroskopisch) und kommen deshalb nicht in der Natur vor. Die als starkeBasen in großem Umfang technisch hergestellten Hydroxide NaOH undKOH erhält man tatsächlich durch Reaktion der Metalle mit Wasser.

2 M + 2 H2O → 2 M(OH) + H2

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Hierbei werden die Metalle auf elektrochemischem Wege (Elektrolyse) insitu aus den wäss. Lösungen der Metallchloride erhalten (Chloralkali-Elektrolyse),

M+ + e- → M (Kathode)Cl- → ½ Cl2 (Anode)

so dass sich als Nebenprodukte zugleich in großen Mengen Wasserstoffund Chlor bilden. Zur Vermeidung der Reaktion von OH- mit Cl2

2 OH- + Cl2 → Cl- + OCl- + H2O

müssen die Elektrodenräume durch eine Membran getrennt werden (Abb.24).

Abb. 24: Die Chloralkalielektrolyse

Auch die Alkalimetallhydroxide kristallisieren als Salze; hierin sind dieHydroxid-Ionen untereinander durch Wasserstoffbrücken-Bindungenverknüpft.

11.3 Schwefel, Selen, TellurGegenüber dem häufigen und wichtigen Element Schwefel sind seineschwereren Gruppennachbarn von untergeordneter Bedeutung und zudemdem Schwefel ähnlich; ihre Chemie soll deshalb nur zur Kennzeichnungvon Unterschieden erwähnt werden.Schwefel kommt in der Natur in großem Umfang elementar (als S8) sowiein Form von Metallsulfaten (CaSO4) und Metallsulfiden (FeS) vor. Selenund Tellur treten hierin in sehr geringem Umfang als Verunreinigungen,viel seltener in Form reiner Mineralien, auf.

11.3.1 Die ElementeIm Gegensatz zu seinem leichteren Gruppennachbarn ist beim Schwefeldas zweiatomige Molekül S2 nur bei hohen Temperaturen in der Gasphaseexistent. Bei Normalbedingungen liegt Schwefel in fester Form alsringförmiges S8-Molekül vor (Abb. 25).

Abb. 25: Formen des elementaren Schwefels

In der Schmelze (Schmp. 120 °C) und in der Gasphase (Sdp. 445 °C)lassen sich weitere Moleküle Sn nachweisen, von denen einige (n z.B.6,7,10,12,18) auch in reiner Form strukturanalytisch charakterisiertwurden. Die sämtlich gleichfalls als Ringe vorliegenden Moleküle

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wandeln sich unter dem Einfluß von Wärme und Licht rasch in S8-Moleküle um.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E24 Die Doppelbindungsregel>Der der trotz gleicher Gruppenzugehörigkeit (nlx) unterschiedlicheAufbau der Elemente Sauerstoff und Schwefel ist auffällig und bedarfeiner Begründung.Wir hatten zuvor gesehen (E17), dass im Bereich der AtombindungMehrfachbindungen (BO > 1) aus σ- und π-Bindungen zusammengesetztsind. Hierbei findet die Bindungsstärke im „Überlappungsintegral“ derAtomorbitale ihren Niederschlag.Es ist leicht einzusehen, dass bei steigendem Atomradius die Über-lappungsintegrale der π-Bindungen rasch abnehmen und somit die Mehr-fachbindungen gegenüber der Summe der Einfachbindungen instabilerwerden (Abb. 26).

Abb. 26: Schematische Darstellung der Überlappungsintegralefür O2 und S2

Aus diesem Grunde lagern sich Moleküle der schwereren Hauptgruppen-elemente (n > 2), in denen die Atome durch Mehrfachbindungenzusammengehalten werden, in Oligomere oder Polymere, die nur Einfach-bindungen enthalten, um. Diesen Vorgang nennt man Oligomerisationoder Polymerisation (vgl. hierzu Kap. 19.5.1.1), z.B.

4 S2 → S8

Neben π-Bindungen unter Beteiligung von p-Orbitalen der Atome, sog.(p→p)π-Bindungen sind auch solche, in denen besetzte p-Orbitale (nicht-bindende Elektronenpaare) mit unbesetzten d-Orbitalen in Wechsel-wirkung treten, bekannt. Diese (p→d)π-Bindungen genannten Bindungentreten häufig bindungsverstärkend als Resonanz auf und spielen beispiels-weise bei der Stabilisierung der S-S-Bindung in S8 eine wichtige Rolle.

-S-S- ↔ -S=S-

Die relative Schwäche der O-O-Bindung im Peroxid-Fragment O2 (z.B. inH2O2) resultiert aus dem Ausbleiben dieser Bindungsverstärkung durchdas Fehlen der 2d-Orbitale.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

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Kann die S-S-Einfachbindung in elementarem Schwefel durch (p→p)π-Wechselwirkungen noch effektiv stabilisiert werden, so tritt dieser Effektbei den schwereren Gruppennachbaren infolge des wachsenden Atom-radius zurück. Hier werden bevorzugt Polymere Se∞und Te∞gebildet, indenen die (p→p)π-Wechselwirkungen im festen Zustand durch solchezwischen Atomen verschiedener, eng beieinander liegender Ketten, ersetztwerden (Abb. 27). Das Element Polonium liegt bereits als Metall vor.

Abb. 27: Formen des elementaren Selens

Schwefel wird in großem Umfang in der Anorganischen und OrganischenSynthesechemie eingesetzt. Im Vordergrund stehen die Produktion vonSchwefelsäure (Kap. 11.3.6), S2Cl2 (Kap. 11.3.3) und schwefelhaltigenorganischen Verbindungen. Der hierzu benötigte Schwefel wir im sog.Frasch-Verfahren aus elementaren Lagern als Schmelze (Abb. 27a) oderaus H2S im sog. Claus-Prozeß gewonnen.

Abb. 27a: Das Frasch-Verfahren

2 H2S + 3 O2 → 2 SO2 + 2 H2O2 H2S + SO2 → 3 S + 2 H2O

11.3.2 Verbindungen mit WasserstoffDie dem Wasser analogen Verbindungen H2E (E = S,Se,Te) bilden hierzuanalog dreiatomige, gewinkelt gebaute Moleküle (Sulfane, Selane,Tellane), in denen die Chalkogenatome die Oxidationszahl –II aufweisen.

H2E

Auf Grund des geringeren Dipolmoments weisen sie wesentlichschwächere intermolekulare Wechselwirkungen (Wasserstoffbrücken-Bindungen) und somit niedrigere Siedepunkte auf; sie bilden sämtlich beiRaumtemperatur giftige, übelriechende Gase.Der steigende Atomradius der Chalkogenatome führt in der Bindungs-bildung mit den Wasserstoffatomen zu geringeren Überlappungs-integralen und somit zu schwächeren Bindungen. Hiermit in Zusammen-hang steht, analog zur Situation der Halogenwasserstoffe HX (X =F,Cl,Br,I), eine Zunahme der Säurestärke [pKS 10-16 (O), 10-7 (S), 10-4

(Se), 10-3 (Te)] und Abnahme der chemischen Stabilität für H2E beimÜbergang zu den schwereren Halogenatomen; H2Te zerfällt bereits beiRaumtemperatur in die Elemente.

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Die Darstellung der Verbindungen erfolgt am besten durch Umsetzungder aus den Elementen leicht zugänglichen Metallchalkogenide (Kap.11.3.4) mit Säuren.

Na2E + 2 HCl → H2E + 2 NaCl (E = S,Se,Te)

Anders als bei Se und Te bildet H2S das Anfangsglied einer homologenReihe H2Sn (n = 2-20, Polysulfane) als Folge der für S8 zuvor genannten(p→d)π-Bindungsverstärkung. Auch diese Verbindungen lassen sichdurch eine Säure/Base-Reaktion aus ihren Salzen gewinnen.

Na2Sn + 2 HCl → H2Sn + 2 NaCl

Hierin weist der Schwefel negative, gebrochene Oxidationszahlen (-I bis0) auf. H2S2 ist ähnlich gebaut wie H2O2, zeigt jedoch wegen der höherenStabilität der S-S-Bindung keine oxidierenden Eigenschaften.

11.3.3 Verbindungen mit HalogenenSämtliche Halogenide der Chalkogene sind infolge der geringenElektronegativitätsdifferenz molekular aufgebaut.Mit Fluor bildet Schwefel die Verbindungen,

SF2S2F2SF4S2F10SF6

die sämtlich bei Raumtemperatur gasförmig sind und aus isoliertenMolekülen bestehen. Ihre Struktur lässt sich nach dem VSEPR-Konzeptkorrekt vorhersagen.Die wichtigen Verbindungen SF4 und SF6 werden technisch aus denElementen erhalten; im Labor kann SF4 durch Disproportionierungdargestellt werden.

S + 2 F2 → SF4S + 3 F2 → SF63 SCl2 + 4 NaF → SF4 + S2Cl2 + 4 NaF

Das wegen der hohen sterischen Abschirmung des Schwefelzentrums unddes ausgeprägten (p→d)π-Bindungsanteils der S-F-Bindungen unge-wöhnlich stabile SF6 (keine Reaktion mit 500 °C heißem Wasserdampf

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oder mit geschmolzenem Natrium) findet wegen der hohen Di-elektrizitätskonstante Verwendung als Isoliergas in Hochspannungs-anlagen. SF4 ist ein wichtiges Fluorierungsmittel in der organischenSynthesechemie

R2C=O + SF4 → R2CF2 + S(O)F2

Schwefelchloride bilden übelriechende Flüssigheiten. Sie können aus denElementen erhalten werden

n S + Cl2 → SnCl2

und zersetzen sich langsam unter Bildung des stabilen S2Cl2, das alsVulkanisierungsmittel in der Gummiindustrie umfangreiche Versendungfindet.

2 SCl2 → S2Cl2 + Cl2SnCl2 → S2Cl2 + (n-2) S

SCl4 ist nur bei tiefen Temperaturen stabil; hingegen kennt man diestabilen Salze des Kations [SCl3]

+.Als einzige binäre Verbindung des Schwefels mit Brom ist das aus denElementen zugängliche sehr labile S2Br2 beschrieben worden. Stabilebinäre Verbindungen des Schwefels mit Iod sind nicht bekannt.Bei Selen und Tellur dominiert die Chemie der stabilen TetrahalogenideEX4 (E = Se,Te; X = Cl, Br,I), jedoch sind auch E2Cl2 und TeF6 bekannt.

11.3.4 Verbindungen mit den AlkalimetallenAlle Alkalimetall-Chalkogenide M2X (M = Alkalimetall, X = S,Se,Te)liegen im festen Zustand in Form von Ionengittern vor. Die aus denElementen leicht zugänglichen Salze

2 M + X → M2X

reagieren infolge der hohen Basizität der Anionen rasch mit Wasser.

M2X + 2 H2O → 2 M(OH) + H2X

Auch Chalkogen-reichere Salze M2Xn sind, insbesondere von Schwefel,bekannt.

11.3.5 Verbindungen mit Sauerstoff

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Schwefel bildet mit Sauerstoff zwei stabile Oxide,

SO2SO3

die aus den Elementen zugänglich und molekular aufgebaut sind. DieBildung von SO2, einem farblosen, stechend riechenden Gas (Sdp. -10°C), ist Grundlage technischer Prozesse, erfolgt aber auch unerwünscht ingroßem Umfang bei der Verbrennung schwefelhaltiger fossilerBrennstoffe (z.B. in Kraftwerken, Heizungen und Verbrennungsmotoren).

S + 2 O2 → SO2

Auch beim „Rösten“ von sulfidischen Metallerzen werden große Mengenan SO2 freigesetzt.

4 FeS + 7 O2 → 4 SO2 + 2 Fe2O3

SO2 löst sich gut in Wasser; die Lösungen enthalten jedoch nur ingeringen Mengen die instabile „Schweflige Säure“.

Die Oxidation von SO2 zu SO3 ist thermodynamisch möglich, bedarfjedoch wegen der kinetischen Hemmung eines Katalysators.

2 SO2 + O2 → 2 SO3; ΔH = -23.5 kcal/mol

Einzelheiten zu diesem technisch hochbedeutenden Vorgang sollen imnachfolgenden Kapitel besprochen werden.SO3 bildet im Gaszustand (Sdp. 44 °C) monomere Moleküle; im festenZustand existieren eine trimere sowie eine polymere Form (Abb. 28).

Abb. 28: Oligomere Formen des Schwefeltrioxids

Mit Wasser reagiert SO3 in einer stark exothermen Reaktion zu Schwefel-säure.

SO3 + H2O → H2SO4

Die Oxide des Selens und Tellurs sind formal analog zusammengesetzt.SeO2 und die stark oxidierend wirkenden SeO3 und TeO3 besitzen einenpolymeren Aufbau. TeO2 kristallisiert in einem Ionengitter.

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11.3.6 Chalkogensauerstoffsäuren und SäurechlorideZahlreiche Verbindungen der allgemeinen Zusammensetzung H2SnOx

werden in der Literatur erwähnt (Tab. 13); die meisten sind jedoch nur inverd. wäss. Lösung oder in Form ihrer Metallsalze bekannt. Verbindungenmit ungeraden Oxidationszahlen des Schwefels enthalten eine S-S-Bindung. Wir wollen uns auf die Besprechung wichtiger Verbindungenbeschränken.

Tab. 13: Sauerstoffsäuren des Schwefels

Schwefelsäure (H2SO4, Sdp. 338 °C, Schmp. 10 °C) wird in großemUmfang technisch durch Umsetzung von SO3 mit Wasser hergestellt undgehört zu den wichtigsten Industriechemikalien überhaupt.

H2SO4

Wie bereits erwähnt, reagiert SO2 mit Luftsauerstoff nicht spontan zu SO3,so dass zur Durchführung ein zusätzliches Hilfsmittel, hier V2O5,verwendet wird. Hieraus ergibt sich folgender Reaktionsverlauf:

2 S+IVO2 + 2 V+V2O5 +→ 2 S+VI O3 + 4 V+IVO2

4 V+IVO2 + O2 → 2 V+V2O5

_____________________________________2 SO2 + O2 → 2 SO3

SO3 + H2O → H2SO4

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E25 Katalyse I>Wie aus der vorstehenden Gleichung ersichtlich wird, liegt der dieOxidation von SO2 zu SO3 bewirkende Stoff V2O5 nach Abschluß derReaktionsfolge unverändert vor. Er kann deshalb „unterstöchiometrisch“,d.h. in geringen Mengen zugesetzt werden. Einen solchen Stoffbezeichnet man als Katalysator.Der Katalysator verändert die Energiebilanz der Gesamtreaktion undsomit auch deren Gleichgewichtslage nicht. Er greift jedoch in denReaktionsablauf, den sog. Reaktionsmechanismus, ein. Hieraus resultierteine Veränderung der Reaktionskoordinate (Abb. 29) hinsichtlich derenergetischen Lage des sog. Übergangszustandes.

Abb. 29: Energiediagramm einer katalysierten Reaktion

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Der direkte Angriff des SO2-Moleküls auf ein O2-Molekül und dessenSpaltung erfordert eine hohe Anregungsenergie; hingegen lässt sich VO2

unter den Reaktionsbedingungen des Syntheseprozesses leichter mit O2

zur Reaktion bringen (beide Verbindungen enthalten ungepaarteElektronen). Das hierbei resultierende V2O5 ist ein starkes Oxidations-mittel.Insgesamt können wir also die Katalyse bezüglich der Gesamtreaktion alskinetisch gesteuerten Prozeß auffassen. Da im vorliegenden Falle SO2,SO3, Wasser und die Vanadinoxide (beide sind in Wasser und in Säurenunlöslich) in getrennten Phasen vorliegen, spricht man von HeterogenerKatalyse (vgl. E41).xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

In der Produktionsanlage (Abb. 30) wird zur Oxidation das Gemisch ausSO2 und O2 einer festen Oberfläche aus V2O5/VO2 nur kurzzeitig aus-gesetzt. Man spricht deshalb vom Kontaktverfahren. Zur Vermeidung vonÜberhitzung wird SO3, an Stelle in Wasser, in verd. Schwefelsäureeingeleitet.

Abb.30: Anlage zur Produktion von Schwefelsäure

In früheren Produktionsanlagen wurde als Katalysator an Stelle derVavadinoxide ein Gemisch aus Nitrosen Gasen (vgl. Kap. 13.2.5)verwendet, das in Wasser löslich ist:

2 S+IVO2 + 2 N+V2O5 +→ 2 S+VI O3 + 4 N+IVO2

4 N+IVO2 + O2 → 2 N+V2O5

_____________________________________2 SO2 + O2 → 2 SO3

SO3 + H2O → H2SO4

Wegen der in Bleikammern erfolgenden Produktionsführung (Blei wirddurch Schwefelsäure “passiviert”, da PbSO4 in Schwefelsäure unlöslichist) wird dieses Verfahren Bleikammerverfahren genannt.Hier ergibt sich neben anderen Nachteilen das Problem der Abtrennungdes Katalysators vom Produkt, so daß dieses Verfahren heute nicht mehrverwendet wird.Schwefelsäure ist eine starke Säure (pKS = -3) und wirkt in konzentrierterForm stark oxidierend. Da bei der Verdünnung mit Wasser Wärmeenergiefreigesetzt wird, zieht sie beim Stehen an der Luft Wasser an (sie isthygroskopisch) und wird deshalb als Trockenmittel (Wasserentzug) vongegenüber Schwefelsäure resistenten Gasen verwendet.

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Schwefelsäure wird in großen Mengen in vielen Bereichen der Chemieeingesetzt. Die Hauptmengen werden benötigt zur Gewinnung der sog.„Nassphosphorsäure“ (Kap. 13.3.5) sowie von „Weißpigmenten“ (TiO2).Wegen der hohen Azidität der Schwefelsäure reagieren ihre Salze, dieSulfate (SO4

2-) in Wasser neutral. Sie kommen in beachtlichen Mengeninsbesondere als CaSO4 (Gips) in der Natur vor. Die Hydrogensulfate(HSO4

-) besitzen noch ausgeprägt saure Eigenschaften (pKS = 1.92):

HSO4- + H2O → H3O+ + SO4

2-

Peroxodischwefelsäure (H2S2O8) enthält gleichfalls Schwefel derOxidationszahl +VI sowie eine die Schwefelatome verbrückende O2-Gruppe, in der die Sauerstoffatome die Oxidationszahl –I aufweisen. Sieist, wie auch ihre Salze, ein starkes Oxidationsmittel.

H2S2O8

Ihre Darstellung erfolgt durch elektrochemische Oxidation von Schwefel-säure.

2 HSO4- → H2S2O8 + 2 e-

Schweflige Säure (H2SO3) ist, wie bereits erwähnt, nur in Form ihrer Salzebekannt, die durch Einleiten von SO2 in wäss. Lösungen von Basenerhalten werden.

SO2 + 2 NaOH → Na2SO3 + H2O

Sulfite und Hydrogensulfite (HSO3-) werden in großem Umfang als

Reduktionsmittel sowie zur Extraktion in der Papierherstellungverwendet.Ein wesentlich effizienteres Reduktionsmittel bildet das Natriumsalz derDithionigen Säure (H2S2O4), das durch kathodische Reduktion vonNaHSO3 erhalten wird (man beachte die ungewöhnliche Reaktion einesAnions an der Kathode!).

2 HSO3- + 2 e- → S2O4

2- + 2 OH-

Die rasche Reduktionswirkung in wäss. Lösung beruht auf demDissoziationsgleichgewicht des diamagnetischen Dianions zumparamagnetischen Monoanion.

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S2O42- <=> 2 SO2

-

SO2- → SO2 + e-

Gleichfalls von technischer Bedeutung sind die durch Umsetzung vonSulfiten mit Schwefel leicht zugänglichen Salze der Thioschwefelsäure(H2S2O5).

SO32- + S → S2O3

2-

Na2S2O3 bildet in wäss. Lösung stabile lösliche Komplexe mitSilbersalzen und wird in der Photographie (sw) als „Fixiersalz“verwendet. Von Bedeutung in der analytischen Chemie ist die Oxidationmit Iod unter Bildung des Tetrathionat-Ions.

2 S2O32- + I2 → S4O6

2- + 2 I-

Die bekannten Oxidchloride SOCl2 (Thionylchlorid, Sdp. 79 °C) undSO2Cl2 (Sulfurylchlorid, Sdp. 69 °C) können als Säurechloride derSchwefelsäure bzw. Schwefligen Säure aufgefasst werden (auch dieFluoride sind bekannt).

SO2Cl2SOCl2

Sie werden technisch in großem Umfang hergestellt und findenVerwendung in der anorganischen und organischen Synthesechemie, z.B.zum Aufbau von organischen Sulfonsäurechloriden (RSO2Cl).

SO2 + Cl2 → SO2Cl2SCl2 + SO3 → SOCl2 + SO2

Beim Übergang zu den schwereren Chalkogenen nimmt die Säurestärkeder Chalkogensauerstoffsäuren (H2SeO4, H6TeO6) ab und ihre oxidierendeWirkung zu.

12 Die Elemente der Gruppe 2 (Erdalkalimetalle)

12.1 AllgemeinesDie Elemente der Gruppe 2 weisen die Valenzelektronenkonfiguration ns2

auf; sie liegen in ihren Verbindungen sämtlich in der Oxidationszahl +IIvor (Tab. 14).

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Tab. 14: Eigenschaften und Strukturen der Erdalkalimetalle

Durch Ausbildung konventioneller Atombindungen kann die Edelgas-konfiguration nicht erreicht werden. Infolge der Elektronenmangel-situation liegen die Elemente folglich als Metalle vor.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E26 Die Metallische Bindung II>Wir konnten die durch Elektronenmangel erzeugte Metallische Bindungals Spezialfall der Atombindung unter Zuhilfenahme der Resonanz durchein VB-Modell beschreiben (E12). Die Kenntnis des MO-Modells (E18)gestattet nun ein tieferes Verständnis dieses Phänomens.Das MO-Schema des in der Gasphase nachweisbaren Li2-Moleküls weistzwei Molekülorbitale auf, von denen das energetisch günstigere, ähnlichwie im H2-Molekül, mit zwei Elektronen besetzt ist (KZ 1,Bindungsordnung 1). Beim Übergang zum Kristallverband (KZ ∞)resultiert nun, aus der unendlichen Anzahl der Atomorbitale, eineAneinanderreihung energetisch eng beieinander liegenderMolekülorbitale. Hierbei wird die Energielücke zwischen bindenden undantibindenden Molekülorbitalen aufgehoben. Man spricht von einerBandstruktur der Orbitale (Abb. 31).

Abb. 31: Schematische Darstellung der metallischen Bindung in Li∞

In dieser Struktur ist die durch die Quantenbedingungen erzeugteSeparierung der Energieniveaus aufgehoben. Da im Falle der Metalle dasBand nicht vollständig mit Elektronen besetzt ist, kann durch Einwirkunggeringfügiger, nicht den Quantenbedingungen gehorchender Energie-beträge eine Anregung der Elektronen erfolgen; hierdurch werden dieElektronen über den gesamten Kristallverband „beweglich“, was diecharakteristischen metallischen Eigenschaften (elektrische und thermischeLeitfähigkeit, metallischer Glanz) bewirkt. Die durch Temperaturer-höhung bewirkte Schwingung der Atome im Gitter stört diese Beweglich-keit; hierdurch kommt es bei Metallen zur Abnahme der elektrischenLeitfähigkeit mit steigender Temperatur.Bei Halbleitern und Nichtleitern besteht eine Bandlücke zwischen demvollständig besetzten Valenzband und dem nichtbesetzten Leitungsband,da die bindenden und antibindenden Molekülorbitale nicht überlappen.Zur Verschiebung von Elektronen aus dem Valenzband in dasLeitungsband ist nun die Zufuhr von (thermischer) Energie erforderlich.Für solche Strukturen (Halbleiter) steigt deshalb die elektrischeLeitfähigkeit mit steigender Temperatur. Bei Nichtleitern (Isolatoren)liegt die erforderliche Anregungsenergie außerhalb des durch thermischeAnregung erreichbaren Bereichs (Abb. 32).

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Abb. 32: Energiebändermodellxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Ein Vergleich der Ionisierungspotentiale der Elemente der Gruppe 2 weistdem Beryllium eine Sonderstellung zu (IP 9.32 eV). Seine Chemie solldeshalb gesondert besprochen werden.

12.2 BerylliumDas seltene Element Beryllium findet sich in dem Mineral Be3Al2Si6O18,das je nach seiner (von geringfügigen Verunreinigungen herrührenden)Farbe als Beryll, Smaragd oder Aquamarin bezeichnet wird. Das Metallwird durch Schmelzflusselektrolyse des Chlorids erhalten.

Be2+ + 2 e- → 2 Be

Metallisches Beryllium findet Verwendung als Moderatormaterial(Einfang von Neutronen in Kernreaktoren) sowie als Fenstermaterial inRöntgengeräten.In Folge seines hohen Ionisierungspotentiales bildet Beryllium nur mitden Elementen höchster Elektronegativität Salze (BeF2, BeO).In BeCl2 liegen bereits (stark polarisierte) Atombindungen vor. Imisolierten (monomeren) Molekül erreicht das Metallzentrum beiAusbildung von zwei Atombindungen die Edelgaskonfiguration nicht.Der hierdurch bewirkte Elektronenmangel wird durch Ausbildung einerpolymeren Struktur unter Einbindung von (im monomeren Molekül)nichtbindenden Elektronenpaaren der Halogenatome behoben, so dass dieHalogenatome nunmehr eine Brückenfunktion wahrnehmen. In dieserStruktur weisen die Berylliumatome unter Verwendung von 4 sp3-Hybridorbitalen eine verzerrt tetraedrische Koordinationsumgebung vonjeweils 4 Chloratomen auf; diese stellen jeweils 3 Elektronen (alsChloridionen gegenüber dem Be2+-Zentrum 4 Elektronen, sog. 3c4e-Bindung) zur Bindung bereit, so dass das Metallzentrum nunmehr dasangestrebte Elektronenoktett erreicht (ein weiterer Typ der 3c4e-Bindung,der z.B. im I3

—Ion vorliegt, wird in E18 besprochen).

BeCl2

In wäss. Lösungen hingegen liegt BeCl2 als Komplexzalz [Be(H2O)4]Cl2gelöst vor.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E27 Komplexverbindungen I>

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Wir haben beim Aufbau des polymeren BeCl2 gesehen, dass Atome oderAnionen (X) zur Ausbildung von Atombindungen nichtbindendeElektronenpaare verwenden können. In einem formalen Sinne stammt indiesem Falle das bindende Elektronenpaar von nur einem der Bindungs-partner. Solche Bindungen nennt man Koordinative Bindungen. Diehierdurch gebildeten Verbindungen bezeichnet man als Komplex-verbindungen. Hierbei fungieren die Koordinative Bindungen aus-bildenden Anionen oder Moleküle als Liganden, die an das Komplex-zentrum koordiniert sind.

[Be(H2O)4]2+

[BeCl4]2-

Da in Komplexverbindungen die Donoratome der Liganden gegenüberdem Zentrum elektronegativer sind, handelt es sich bei der Bildung bzw.dem Zerfall von Komplexen nicht um Redoxreaktionen. Die Stabilität vonKomplexen kann durch Anwendung des Massenwirkungsgesetzes und derhieraus resultierenden Komplexbildungskonstanten K beschrieben werden.Am Beispiel der Bildung von [BeCl4]

2- ergibt sich somit:

Be2+ + 4 Cl- <=> [BeCl4]2-

CBeCl42-

K = ──────CBe

2+ x CCl- 4

Stabile Komplexe weisen hohe Komplexbildungskonstanten auf (K >> 1).Die reziproken Werte 1/K bezeichnet man als Komplexzerfallskonstanten.Die als Elektronenpaardonatoren fungierenden Liganden werden in derSäure/Base-Theorie nach Lewis als Basen, die Komplexzentren als Säurenbezeichnet (vgl. E32). Die Ausbildung der Koordinativen Bindungentspricht der Neutralisation. Die Säure/Base-Reaktion nach Broenstedt(E7) stellt mit der Säure H+ und der Base OH- sowie der Bildung von H2Oals Neutralisation somit einen Spezialfall der Säure/Base-Reaktion nachLewis dar.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Im gleichfalls vorliegenden Berylliumhydrid (BeH2) entfällt die Möglich-keit der Stabilisierung durch koordinative Bindungen. Der hier vor-liegende Bindungstyp (3c2e-Bindung) wird an anderer Stelle besprochen(vgl. E29).

12.3 Magnesium, Calcium, Strontium, Barium

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Die schwereren Erdalkalimetalle kommen als in Wasser schwerlöslicheFluoride, Sulfate, Carbonate und Silikate, insbes. als Mg(Ca)CO3

(Dolomit) vor; Magnesium und Calcium finden sich zudem in gelösterForm ihrer Chloride in beträchtlichen Mengen im Meerwasser. DieMetalle werden durch Schmelzflusselektrolyse der Chloride gewonnen;insbes. Mg und Ca finden als Legierungsbestandteile und starkeReduktionsmittel umfangreiche Verwendung. Trotz ihrer stark negativenReduktionspotentiale (vgl. E20) lösen sie sich nicht in Wasser(„Passivierung“).Sämtliche Halogenide MX2, die aus den Elementen sowie durchUmsetzung der Oxide mit den entsprechenden Säuren leicht zugänglichsind, sind bekannt.

M + X2 → MX2 (M = Mg,Ca, Sr,Ba; X = F,Cl,Br,I)MO + 2 HX → MX2 + H2O

Sie sind sämtlich salzartig aufgebaut. CaF2 liegt im Fluorit-Typ (invers zuLi2O; in der kubisch dichtesten Kugelpackung der Kationen besetzen dieAnionen alle Tetraederlücken) vor.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E28 Löslichkeit und Löslichkeitsprodukt>Im Bereich der Chemie wird die Löslichkeit (L) eines Salzesüblicherweise in der Einheit [mol/lit] angegeben. Häufig jedoch findetsich auch die Angabe als Löslichkeitsprodukt (KL). Der Zusammenhangergibt sich für ein Salz der Zusammensetzung AB (z.B. NaCl) aus demMassenwirkungsgesetz:

AB <=> A+ + B-

cA+ x cB-KL’ = ─────

cAB

Die sehr geringe, bei Vorliegen einer gesättigten Lösung (Bodensatz anungelösten AB) konstante Konzentration an undissoziiert gelöstem AB(cAB) kann in die Gleichgewichtskonstante einbezogen werden:

KL [mol2/lit2] = KL’ x cAB = cA+ x cB-

Für Salze der Zusammensetzung AB gilt:

L [mol/lit] = cA+ = cB- = √KL

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Tabellierte Werte KL gelten für wäss. Lösungen bei Normalbedingungen(T = 20 °C). Für Salze anderer stöchiometrischer Zusammensetzung (z.B.AB2, A2B3) ergibt sich für L fKL ein komplexerer Zusammenhang.Das Löslichkeitsprodukt eines Salzes beschreibt seine Löslichkeit,begründet sie jedoch nicht. Allgemein weisen Salze hoher Gitterenergiegeringe Löslichkeiten auf. Jedoch ist zu beachten, dass die eine hoheGitterergie bewirkenden Faktoren (z.B. hohe Ionenladung, geringerIonenradius) auch eine hohe Hydratationsenergie zur Folge haben können;dies erschwert die Abschätzung der Löslichkeit. Eine hohe Gitterenergiewird durch Ionen vergleichbarer Größe begünstigt.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Die Erdalkalimetalloxide MO werden durch „Brennen“ der Carbonategewonnen und liegen sämtlich als Salze des Steinsalz-Typs vor.

MCO3 → MO + CO2

Besondere Bedeutung kommt hier, auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht,dem gebrannten Kalk (CaO) zu, der sich durch Zugabe von Wasser(„Kalklöschen“) in eine Suspension aus Ca(OH)2 („Kalkmilch“)überführen lässt. Geringere Mengen von Wasser führen zum „Kalkbrei“,der, vermischt mit Sand, als „Mörtel“ dient. Im Verlauf eines langenZeitraums erfolgt unter Einwirkung des CO2-Gehalts der Luft eineRückbildung zu CaCO3 unter Verfestigung („Abbinden“). DurchBeimengen von Tonen (Alumosilikate) entsteht Zement, der durchZugabe von Steinen in Beton überführt wird.Magnesiumoxid („Magnesia“) wird gleichfalls durch Brennen desCarbonats gewonnen, kommt jedoch auch als Mineral in der Natur vor.

13 Die Elemente der Gruppe 15 (Pnikogene)

13.1 AllgemeinesDie Elemente der Gruppe 15 weisen die Valenzelektronenkonfigurationns2p3 (n = 2-6) auf und ermöglichen hierdurch Oxidationszahlen imBereich von +V bis –III; geradzahlige Oxidationszahlen werden nur beiVorliegen von E-E-Bindungen bzw. in stabilen Radikalen realisiert. Nurim N3- -Ion (z.B. in Li3N2) wird die Edelgaskonfiguration durchAusbildung von Ionen erreicht, da in anderen Fällen die hochgeladenenIonen E3- bzw. E5+ die Gegenionen unter Ausbildung von Atombindungenpolarisieren. Einen Überblick über die Eigenschaften der Atomsorten gibtTab. 15.

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Tab. 15: Eigenschaften der Gruppe 15-Elemente (Pnikogene)

Auch hier geben die deutlich abgesetzten Eigenschaften des KopfelementsAnlaß zu gesonderter Besprechung.

13.2 Der StickstoffStickstoff kommt in elementarer Form (N2) in großen Mengen in der Luft(ca. 79 Vol.-%), sehr viel seltener mineralisch in Form von Ammonium-und Nitratsalzen vor.

13.2.1 Das ElementElementarer Stickstoff liegt ausschließlich als zweiatomiges Molekül vor.

N2

Hierin erreichen beide Atome durch Ausbildung einer Dreifachbindungdie Edelgaskonfiguration; auch das MO-Schema (Abb. 33) ergibt dieBindungsordnung 3.

Abb. 33: MO-Schema des N2-Moleküls

Die extrem hohe Bindungsenergie (226 kcal/mol) des N2-Molekülsbewirken seine außerordentliche Reaktionsträgheit; selbst bei 3000 °C istnoch keine Dissoziation in die Atome feststellbar. Zur Spaltung derBindung sind folglich katalytische Methoden erforderlich, dieinsbesondere im Bereich der Biochemie („Stickstofffixierung“) intensivuntersucht werden.Elementarer Stickstoff wird durch Verflüssigung der Luft und nach-folgende Destillation (Linde-Verfahren) in großen Mengen gewonnen(vgl. E39) und technisch zur Synthese von Ammoniak (somit mittelbarzur Herstellung von Salpetersäure und Nitraten) verwendet.

13.2.2 Verbindungen mit WasserstoffMit Wasserstoff bildet Stickstoff drei wichtige binäre Verbindungen.

NH3 (Ammoniak)N2H4 (Hydrazin)HN3 (Stickstoffwasserstoffsäure)

Ammoniak bildet bei Raumtemperatur ein farbloses Gas (Sdp. -33°C,Schmp. -78 °C), das sich sehr gut in Wasser löst. Die wäss. Lösungreagiert schwach basisch (pKB = 4.79).

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NH3 + H2O <=> NH4+ + OH-

Wegen der nur in geringem Umfang natürlich vorkommendenAmmoniumsalze (NH4X) ist deren Umsetzung mit starken Basen zurDarstellung von Ammoniak unbedeutend.

NH4+ + OH- → NH3 + H2O

Die Darstellung erfolgt vielmehr aus den Elementen unter katalytischenBedingungen. Das sog. Haber-Bosch-Verfahren gehört hinsichtlich seinerEntwicklung und seines Umfangs zu den bedeutendsten Verfahren derTechnischen Chemie (Abb. 34).

Abb. 34: Anlage zur Produktion von Ammoniak

Die Bildungsreaktion aus den Elementen ist exotherm (ΔH = -23kcal/mol) und thermodynamisch erlaubt (ΔG < 0), verläuft jedoch wegender hohen, zur Spaltung der sehr stabilen N-N- und H-H-Bindungenerforderlichen Aktivierungsenergie sehr langsam (als reagierende Speziesfungieren die Atome!). Eine Temperatursteigerung bewirkt dieVerschiebung des Reaktionsgleichgewichts auf die Seite der Edukte.

N2 + 3 H2 → 2 NH3 (ΔH = - 23 kcal/mol)

Zur Überwindung der Aktivierungsenergie bei moderaten Bedingungen(500 °C, 300 bar) ist ein Katalysator erforderlich. Hierzu wird Fe3O4 alsUmmantelung des aus Stahl bestehenden Druckreaktors verwendet, dasunter den Reaktionsbedingungen von Wasserstoff zu metallischem(Kohlenstoff-freiem) Eisen reduziert wird. Es wird davon ausgegangen,dass durch Anlagerung der Moleküle an die Metalloberfläche die N-N-bzw. H-H-Bindung geschwächt wird und somit die Moleküle leichter inAtome überführt werden können (vgl. Abb. 20 und 32).Zur Vermeidung von unerwünschten Nebenreaktionen (Knallgasreaktion,Oxidation von Ammoniak, Deaktivierung des Katalysators) muß dieBildungsreaktion von Ammoniak in Abwesenheit von Sauerstoff durch-geführt werden. Früher wurden zur Bereitstellung der Edukteabwechselnd Wasserdampf und Luft über glühende Kohle geleitet („Griffin die Luft“):

H2O + C → H2 + CO (Wassergas)N2/O2 (Luft) + C → N2 + CO (Generatorgas)

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Die Entfernung des störenden Kohlenmonoxids aus dem Gasgemischstellte eines der Hauptprobleme des Haber-Bosch-Verfahrens dar. Inmodernen Anlagen wird Wasserstoff aus der Chloralkali-Elektrolyse undStickstoff aus dem Linde-Verfahren verwendet.Ammoniak dient neben seiner Verwendung als schwache Base (wäss.Lösung, korrespondierende Säure ist das Ammonium-Ion NH4

+) zurDarstellung von Salpetersäure (Kap. 13.2.6), Nitraten und derenFolgeprodukten. Als sehr schwache Säure (pKS = 23!) bildet Ammoniakals korrespondierende Base das Amidion, dessen Natriumsalz technischhergestellt und als sehr starke Base in der Organischen Syntheseverwendet wird.

2 NH3 + 2 Na → 2 NaNH2 + H2

In wasserfreiem flüssigen Ammoniak lösen sich Alkalimetalle; die hierbei tiefen Temperaturen (< -40 °C) auftretende tiefblaue Farbe wird densolvatisierten Elektronen zugeschrieben.

n NH3 + Na → Na+ + [e(NH3)n]-

Hydrazin (Sdp. 113 °C, Schmp. 2 °C) dient in der Technik alsReduktionsmittel sowie als Synthesebaustein in der Organischen Chemieund wird gleichfalls in technischem Maßstab nach dem Raschig-Verfahren gewonnen.

2 NH3 + OCl- → N2H4 + H2O + Cl-

Hydrazin ist etwas schwächer basisch als Ammoniak und bildet zweiReihen von Salzen (N2H5

+, N2H62+).

Stickstoffwasserstoffsäure (Sdp. 37 °C) wird am besten durch Umsetzungihrer Salze mit verd. Schwefelsäure erhalten.

2 NaN3 + H2SO4 → 2 HN3 + Na2SO4

Die in reinem Zustand hochexplosive Verbindung ist in wäss. Lösung einemittelstarke Säure (pKS ca. 5); etherische, in situ erzeugte Lösungenwerden in der Organischen Synthese zum Aufbau von Heterozyklenverwendet. Die ionisch gebauten Salze der Alkalimetalle enthalten dasstabile, hochsymmetrische Azidion N3

-.

N3-

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Natriumazid wird technisch aus N2O („Lachgas“, vgl. Kap. 13.2.5) undNatriumamid gewonnen.

NaNH2 + N2O → NaN3 + H2O

In HN3 weist der Sickstoff formal die Oxidationszahl -1/3 auf. Manbeachte jedoch, dass in diesem Molekül Stickstoffatome verschiedenerchemischer Umgebung vorliegen und es sich deshalb um einenarithmetischen Mittelwert handelt.

13.2.3 Verbindungen mit HalogenenStickstoff-Halogen-Verbindungen können formal als Derivate desAmmoniaks (NX3), des Hydrazins (N2X4) und der Stickstoffwasserstoffsäure (N3X) aufgefasst werden. Es ist zu beachten, dass in denFluorverbindungen Stickstoff in positiver Oxidationszahl vorliegt. In denVerbindungen der schwereren Halogene ist der Stickstoff der jeweilselektronegativere Bindungspartner; die hieraus resultierendenVerbindungen weisen eine geringe Stabilität auf: NCl3 und NBr3

beispielsweise sind explosiv, NI3 ist nicht bekannt.Trifluoramin (Sdp -129 °C, Schmp. -206 °C) wird durch Fluorierung vonAmmoniak erhalten.

4 NH3 + 3 F2 → NF3 + 3 NH4F

Das stabile, farblose Gas weist ein sehr geringes Dipolmoment (0.23 D)auf, das dem des Ammoniaks (1.47 D) entgegengerichtet ist. Hierausresultieren für diese Verbindung nur sehr schwach basischeEigenschaften. Offensichtlich bewirkt die hohe Elektronegativität desFluors nicht nur eine Polarisierung der N-F-Bindungen, sondern darüberhinaus durch die positive Partialladung am Stickstoffatom eine geringeVerfügbarkeit („Nukleophilie“) des nichtbindenden Elektronenpaars.Halogenazide werden durch Umsetzung der Halogene mit Natriumazidgewonnen.

NaN3 + X2 → XN3 + NaX (X = F,Cl,Br,I)

Sie sind infolge der relativ geringen Elektronegativitätsdifferenz zwischenStickstoff und den Halogenen molekular aufgebaut und dementsprechendexplosiv.

13.2.4 Verbindungen mit Alkali- und ErdalkalimetallenBinäre Verbindungen des Stickstoffs mit Alkali- und Erdalkalimetallensind wegen der hohen Elektronegativitätsdifferenz der beteiligten

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Elemente salzartig aufgebaut. Sie lassen sich als Derivate der sehrschwachen Säure NH3 auffassen und sind aus den Elementen zugänglich,z.B.:

6 Li + 3 N2 → 2 Li3N

Li3N findet als Ionenleiter Verwendung. Auch Derivate des Hydrazinssind bekannt. Sämtliche Salze reagieren als korrespondierende Basen derzugehörigen sehr schwachen Säuren stark basisch.Die gleichfalls diesem Kapitel zuzuordnenden technisch wichtigenMetallazide (z.B. NaN3, s.o.) sind im Gegensatz zur freien Säure ihressalzartigen Aufbaus wegen (isolierte symmetrische N3-Anionen) stabil.

13.2.5 Verbindungen mit SauerstoffBinäre Stickstoffoxide („Stickoxide“) sind in allen geradzahligenpositiven Oxidationszahlen des Stickstoffs bekannt. Die in denOxidationszahlen +II und +IV des Stickstoffs vorliegenden Verbindungenbilden bei Normalbedingungen stabile monomere Radikale, die bei tiefenTemperaturen im festen Zustand dimerisieren (Tab. 16). Abgesehen vonN2O sind alle Stickoxide hochgiftig; ihre unerwünschte Bildung stellt einbedeutendes Umweltproblem dar.

Tab. 16: Binäre Oxide des Stickstoffs

N2O

Distickstoffmonoxid („Lachgas“) bildet sich als farbloses Gas bei derthermischen Zersetzung („Intramolekulare Komproportionierung“) vonAmmoniumnitrat (Sdp. -88 °C, Schmp. -91 °C).

NH4NO3 → N2O + 2 H2O

Die Bindungssituation im linear gebauten Molekül lässt sich durchResonanzformeln beschreiben. N2O dient als Edukt bei der Synthese vonNatriumazid, zum Aufbau organischer Heterozyklen sowie alsNarkotikum.

NO

Stickstoffmonoxid (Sdp. -152 °C, Schmp. -63 °C) bildet sich beiHochtemperaturprozessen (T < 2000 °C, z.B. in Verbrennungsmotorenund Kraftwerken) aus den Bestandteilen der Luft als farbloses Gas.Technisch wird es im Zuge der Salpetersäure-Darstellung (vgl. Kap.

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13.2.6) durch katalytische Verbrennung von Ammoniak gewonnen. Diechemische Bindung lässt sich aus dem MO-Schema von O2 (Abb. 21)qualitativ durch Wegnahme eines Elektrons verstehen (BO 2.5); manbeachte jedoch die unterschiedliche Lage der Atomorbitale auf derEnergieskala.

N2O3

Distickstofftrioxid bildet sich beim Abkühlen gleicher Mengen von NOund NO2. Es liegt im festen Zustand als Salz [NO]+[NO2

-](„Nitrosylnitrit“) vor und zerfällt bereits oberhalb -10 °C in Umkehrungder Bildungsgleichung. Als Anhydrid der Salpetrigen Säure reagiert es mitLaugen zu Nitrit-Salzen.

NO + NO2 → N2O3N2O3 + 2 NaOH → 2 NaNO2 + H2O

Stickstoffdioxid bildet sich in einer Gleichgewichtsreaktion aus NO undSauerstoff (bei 600 °C liegt das Gleichgewicht vollständig auf der linkenSeite).

2 NO + O2 <=> 2 NO2

In der Gasphase liegt NO2 als gewinkelt gebautes gelb gefärbtes Molekülvor; der feste Zustand (ab -11 °C) besteht aus planaren braunen N2O4-Molekülen. NO2 ist ein starkes Oxidationsmittel.

NO2 + e- → NO2-

Distickstoffpentoxid wird durch Entwässern von Salpetersäure als derenAnhydrid gewonnen. Es liegt im festen Zustand als Salz [NO2]

+[NO3]-

(„Nitrylnitrat“) vor und ist gleichfalls ein sehr starkes Oxidationsmittel.

2 HNO3 → N2O5 + H2O

Außer den elektroneutralen Stickoxiden existieren noch kationische undanionische Spezies. Nitrosylhydrogensulfat bildet sich bei der Einwirkungvon N2O3 auf Schwefelsäure gem.

N2O3 + 2 H2SO4 → 2 [NO]+[HSO4]- + H2O

Das Kation NO+ enthält eine NO-Dreifachbindung und ist isoelektronisch(vgl. E31) zu N2 und CO.

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NO+

NO2+

Das Nitrylkation ist aus Salpetersäure bzw. deren SäurehalogenidenNO2X in Form stabiler Salze zugänglich.

NO2F + BF3 → [NO2]+[BF4]

-

Das stark oxidierende Kation ist, wie auch das hierzu isoelektronischeCO2, linear gebaut.Die Anionen NOx

- (x = 2,3) werden als Derivate derStickstoffsauerstoffsäuren nachfolgend beschrieben.

13.2.6 Stickstoffsauerstoffsäuren und SäurehalogenideSauerstoffsäuren der allgemeinen Zusammensetzung HxNOy sind fürStickstoff der Oxidationszahlen +V, +III, +I und –I bekannt.

HNO3 SalpetersäureHNO2 Salpetrige SäureHNO Hyposalpetrige SäureH3NO Hydroxylamin

Die unbeständige, in fester Form dimere Hyposalpetrige Säure soll hiernicht weiter besprochen werden.Salpetersäure (HNO3) wird technisch in großem Umfang nach demOstwald-Verfahren durch katalytische Verbrennung von Ammoniak aneinem Platinnetz und nachfolgende Einleitung der resultierendenStickoxide unter Einwirkung von Sauerstoff in Wasser gewonnen.

4 NH3 + 5 O2 → 4 NO + 6 H2O2 NO + O2 → 2 NO24 NO2 + O2 + 2 H2O → 4 HNO3

In Abwesenheit des Katalysators führt die Verbrennung von Ammoniaknur zu N2.Hierzu alternativ wurde früher im Birkeland-Eyde-Verfahren NO aus denElementen im elektrischen Lichtbogen gewonnen und analogweiterverarbeitet.Salpetersäure bildet bei Normalbedingungen eine farblose Flüssigkeit(Sdp. 84 °C, Schmp. -42 °C), die jedoch in der Praxis durch Gegenwart

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von NO2 meist gelb gefärbt ist. Die sehr starke Säure (pKS = -1.37)zersetzt sich unter Lichteinwirkung in Umkehrung der Bildungsgleichung.In konzentrierter Form ist Salpetersäure ein starkes Oxidationsmittel (E° =+0.96 V), das auch Edelmetalle wie Silber, nicht aber Gold, löst(Scheidewasser). Man beachte, dass hier, anders als bei unedlen Metallen(z.B. Na), das Säureanion und nicht das im Gleichgewicht vorliegendeHydroniumion H3O

+ als Oxidationsmittel fungiert.

3 Ag + 4 HNO3 → 3 AgNO3 + NO + 2 H2O2 Na + 2 HNO3 → 2 NaNO3 + H2

Im Gemisch mit Salzsäure (Königswasser) vermag Salpetersäure jedochsogar Gold aufzulösen. Als Oxidationsmittel wirkt hierbei „aktives“(möglicherweise atomares) Chlor.

HNO3 + 3 HCl → NOCl + Cl2 + 2 H2O

Eine Mischung von Salpetersäure und Schwefelsäure wird Nitriersäuregenannt, da hierin das organische Verbindungen nitrierende NitrylkationNO2

+ vorliegt.

HNO3 + 2 H2SO4 → NO2+ + H3O

+ + 2 HSO4-

C6H6 + NO2+ + H2O → C6H5NO2 + H3O

+

Die Bedeutung der Salpetersäure liegt in der Herstellung anorganischerNitrate als Düngemittel sowie in der Produktion organischerNitroverbindungen als Farbstoffe und Sprengstoffe.Nitrate enthalten als Salze der Salpetersäure das symmetrisch und trigonalplanar gebaute Nitration.

NO3-

Fast alle Nitratsalze lösen sich gut in Wasser. Mineralische Vorkommenals NaNO3 („Chilesalpeter“) und KNO3 („Kalisalpeter“) sind nicht häufigund an die Gegenwart wasserundurchlässiger Formationen gebunden.Nitrate wirken erst bei hohen Temperaturen stark oxidierend.

2 KNO3 → 2 KNO2 + O2

Salpetrige Säure (HNO2) ist nur in verdünnter wäss. Lösung stabil unddort eine schwache Säure (pKS ca. 5). Ihre Salze, woraus sie durch

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Ansäuern erhalten wird, sind durch Umsetzung der Hydroxide mit N2O3

bzw. durch Reduktion der Nitrate mit Kohle zugänglich.

2 NaOH + N2O3 → 2 NaNO2 + H2ONaNO3 + C → NaNO2 + CONaNO2 + HCl → HNO2 + NaCl

Salpetrige Säure wirkt in wäss. Lösung schwach oxidierend, z.B.

HNO2 + NH3 → 2 H2O + N2

Wäss. Lösungen der Salpetrigen Säure werden in der organischenSynthese eingesetzt:

C6H5NH3+Cl- + NaNO2 + H3O

+ → C6H5N2+ + 3 H2O + NaCl

NaNO2 dient zur Konservierung von Lebensmitteln („Pökelsalz“).

Hydroxylamin (H2NOH) reagiert mit Wasser bereits als Base (pKB = 8.2):

H2NOH + H2O → H3NOH+ + OH-

Hydroxylamin ist ein starkes Reduktionsmittel. Der unbeständigeFeststoff (Schmp. 33 °C) zerfällt rasch bei Raumtemperatur

4 H2NOH → 2 NH3 + N2O + 3 H2O

Das stabile Sulfatsalz wird in großem Umfang technisch durchkatalytische Reduktion (Pd-Katalysator) von NO hergestellt und in derorganischen Polymersynthese („Caprolactame“) verwendet

2 NO + 3 H2 + H2SO4 → [H3NOH]2SO4

Von den Stickstoffsauerstoffsäuren lassen sich die Säurechloride ableiten,

NOCl Nitrosylchlorid (Sdp. -6 °C)NO2Cl Nitrylchlorid (Sdp. -6 °C)

die molekular aufgebaut und bei Raumtemperatur gasförmig sind. Siewerden durch Umsetzung der entsprechenden Stickoxide mit Chlorgewonnen und reagieren mit Wasser zu den zugehörigen Säuren.

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2 NO + Cl2 → 2 NOClNOCl + H2O → HNO2 + HCl2 NO2 + Cl2 → 2 NO2ClNO2Cl + H2O → HNO3 + HCl

Auch die entsprechenden Säurefluoride und Säurebromide sind bekannt.

13.3 Phosphor, Arsen, Antimon, WismutDas gegenüber Stickstoff etwa dreimal so häufige Element Phosphorkommt in der Natur nur in gebundener Form vor. Hauptvorkommen istder Apatit Ca5(PO4)3(F,OH). Die wesentlich selteneren Elemente Arsen,Antimon und Wismut liegen meist als Sulfide E2S3 vor.

13.3.1 Die ElementeDie in Folge der Doppelbindungsregel (E24) in der Gruppe 16beobachteten Unterschiede zwischen dem Kopfelement und seinenschwereren Gruppennachbarn zeigen sich auch in der Gruppe 15. Hier istdie Bandbreite der Modifikationen des Phosphors gleichermaßenbeeindruckend wie verwirrend (Abb. 35).

Abb. 35: Das Element Phosphor

In Verbindung mit der Tendenz zur Erfüllung der Oktettregel führt diePräsenz von hier 3 Valenzelektronen zum Aufbau komplexer käfigartigerStrukturen, von denen hier nur drei näher betrachtet werden sollen (Abb.36).

Abb. 36: Die Elementmodifikationen des Phosphors

Der weiße Phosphor, P4, (Sdp. 280 °C, Schmp. 44 °C) bildet reguläreTetraeder; durch die hieraus resultierenden sehr kleinen Bindungswinkelvon 60 ° sind diese Bindungen sehr labil (vgl. hierzu Kap. 19.4.1). P4 istfolglich sehr reaktiv und wird an Luft spontan zu P4O10 oxidiert(Aufbewahrung unter Wasser). Die Interpretation der Bindungssituation(der Bindungswinkel ist auch durch Hybridisierung nicht erreichbar)beruht auf der Annahme der Überlappung von p-Orbitalen; hierdurch liegtdas Maximum der Elektronendichte außerhalb der P-P-Bindungsachse. Imstrengen Sinne handelt es sich folglich nicht um σ-Bindungen (vgl. hierzudie Struktur von Cyclopropan, Abb. 91).Das Problem der Bindungswinkel tritt in der Modifikation des violettenPhosphors nicht auf. Die thermodynamisch stabilste Struktur bildet derschwarze Phosphor, der auf Grund seiner Elektronendelokalisation bereitsHalbleitereigenschaften besitzt.

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Die Darstellung von elementarem Phosphor erfolgt durch Reduktion desApatits [hier als Ca3(PO4)2 formuliert] mit Kohle bei 1400 °C unterLuftausschluß

2 Ca3(PO4)2 + 6 SiO2 + 10 C → 6 CaSiO3 + 10 CO + P4

Der hierbei anfallende Weiße Phosphor bildet sich durch Dimerisierungder in der Gasphase vorliegenden P2-Moleküle (P≡P, zur Stabilität vgl.E24).Weißer Phosphor wird in großem Umfang zur Darstellung vonPhosphorsäure (vgl. Kap. 13.3.5) verwendet. Der luftstabile RotePhosphor ist Bestandteil von Zündhölzern.Das sehr giftige Element Arsen liegt als gleichfalls instabiles As4 (rot) undals dem schwarzen Phosphor vergleichbare graue Modifikation vor, diefür Antimon und Wismut die einzige bekannte Form darstellt. Arsen wirdin der Halbleitertechnologie verwendet. Antimon und Wismut sindBestandteile von Legierungen.

13.3.2 Verbindungen mit WasserstoffP, As, Sb und Bi bilden die dem Ammoniak formal verwandten HydrideEH3, von denen hier nur das stabile, aber an Luft leicht entzündlichePhosphan PH3 besprochen werden soll. Es bildet sich bei der Hydrolysevon Metallphosphiden bzw.aus den Elementen unter Druck bei 300 °C alsfarbloses, giftiges Gas (Schmp. -133 °C, Sdp. – 88 °C). Zur Polarität derPH-Bindung vgl. EN (P/H = 2.1/2.2).

Na3P + 3 H2O → PH3 + 3 NaOHP4 + 6 H2 → 4 PH3

Analog den Verhältnissen in der Gruppe 16 nimmt die Azidität von EH3

beim Übergang zu den schweren Gruppenelementen zu (und somit dieBasizität ab) wegen der geringeren Stabilität der E-H-Bindung. SbH3 undBiH3 zerfallen bei thermischer Belastung in die Elemente.Im Gegensatz zu Ammoniak weist PH3 fast keine basischen Eigenschaftenauf; die korrespondierende Säure PH4

+ ist eine starke Säure (pKS = -1.3).

13.3.3 Verbindungen mit HalogenenDie schweren Elemente der Gruppe 15 (E = P,As,Sb,Bi) bilden mit denHalogenen (X = F,Cl,Br,I) folgende Verbindungstypen:

EX3E2X4EX5

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In allen Verbindungen ist das Halogenatom der negative Bindungspartner.Jedoch reicht die Elektronegativitätsdifferenz in keinem Fall zur Bildungvon Salzen aus, so dass Moleküle, bzw. im festen Zustand für EX3 bzw.E2X4, Molekülgitter gebildet werden. Die Verbindungen sind aus denElementen zugänglich; zur Darstellung der Fluorverbindungen ist jedochder Halogenaustausch vorteilhaft.

2 E + 3 X2 → 2 EX32 E + 2 X2 → E2X42 E + 5 X2 → 2 EX5ECl3 + 3 NaF → EF3 + 3 NaCl

Von praktischer Bedeutung sind die Phosphorchloride, die auch technischhergestellt werden. PCl3 (Schmp. -94 °C. Sdp. 76 °C) dient alsAusgangsprodukt zahlreicher wichtiger Phosphorverbindungen, PCl5(Subl. ab 150 °C), das im festen Zustand als Salz [PCl4]+[PCl6]- vorliegt,als Chlorierungsmittel (thermische Freisetzung von Chlor).Sämtliche Chalkogenhalogenide hydrolysieren leicht unter Bildung vonHX und der zugehörigen Chalkogensäuerstoffsäure:

2 EX3 + 3 H2O → H3EO3 + 3 HX2 EX5 + 4 H2O → H3EO4 + 5 HX

13.3.4 Verbindungen mit SauerstoffIm Gegensatz zu den Oxiden des Stickstoffs sind vom Phosphor undseinen schweren Gruppennachbarn nur die Oxide der Oxidationszahlen+III und +V bekannt, da diese Elemente keine stabilen Radikale bilden.

E2O3 (E = P,As,Sb,Bi)E2O5 (E = P,As,Sb)

P2O3, P2O5 und As2O3 sind als käfigförmige Moleküle, die anderen alsPolymere aufgebaut (Abb. 37).

Abb. 37: Die Molekülstruktur von P4O6 und P4O10

Das technisch hergestellte „Phosphorpentoxid“ (P4O10 Sublp. 359 °C )reagiert mit Wasser zur Phosphorsäure und kann deshalb als ihr Anhydridaufgefasst werden. Dieser stürmisch und unter großer Wärmeentwicklungverlaufenden Reaktion verdankt die Substanz ihre Verwendung alsTrockenmittel. Hierzu analog reagiert P4O6 mit Wasser zur PhosphorigenSäure (vgl. Kap. 13.3.5).

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P4 + 3 O2 → P4O6P4O6 + 6 H2O → 4 H3PO3P4 + 5 O2 → P4O10P4O10 + 6 H2O → 4 H3PO4

Während die Oxide des Phosphors und Arsens mit Wasser Säuren bildenalso „sauer“ sind, reagiert Sb2O3 sowohl mit Säuren wie auch mit Basen;es ist folglich amphother. Bi2O3 reagiert bereits basisch.

Sb2O3 + 2 NaOH → 2 NaSbO2 + H2OSb2O3 + 6 HCl → 2 SbCl3 + 3 H2OBi2O3 + 6 HCl → 2 BiCl3 + 3 H2O

Generell nimmt in einer Hauptgruppe die Azidität der Oxide undHydroxyde mit steigender Ordnungszahl und sinkender Oxidationszahlab.

13.3.5 Element-Sauerstoffsäuren und SäurehalogenideSauerstoffsäuren des Phosphors sind in den Oxidationszahlen +I bis +Vbekannt. Auch hier sind, analog zur Situation des NachbarelementsSchwefel, die „unpassenden“ (hier geradzahligen) Oxidationszahlen durchVerbindungen mit P-P-Bindung vertreten. In allen Säuren und ihrenAnionen ist das Phosphorzentrum verzerrt tetraedrisch von 4Bindungsnachbarn umgeben. Abb. 38 gibt einen Überblick der bekanntenVerbindungen, von denen hier nur die wichtigsten besprochen werdensollen.

Abb. 38: Sauerstoffsäuren des Phosphors

Die ortho-Phosphorsäure (H3PO4) bildet farblose, in Wasser sehr gutlösliche Kristalle (Schmp. 42 °C); sie ist eine mittelstarke dreibasigeSäure (pKS = 2), die drei Reihen von Salzen bildet und nur noch schwachoxidierend wirkt.

H3PO4MH2PO4 Primäre PhoshateM2HPO4 Sekundäre PhosphateM3PO4 Tertiäre Phosphate

Die zur Gewinnung von Phosphat-Düngern verwendete sog.„Nassphosphorsäure“ wird durch direkte Umsetzung von

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Calciumphosphat mit Schwefelsäure erhalten und mit Ammoniak zumAmmoniumhydrogenphosphat umgesetzt. Gleichfalls wichtige Düngersind das „Superphosphat“, in dem das Calciumhydrogenphosphat imGemisch mit Gips vorliegt, und das als „Doppelsuperphosphat“bezeichnete reine Calciumhydrogenphosphat (Calciumphosphat selbst istnicht wasserlöslich):

2 Ca3(PO4)2 + 3 H2SO4 → 3 CaSO4 + 2 H3PO4H3PO4 + 2 NH3 → (NH4)2HPO4Ca3(PO4)2 + 2 H2SO4 → Ca(H2PO4)2 + CaSO4Ca3(PO4)2 + 4 H3PO4 → 3 Ca(H2PO4)2

Des weiteren dienen Phosphorsäure und ihre Salze in großem Umfang alsSäuerungs- und Konservierungsmittel in Lebensmitteln. Hierzu ist dieDarstellung chemisch reiner Phosphorsäure („thermische Phosphorsäure“)durch Oxidation von elementarem Phosphor und nachfolgende Hydrolyseerforderlich:

P4 + 5 O2 → P4O10P4O10 + 6 H2O → 4 H3PO4

Beim Erhitzen spaltet die ortho-Phosphorsäure Wasser ab und gehtzunächst in die Diphosphorsäure (H4P2O7) über, die weiter zuPolyphosphorsäuren kondensieren kann.

H4P2O7

Wichtigstes Derivat der Polyphosphorsäuren ist dasNatriumtrimetaphosphat (Na3P3O9), das wegen seiner Eigenschaft, inWasser lösliche Schwermetallsalze zu bilden, als „Enthärter“ inWaschmitteln verwendet wird.

HPO3Na3P3O9

Die monomere meta-Phosphorsäure (HPO3) ist nicht stabil.Die Phosphorige Säure („Phosphonsäure“, H3PO3) enthält neben zweiOH-Gruppen ein direkt an das Phosphorzentrum gebundenesWasserstoffatom, das nicht azide ist. Hierfür ist offenbar die Tendenz zurBildung der stabilen P-O-Doppelbindung verantwortlich. Sie bildetdeshalb nur zwei Reihen von Salzen.

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H3PO3M2HPO3MH2PO3

Phosphorige Säure ist eine mittelstarke Säure (pKS = 2). Die Verbindungwird durch Hydrolyse von PCl3 technisch als hygroskopischer Feststoff(Schmp. 74 °C) hergestellt. Sie wirkt, wie auch ihre Salze, starkreduzierend.

2 PCl3 + 3 H2O → 2 H3PO3 + 3 HCl

Phosphorige Säure findet Verwendung in der Synthesephosphororganischer Verbindungen, die insbesondere in Form ihrer EsterP(OR3)3 von Bedeutung sind.Hypophosphorige Säure („Phosphinsäure“, H3PO2) bildet sich durchDisproportionierung von Phosphor mit Basen, vergleichbar der Reaktionvon Chlor mit NaOH, in Form ihrer Salze. Hieraus lässt sich die Säure(pKS = 2, Schmp. 27 °C) freisetzen.

P4 + 3 NaOH → 3 NaH2PO2 + PH3NaH2PO2 + HCl → H3PO2 + NaCl

Auch Hypophosphorige Säure ist ein starkes Reduktionsmittel.Von den Säurehalogeniden der Phosphorsäure besitzt einzigPhosphorylchlorid („Phosphoroxychlorid“, POCl3) praktische Bedeutung,insbes. in der organischen Synthese. Es wird als farblose Flüssigkeit (Sdp.105 °C) durch Oxidation von PCl3 hergestellt und reagiert mit Wasser zurortho-Phosphorsäure.

2 PCl3 + O2 → 2 POCl3POCl3 + 3 H2O → H3PO4 + 3 HCl

Arsensäure (H3AsO4) und Arsenige Säure (H3AsO3) gleichen denanalogen Verbindungen des Phosphors, sind jedoch schwächer sauer undwirken stärker oxidierend. Die Verbindungen des Antimons sind nur inForm ihrer Anionen (Antimonate und Antimonite) bekannt. Bi(OH)3 istbereits eine Base.

14 Die Elemente der Gruppe 13 (Erdmetalle)

14.1 Allgemeines

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Die Elemente der Gruppe 13 weisen die Valenzelektronenkonfigurationns2p1 (n = 2-6) auf. In ihrer Chemie dominiert die Oxidationszahl +III.Bedingt durch die relative Stabilität der B-B-Bindung treten beim Borauch niedrigere Oxidationsstufen auf. Insbesondere beim Thalliumbedingt der Effekt des Inerten Paares (vgl. E33) eine hohe Stabilität derOxidationszahl +I. Einen Überblick über die Eigenschaften derAtomsorten gibt Tab. 17.

Tab. 17: Eigenschaften der Gruppe 13-Elemente

Die Sonderstellung des Elements Bor zeigt sich in seinem Charakter alsHalbmetall und seiner hiermit zusammenhängenden Tendenz zum Aufbaumehrkerniger Strukturen mit Elektronenmangelsituation (sog. „Cluster“).Es soll deshalb gesondert besprochen werden.

14.2 BorWegen seines hohen Ionisierungspotentials ist das Element auch mit denelektronegativsten Partnern zur Ausbildung von Salzen des Ions B3+ nichtmehr in der Lage.Bor kommt in der Natur ausschließlich in Form oxidischer Erze vor. Diewichtigsten sind Borax (Na2B4O7∙10 H2O) und Kernit (Na2B4O7∙4 H2O).

14.2.1 Das ElementElementares Bor wird heute durch Umsetzung von Boroxid mitMagnesium gewonnen; bei der früheren Verwendung von Kohlenstoff(„Kohle“) als Reduktionsmittel bilden sich Borcarbide, BxCy.

B2O3 + 3 Mg → 2 B + 3 MgO

Hochreines Bor wird durch thermische Zersetzung von BI3 gewonnen.

2 BI3 → 2 B + 2 I2

Elementares Bor tritt in mehreren Modifikationen auf, die sämtlich alsBaustein den Ikosaeder B12 enthalten. Im α-rhomboedrischen Bor sindB12-Einheiten, in denen „metallische“ Elektronenmangelbindungenvorliegen, partiell über „klassische“ 2c2e-Bindungen verknüpft. Diesewirken als Isolatoren, so dass das Element, aufgebaut aus „Metallinseln“,insgesamt die Natur eines Halbleiters erhält (Abb. 39).

Abb. 39: Elementstruktur des α-rhomboedrischen Bors

Elementares Bor weist eine hohe Härte auf und wird, neben seinerVerwendung in der Halbleitertechnologie, in Schleifscheiben verwendet.

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14.2.2 Verbindungen mit WasserstoffBor ist, wie auch sein Nachbarelement Beryllium, wegen der zu niedrigenElektronegativitätsdifferenz nicht in der Lage, mit dem WasserstoffIonenbindungen einzugehen. In der einfachsten BorwasserstoffverbindungBH3 liegen folglich polare Atombindungen mit Wasserstoff derOxidationszahl –I vor. In der monomeren, unter chemischen Bedingungennicht existrenzfähigen Einheit BH3 verfehlt das Borzentrum dasangestrebte Elektronenoktett. Die Stabilisierung erfolgt durchDimerisierung zu B2H6, in dem die Boratome über Wasserstoffbrücken(„Hydridbrücken“, nicht Wasserstoffbrückenbindungen im Sinne von E9!)im Sinne von 3c2e-Bindungen zusammengehalten werden. DieseBindungsart soll nachfolgend am Beispiel von B2H6 näher besprochenwerden.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E29 Die Atombindung IV>Das Phänomen der 2c3e-Bindung lässt sich über VB- wie auch MO-Vorstellungen erklären. Während in der VB-Betrachtung zwei monomereBH3-Fragmente über Resonanz verknüpft werden, lässt sich durch dasMO-Verfahren ein Molekülorbitalschema konstruieren, in dem für jedeHBH-Brücke ein energetisch abgesenktes Molekülorbital mit zweiElektronen besetzt wird. Hierdurch resultiert für die gesamte Brücke dieBindungsordnung 1, für jede brückenständige BH-Bindung dieBindungsordnung 0.5. Die BH-Brückenbindungen sind somit schwächerund auch länger als die endständigen BH-Bindungen.Da zum Aufbau der Bindungen sp3-Hybridorbitale des Bors verwendetwerden, ist in B2H6 jedes Boratom verzerrt tetraedrisch von den vierWasserstoffatomen umgeben (Abb. 40).

Abb. 40: Diboran: Struktur und Bindung

Die Bindugssituation im elementaren Bor lässt sich durch 3c2e-BBB-Bindungen beschreiben.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Diboran (B2H6) bildet ein farbloses, giftiges Gas (Sdp. -92 °C), das ausBortrifluorid und Alkalihydriden (wegen der guten Löslichkeit inorganischen Lösungsmitteln wird Lithiumboranat verwendet) erhältlichist. Diboran hydrolysiert spontan mit Wasser und wird von Sauerstoffunter Freisetzung großer Wärmemengen verbrannt. Mit Metallhydridenreagiert es im Sinne einer Komplexbildungsreaktion zumTetrahydroborat-Ion, in dem konventionelle 2c2e-Bindungen vorliegen.

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3 LiBH4 + 4 BF3 → 3 LiBF4 + 2 B2H6B2H6 + 6 H2O → 2 B(OH)3 + 6 H2B2H6 + 3 O2 → B2O3 + 3 H2O (ΔH = -482 kcal/mol)B2H6 + 2 LiH → 2 Li[BH4]

Diboran bildet die Ausgangssubstanz einer Reihe von Polyboranen undPolyboranatanionen, deren stabilstes die Zusammensetzung [B12H12]

2-

sowie die dem elementaren Bor entsprechende Ikosaederstruktur aufweist.Trotz ihrer beträchtlichen Bedeutung sollen sie hier nicht näherbesprochen werden.

14.2.3 Verbindungen mit HalogenenSämtliche Bortrihalogenide BX3 sind bekannt; sie weisen auf Grund ihresmolekularen Aufbaus niedrige Schmelz- und Siedepunkte auf. Wir wollenhier nur das technisch wichtige Bortrifluorid (Sdp. -127 °C) besprechen.Die Verbindung wird technisch aus Boroxid und Flussspat gewonnen; siereagiert, wie auch die anderen Bortrihalogenide, rasch mit Wasser undfungiert als starke Lewis-Säure (vgl. E32) als Elektronenpaar-Akzeptor.

B2O3 + 2 CaF2 → BF3 + 3 CaOBF3 + 3 H2O → B(OH)3 + 3 HFBF3 + NaF → Na[BF4]BF3 + (C2H5)2O → (C2H5)2O-BF3

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E30 Die Atombindung V>Im Gegensatz zu BH3 liegen die Trihalogenide des Bors monomer vor.Hier wird die Stabilisierung des Elektronensextetts durchWechselwirkung der nichtbindenden Elektronenpaare derFluorsubstituenten mit den leeren p-Orbitalen des Borzentrums erreicht.Dies bezeichnet man als (p→p)π-Wechselwirkung. Hierdurch erreicht dasBorzentrum sein Elektronenoktett.

F2B=F

Man beachte, dass im Sinne der Resonanz alle drei Fluoratome in diesenProzeß einbezogen sind und die hierbei auftretenden Formalladungen denPartialladungen entgegengerichtet sind. Durch die Erhöhung derBindungsordnung (BO > 1) werden die B-F-Bindungen verkürzt undstabilisiert. Dennoch behalten die Bortrihalogenide ihren stark Lewis-sauren Charakter.

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Sind am Zentrum leere d-Orbitale verfügbar, sind auch (p→d)π-Wechselwirkungen möglich. Da d-Orbitale energetisch höher liegen als p-Orbitale gleicher Hauptquantenzahl, tritt diese Bindungsverstärkung nurin Gegenwart stark elektronegativer Elemente (z.B. in SF6) inErscheinung.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

14.2.4 Verbindungen mit Sauerstoff; BorsauerstoffsäurenBortrioxid (B2O3) bildet sich durch thermische Wasserabspaltung ausBorsäure als polymer gebauter farbloser Feststoff (Schmp. 450 °C), indem die Boratome die Koordinationszahl 3 aufweisen.

2 H3BO3 → B2O3 + 3 H2O

Die Verbindung reagiert mit Laugen zu einer Vielzahl vonKomplexsalzen, deren bekanntestes der auch mineralisch vorkommendeBorax darstellt (Abb. 41). In diesen Verbindungen kann Bor gegenüberdem Sauerstoff die Koordinationszahlen 3 und 4 einnehmen. Boroxidwird in der Glasindustrie sowie als Ausgangsprodukt zur Darstellung derBornitride verwendet.

Abb. 41: Strukturen von Borsauerstoff-Verbindungen

ortho-Borsäure (H3BO3) wird technisch durch Umsetzung von Borax mitSchwefelsäure als farbloser Feststoff (Schmp. 171 °C) gewonnen. DieVerbindung wirkt in wäss. Lösung als Hydroxidionen-Akzeptor und isteine schwache Säure (pKS = 9). Beim Erhitzen geht ortho-Borsäure unterWasserabspaltung in die meta-Borsäure über. Beide Borsäuren bildenplanare, durch Wasserstoffbrücken dominierte Schichtstrukturen (Abb.41).

Na2B4O7∙10 H2O + H2SO4 → 4 H3BO3 + Na2SO4 + 5 H2OH3BO3 + 2 H2O <=> H3O

+ + B(OH)4-

H3BO3 → HBO2 + H2O

Technisch wichtig sind die sog. „Perborate“, die durch Umsetzung vonBorsäure mit Natriumperoxid erhalten werden und in großem Umfang alsBleichmittel in der Waschmittelindustrie verwendet werden.

2 H3BO3 + Na2O2 + H2O → 2 NaBO2∙H2O2∙3 H2O

14.2.5 Verbindungen mit Stickstoff

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Bor bildet mit Stickstoff zwei stabile binäre Verbindungen derZusammensetzung BN, die beide als Polymere vorliegen.Hexagonales Bornitrid (BNh) wird durch Umsetzung von Boroxid mitAmmoniak bei 800 °C oder, besser, mit Kohlenstoff und Stickstoff bei1800 °C als weicher, bei höheren Temperaturen gleitfähiger Feststoff(Sdp. 3270 °C) gewonnen; es dient als Hochtemperaturschmiermittel. Beihohem Druck und hohen Temperaturen (60-90 kbar, 2000 °C) erfolgt dieUmwandlung in die kubische Modifikation BNk, die nach dem Diamantdie größte Härte aller Stoffe aufweist und folgerichtig als Schleifmittelverwendet wird.

B2O3 + 2 NH3 → 2 BNh + 3 H2OB2O3 + 3 C + N2 → 2 BNh + 3 COBNh → BNk

Die Eigenschaften der BN-Modifikationen ergeben sich direkt aus ihrenStrukturen (Abb. 42). In der hexagonalen Form sind die planarenSchichten nur durch schwache Wechselwirkungen miteinander verbundenund lassen sich dementsprechend leicht verschieben. Die hohe Festigkeitder polaren σ-Bindungen in der kubischen Form bewirken, verbunden mitder Raumnetzstruktur, die beobachtete große Härte. Beide Strukturenstehen in direktem Zusammenhang mit den Strukturen des elementarenKohlenstoffs.

Abb. 42: Strukturen der BN-Modifikationen

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E31 Das Isoelektronische Konzept>Weisen chemische Systeme die gleiche Anzahl von Elektronen auf,bezeichnet man sie als isoelektronisch. Wir haben bereits mehrere Fälledieser Verwandtschaft kennengelernt. Instruktive Beispiele sind etwa diePaare N2/NO+, N2O/N3

- oder SO42-/ClO4

-. Zu beachten ist hier dasAuftreten unterschiedlicher formaler Ladungen bei Formulierung deranalogen Bindungsordnung. Weisen zwei Verbindungspaare nur diegleiche Zahl der Valenzelektronen auf (z.B. O3/SO2, H2O/H2S), nennt mansie isovalenzelektronisch. Der Wert des Konzepts liegt in der Erkenntnisvergleichbarer Strukturen.Unter Einbezug des später zu besprechenden Elements Kohlenstoff undder hierauf basierenden organischen Chemie erhält das Konzept einebesondere Bedeutung. So sind CO/N2, CO/CN- und CO2/NO2

+ gleichfallsisoelektronische Paare.Eindrucksvolle Ergebnisse liefert das Konzept insbesondere beimStrukturvergleich der isoelektronischen Fragmente C2 und BN. Auf die

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bauliche Verwandtschaft der BN- und C-Modifikationen wurde bereitshingewiesen.Als Beleg für eine der organischen Chemie analoge BN-Chemie mag der„aromatische“ Charakter des Borazins (Abb. 43) dienen.

Abb. 43: Isoelektronische CC- und BN-Paare

Es ist jedoch zu beachten, dass isoelektronische Paare sich, bei gleicherFormulierung der chemischen Bindung, durch die Verteilung der formalenLadung unterscheiden. Dies kann, beispielsweise sichtbar beim Vergleichder Strukturen von BNh und Graphit, Unterschiede im Aufbau nach sichziehen.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

14.2.6 KomplexverbindungenWie bereits beim Beryllium angemerkt (Kap. 12.2, E27) werdenKomplexverbindungen durch Anlagerung von Liganden an einKoordinationszentrum mittels koordinativer Bindungen gebildet. SolcheVerbindungen finden sich im Bereich der Hauptgruppenelementeinsbesondere dort, wo hierdurch Elektronenmangel behoben werden kann.Bei Borverbindungen des Typs BX3 ist insbesondere die Bildung derstabilen Komplexanionen gem.

BX3 + X- → BX4- (X = F,Cl,Br,I)

bekannt. Jedoch können an BX3 auch Neutralmoleküle, deren Zentralatomwenigstens ein nichtbindendes Elektronenpaar trägt, koordinieren.

BF3 + (C2H5)2O → (C2H5)2O-BF3

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E32 Lewis-Säuren und Basen>Wie bereits angemerkt kann die Stabilität von Komplexverbindungen überdie Formulierung der Bildungsreaktion als Gleichgewicht mit derGleichgewichtskonstante K beschrieben werden. Der Formalismus ist derBeschreibung der Säure/Base-Reaktionen nach Broenstedt (vgl. E7)ähnlich. Tatsächlich bezeichnet man bei Ausbildung der koordinativenBindung die das bindende Elektronenpaar liefernden Liganden (im oberenBeispiel X- bzw. (C2H5)2O) auch als Lewis-Basen, dieKoordinationspartner (im oberen Beispiel BX3) als Lewis-Säuren. DieAusbildung der Bindung selbst entspricht dann der Neutralisation. Sogesehen stellt die Säure/Base-Reaktion nach Broenstedt einen Spezialfall

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der Säure/Base-reaktion nach Lewis, den in wäss. Lösung, dar. H+ wäredann die Lewis-Säure, OH- die Lewis-Base.Anders als im Bereich der Broenstedt-Säuren lassen sich nun imDefinitionsbereich von Lewis absolute Säurestärken nicht über die Lagedes Gleichgewichts definieren und bestimmen. So ist beim Vergleich derGleichgewichtslagen der Bildung von BX4

- in der Reihe derHalogenidionen F- gegenüber BF3 die stärkste Base, gegenüber BI3 jedochI-. BF3 bildet mit Ethern R2O die stabilsten Addukte, während „BH3“ mitThiothern R2S stabile Koordinationsverbindungen bildet. Folglich ist derBegriff „Säurestärke“ bei wechselnder Bezugsbase (im Broenstedt-Konzept einheitlich H2O) zu relativieren.Die Ursache hierfür liegt in der Tendenz „harter“, d.h. wenigpolarisierbarer Basen, mit „harten“ Säuren stabile Addukte zu bilden.Hingegen bevorzugen „weiche“, d.h. stark polarisierbare Basen „weiche“Säuren als Reaktionspartner. Die Polarisierbarkeit der Elektronenhüllehängt von der Wechselwirkung zwischen Atomkern und Valenzschale ab;sie nimmt innerhalb der Gruppen stark zu, hingegen innerhalb derPerioden ab. Der Zusammenhang wird als „Konzept der harten undweichen Säuren und Basen“ (HSAB-Konzept) bezeichnet.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

14.3 Aluminium, Gallium, IndiumWegen ihres unedlen Charakters kommen die Elemente in der Natursämtlich in gebundener Form vor. Aluminium gehört zu den häufigstenElementen der Erdoberfläche und findet sich, neben dem Mineral Kryolith(Na3AlF6), ausschließlich in oxidischer Form als Korund (Al2O3, dotiertmit Fremdmetallen als Rubin und Saphir), Bauxit [AlO(OH)] sowie inFeldspäten („Alumosilikate“). Gallium findet sich als seltener Begleiterdes Aluminiums (Radienkontraktion durch Einbau der 3d-Elemente)sowie, wie auch Indium und Thallium, als Begleiter des Zinks in derZinkblende (ZnS).

14.3.1 Die ElementeIm Gegensatz zu Bor bilden seine schwereren Gruppennachbarn alsElemente Metallstrukturen aus. Aluminium findet als Werkstoff(Leichtmetall) sowie als Reduktionsmittel umfangreiche Verwendung; esist trotz seines unedlen Charakters wegen der die Oberfläche schützendenOxidschicht („Passivierung“) resistent, löst sich aber in verdünntenSäuren. Gallium und Indium werden in der Halbleitertechnologie zurDotierung von Silizium (p-Halbleiter) sowie als 3/5-Halbleiter verwendet.Die Darstellung von Aluminium erfolgt in großem Umfang aufelektrochemischem Wege. Das Metall kann wegen seines stark negativenNormalpotentials (E° = -1.68 V) nicht aus wäss. Lösung abgeschiedenwerden (vgl. E21). Durch Schmelzflusselektrolyse von gereinigtem

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Bauxit, dem zur Erniedrigung des Schmelzpunkts und zur Erhöhung derLeitfähigkeit Kryolith zugesetzt wird. Das technisch wichtige Verfahrensoll exemplarisch für die Metalldarstellung nachfolgend besprochenwerden.a) Reinigung des BauxitsVor Durchführung der Schmelzflusselektrolyse muß der Bauxit vonstörenden Verunreinigungen, inbes. Eisen und Silizium, befreit werden.Dies geschieht unter Nutzung des amphoteren Charakters von Al(OH)3

Al(OH)3 + OH- → Al(OH)4-

Hierbei fällt Eisen in Form von Fe(OH)3 aus der Lösung aus.

Al(OH)3 + 3 H3O+ + 3 H2O → [Al(H2O)6]+

Hierbei fällt Silizium in Form von SiO2 aus der Lösung aus.Anschließend wird das Hydroxid thermisch (1200 °C) entwässert.

2 Al(OH)3 → Al2O3 + 3 H2O

b) Schmelzflusselektrolyse von Al2O3

Wegen des hohen Schmelzpunktes von Al2O3 (2050 °C) wird dieElektrolyse mit einer Schmelze von 10.5% Al2O3 und 89.5% Na3[AlF6]bei 970 °C durchgeführt. Die Elektrodenreaktionen sind komplex undnicht vollständig nachgewiesen; man beachte, dass bei der Reaktion Al2O3

verbraucht und Aluminium, trotz der Einbindung in diewanderungsfähigen Anionen, an der Kathode gebildet wird:

Dissoziation des Kryoliths2 Na3AlF6 → 6 Na+ + 2 AlF6

3-

AnodeAl2O3 + 2 AlF6

3- → 3/2 O2 + 4 AlF3 + 6 e-

Kathode6 Na+ + 6 e- → 6 Na6Na + 2 AlF3 → 2 Al + 6 NaF

2 AlF3 + 6 NaF → 2 Na3AlF6

GesamtreaktionAl2O3 → 2 Al + 3/2 O2

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Die Elektrolyse wird bei 6 V und 180000 A durchgeführt; man beachte,dass der eigentliche elektrochemische Reduktionsprozeß die Entladungder Natriumionen ist. Abb. 44 zeigt eine schematische Darstellung desElektrolyseofens.

Abb. 44: Elektrolyseofen zur Darstellung von Aluminium

Auch die schwereren Gruppe 15-Metalle werden elektrochemischgewonnen.

14.3.2 Verbindungen des Aluminiums mit WasserstoffAluminiumhydrid wird technisch aus den Elementen bei hohenTemperaturen gewonnen.

2 Al + 3 H2 → 2 AlH3

Die Verbindung ist polymer aufgebaut; die Aluminiumatome weisenhierbei die Koordinationszahl 6 auf. Jedes Aluminiumatom ist hierbei anjeweils 3 Al-H-Al-Dreizentrenbindungen (3c2e) beteiligt.AlH3 ist ein starkes Reduktionsmittel. Es reagiert als Hydridverbindungmit Wasser unter Freisetzung von Wasserstoff.

2 AlH3 + 3 H2O → 2 Al(OH)3 + 3 H2

Von praktischer Bedeutung ist Lithiumalanat wegen seiner gutenLöslichkeit in Diethylether.

4 LiH + AlCl3 → Li[AlH4] + 3 LiCl

14.3.3 Verbindungen des Aluminiums mit HalogenenAluminium bildet die Halogenide der Zusammensetzung AlX3 (X =F,ClBr,I). AlF3 (Ausgangsmaterial zur Herstellung von Kryolith) undAlCl3 (Katalysator in der organischen Synthese) werden in technischemUmfang hergestellt.

Al2O3 + 6 HF → 2 AlF3 + 3 H2O2 Al + 3 X2 → 2 AlX3 (X = Cl,Br,I)

Wegen der hohen Elektronegativitätsdifferenz ist AlF3 als Salz aufgebaut;hierin weist Al die KZ 6, F die KZ 2 auf. Im sog. ReO3-Typ (vgl. Abb. 67)besetzen die Al-Atome die Ecken eines Würfels, während die F-Atome

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auf den Kantenmitten des Würfels sitzen (vgl. Abb. 67). Wegen der hohenGitterenergie ist AlF3 in Wasser unlöslich.In AlCl3 liegen bereits deutliche Anteile von Atombindungen vor. Imfesten Zustand kristallisiert die Substanz in einer Schichtstruktur (KZ 6für Al); hier bilden die Chloratome eine kubisch dichteste Kugelpackung,deren Oktaederlücken in jeder 2. Schicht zu 2/3 von Aluminiumatomenbesetzt sind. In Lösung und in der Schmelze liegen Al2Cl6-Moleküle vor(Al-Cl-Al-Brücken des 3c4e-Typs). Dieser Aufbau liegt auch denVerbindungen AlBr3 und AlI3 im festen Zustand zu Grunde (Abb. 45).

Abb. 45: Die Strukturen von AlCl3

Die schwereren Aluminiumhalogenide bilden, wie die entsprechendenVerbindungen des Bors, Lewis-Säuren und reagieren mit Wasser zuHexaquo-Komplexen bzw. mit Halogenid-Ionen unter Bildung vonKomplexsalzen der KZ 4. Mit Fluorid-Liganden erreicht das Aluminium,wie in AlF3, im Kryolith die KZ 6.

AlX3 + 6 H2O → [Al(H2O)6]X3 (X = Cl,Br,I)AlX3 + NaX → Na[AlX4] (X = Cl,Br,I)AlF3 + 3 NaF → Na3[AlF6]

14.3.4 Verbindungen des Aluminiums mit SauerstoffAls einziges binäres Oxid des Aluminiums ist Al2O3 bekannt, dasallerdings in mehreren Kristallmodifikationen auftritt. Sie sind sämtlichaus Ionen aufgebaut. Die wichtigste, auch in der Natur vorkommende, istder Korund (α-Al2O3, Schmp. 2050 °C), der technisch durch Erhitzen vonBauxit (s.o.) gewonnen wird und neben der Al-Darstellung wegen seinergroßen Härte als Schleifmittel verwendet wird. Im der Struktur bilden dieSauerstoffionen eine hexagonal dichteste Kugelpackung, in der 2/3 derOktaederlücken von Aluminiumionen besetzt sind. Hierbei werden dieLücken aller Schichten verwendet (Abb. 46).

Abb. 46: Die Struktur von Korund

Al(OH)3 wird aus sauren Al-Salzlösungen durch Zugabe von Ammoniakgefällt; es ist, wie bereits erwähnt, amphoter und löst sich sowohl inSäuren wie auch in Laugen (s.o.)

14.3.5 Verbindungen des Galliums und IndiumsDie Verbindungen der dreiwertigen Elemente sind denen des Aluminiumsvergleichbar. Eine Sonderstellung nimmt GaAs als III/V-Halbleiter ein.Die Verbindung ist isoelektronisch zu Germanium und kristallisiert im

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Zinkblende-Typ (ZnS). Hierin bilden die Schwefelatome eine kubischdichteste Kugelpackung, in der die Hälfte der Tetraederlücken mitZinkatomen besetzt ist (KZ 4/4).

14.4 ThalliumDie Chemie des seltenen, hochgiftigen Elements weist als Besonderheitdie stark oxidierende Wirkung seiner dreiwertigen Verbindungen auf,während zahlreiche Verbindungen des einwertigen Thalliums trotz dernicht erfüllten Oktettregel stabil sind. Salze des einwertigen Thalliums mit„harten“ Anionen (F-, NO3

-, CO32-, SO4

2- usw.) entsprechen in ihrenEigenschaften den Kaliumsalzen, während Salze „weicher“ Anionen (Cl-,Br-, I-, S2- usw.) den Silbersalzen vergleichbar sind.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E33 Der Effekt des Inerten Paares>Wir haben bereits gesehen, dass innerhalb einer Hauptgruppe dieoxidierende Wirkung der höchsten Oxidationsstufe beim Übergang zu denschweren Gruppenelementen stark zunimmt. Bei den Kationen bildendenElementen der Gruppen 13 und 14 macht sich dies durch die Stabilität derIonen Tl+, Pb2+ sowie Bi3+ besonders bemerkbar.In diesen Ionen tritt die Valenzelektronenkonfiguration ns2 auf; diesbedeutet, dass die s-Elektronen der Valenzschale nicht bei der Ionisierungabgespalten werden und auch nicht zur Ausbildung von Atombindungenherangezogen werden.Dieser Befund erklärt sich aus der Stellung der Elemente imPeriodensystem. Grundsätzlich werden s-Elektronen wegen ihresgeringeren mittleren Abstandes zum Kern von diesem stärker festgehaltenals p-Elektronen der gleichen Hauptquantenzahl. Im Falle der ElementeGa, Ge, As, In, Sn und Sb tritt verstärkend hinzu, dass der beim Aufbaudes Periodensystems direkt vor diesem Block erfolgende Einbau derElemente 3d bzw. 4d zu einer starken Erhöhung der Kernladung führt, diewegen der schlechten Abschirmung durch die zum Ladungsausgleicheingefügten d-Elektronen in verstärktem Maße wirksam wird.Bei den Elementen Tl, Pb und Bi wird dieser Effekt durch die zuvorerfolgte Besetzung der 14 4f-Zustände (Lantanoide) nochmals verstärkt.Die Auswirkungen zeigen sich auch bei den benachbarten Elementen derNebengruppen. So ist der (im Vergleich mit Zn und Cd) unerwartet edleCharakter des Quecksilbers und seine hohe Flüchtigkeit auf die Stabilitätdes im Atom vorliegenden Valenzzustandes 4f145d106s2 zurückzuführen(Hg° und Tl+ sind isoelektronisch!).xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

15. Die Elemente der Gruppe 14 (Kohlenstoff-Gruppe)

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15.1 AllgemeinesDie Elemente der Gruppe 14 stehen im Zentrum des

Periodensystems. Ihre Entfernung von der Edelgaskonfiguration ns2p6

macht sie zur Ausbildung einatomiger Ionen, abgesehen von der demEffekt des inerten Paares (vgl. E33) unterliegenden Sn2+ und Pb2+,unfähig. Einen Überblick der Elementeigenschaften gibt Tab. 18.

Tab. 18: Eigenschaften der Gruppe 14-Elemente

Aus Sicht ihrer chemischen Eigenschaften lassen sich die Elemente in 3Gruppen eingliedern. Der Kohlenstoff, die verwandten Elemente Siliziumund Germanium sowie die gleichfalls ähnliche Eigenschaftenaufweisenden Elemente Zinn und Blei werden jeweils getrenntbesprochen.

15.2 DerKohlenstoffKohlenstoff findet sich in der Natur in elementarer Form als

Graphit und Diamant („Kohle“ ist ein komplexes Gemisch ausKohlenstoff-reichen Kohlenwasserstoffen), in der Biomaterie sowie,weitaus häufiger in mineralischen Carbonaten, insbesondere Kalk(CaCO3) und Dolomit (Ca,MgCO3). Beträchtliche Mengen finden sichaußerdem als CO2 in der Luft.

15.2.1 Die Sonderstellung des KohlenstoffsUnter allen Elementen nimmt der Kohlenstoff trotz seiner nur

mäßigen Häufigkeit (0.03 Massen-%) wegen der Vielzahl und Bedeutungseiner Verbindungen eine Sonderstellung ein. Dies hat zur Ausgliederungder Verbindungen mit C-C- bzw. C-H-Bindungen aus der AllgemeinenChemie und Unterteilung in die Kapitel „Organische Chemie“ und„Anorganische Chemie“ geführt; letzteres behandelt alle nicht-organischen, d.h. nicht C-C- bzw. C-H-Bindungen enthaltendenVerbindungen und macht dennoch, nach Anzahl der Verbindungen, kaummehr als 10% des Gesamtumfanges aus.Die Ursachen für die Sonderstellung des Kohlenstoffes ergeben sich ausseiner Stellung im Periodensystem:

a) EN ca. 2.5 führt zur Ausbildung wenig polarer und somit kinetischstabiler Verbindungen mit der Mehrzahl der Elemente, vor allem mitdem Wasserstoff

b) Valenzelektronenkonfiguration 2s2p2 erlaubt die Bildung neutralerMoleküle des vierbindigen Kohlenstoffs unter Erreichen des Oktetts

c) Als Element der 2. Periode („1. Achterperiode“) gilt dieDoppelbindungsregel für den Kohlenstoff nicht; er ist folglich zur

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Ausbildung von stabilen Mehrfachbindungen mit sich selbst sowie mitseinen Nachbarelementen Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel befähigt.

15.2.2 Das ElementKohlenstoff tritt in wenigstens drei Elementmodifikationen auf, von

denen sich zwei in der Natur finden:Graphit kristallisiert in einer Schichtstruktur (KZ 3) ähnlich demhexagonalen Bornitrid (Kap. 14.2.5). Innerhalb der Schichten trittResonanz ein; sämtliche C-C-Bindungen einer Schicht weisen die gleicheLänge auf. Hierdurch werden die Elektronen der π-Bindungen innerhalbder Schicht frei beweglich, was dem Graphit die Eigenschaften einesHalbleiters verleiht. Die einzelnen Schichten stehen untereinander, andersals in BN, „auf Lücke“; sie werden nur durch schwacheWechselwirkungen zusammengehalten und sind leicht gegeneinanderverschiebbar. Graphit dient deshalb als Schmiermittel sowie alsBestandteil von „Bleistiften“.Diamant bildet sich aus Graphit oberhalb 2000 °C bei hohen Drücken. Erbildet eine Raumnetzstruktur (KZ 4), in der jedes Kohlenstoffatom unterVerwendung von sp3-Hybridorbitalen vier Einfachbindungen zu seinenNachbarn ausbildet. Die hohe Stabilität dieser Bindungen und die hoheSymmetrie der Diamantstruktur verleihen dem Diamanten die größteHärte aller bekannten Substanzen. Diamant wird als Bestückung vonBohrern sowie, in hochreiner Form, als Schmuckstein („Brilliant“)verwendet.Beide Modifikationen werden heute auch synthetisch hergestellt.Fulleren, erst seit ca. 25 Jahren bekannt, bildet sich bei ca. 1000 °C beimVerbrennen von Holz oder Kohle bei Unterschuß von Sauerstoff. DieSubstanz besteht aus C60-Molekülen kubischer Symmetrie, wie sie auch inFußbällen vorliegt. C60 ist die stabilste Form eine mittlerweile durchzahlreiche, auch polymere Vertreter belegten Substanzklasse, die teilweisetechnische Bedeutung in der Katalyse erlangt hat.Eine Übersicht der Elementmodifikationen gibt Abb. 47.

Abb. 47: Die Elementstrukturen des Kohlenstoffs

15.2.3 Verbindungen mit HalogenenSämtliche Tetrahalogenide CX4 lassen sich aus den Elementen

herstellen. Tetrachlorkohlenstoff (Sdp. 76 °C) wird in technischemMaßstab produziert und dient trotz seiner Toxizität als wichtigesLösungsmittel; es ist nicht brennbar und mischt sich nicht mit Wasser.Tetraiodmethan zersetzt sich beim Erwärmen unter Abspaltung von Iod.

C + 2 X2 → CX4 (X = F,Cl,Br,I)2 CI4 → 2 I2 + I2C=CI2

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Fluorkohlenstoff-Verbindungen weisen generell niedrige Siedepunkte auf(CF4 -128 °C); sie dienen heute als Kühlflüssigkeiten in Kühlaggregaten.Verbindungen der Zusammensetzung CX2 („Carbene“) weisen nur einekurze Lebensdauer auf; sie werden in situ in der organischen Syntheseerzeugt und umgesetzt.Sämtliche Kohlenstoff-Halogen-Verbindungen kann man sich als Derivateder zugehörigen Kohlenstoff-Wasserstoffverbindungen denken, in denendie Wasserstoff-Substituenten teilweise oder vollständig gegenHalogenatome ausgetauscht sind. Die große Vielzahl der hierbeiresultierenden Verbindungen (z.B. CHCl3, C6F6) wird traditionsgemäß derorganischen Chemie zugerechnet.

15.2.4 Verbindungen mit SauerstoffEs existieren zwei binäre Verbindungen des Kohlenstoffs mit Sauerstoff:Kohlendioxid (Sublp. -57 °C) und Kohlenmonoxid (Schmp. -205 °C, Sdp.-192 °C).

CO2CO

Kohlendioxid kommt in großen Mengen (ca. 0.03 Vol%) in der Luft vor.Da es die Verbrennung nicht unterhält, dient es als Löschgas. Aus demgleichen Grund ist es „giftig“, wenn es (z.B. in Folge vonVerbrennungsprozessen) in der Luft angereichert und an Stelle vonSauerstoff vorkommt. Es bildet sich bei der Verbrennung von Kohlenstoffsowie von fossilen Brennstoffen (Kohle, Erdöl, Erdgas) sowie bei derUmsetzung von Carbonat-Salzen mit Säuren.

C + O2 → CO2Na2CO3 + 2 HCl → 2 NaCl + H2O + CO2

Umgekehrt reagiert es mit Basen zu Carbonat-Salzen bzw.Hydrogencarbonat-Salzen.

CO2 + NaOH → NaHCO3CO2 + 2NaOH → Na2CO3 + H2O

Kohlendioxid löst sich physikalisch in Wasser (“Kohlensäure”) und trittals Bestandteil bzw. Zusatz in Mineralwässern und Limonaden auf.Kohlenmonoxid bildet sich bei der unvollständigen Verbrennung vonKohlenstoff sowie im Gleichgewicht mit Kohlendioxid und Kohlenstoff

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bei hohen Temperaturen (Boudoir-Gleichgewicht) und ist somitBestandteil des Synthese- und Generatorgases (vgl. Kap. 13.2.2).

2 C + O2 → 2 COCO2 + C → 2 CO (Boudoir-Gleichgewicht)

Kohlenmonoxid lässt sich durch Wasserabspaltung aus der Ameisensäure(z.B. mit conc. H2SO4) gewinnen; es ist folglich das Anhydrid (vgl. E23)der Ameisensäure. Umgekehrt können die Salze der Ameisensäure(„Formiate“) durch Einleiten von CO in Laugen hergestellt werden.

H2CO2 → H2O + COCO + NaOH → NaHCO2

Das zum N2-Molekül isoelektronische CO-Molekül ist wenig polar, dapartiale und formale Ladung einander entgegengerichtet sind. Das MO-Schema (Abb. 48) zeigt einen gegenüber N2 veränderten Aufbau durch dieunterschiedlichen Ionisierungspotentiale der Atome.

Abb. 48: MO-Schema des Kohlenmonoxids

Aus dem MO-Schema ergibt sich die Basizität des σ*-Orbitals, wodurchCO zur Ausbildung von koordinativen Bindungen zu Metallzentren, d.h.zur Bildung von Metallkomplexen („Metallcarbonyle“) befähigt wird (vgl.Kap. 19.5.3.3).

M + CO → M←CO

In der Biosphäre werden hierdurch biokatalytisch aktive Metallzentren,insbesondere Eisen („Hämoglobin“) blockiert; deshalb ist Kohlenmonoxidein starkes Gift. Dessen ungeachtet spielt Kohlenmonoxid alsSynthesebaustein (C1) in der organischen Synthese eine bedeutende Rolle.

15.2.5 Sauerstoffsäuren des Kohlenstoffs und ihre DerivateVon Kohlenstoff existieren zwei Sauerstoffsäuren der ZusammensetzungH2CO3 (Kohlensäure) und H2CO2 (Ameisensäure):

H2CO3H2CO2

Die Ameisensäure gilt als Stammverbindung der Carbonsäuren, R-C(O)OH, und wird üblicherweise samt ihren Derivaten der organischenChemie zugerechnet.

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Die Kohlensäure ist weder in reiner Form noch in Lösung beständig; beimVersuch ihrer Darstellung, etwa durch Ansäuern ihrer Salze, zerfällt siespontan in Wasser und ihr Anhydrid CO2 (vgl. E23), weswegen sie langeZeit als schwache Säure angesehen wurde. Dieser durch den Zerfall derSäure vorgetäuschte Befund konnte erst kürzlich mit der Isolierung undCharakterisierung der Säure korrigiert werden (pKS ca. 3).Von der Kohlensäure leiten sich zwei Reihen von Salzen ab, dieCarbonate (M2CO3) und die Hydrogencarbonate (MHCO3). Carbonatereagieren in wäss. Lösung durch Hydrolyse als schwache Basen (pKB = 9)und werden als solche verwendet; Hydrogencarbonate zeigen kaumHydrolysereaktionen, können aber wegen der durch CO2-Entwicklungbedingten Verschiebung des Reaktionsgleichgewichts gleichfalls alsBasen verwendet werden.

CO32- + H2O <=> HCO3

- + OH-

HCO3- + H3O

+ → CO2 + 2 H2O

Wasserunlösliche Carbonate kommen in großem Umfang in der Natur vor(s.o.); als wasserlösliche Verbindungen werden Natriumcarbonat(Na2CO3∙10 H2O, „Soda“) und Ammoniumhydrogencarbonat (NH4HCO3)technisch hergestellt.Die technische Synthese des Natriumcarbonats (Solvay-Verfahren) liefertein gutes Beispiel, wie ein nicht direkt realisierbarer Prozeß, hier dieGewinnung von Natriumcarbonat aus Natriumchlorid undCalciumcarbonat, auf Umwegen erzwungen werden kann:

CaCO3 → CaO + CO22 NaCl + 2 CO2 + 2 NH3 + 2 H2O → 2 NaHCO3↓+ 2 NH4Cl2 NaHCO3 → Na2CO3 + CO2 + H2O2 NH4Cl + CaO → 2 NH3 + CaCl2 + H2OCaCO3 + 2 NaCl → CaCl2 + Na2CO3

Wesentlicher Schritt ist die Ausfällung des in Wasser schwerlöslichenNatriumhydrogencarbonats im Sinne einer Gleichgewichtsverschiebung.Natriumcarbonat wird in großem Umfang in der Glasindustrie sowie alsschwache Base verwendet.Ammoniumhydrogencarbonat wird durch Einleiten von Kohlendioxid inwäss. Ammoniaklösungen erhalten. Es zersetzt sich bereits bei 60 °C inseine Edukte (d.h. „rückstandlos“) und wird als Treibmittel(„Backpulver“) verwendet.

NH3 + CO2 + H2O → NH4HCO3

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Wichtige, stabile Derivate der Kohlensäure sind das hochgiftige Phosgen(COCl2, Sdp. 8 °C) sowie der in biochemischen Prozessen alsAbbauprodukt gebildete Harnstoff [CO(NH2)2, Schmp. 133 °C].

COCl2 PhosgenCO(NH2)2 Harnstoff

Beide Verbindungen werden synthetisch hergestellt. Phosgen ist einwichtiger Ausgangsstoff in der organischen Synthesechemie. Harnstoffwird vornehmlich als Düngemittel verwendet.

CO + Cl2 → COCl2COCl2 + 4 NH3 → CO(NH2)2 + 2 NH4ClCO2 + 2 NH3 → CO(NH2)2 + H2O

15.2.6 Verbindungen mit StickstoffBlausäure (HCN, Sdp. 26 °C), die traditionsgemäß der AnorganischenChemie zugerechnet wird, ist, wie auch ihr zu CO isoelektronisches Anion(vgl. E31) CN- (Cyanid) hochgiftig.

HCNCN-

Blausäure (pKS = 9.2) wird technisch aus Methan und Ammoniak (2000°C, Pd-Katalysator) hergestellt und durch Einleiten in KOH in KCN(„Zyankali“) überführt. Früher wurde auch NaCN technisch aus NaNH2

gewonnen.

2 CH4 + 2 NH3 + 3 O2 → 2 HCN + 6 H2OHCN + KOH → KCN + H2ONaNH2 + C → NaCN + H2

Blausäure findet Anwendung in der organischen Synthesechemie.Cyanidsalze werden, wegen der ausgezeichneten Ligandeigenschaften desAnions (vgl. E35), in der Galvanotechnik („Cyanidlaugerei“) eingesetzt.

15.2.7 CarbideUnter Carbiden versteht man binäre Verbindungen des Kohlenstoffs mitElementen geringerer Elektronegativität (Metalle und Metalloide). Sielassen sich einteilen in

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a) kovalente Carbide (z.B. SiC) mit kovalenten Kohlenstoff-Element-Bindungenb) salzartige Carbide; hier liegen Kohlenstoffanionen vor (so entwickeltCaC2 als Salz des Acetylens (vgl. Kap. 19.4.3) mit Wasser denzugehörigen Kohlenwasserstoff)c) metallische Carbide; hier sind Kohlenstoffatome in Oktaederlückeneines Metallgitters eingebaut (z.B. TiC)

15.3 Silizium und GermaniumSilizium, das zweithäufigste Element der Erdkruste (27.7 Massen%),kommt überwiegend als Siliziumdioxid oder in Form oxidischerMineralien, die zusätzlich Al, Mg, Ca und Fe enthalten,vor. Das sehr vielseltenere Germanium findet sich in sulfidischen Erzen, hauptsächlich imGermanit (Cu6FeGe2S8). Trotz der technischen Bedeutung desGermaniums für die Halbleiterindustrie sollen nachfolgend nur dieVerbindungen des Siliziums besprochen werden.

15.3.1 Die ElementeSilizium und Germanium existieren beide nur in der Diamantstruktur; diedie dem Graphit analoge Struktur ist wegen der Doppelbindungsregel(vgl. E24) instabil. Die gegenüber C größeren Atomradien bewirken eineSchwächung der Element-Element-Bindungen, die beiden ElementenHalbleitereigenschaften verleiht.Silizium wird in großem Umfang durch Reduktion von Quarz (SiO2) mitKoks im Elektrischen Ofen bei 1800 °C erhalten. Hierbei ist einÜberschuß von Kohlenstoff wegen der Bildung von Siliziumcarbid (SiC)zu vermeiden. Das so gewonnene Silizium wird als Legierungsbestandteilverwendet.Zur im Bereich der Halbleitertechnologie erforderlichen Reinigung wirdSilizium mit HCl bei 300 °C zu SiHCl3 („Silicochloroform“, Sdp. 32 °C)oxidiert, das nach Destillation bei 1100 °C thermisch in die Eduktegespalten wird. Die weitere Aufreinigung des Siliziums erfolgt durchZonenschmelzen; hierdurch wird eine sehr hohe Reinheit (10-8 %Verunreinigungen) erreicht.Zur Darstellung von Germanium wird das aus mineralischen Vorkommengewonnene Dioxid gereinigt und mit Wasserstoff reduziert.

SiO2 + 2 C → Si + 2 COSi + 3 HCl → SiHCl3 + H2GeO2 + 2 H2 → Ge + 2 H2O

Silizium wird in großen Mengen als Legierungsbestandteil vonMetalllegierungen benötigt. Darüber hinaus besteht, wie auch für

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Germanium, ein ständig steigender Bedarf an Reinstsilizium fürHalbleiterproduktionen.

15.3.2 Verbindungen mit WasserstoffSilizium bildet kettenförmige Silane der allgemeinen ZusammensetzungSinH2n+2 bzw. Ringe der Zusammensetzung SinH2n, die formal denAlkanen (vgl. Kap. 19.4.1) entsprechen. Jedoch ist hier der Wasserstoffder negative Bindungspartner. Die Darstellung erfolgt meist durchUmsetzung der entsprechenden Chlorverbindungen mit LiAlH4.

SiCl4 + LiAlH4 → SiH4 + LiAlCl4

Wie alle Silane ist SiH4 (Sdp. -112 °C) thermolabil und kann in dieElemente gespalten werden. Die Verbindung ist an Luft selbstentzündlich.

SiH4 → Si + 2 H2SiH4 + 2 O2 → SiO2 + 2 H2O

15.3.3 Verbindungen mit HalogenenSilizium (und auch Germanium) bildet mit Halogenen Verbindungen derZusammensetzung SiX4 (X = F,Cl,Br,I).

SiX4

Hierbei handelt es sich sämtlich um molekular aufgebaute Verbindungen,die aus den Elementen zugänglich sind. SiF4 bildet sich auch bei derEinwirkung von Flusssäure auf Glas.

Si + 2 X2 → SiX4 (X = F,Cl,Br,I)SiO2 + 4 HF → SiF4 + 2 H2O

SiF4 (Sublp. -90 °C) gilt hinsichtlich der Bildungsenthalpie alsthermodynamisch stabilste aller Verbindungen in Folge der hier besondersausgeprägten (p→d)π-Bindungsverstärkung (vgl. E30). SiCl4 (Sdp. 57 °C)wird als Ausgangsprodukt zahlreicher Synthesen technisch hergestellt.Alle Tetrahalogenide reagieren mit Wasser. SiF4 bildet darüber hinausKomplexe (vgl. E27), etwa mit Fluoridionen, des Siliziums der KZ 6.

SiX4 + 2 H2O → SiO2 + 4 HXSiF4 + 2 NaF → Na2[SiF6]

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Analog zu den Siliziumwasserstoff-Verbindungen existieren zahlreicheHalogenverbindungen etwa der Zusammensetzungen SinX2n+2 (Ketten)und SinX2n (Ringe), die hier nicht besprochen werden können.

15.3.4 Verbindungen mit SauerstoffSilizium bildet mit Sauerstoff die stabile Verbindung SiO2, die beiNormalbedingungen im Gegensatz zu CO2 (man beachte dieDoppelbindungsregel, vgl. E24) polymer gebaut ist (Schmp. 1725 °C).Hierin sind einzelne SiO4-Tetraeder über gemeinsame Sauerstoffatomeeckenverknüpft. Man unterscheidet verschiedene Kristallmodifikationen(Quarz, Tridymit, Cristobalit, Abb. 49), die jedoch alle diesem Bauprinzipfolgen.

Abb. 49: Die Systematik der Siliziumdioxide

Die Umwandlung zwischen Quarz, Tridymit und Cristobali erfolgtlangsam, Da Si-O-Bindungen gebrochen werden müssen. Abb. 50 zeigteinen Ausschnitt aus der Struktur des β-Cristobalits.

Abb. 50: Die Struktur des β-Christobalits

Das chemisch sehr resistente Siliziumdioxid wird von HF (s.o.) sowie vonLaugen angegriffen (vgl. die Reinigung von Bauxit, Kap. 14.3.1).

SiO2 + 4 NaOH → Na4SiO4 + 2 H2O

Bei 1250 °C steht SiO2 in der Gasphase (Vakuum) im Gleichgewicht mitSiO, analog dem Boudoir-Gleichgewicht (Kap. 15.2.4). Beide Oxideliegen in der Gasphase als monomere Moleküle vor. Früher wurde dieseReaktion als „Transportreaktion“ zur Reinigung von Silizium(Abtrennung von Fremdmetallen wie z.B. Al) benutzt.

SiOSiO2

Si + SiO2 <=> 2 SiO

Auf zwei strukturelle Ausnahmen vom Aufbau der Siliziumdioxide durchEckenverknüpfung der SiO4-Tetraeder sei hingewiesen: in derHochdruckmodifikation Stishovit (TiO2-Typ) besetzen die SiliziumatomeOktaederlücken (KZ 6); im faserförmigen SiO2 sind die Tetraederkantenverknüpft.

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15.3.5 Sauerstoffsäuren und SilikateAnalog zur Kohlensäure ist auch die Kieselsäure (H4SiO4) nur in Formihrer Metallsalze beständig; die Säure selbst wandelt sich unterWasserabspaltung in ihr Anhydrid um.

Na4SiO4 + 4 HCl → H4SiO4 + 4 NaClH4SiO4 → SiO2 + 2 H2O

Die Kondensation erfolgt in Stufen; jedoch sind auch die hierbeiresultierenden Oligo- und Polykieselsäuren nicht beständig (Abb. 51).

Abb. 51: Die Kondensation der Kieselsäuren

Ihre Metallsalze hingegen bilde stabile Verbindungen, die sich in eineaußerordentlich komplexe und umfangreiche Systematik einordnen lassen(Abb. 52). In allen Anionen liegen jedoch eckenverknüpfte SiO4-Tetraeder vor.

Abb. 52: Strukturtypen der Silikate

Im Gegensatz zu den ortho-Silikaten M4SiO4 („Wasserglas“) sind dieOligo- und Polysilikate nicht wasserlöslich; sie bilden eine wesentlicheKomponente beim Aufbau der Erdrinde.Durch formalen Austausch eines oder mehrerer Si4+-Zentren gegen Al3+

gelangt man zu den gleichfalls wichtigen Alumosilikaten, zu denenbeispielsweise die Feldspäte M[AlSi3O8], der Zeolith sowie der KaolinitAl4[Si4O10](OH)8 gehören.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E34 Glas>Gläser sind ohne Kristallisation erstarrte Schmelzen. Sie sind gegenüberdem kristallinen Zustand thermodynamisch instabil, kinetisch jedochstabil („metastabil“). Offensichtlich verhindert der komplexe Aufbau vonSiO2 und seinen Derivaten auch deren rasche Kristallisation.Gebrauchsglas (Fensterglas) besteht aus 72% SiO2, 0.3% Al2O3, 9% CaO,4% MgO und 14% Na2O. Durch Zusatz von K2O (Thüringer Glas) lässtsich der Schmelzpunkt erhöhen, borhaltige Gläser erhöhen die chemischeResistenz, Al2O3 verringert den thermischen Ausdehnungskoeffizienten,PbO erhöht die Lichtbrechung (Kristallglas). Der Zusatz vonÜbergangsmetalloxiden wie FeO (grün), Fe2O3 (braun) oder Gold (rot)führt zur Anfärbung. Reines Quarzglas hat die höchste Resistenzgegenüber Temperaturschwankungen, lässt sich aber durch den hohenErweichungspunkt nur schwer bearbeiten.

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xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

15.3.6 Verbindungen mit KohlenstoffDas aus Quarz und Kohle bei 2200 °C zugängliche Siliziumcarbid (SiC,„Carborundum“) besitzt Diamantstruktur und weist eine außerordentlicheHärte auf, der es seine Verwendung als Hartstoff (Schleifscheiben u.a.)verdankt. Neben der auf die kubisch dichteste Kugelpackung der C-Atomezurückgehenden Struktur gibt es auch Varianten alternierender kubischerund hexagonaler Stapelanordnungen.

SiO2 + 3 C → SiC + 2 CO

Ein wichtiges Kapitel der Organosilane (vgl. Kap. 19.5.3.2) bildet dieChemie der Silikone, die als Kunststoffe außerordentliche Bedeutungerlangt haben. Hierbei werden Organochlorsilane durch Wasserhydrolysiert und vernetzt. Die bei den Kieselsäuren beobachteteKondensation zu SiO2 wird hierbei durch die Präsenz stabiler RO-Fragmente (R = organischer Rest, meist Methyl) unterbunden. Die alsEdukte verwendeten Organochlorsilane werden aus Methylchlorid undSilizium im Müller-Rochow-Verfahren gewonnen.

Si + 2 MeCl → Me2SiCl2 (Me = CH3)Me2SiCl2 + 2 H2O → Me2Si(OH)2 + 2 HCln Me2Si(OH)2 → {-O-Si(Me)2-}n + n H2O

Durch anteilige Verwendung von Me3SiCl (Kettenabbruch) und MeSiCl3(Vernetzung) lassen sich die Eigenschaften der Silikone gezielt steuern.

15.4 Zinn und BleiDie eher seltenen Elemente kommen in der Natur konzentriert,beispielsweise als Zinnstein (SnO2), Bleiglanz (PbS) oder Bleispat(PbCO3) vor. Die problemlose Verhüttung mit Kohlenstoff sowie diedurch den weichen Habitus einfache Bearbeitung hat die Metalle bereitsim Altertum zu umfangreicher Verwendung (Zinn fürGebrauchsgegenstände, Blei für Wasserrohre) gebracht. Als Legierungmit Kupfer (Bronce) ist Zinn Bestandteil der menschlichenKulturgeschichte.

15.4.1 Die ElementeWährend elementares Blei bei Normalbedingungen als kubisch dichtesteKugelpackung vorliegt und die Eigenschaften eines Metalls aufweist, sindvon Zinn zwei Modifikationen bekannt. α-Zinn liegt bei tiefenTemperaturen in der Diamantstruktur (Nichtmetall) vor und wandelt sich

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bei 13 °C in β-Zinn (Metall) um, das in einer für Metalle ungewöhnlichentetragonalen Struktur kristallisiert. Beide Phasen sind metastabil, jedochkann die Umwandlung in α-Zinn beim Abkühlen durch die Gegenwartvon Katalysatoren stark beschleunigt werden. Da β-Zinn eine wesentlichhöhere Dichte aufweist, führt der Vorgang (Zinnpest) zur Zerstörung vonMetallgegenständen bei längerer Lagerung unterhalb desUmwandlungspunktes (Orgelpfeifen, Sarkophage u.a.).Die Darstellung der Metalle erfolgt durch Reduktion der (im Falle desBleis zuvor aus den Erzen gewonnenen) Oxide mit Kohle (im Altertummit Holzkohle):

SnO2 + 2 C → Sn + 2 CO2 PbS + 3 O2 → 2 PbO + 2 SO2PbCO3 → PbO + CO2PbO + C → Pb + CO

Die Bleidarstellung ist auch wegen der hiermit verbundenen Gewinnungvon als Verunreinigung in PbS gegenwärtigem Silber (als Ag2S) vonBedeutung.Beide Metalle, insbesondere Blei, sind in Form ihrer Dämpfe undwasserlöslichen Verbindungen toxisch, so dass trotz der auftretendenPassivierung der Oberflächen durch die unlöslichen Oxide der direkteKontakt zum Menschen vermieden wird und sie somit hinsichtlich ihrerursprünglichen Verwendung an Bedeutung verloren haben. Zinn wirdheute umfangreich in der Elektrotechnik verwendet (Lötzinn), währendBlei zur Herstellung von Akkumulatoren (s.u.) dient. Auch alsLegierungsbestandteil sind beide Metalle von Bedeutung. Die früherumfangreiche Verwendung von Tetraethylblei als Zusatz(„Antiklopfmittel“) in Verbrennungskraftstoffen hat stark an Bedeutungabgenommen.

15.4.2 Verbindungen der vierwertigen ElementeVerbindungen des vierwertigen Zinns sind in vieler Hinsicht denen desSiliziums und Germaniums vergleichbar. So bilden etwa dieTetrahalogenide und -hydride

SnX4 (X = H,Cl,Br,I)

hinsichtlich ihrer Darstellung, Struktur und chemischen Eigenschafteneine direkte Parallele. Ein merklicher Unterschied ergibt sich ausdermgegenüber Si und Ge größeren Atom- und Ionenradius. In SnO2

(Rutil-Typ, vgl. Kap. 18.2.4) und SnF4 (koordinationspolymerer Aufbau)

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weist Sn bereits die Koordinationszahl 6 auf. Hiermit in Zusammenhangsteht auch das Bestreben, Komplexverbindungen zu bilden.

SnX4 + 2 NaX → Na2[SnX6] (X = F,Cl)

Verbindungen des vierwertigen Bleis wirken bereits stark oxidierend (vgl.E33); sie kommen nicht in der Natur vor. Bleidioxid wird alsdunkelbrauner Feststoff durch Oxidation von Pb2+-Salzen, bevorzugtdurch anodische Oxidation, erhalten; es ist ein starkes Oxidationsmittel.

Pb2+ + 2 H2O → PbO2 + 4 H+ + 2 e-

PbO2 hat deutlich saure Eigenschaften; mit Basen ragiert es zuHydroxoplumbaten, die durch Entwässern in ortho-Plumbate übergehen.

PbO2 + 2 KOH + 2 H2O → K2[Pb(OH)6]K2[Pb(OH)6] → K2PbO3 + 3 H2O

Blei(II,IV)oxid (Pb3O4, „Mennige“) wird als roter Feststoff durchLuftoxidation von PbO bei 500 °C gewonnen und kann als Blei(II)-Salzder ortho-Blei(IV)säure aufgefasst werden.

6 PbO + O2 → 2 Pb3O4

Auch die Tetrahalogenide PbX4 (X = F,Cl) sind bekannt; sie wirken imVergleich mit den Verbindungen des Zinns stärker oxidierend. PbBr4 undPbI4 sind nicht stabil; sie zerfallen unter Abgabe des Halogens.

PbX4 → PbX2 + X2

15.4.3 Verbindungen der zweiwertigen ElementeZinn(II)-Verbindungen sind in Folge der Tendenz des Metalls, dieOxidationszahl +IV anzunehmen, mittelstarke Reduktionsmittel. Sieweisen wegen ihres molekularen Aufbaus und der Präsenz einesnichtbindenden Elektronenpaars am Metallzentrum, das in dieHybridisierung einbezogen wird, eine komplizierte Strukturchemie auf.Wichtigste Verbindung ist das technisch aus Zinn und HCl hergestellteZinn(II)chlorid (Schmp. 247 °C),

Sn + 2 HCl → SnCl2 + H2

das mit Wasser ein stabiles Hydrat bildet (Abb. 53).

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Abb. 53: Die Strukturchemie der Zinnhalogenide

Zinn(II)oxid ist amphoter und reagiert mit Säuren und Basen.

SnO + 2 HCl → SnCl2 + H2OSnO + NaOH + H2O → Na[Sn(OH)3]

Verbindungen des zweiwertigen Bleis liegen bereits als ionisch gebauteSalze des Kations Pb2+ (Valenzelektronenkonfiguration 6s2, vgl. E33) vor;sie weisen keine reduzierenden Eigenschaften auf.Abgesehen von Pb(NO3)2 und Pb(CH3CO2)2 sind alle Pb(II)-Salze inWasser schwerlöslich (Passivierung der Metalloberfläche bei Einwirkungvon HCl bzw. H2SO4!).Eine wichtige Anwendung des Redoxpaares Pb+II/+IV bildet derBleiakkumulator, dem trotz seines unwirtschaftlich hohen Gewichts undder Toxizität des Bleis große Bedeutung, insbes. in der Automobiltechnik,zukommt (Abb. 54).

Abb. 54: Der Bleiakkumulator

Der Bleiakkumulator besteht aus einer Bleielektrode und einerBleidioxidelektrode. Als Elektrolyt wird 20%-ige Schwefelsäureverwendet. Die Potentialdifferenz zwischen den Elektroden beträgt 2.04 V(vgl. hierzu E15, E21).Bei der Stromentnahme wird H2SO4 verbraucht und Wasser gebildet, dieSchwefelsäure wird verdünnt. Der Ladungszustand der Batterie kanndeshalb durch Messung der Dichte der Schwefelsäure kontrolliert werden.Durch Zufuhr von Elektrischer Energie (Laden) lässt sich die ChemischeEnergie des Akkumulators wieder erhöhen. Der Ladungsvorgang ist eineElektrolyse. Dabei erfolgt wegen der sog. „Überspannung“ vonWasserstoff an Blei am negativen Pol keine Wasserstoffentwicklung.Bei Verunreinigung des Elektrolyten wird die Überspannung aufgehoben,und der Akku kann nicht mehr aufgeladen werden. Eine Alterung ergibtsich auch durch die Ablagerung des in Schwefelsäure schwerlöslichenBleisulfats auf den Elektroden.

16 Die Hauptgruppenelemente im Überblick

16.1 OxidationszahlenDie formal erreichbaren Oxidationszahlen ergeben sich aus der

Stellung der Elemente im Periodensystem. Unter Verwendung der „alten“Bezeichnungseise (1. bis 8. Hauptgruppe) gilt für Elemente der

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Hauptgruppe a bezüglich der möglichen höchsten (x) und tiefsten (y)Oxidationszahlen:

X = a-Y = 8 – a

Hierbei werden stabile Oxidationszahlen bevorzugt in Zweierschritten (a,a-2, a-4, …, a-8) gebildet. Dazwischen liegende Oxidationsstufen derElemente E sind stabil beim Vorliegen einer Bindung E-E. InAusnahmefällen, bei Beteiligung stark elektronegativer Elemente, werdendurch die Absenkung der Orbitalenergien auch stabile Radikale gebildet.Allgemein nehmen die oxidierenden Eigenschaften mit steigenderOxidationsstufe zu. Innerhalb einer Gruppe sinkt die Stabilität der formalhöchsten Oxidationsstufe X mit steigender Ordnungszahl, da die steigendeKernladung durch den Einbau zusätzlicher Elektronen in dieElektronenhülle nicht vollständig kompensiert wird.Eine besondere Situation tritt bei den Elementen derValenzelektronenkonfiguration 6s25d14f145d96px (x = 1[Tl], 2 [Pb], 3 [Bi])ein. Hier bewirkt der „Effekt des Inerten Paares“ eine besondereStabilisierung des Zustandes …6p0.

16.2 AziditätDie Broenstedt-Azidität einer Verbindung HXYn hängt ab vonder Bindungsstärke

Innerhalb einer Hauptgruppe sinkt die Bindungsstärke und steigt dieAzidität mit steigender Ordnungszahl von X

der PolaritätFür ein Element X steigt die Azidität mit steigender Oxidationszahlvon X

der Stabilität der korrespondierenden BaseKorrespondierende Basen (Anionen) werden durch Resonanz(„Verteilung“ der negativen Ladung) stabilisiert.

Innerhalb einer Gruppe nimmt folglich die Basizität der Oxide undHydroxide gleicher Oxidationszahl zu.Die Lewis-Azidität einer Verbindung XYn gegenüber der Lewis-Base Zwird gesteuert von der Stabilität der Bindung X-Z. Hierauf nimmt diePolarisierbarkeit von XYn und Z im Sinne des HSAB-Konzepts, nebensterischen Parametern, einen wesentlichen Einfluß.

16.3 BindungsartWir können grundsätzlich zwei Arten chemischer Bindungenunterscheiden:a) Die Atombindung (kovalente Bindung)

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Hier treten Elektronen eines Atoms A mit Atomkernen eines Atoms Bdurch Überlappung von Orbitalen in Wechselwirkung. Hierbei sindjeweils ein Elektronenpaar (Einfachbindung) oder mehrereElektronenpaare (Doppelbindung, Dreifachbindung) beiden Atomenzugehörig. In Abhängigkeit von der Elektronegativität der Atome sindsolche Bindungen polarisiert. Das Phänomen der Atombindung lässt sichhinsichtlich einzelner Bindungen isoliert (VB) oder unterBerücksichtigung der Bindungssituation des gesamten Moleküls (MO)betrachten. Einen Sonderfall der Atombindung bildet die MetallischeBindung, in der, bewirkt durch den Elektronenmangel bezüglich derStabilitätskriterien (s.u.) über das Phänomen der Resonanz die bindendenElektronen auf den gesamten Atomverband ausgedehnt werden.b) Die IonenbindungÜbersteigt die Elektronegativitätsdifferenz der an der Bindung beteiligtenAtome einen Grenzwert (ca. 1.5), so wird das bindende Elektronenpaarvollständig dem elektronegativeren Partner zugewiesen. Hierdurch kommtes zur Ausbildung elektrisch geladener Ionen, deren elektrostatischeAnziehung die Bindungsenergie bestimmt. Diese hängt als Gitterenergiewesentlich von der Anordnung der Ionen im Verband ab.Aus der Stellung der beteiligten Elemente im Periodensystem und derhiermit in Zusammenhang stehenden Elektronegativität der Elemente lässtsich die Bindungsart (Atombindung, polare Atombindung, Ionenbindung)abschätzen.

16.4 StabilitätskriterienDie Oktettregel kann als Hilfe zur Vorhersage stabiler Oxidationszahlen(s.o.) und Bindungssituationen dienen. Hiernach streben Elemente derHauptgruppen die Edelgaskonfiguration 1s2 bzw. ns2p6 (n = 2-6) an.Für einatomige Ionen (Kationen und Anionen) gilt diese Vorgabe, mitAusnahme der durch den „Effekt des Inerten Paares“ zu einerSonderstellung gelangten Ionen Tl+, Pb2 und Bi3+, verbindlich.Die Atombindung gestattet unter bestimmten Vorgaben ein Über- oderUnterschreiten der durch die Oktettregel festgelegten Elektronenzahl.Die Beteiligung von d-Orbitalen (Überschreitung des Oktetts) istenergetisch zulässig, wenn durch die hohe Elektronegativität derbeteiligten Elemente die Orbitalenergien der d-Orbitale hinreichendabgesenkt werden; dies ist bei Anwendung der VB-Methode(Hybridisierung) beispielsweise bei den Molekülen bzw. KomplexionenClF6

+, SF6, PF6-, SiF6

2- (sp3d2) und PF5, ClF5, ClF3, XeF2 (sp3d) der Fall.Man beachte jedoch, dass selbst hier bei Anwendung des MO-Konzeptes(3c4e-Bindung in I3

-) auf die Beteiligung von d-Orbitalen verzichtetwerden kann (vgl. E18, Abb. 21a).

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Beim Überschreiten des Oktetts durch Doppelbindungen tritt durchResonanz Ladungstrennung unter Vermeidung der Beteiligung von d-Orbitalen auf (z.B. in POCl3).Die Elektronenmangel-Situation einer Verbindung XYn kann behobenwerden durch intra- und intermolekulare Einbeziehung vonnichtbindenden Elektronenpaaren an Y. Im ersteren Fall (z.B. BBr3)kommt es zur Ausbildung von (p→d)π-Wechselwirkungen, im letzterenFall (Dimerisierung von AlBr3 zu Al2Br6) zur Ausbildung von 3c4e-Bindungen. Sind an Y keine nichtbindenden Elektronenpaare verfügbar,erfogt Dimerisierung des monomeren Fragments (Dimerisierung von BH3

zu B2H6) unter Ausbildung von 3c2e-Bindungen.Die thermodynamische Stabilität von Atombindungen in VerbindungenXYn wird beeinflusst vom Überlappungsintegral der beteiligten Orbitale,das mit steigender Ordnungszahl innerhalb einer Gruppe abnimmt.Entsprechend dem HSAB-Konzept bilden darüber hinaus beim formalenZusammentreten der Fragmente Xn+ (Lewis-Säure) und Y- (Lewis-Base)Partner vergleichbarer Polarisierbarkeit („Härte“) stabile Bindungen.Polare Atombindungen erhöhen durch die überlagerte elektrostatischeAnziehung (Partialladung) die thermodynamische Stabilität derVerbindung (z.B. HF, H2O, CO2). Jedoch begünstigt die Ausbildung vonLadungszentren den Angriff von Reaktionspartnern und fördert somit diekinetische Reaktivität (z.B. Reaktion CO2/H2O).

17 Atombau II

17.1 Das Bohr’sche AtommodellDie zur Beschreibung der Elektronenhülle des Atoms erforderlichenQuantenzahlen hatten wir, um einen einfachen Zugang zur Chemie zugewinnen, „ad hoc“ definiert (Kap. 4). Zum besseren Verständnis dieserfür die Chemie grundlegenden Aufbauprinzipien müssen wir dieWechselwirkung zwischen Atomkern und Elektronenhülle auf derGrundlage der klassischen Physik beschreiben. Wir folgen hierbeizunächst der von Niels Bohr (1913) entwickelten Beschreibung desWasserstoffatoms (die hierfür grundlegenden Gleichungen sind in Abb.55 zusammengefaßt).e = el. Elementarladung [C]r = Radius [m]εo = Dielektrizitätskonstante (Vak.) [A2 s4 kg-1 m-3]m = Masse des Elektrons [kg]v = Bahngeschwindigkeit des Elektrons [m sec-1]

Abb. 55: Das Bohr’sche Atommodell

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Das Modell geht vom Gleichgewicht zwischen der elektrischenAnziehungskraft (Coulomb-Kraft, Gl. 1) der entgegengesetzt geladenenElementarteilchen p+ und e- (Fel) einerseits und der vektoriellentgegengerichteten Zentrifugalkraft (Gl. 2) des auf einer Kreisbahnumlaufenden Elektrons Fz aus (Gl. 3,4).Die Gesamtenergie des Elektrons setzt sich aus der kinetischen Energie(Gl. 5) und der potentiellen Energie (Gl. 6) zusammen (Gl. 7, durchEinsetzen von Gl. 4 resultiert Gl. 8). Die Energie des Elektrons hängtfolglich nur vom Bahnradius r ab.Aus Gl. 3 bzw. 4 ergibt sich der direkte Zusammenhang zwischen Radiusund Bahngeschwindigkeit des Elektrons. Demnach wären entspr. Gl. 8alle Energiezustände des Elektrons zulässig.Die klassische Physik (Elektrodynamik) lehrt jedoch, dass das auf derBahn umlaufende Elektron als schwingender Dipol aufzufassen ist, derpermanent Energie abstrahlt und letztendlich in den Kern fällt. DiesemUmstand begegnete N. Bohr durch Formulierung seiner berühmtgewordenen Postulate:a) auf bestimmten Umlaufbahnen (Radien) erfolgt der Umlaufstrahlungslosb) für erlaubte Umlaufbahnen ist der Drehimpuls des Elektrons einganzzahliges Vielfaches n der Grundeinheit des Drehimpulses (Gl. 9 und10, durch Einsetzen in Gl. 4 ergibt sich Gl. 11). Hierbei entspricht n derHauptquantenzahl; im Einelektronensystem des Wasserstoffatoms hängtdie Energie des Elektrons nur von der Hauptquantenzahl ab.

17.2 Die Emissionsspektren des WasserstoffatomsDie Korrektheit der Bohr’schen Postulate lässt sich experimentell belegen.Nach thermischer Anregung des Wasserstoffatoms fallen die „angeregten“Elektronen unter Energieabgabe (Emission) in ihre Grundzustände zurück(Abb. 56).E = Energieh = Planck’sches Wirkungsquantumν = Frequenz [sec-1]λ = Wellenlänge [cm]c = Lichtgeschwindigkeit [m sec-1]R = Rydberg-Konstanten,m = Hauptquantenzahlen (m > n)

Abb. 56: Die Emissionsspektren des Wasserstoffs

Die hierbei nach Gl. 12 errechneten Energien lassen sich Serien zuordnen,die dem Rückfall der Elektronen aus äußeren Schalen auf innere Niveaus(Hauptquantenzahlen) entsprechen. Die somit experimentell bestimmten

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Energiedifferenzen der Hauptquantenzahlen stimmen mit den nach demBohr’schen Modell berechneten (Gl. 13) überein.

17.3 Die UnschärferelationDie durch Werner Heisenberg (1927) formulierte Unschärferelationbesagt, dass es unmöglich ist, gleichzeitig den Impuls und denAufenthaltsort eines Elektrons zu bestimmen. Das Produkt aus derUnbestimmtheit des Ortes und des Impulses hat die Größenordnung derPlanck’schen Konstante (Gl. 14).Dies bedeutet, dass wir die Vorstellung des Bohr’schen Atommodellskorrigieren müssen. An die Stelle des sich auf einer kreisförmigenUmlaufbahn bewegenden Elektrons tritt eine Ladungswolke in derUmgebung des Kernes, in der dem Elektron nur eineAufenthalswahrscheinlichkeit zukommt. Rechnerisch lassen sich mit Hilfeder Wellenmechanik (s.u.) Raumsegmente (Orbitale) bestimmen, in denendem Elektron eine bestimmte Aufenthaltswahrscheinlichkeit (z.B. 99% =0.99) zukommt (Abb. 57). Da die Aufenthaltswahrscheinlichkeit über dengesamten Raum gleich 1 ist, kann sich das Elektron mit geringerWahrscheinlichkeit auch außerhalb des Segments aufhalten.

Abb. 57: Die Heisenberg’sche Unschärferelation

17.4 Das Wellenmechanische AtommodellA. H. Compton (1922) konnte experimentell zeigen, dass dem bislang alselektromagnetische Welle (E = h∙ν; Max Planck 1900) aufgefassten Lichtauch die Eigenschaft von bewegten Teilchen (Photonen) zugewiesenwerden kann (E = m∙c2; Albert Einstein 1905). Diesen Welle/Teilchen-Dualismus übertrug Louis de Broglie (1924) auf das Elektron imAtomaren System. Über den Energiebegriff konnte derBahngeschwindigkeit v des bewegten Elektrons der Masse m dieWellenlänge λ der Wellendarstellung zugeordnet werden (Gl. 15).

Aus der Darstellung des Elektrons als Welle lässt sich nun dasBohr’sche Postulat zwingend ableiten. Die Beschreibung des Elektrons alseindimensionale Welle (Abb. 58) macht deutlich, dass eine Zerstörungdurch Interferenz nur bei Vorliegen einer „stehenden Welle“ vermiedenwird. Hierfür gilt aus der klassischen Schwingungslehre dieRahmenbedingung gem. Gl. 16. Eingesetzt in Gl. 15 ergibt sich die demBohr’schen Postulat zu Grunde liegende Gl. 9.

Abb. 58: Die Wellennatur des Elektrons

Da ein Elektron Welleneigenschaften besitzt, kann man dieElektronenzustände im Atom mit einer Wellenfunktion Ψ(x,y,z) beschreiben. Die Wellenfunktion, mathematisch die Amplitude der

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Schwingung, hat keine anschauliche Bedeutung. Betrachtet man dasElektron als dreidimensional schwingende Kugelwelle, lässt sich der zeit-und ortsabhängige Schwingungsvorgang durch eine Differentialgleichungbeschreiben (Abb. 59, Gl. 17, t = Zeit, u = Ausbreitungsgeschwindigkeit).Die hieraus durch Erwin Schrödinger (1926) abgeleitete Gleichung (Gl.18, V = potentielle Energie) verknüpft die Wellenfunktion mit derGesamtenergie des Elektrons und ist Grundlage allerWellenmechanischen Behandlungen des Atombaus und der chemischenBindung.Diejenigen Wellenfunktionen, die Lösungen der Schrödinger-Gleichungsind, werden Eigenfunktionen genannt. Die den Eigenfunktionenzugehörigen Energiewerte nennt man Eigenwerte. Die Eigenfunktionenbeschreiben also die möglichen stationären Schwingungszustände imWasserstoffatom.Die Schrödinger-Gleichung kann für das Wasserstoffatom exakt gelöstwerden. Für Mehrelektronensysteme sind nur Näherungslösungenmöglich. Man beachte, dass durch die interelektronische Wechselwirkungim Mehrelektronensystem die im Wasserstoffatom vorliegende Entartungder l-Niveaus (s,p,d,f…) aufgehoben wird.Das Quadrat der Wellenfunktion ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit,ein Elektron an einem bestimmten Ort anzutreffen. Hierzu muß, da dieAufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons im gesamten Raum gleich 1ist, ein Normierungsfaktor N eingefügt werden. Zur Aufspaltung derWellenfunktion in einen radien- und winkelabhängigen Anteil (R, χ) werden die kartesischen Koordinaten (x,y,z) in Polarkoordinaten (r,φ,θ)überführt (Abb. 59, Gl. 19).

Abb. 59: Das Elektron als dreidimensionale Kugelwelle

Im strengen Sinne sind als Orbitale die Wellenfunktionen ψ selbst anzusehen. Diese lassen sich jedoch graphisch nicht darstellen: manbedenke, dass zur Abbildung der Amplitude einer eindimensionalen Wellezwei Dimensionen und somit zur Darstellung einer dreidimensionalenWelle vier Dimensionen erforderlich sind. Die Quantenzahlen l und mergeben sich mathematisch beim Übergang von der eindimensional zurdreidimensional schwingenden Welle.Zur graphischen Darstellung der Wellenfunktionen bzw. ihres für dieChemie relevanten normierten Quadrats sind gebräuchlich (vgl. Kap. 4.2,Abb. 60):a) Konturliniendiagramme

Hier werden Stellen gleicher Aufenthaltswahrscheinlichkeit, d.h.gleicher Elektronendichte, durch Konturlinien (vergleichbar denHöhenlinien von Landkarten) verbunden

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b) PolardiagrammeHier wird der winkelabhängige Anteil χ der Wellenfunktion auf einerKugeloberfläche unter Berücksichtigung des math. Vorzeichens derWellenfunktion aufgetragen

c) Quadrate der WinkelfunktionIn dieser meist üblichen Darstellung wird χ2 zur Abbildung derAufenthaltswahrscheinlichleit wie unter b aufgetragen. Die Vorzeichenentsprechen den Vorzeichen der Wellenfunktion

Abb. 60: Orbitaldarstellungen

18. Die Elemente der Nebengruppen

18.1 AllgemeinesAls Elemente der Nebengruppen werden diejenigen bezeichnet, die

als Atome im Valenzbereich keine abgeschlossene s- bzw. p-Unterschale(ns2, np6) aufweisen; die hiermit vergleichbaren Elemente der Gruppe 12(2. Nebengruppe) weisen die Elektronenanordnung ns2(n-1)d10 auf undwerden gelegentlich in der Systematik den Elementen der Hauptgruppen(„repräsentative Elemente“) zugeordnet.Sämtliche Elemente der Nebengruppen liegen als Metalle vor. Nur inForm radioaktiver Isotope treten die Elemente der Ordnungszahlen 42(Tc) und 61 (Pm) sowie sämtliche Actinoiden, d.h. alle auf das Elementeder Ordnungszahl 89 (Ac) folgenden Elemente auf; auch die imPeriodensystem davor stehenden Hauptgruppen-Elemente derOrdnungszahlen 84-87 (Po-Fr) bilden keine stabilen Isotope. Alsschwerstes natürlich vorkommendes Element gilt das Element derOrdnungszahl 92 (U); die rechts davon stehenden müssen, wie auch Tcund Pm, kerntechnisch hergestellt werden.

18.2 Die Elemente des d-Blocks18.2.1 Das Periodensystem der d-BlockelementeDie Elemente des d-Blocks weisen die Valenzelektronenkonfigurationns2(n-1)d1-10 (n = 4,5) bzw. ns2(n-1)d1(n-2)f14(n-1)d2-10 (n = 6) auf.Folglich werden beim Aufbau dieser Übergangselemente, aufbauend aufdie vollständig besetzten energetisch darunter liegenden s- und f-Zuständedie d-Orbitale schrittweise besetzt (vgl. Abb. 5). Da die beiden s-Elektronen (4-7s2) zur Ausbildung chemischer Bindungen bzw. zurDefinition der Oxidationszahlen herangezogen werden, beginnt dieNumerierung der Nebengruppen für die Elemente derElektronenkonfiguration ns2(n-1)d1 (n = 4-7; Sc,Y,La,Ac) mit der Ziffer 3,da auch hier in der Bezeichnung der Gruppe die höchstmöglicheOxidationszahl zum Ausdruck kommen soll. Als „Störung“ der

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symmetrischen Abfolge der Orbitalbesetzung (vgl. Abb. 3 und 5) ist derEinbau der jeweils 14 f-Elemente folgend auf die Elemente der Gruppe 3,ns2(n-1)d1, anzumerken.Zum Verständnis der Chemie der d-Blockelemente ist die Kenntnis derrelativen Abschirmung der Valenzelektronen von der Kernladung durchdie Rumpfelektronen wichtig. Hier gilt, dass die Abschirmung vonValenzelektronen in Abhängigkeit von der Nebenquantenzahl im passivenSinne in der Abfolge s<p<d<f ansteigt, im aktiven Sinne jedoch in derAbfolge s>p>d>f absinkt. Dies bedeutet, dass d-Elektronen, im Vergleichmit s- und p-Elektronen, im Valenzbereich durch die Rumpfelektronenstärker abgeschirmt werden, jedoch ihrerseits andere Elektronen von derKernladung schwächer abschirmen. Darüber hinaus ist zu beachten, dasszur Hälfte oder vollständig besetzte Unterschalen, also d5 bzw. d10,hinsichtlich der Abschirmung näherungsweise die Eigenschaften von s-Zuständen aufweisen. In Folge dessen tritt bei den d-Blockelementen inOxidationsstufen mit dn-Konfiguration (n ≠ 0, 10) die Tendenz zur Bildung binärer Verbindungen des Typs AmBn mit Ionenbindung zuGunsten der Komplexbildung (s.u.) deutlich zurück; Salze werden nur mitBindungspartnern der elektronegativsten Elemente (B = F,O, selten Cl,S)angetroffen.Für die d-Blockelemente werden, im Vergleich mit denHauptgruppenelementen, für die möglichen Oxidationszahlen geringereEnergieunterschiede vorgefunden, so dass eine größere Anzahl vonverschiedenen stabilen Oxidationszahlen beobachtet wird (von Mnbeispielsweise sind isolierbare Verbindungen der Oxidationszahlen –I bis+VII bekannt). Die höchsten Oxidationszahlen werden in RuO4 und OsO4

(+VIII) gefunden. Die Stellung eines d-Blockelements im Periodensystemlässt deshalb nur Rückschlüsse auf seine höchstmögliche Oxidationszahlzu, die jedoch nicht immer erreicht wird.Insgesamt gilt, dass die Unterschiede der chemischen Eigenschafteninnerhalb einer Periode bei den d-Blockelementen deutlich geringerausfallen als bei den Hauptgruppenelementen. Innerhalb der Gruppen 4-10 nimmt, entgegengesetzt dem Trend der Hauptgruppen, die Stabilitätder hohen Oxidationszahlen beim Übergang zu den höherenOrdnungszahlen zu (CrO3 ist ein starkes Oxidationsmittel, während WO3

kaum oxidierende Eigenschaften aufweist). Eine der Oktettregel derHauptgruppenelemente vergleichbare 18-Elektronenregel der d-Blockelemente ns2(n-1)d10np6 (auch hier wird eine Edelgaskonfigurationangestrebt) kann nur im Bereich der Metallorganischen Chemie (vgl. Kap.19.5.3.3) als Orientierung dienen.Der Einbau der f-Elektronen bewirkt für die 5d-Elemente einebeträchtliche Radienkontraktion; sie sind hierin und in ihrenEigenschaften den jeweils leichteren Gruppennachbarn ähnlich. Auch beiden d-Blockelementen werden deshalb, wie für die

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Hauptgruppenelemente (aus anderen Gründen) üblich, die Kopfelementebei der hier nicht möglichen Detailbesprechung getrennt behandelt.Entsprechend ihrer chemischen Eigenschaften lassen sich die d-Blockelemente in verschiedene Klassen aufteilen:

a) Die Elemente der Gruppen 3 und 12Diese Elemente weisen durch die Stabilität der Oxidationsstufen +III{Sc-Ac, M3+ = (n-1)p6} bzw. +II {Cu-Hg, M2+ = (n-1)d10}Hauptgruppen-ähnliches Verhalten auf; sie bilden Salze. Sie liegen(abgesehen von Hg+I) ausschließlich in den genanntenOxidationszahlen vor.

b) Die Elemente der Gruppen 4-7Hier zeigen die Elemente in ihren höchsten Oxidationsstufenentsprechend der Gruppennummer 4-7 {ns0(n-1)d0} gleichfallsHauptgruppen-analoges Verhalten; jedoch existieren auch stabileVerbindungen niedrigerer Oxidationszahlen {ns2(n-1)d(2-6)-x}, diedurch das Vorliegen teilweise besetzter d-Zustände diecharakteristischen Eigenschaften der d-Blockelemente aufweisen.

c) Die Elemente der Gruppen 8-10Hier werden die formal höchsten Oxidationszahlen, abgesehen vonRuO4 und OsO4, nicht mehr erreicht, so dass diese Elementeausschließlich die charakteristische Chemie der d-Blockelemente{mehrheitlich ns2(n-1)d2-6} aufweisen.

d) Die Elemente der Gruppe 11Diese Elemente weisen in der Oxidationsstufe +I die Hauptgruppen-analoge Elektronenkonfiguration {ns2(n-1)d10 sowie, in denOxidationsstufen +II und +III, die Elektronenkonfiguration {ns2(n-1)d8,9} auf. Sie zeigen somit Eigenschaften sowohl der Kategorie a undc).

Die angegebenen Valenzelektronenkonfigurationen beziehen sich hier aufdie Elektronenanordnung der „fiktiven“ Kationen. Werden die Bindungenzwischen Ligand und Komplexzentrum (s.u.) als Atombindungen(„koordinative Bindungen“) aufgefasst, kann formal für die Metallzentrendie Elektronenkonfiguration ns2(n-1)d10np1-6 erreicht werden.Wegen ihrer Komplexität und ihres Umfangs kann die Chemie der d-Blockelemente hier nur an Beispielen besprochen werden.

18.2.2 Die d-Blockelemente in wässriger LösungWegen der geringen Abschirmungskraft der d-Elektronen sind Kationender d-Blockelemente im Vergleich mit den Hauptgruppenmetallen

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stärkere Lewis-Säuren; d.h., sie bilden unter bestimmten Voraussetzungenwäss. Lösungen stabiler Aquo-Komplexe, bevorzugt der Oxidationszahlen+II und +III; hierbei dominiert die Koordinationszahl 6. Viele dieserKomplexionen lassen sich als stabile Salze isolieren:

Mn+ + 6 H2O → [M(H2O)6]n+ (n = 2,3)

Zum Verständnis dieses Befunds müssen wir die Theorie derKomplexbindung näher betrachten.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E35 Komplexverbindungen II>Wie bereits zuvor angedeutet (vgl. E27) kann die Wechselwirkungzwischen einem (elektronisch ungesättigten) Komplexzentrum und den alsAnionen oder Dipole vorliegenden Liganden sowohl elektrostatisch(„ionisch“) wie auch kovalent („koordinativ“) beschrieben werden. Wirwollen zunächst, in historischer Abfolge, das von Linus Pauling (1927)auf der Grundlage seines VB-Konzeptes entwickelte kovalente Modell amBeispiel einiger Eisenkomplexe betrachten.Das VB-Modell impliziert den Vorgang der Hybridisierung, d.h. der„Mischung“ von Orbitalen ähnlicher Energie, jedoch verschiedenerSymmetrie, des Zentralatoms zu Hybridorbitalen (vgl. E10). Hierfürstehen dem Eisen die Orbitale 3d, 4s und 4p zur Verfügung. Die(schematische) Bildung des Komplexes [Fe(H2O)6]

3+ ist in Abb. 61gezeigt.

Abb. 61: VB-Modell der Komplexe [Fe(H2O)6]3+ und [Fe(CN)6]3-

Unter Berücksichtigung der Hund’schen Regel und derHybridisierungsgeometrie für das System d2sp3 resultiert ein oktaedrischgebauter Komplkex, der pro Metallzentrum 5 ungepaarte Elektronenaufweist („High-Spin-Komplex“).Tatsächlich kennt man jedoch auch oktaedrisch gebaute Komplexe desdreiwertigen Eisens, in denen pro Metallzentrum nur 1 ungepaartesElektron zugegen ist (z.B. [Fe(CN)6]

3-, „Low-Spin-Komplex“).Die für beide Komplextypen im Falle des dreiwertigen Eisens gleicheKoordinationsgeometrie ist zufällig. Abb. 62 zeigt als Beispiel dieverschiedene Geometrie zweier Komplexe des zweiwertigen Nickels derKoordinationszahl 4, die tetraedrisch ([NiCl4]2-, High Spin) bzw.quadratisch planar ([Ni(CN)4]2-, Low Spin) vorliegen. Dieunterschiedliche Geometrie ergibt sich aus den Hybrisisierungen sp3

(tetraedrisch) und dsp2 (quadratisch planar).

Abb. 62: VB-Modell der Komplexe [NiCl4]2- und [Ni(CN)4]

2-

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Die Zuordnung der Komplextypen nach der Beschaffenheit der Ligandenund Komplexzentren ist in der Spektrochemischen Reihe vorgenommen(Abb. 63).

Abb. 63: Die Spektrochemische Reihe der Liganden und Metallzentren

Die VB-Theorie kann den Zusammenhang zwischen den magnetischenEigenschaften einer Komplexverbindung, der Koordinationsgeometriesowie der Präsenz von Zentren und Liganden aufzeigen, nicht aberbegründen.Das zweite zur Interpretation der Bindungsverhältnisse in Komplexenverwendete Modell wurde ursprünglich als Kristallfeldtheorie (H. Bethe,J.H. van Vleck 1930) für den festen Zustand konzipiert und später fürisolierte Komplexverbindungen erweitert (F.E. Ilse, H. Hartmann 1951).Ihm liegen rein elektrostatische Wechselwirkungen zwischen dem positivgeladenen Metallzentrum und den negativ geladenen oder als Dipolvorliegenden Liganden zu Grunde. Folgerichtig werden hierbeiausschließlich die d-Elektronen des Metallzentrums betrachtet. Wirwollen das Konzept zunächst gleichfalls am Beispiel des Komplexes[Fe(H2O)6]3+ betrachten.Bei Betrachtung der 5 d-Orbitale zeigt sich, dass sie bezüglich derOrientierung im Koordinatensystem zwei verschiedenen Typenangehören: die Orbitalloben von d(x2-y2) und dz2 sind auf denKoordinatenachsen platziert, während die Orbitale d(xy), d(xz) und d(yz)in Richtung der Koordinatenzwischenräume orientiert sind (Abb. 64).

Abb. 64: Die Aufspaltung der d-Orbitale im oktaedrischen Ligandenfeld

Bei Annäherung der Liganden an das Metallzentrum befinden sich dieSauerstoffatome in Folge der oktaedrischen Koordinationsgeometrie aufden Achsenabschnitten. Zwischen den d-Elektronen (negative el. Ladung)und den Sauerstoffatomen (negativer Teil des Dipols) erfolgt eineCoulomb-Abstoßung, von der die quadratischen Orbitale (eg) in Folgeihrer Ausrichtung stärker betroffen sind als die übrigen; sie werdendeshalb energetisch angehoben. Die verbliebenen drei Orbitale (t2g)werden entsprechend dem Schwerpunktsatz gegenüber der kugelförmigenSymmetrie des Kristallfeldes, das die 5-fache Entartung belässt,abgesenkt.Die Besetzung der 5 Orbitale erfolgt nun gem. der Hund’schen Regel, diedie Spinpaarungsenergie (SP, elektrostatische Abstoßung dergleichgerichtet geladenen Elektronen in einem Orbital) zu vermeidensucht. Hierbei sind, in Abhängigkeit von der Energiedifferenz zwischen

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den t2g- und eg-Orbitalen ΔE (meist 10Dq oder Δo genannt) im Sinne derErreichung des stabilsten Zustandes zwei Fälle denkbar:a) SP > 4Dq = High Spinb) SP < 4 Dq = Low SpinDie Stellung der Metallzentren und der Liganden in derSpektrochemischen Reihe wird also durch ihre Fähigkeit zur Erzeugungeiner hohen oder niedrigen Ligandenfeldaufspaltung gesteuert.Das Aufspaltungsmuster der d-Orbitale ist symmetrieabhängig. EinVergleich der zuvor genannten Nickelkomplexe führt folglich zuverschiedenen Energiediagrammen (Abb. 65), aus denen sich jedochgleichfalls die magnetischen Eigenschaften der Komplexe ergeben.

Abb. 65: Symmetrieabhängige Aufspaltung der d-Orbitaleim Ligandenfeldxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Kehren wir zur Betrachtung der Hexaquo-Komplexe der 3d-Metallezurück. Die relative Stabilität von oktaedrisch gebautenHexaquokomplexen der d-Blockelemente lässt sich an Hand von zweiKriterien abschätzen.a) Zum formalen Aufbau des Komplexes aus dem Metallatom und

Wasser muß zunächst das Metallatom unter Aufwendung derIonisierungsenergie in das zugehörige Metallion überführt werden.Durch Koordination der Wasserliganden an das Ion wirdBindungsenergie freigesetzt; diese steigt mit steigender Oxidationszahldes Metallzentrums. Es sind folglich zwei gegenläufige Effekte zubeachten, die erfahrungsgemäß die Oxidationszahlen +II und +IIIbevorzugen.

M → Mn+ + n e-+

Mn+ + 6 H2O → [M(H2O)6]n+

Niedrige Oxidationsstufen in Aquokomplexen sind für die d-Blockelemente mit Ausnahme von Ag+ unbekannt. Bei höherenOxidationsstufen erfolgt entweder Zersetzung unter Oxidation desWassers (z.B. V5+) oder, in Folge der hohen Broenstedt-Azidität solcherKomplexe, die Bildung anionischer Oxo-Komplexe (z.B. CrO4

2-, MnO4-).

b) H2O-Liganden bewirken eine nur schwache Kristallfeldaufspaltungund bilden somit High-Spin-Komplexe. Hierdurch werden die„symmetrischen“ Elektronenanordnungen d3 (Cr3+) und d5 (Mn2+, Fe3+)stabilisiert (Fe2+ und Cr2+ wirken in Wasser reduzierend). BeimAustausch des H2O-Liganden gegen einen Liganden stärkerenLigandenfelds (z.B. NH3) ändern sich potentiell die Eigenschaften der

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Komplexe durch Übergang zum Low-Spin-Typ. Ein anschaulichesBeispiel liefert die Oxidation von wäss. Co2+-Lösungen durchLuftsauerstoff in Gegenwart von Ammoniak

[Co(H2O)6]2+ High-Spin, luftstabil

[Co(NH3)6]2+ Low-Spin, luftempfindlich

4 [Co(NH3)6]2+ + O2 + 2 H2O → 4 [Co(NH3)6]

3+ + 4 OH-

Bei der Stabilität von aquo-Komplexen ist zudem die Vorgabe des HSAB-Konzeptes wirksam. Der „harte“ Ligand H2O bildet bevorzugt stabileKomplexe mit „harten“ Metallzentren. So sind die Komplexe [M(H2O)6]2+

des Cobalts und Nickels bekannt, die der im PSE darunter stehenden„weicheren“ Metallzentren jedoch nicht.Aus der Kenntnis der Koordinationsgeometrie (Oktaeder, Tetraeder etc.),der Stellung der Komplexfragmente in der Spektrochemischen Reihe(High-Spin, Low-Spin) und der Valenzelektronenkonfiguration desMetallzentrums lassen sich unter Berücksichtigung der Stabilisierungvollständig oder zur Hälfte besetzter Zustände (z.B. t2g, eg) Aussagen zurStabilität treffen. So lassen sich etwa stabile Verbindungen oktaedrischerKomplexe erwarten für die Elektronenkonfigurationen d3, d8 (hier ist eineUnterscheidung in High-Spin und Low-Spin nicht möglich), d5 (High-Spin) und d6 (Low-spin).

18.2.3 Halogenide der d-BlockelementeAllgemein gilt, dass der ionische Charakter der Metall-Halogen-Bindungmit steigender Ordnungszahl des Halogens und steigender Oxidationszahldes Metalls abnimmt. Darüber hinaus wird eine unter Berücksichtigungder Radienquotienten hohe Koordinationszahl des Metallzentrumsangestrebt; hinsichtlich der Packung im Kristall sind hierbei dieKoordinationszahlen 4 und 6 bevorzugt. Metalle der 5d- und 6d-Periodezeigen außerdem eine ausgeprägte Tendenz zur Bildung intermetallischerBindungen. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten lassen sich dieHalogenide der d-Blockelemente in 5 Gruppen einteilen (Abb. 66):

Abb. 66: Strukturbeispiele von Halogeniden der d-Blockelemente

a) MolekülverbindungenHierzu gehören Verbindungen der Metalle in der jeweils höchstenOxidationsstufe (d0, Oxidationszahl >3, Koordinationszahl 4,6,7),in denen „klassische“ 2c2e-Bindungen vorliegen. Es handelt sich inder Regel um leicht flüchtige Verbindungen, deren molekularerAufbau auch im Festkörper noch erkennbar ist (z.B. ReF7, WCl6,

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TiCl4). Durch die Elektronenkonfiguration d0 ist eine Vorhersageder Struktur nach dem VSEPR-Konzept (vgl. E11) möglich.

b) Koordinationsoligomere und –polymereDiese Strukturen sind Komplexverbindungen, in denenverbrückene Halogeno-Liganden (3c4e-Bindungen) vorliegen. Siesind häufig anzutreffen in Verbindungen der ZusammensetzungMX5 (d0, d1, z.B. VF5, RuF5) und MX4 (d1, d2, z.B. NbCl4, CrF4)und MX3 (d1, z.B. ZrI3). In solchen Koordinationspolymeren mit d1-Konfiguration liegen bei tiefen Temperaturen isolierte alternierendeMetall-Metall-Bindungen vor, die bei thermischer Anregung in(delokalisterte) äquidistante Bindungen mit metallischenEigenschaften übergehen (Peierls-Verzerrung).

c) SchichtengitterVerbindungen diesen Typs enthalten ionische, stark polarisierteBindungen. Sie treten auf bei Halogeniden MX2 (X = Cl,Br,I, z.B.CdCl2) und MX3 (X = Cl,Br,I, z.B. FeCl3, CrCl3) der schwererenHalogene. Hierin bilden die Halogenatome dichtesteKugelpackungen, deren Oktaederlücken in jeder 2. Schicht freibleiben und in den Zwischenschichten vollständig (MX2) bzw. zu2/3 (MX3) mit Metallatomen besetzt werden.

d) IonengitterHier liegen Gitter dichtest gepackter Ionen der auch bei denHauptgruppen-Metallhalogeniden gefundenen Typen vor.Bevorzugt in diese Gruppe gehören Metallfluoride MF3 (ReO3-Typ,KZ 6/2, z.B. FeF3, VF3), MF2 (Rutil-Typ, KZ 6/3, z.B. MnF2, PdF2)sowie Metallhalogenide der Gruppe 11-Elemente (NaCl-Typ, 6/6,z.B. AgCl; Zinkblende-Typ, KZ 4/4, z.B. CuI). Für solcheVerbindungen, wie auch für c), gelten im festen Zustand dieVorgaben der Ligandenfeldtheorie (Halogenid-Ionen bewirken einnur schwaches Feld und erzeugen hierdurch High-Spin-Komplexe).

e) ClusterDie Chloride, Bromide und Iodide der niedervalenten 4d- und 5d-Metalle bilden bevorzugt Cluster. Hierin sind mehrere Metallatomedurch Elektronenmangelbindungen (ähnlich der metallischenBindung) zu Polyedern verbunden, während die HalogenatomeEcken, Kanten oder Flächen dieser Polyeder in endständiger oderverbrückender Funktion besetzen. Die Stabilität dieser Clusterhängt von der Elektronenzahl in Relation zur Gerüststruktur ab undkann über MO-Modelle erklärt werden. (Vgl. z.B. MoCl2 =

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[Mo6Cl8]Cl4). Es existieren auch zahlreiche Cluster von Metallennicht-ganzzahliger Oxidationsstufen (zB. Ta6Cl15, WCl16).

18.2.4 Oxide der d-BlockelementeBedingt durch die hohe Ladungsdichte des Oxidions bilden die d-Blockelemente fast ausnahmslos (Ausnahmen sind etwa OsO4 und Ti3O)ionisch gebaute Oxide, die in Abhängigkeit von der stöchiometrischenZusammensetzung und dem Radienquotienten in den teilweise bereitsbesprochenen Gittertypen kristallisieren. Sie lassen sich entsprechendanordnen (Abb. 67):

Abb. 67: Strukturbeispiele von Oxiden der d-Blockelemente

a) M2OCuprit-Typ, ähnlich β-Cristobalit (KZ 4/2, z.B. Cu2O, Ag2O)

b) MOFast ausschließlich NaCl-Typ (KZ 6/6; z.B. FeO, MnO, CdO), ZnOkristallisiert im Wurzit-Typ (ZnS, KZ 4/4)

c) M2O3

Fast ausschließlich Korund-Typ (α-Al2O3, KZ 6/4; z.B. Fe2O3,V2O3, Cr2O3)

d) MO2

Rutil-Typ (TiO2, für kleine und mittelgroße Kationen, KZ 6/3; z.B.CrO2, MoO2) oder Fluorit-Typ (CaF2, für große Kationen, KZ 8/4;z.B. HfO2)

f) M3O4

Spinell-Typ (MgAl2O4 mit Besetzungsvarianten, s.u.; z.B. Fe3O4 =Fe+IIFe2

+IIIO4).

g) MO3

ReO3-Typ (KZ 6/2)

Auf die Korund-Struktur wurde an anderer Stelle eingegangen (vgl. Abb.46). Die komplexe Spinell-Struktur bedarf näherer Erläuterung:Im Mineral Spinell (MgAl2O4) bilden die Sauerstoff-Ionen eine kubischdichteste Kugelpackung, in der 1/8 der Tetraederlücken von Mg-Ionensowie 1/2 der Oktaederlücken von Al-Ionen besetzt wird; die Abbildungder Elementarzelle (Abb. 68) vermittelt kein anschauliches Bild.Tatsächlich existieren zahlreiche ternäre Verbindungen derZusammensetzung A+IIB2

+IIIO4 dieser Bauart. In Fe3O4 liegt jedoch eine

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andere Zuordnung der Kationen zu den Lücken vor, die des „InversenSpinells“. Hier besetzen die Fe2+-und Fe3+-Ionen jeweils 1/4 derOktaederlücken, während die verbliebenen Fe3+-Ionen 1/8 derTetraederlücken besetzen. Auf dem Ladungsaustausch und dermagnetischen Kopplung der Eisenionen auf Oktaederplätzen beruhen dieHalbleitereigenschaften und ferrimagnetischen Eigenschaften (vgl. E36)des Fe3O4 (Magnetit).

Abb. 68: Die Elementarzelle des Spinells (MgAl2O4)

Oxide der d-Blockelemente weisen zahlreiche ungewöhnliche optische(TiO2 als Weißpigment), elektrische (metallische Leitfähigkeit vonReO3)und magnetische Eigenschaften auf. Auf diese wird nachfolgend nähereingegangen.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E36 Magnetochemie>Die Bewegung elektrischer Ladung, beispielsweise derElektronentransport in einem Leiterdraht, erzeugt ein Magnetfeld.Gleiches gilt für die Bewegung von Elektronen auf Umlaufbahnen imatomaren System. Das Phänomen des Magnetismus kann folglichmakroskopisch und atomar behandelt werden. Die Verbindung beiderBetrachtungen ist zum Verständnis der magnetischen Eigenschaften derMaterie erforderlich. Wir wollen zunächst den atomaren Magnetismusbetrachten (Abb. 69).

Abb. 69: Der Spin-Only-Wert des magnetischen Moments der ElektronenIm Atomaren System

Ein elektrischer Strom (Gleichstrom) erzeugt in einer Spule(Leiterschleife) ein Magnetisches Moment μmag, [Am2] das dem Produktaus Stromstärke und Schleifenfläche entspricht (Gl. 1). Im atomarenSystem besitzt das Elektron einen Bahndrehimpuls sowie einenEigendrehimpuls, der deutlich überwiegt und hier ausschließlichbehandelt werden soll. Er wird in Einheiten der Bohr’schen MagnetonenμB (Gl. 2), der quantenphysikalischen Elementargröße des magnetischenMoments, in Abhängigkeit von der Drehimpulsquantenzahl S angegeben(Gl. 3). S setzt sich hier additiv aus den Einzelbeiträgen der Elektronen s= ½ zusammen; so erreicht beispielsweise S für 2 bzw. 3 ungepaarteElektronen die Werte 1 bzw. 3/2. Bei vollständiger Spinpaarung wird S =0, so dass kein Eigendrehimpuls wirksam wird. Das sog.Gyromagnetische Verhältnis beträgt für Elektronen g = 2. Für einungepaartes Elektron errechnet sich der Wert μs = 1.73μB (man beachte,dass sich nach Gl. 3 im Mehrelektronensystem die

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Drehimpulsquantenzahlen S = Σs, nicht aber die magnetischen Momenteder Einzelelektronen additiv verhalten (μS ≠ Σμs). Aus dem magnetischenMoment μS eines Atoms oder Ions kann unter Vernachlässigung desBahndrehimpulses (Spin-Only-Wert) auf die Anzahl der ungepaartenElektronen n geschlossen werden (Gl. 4).Die makroskopische Beschreibung magnetischer Eigenschaften erfolgtdurch Angabe der Wechselwirkung des Magnetfeldes mit Materie (Abb.70). Das Feld kann durch die magnetische Induktion (magnetischeFlussdichte) B [1T = 1 Vs/m2] bzw. durch die magnetische Feldstärke(magnetische Erregung) H [A/m] beschrieben werden. Beide Größen sinddurch die magnetische Feldkonstante μ0 = 4π10-7Vs/Am miteinanderverbunden (Gl. 5).

Abb. 70: Das Magnetfeld und seine Wechselwirkung mit Materie

Bringt man einen Körper in ein Magnetfeld, so tritt im Inneren desKörpers durch Wechselwirkung der Materie mit dem Feld eine Änderungder Induktion Baußen zu Binnen bzw. der Feldstärke Haußen zu Hinnen ein (Gl.6). Diese Änderung kann positiv (Verstärkung, paramagnetische Stoffe)oder negativ sein (Schwächung, diamagnetische Stoffe). ZurCharakterisierung des Effekts wird die relative Änderung derMagnetfeldstärke, d.h. der Quotient des als „Magnetisierung“bezeichneten Änderung M und der Feldstärke Haußen angegeben (Gl. 7,analog gilt: Hinnen = Haußen + M); diese Größe χ wird als „magnetische Suszeptibilität“ bezeichnet und in der Chemie üblicherweise auf dieMenge 1 Mol bezogen.Die magnetische Suszeptibilität χ dia- und paramagnetischer Stoffeunterscheidet sich durch das Vorzeichen und die Temperaturabhängigkeit(Abb. 71). Für paramagnetische Stoffe gilt das Curie-Gesetz (Gl. 8).Treten im Festkörper sog. „Kooperative Effekte“, d.h. Wechselwirkungender atomaren Spinsysteme auf, so gilt das Curie-Weiss-Gesetz (Gl. 9). DieTemperaturabhängigkeit der paramagnetischen Suszeptibilität ergibt sichder durch thermische Energie bewirkten Störung der Ausrichtung dermagnetischen Momente im Magnetfeld.

Abb. 71: Die Magnetische Suszeptibilitätund ihre Temperaturabhängigkeit

Die Gesamtsuszeptibilität eines paramagnetischen Stoffes setzt sich ausder Summe seiner diamagnetischen und paramagnetischen Suszeptibilitätzusammen. Der Zusammenhang von paramagnetischer Suszeptibilität χpara

und dem magnetischen Moment μmag ergibt sich aus Gl. 10 (NA =Avogadro-Konstante, k = Boltzmann-Konstante).

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Unterhalb der Temperatur TC, die für einen ferromagnetischen bzw.antiferromagnetischen Stoff eine Stoffkonstante bildet, tritt einOrdnungsphänomen ein, das als kooperative Eigenschaft bezeichnet wird(Abb. 72). Im Falle des Ferromagnetismus (z.B. α-Fe, CrO2) erfolgt imBereich kleiner Bezirke (Domänen) durch direkte Wechselwirkung derparamagnetischen Atome eine parallele Orientierung ihrerMagnetisierung, die gegenüber dem ungeordneten Paramagnetismus zueinem signifikanten Anstieg der Suszeptibilität führt. Da die Domänenuntereinander ungeordnet sind, wird keine makroskopischeMagnetisierung beobachtet.

Abb. 72: Kooperative Effekte der Magnetochemie

Der Mechanismus der ferromagnetischen Kopplung ist unbekannt. Erfolgtdie Kopplung nicht direkt, sondern über ein diamagnetisches Ion (z.B. O2-

), so erfolgt als Konsequenz der dem Pauli-Prinzip entsprechendenElektronenverteilung im Anion unterhalb TC eine antiparallele Kopplungder Spinmomente für die benachbarten paramagnetischen Ionen(Superaustausch). Hierdurch wird bei tiefer Temperatur, d.h. starkerKopplung, die Magnetisierung der Einzelmomente vollständigkompensiert. Der Superaustausch ist winkelabhängig und erreicht seinegrößte Wirkung bei linearer Anordnung M(dz

2)-O(pz)-M’(dz2), z.B. in

MnO, NiO.Im Falle des Ferrimagnetismus wird der im Ferromagnetismusbeobachtete Effekt unterhalb der Neel-Temperatur TN durch dieantiparallele Kopplung eines Teilgitters vermindert. So koppeln in Fe3O4

unterhalb TN die in unterschiedlichen Teilgittern (Oktaeder- undTetraederplätze) befindlichen Ionen antiparallel, die in gleichenTeilgittern befindlichen jedoch parallel. Hierdurch kompensieren sich diemagnetischen Momente der Fe3+-Ionen, während die der Fe2+-Ionen,sämtlich auf Oktaederplätzen, parallel gekoppelt wirksam bleiben.Bei Temperaturen oberhalb TC bzw. TN bricht die Ordnung innerhalb derDomänen und somit der kooperierende Effekt zusammen; es liegt dann inallen Fällen reiner Paramagnetismus vor.Unter dem Einfluß starker Magnetfelder kann für ferromagnetische undferrimagnetische Stoffe durch spinparallele Ausrichtung der Domäneneine makroskopische Magnetisierung erzwungen werden, die auch nachAbschaltung des Feldes partiell erhalten bleibt (Permanentmagnete). DerZusammenhang zwischen Feldstärke H und Magnetisierung M, bessergesagt deren zeitliche Veränderung, wird durch die sog. Hysteresekurvebeschrieben. Nach Zurückfahren des Magnetfeldes H auf 0 verbleibt eineRestmagnetisierung MR, die erst bei der Koerzitivfeldstärke –HC gelöschtwird. Technisch wertvolle Permanentmagnete besitzen hohe Werte für MR

und HC.

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18.2.5 Nichtstöchiometrische VerbindungenDie eingangs behandelten Gesetze der konstanten und multiplenProportionen schreiben für chemische Verbindungen am Beispiel binärerPhasen die feste Zusammensetzung AmBn vor. Bei den d-Blockelementenkann es im Festkörper, bedingt durch dessen Aufbau und die relativeStabilität benachbarter Oxidationsstufen zu Abweichungen von diesenRegeln, zu einer sog. Phasenbreite etwa der Art Am+xBn kommen. Wirwollen dieses Phänomen an zwei Beispielen betrachten.1. FeO kristallisiert wie die meisten Metall+II-Oxide der d-Blockelementeim Steinsalztyp. Hierin ist das Metallzentrum von 6 Sauerstoffatomen inArt eines Oktaeders umgeben. Die Anionen erzeugen, wie dieWasserliganden des Komplexes [Fe(H2O)6]2+ in Lösung, ein nurschwaches Kristallfeld. Zur Vermeidung der aufzubringendenSpinpaarungsenergie wird auch hier die Oxidation des Metallzentrumsangestrebt. Anders jedoch als in wäss. Lösung ist hiermit, d.h. beimÜbergang zu Fe2O3 (Korund-Typ) ein Wechsel des Kristallgitterserforderlich. Durch die in geringem Umfang erfolgte Besetzung derGitterplätze in FeO durch Fe3+-Ionen müssen, zur Aufrechterhaltung derElektroneutralität, Gitterplätze der Kationen unbesetzt bleiben. Dievorliegende nichtstöchiometrische Verbindung weist folglich die genanntePhasenbreite Fe0.85-0.95O auf. Eine weitere Anreicherung führt zurUmwandlung des Gittertyps in Richtung auf die Korundstruktur.2. WO3 (d0) kristallisiert isomorph mit ReO3 (d1) in dem nach diesembenannten Gittertyp, der einen großen Hohlraum im Zentrum derElementarzelle aufweist. Durch Einbau von Natriumatomen in dieseLücken (Übergang zur Perowskit-Struktur des CaTiO3) werden luftstabileVerbindungen der Phasenbreite Na0.3-1WO3 erhalten, welche dieElektrische Leitfähigkeit von Metallen aufweisen.

18.2.6 LegierungenMetalle sind in flüssiger Phase meist unbegrenzt mischbar. In fester Phasetrifft dies nicht in jedem Falle zu. Zur Beschreibung des Verhaltens beimÜbergang von der Schmelze zum festen Zustand dienen Phasen- oderSchmelzdiagramme, in denen die Temperatur gegen den Molenbruch(bzw. eine andere Konzentrationseinheit des Systems) aufgetragen wird.Hierbei wird die Phasenübergangstemperatur (Schmelzpunkt) inAbhängigkeit von der Zusammensetzung als Kurve eingezeichnet (Abb.73). Hier soll der einfache Fall von Zweikomponentensystemen unterVernachlässigung des Drucks betrachtet werden.

Abb. 73: Schmelzdiagramme I

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Der denkbar einfachste Fall einer Geraden (oder Kurve) tritt austhermodynamischen Gründen nicht auf; hier würde aus einer Schmelzebeliebiger Zusammensetzung am Schmelzpunkt eine Phase gleicherZusammensetzung auskristallisieren. Ebenso irreal ist ein System, in demdie Phasenübergangskurve mit dem Schmelzpunkt einer Komponentezusammentrifft; hier könnte eine Trennung der Komponenten durcheinfache Auskristallisation der höher schmelzenden Komponenteerfolgen.Grundsätzlich können für die feste Phase vier Fälle unterschieden werden(Abb. 74):

Abb. 74: Schmelzdiagramme II

1. Vollständige MischbarkeitHier erfolgt die Bildung von sog. Substitutionsmischkristallen über dengesamten Konzentrationsbereich. Günstige Bedingung hierfür sind dieisomorphe Kristallisation der Komponenten, die gleicheValenzelektronenanordnung sowie eine vergleichbare Größe derAtome. Im System Ag/Au können, ausgehend von einer reinenKomponente, deren Atome schrittweise durch die andere Komponenteersetzt werden; hierbei werden in jedem Mischungsverhältnis Kristalledefinierter Phase gebildet. Das Phasendiagramm enthält zwei Kurven(Solidus- und Liquiduskurve), zwischen denen amPhasenübergangspunkt ein thermodynamisches Gleichgewichtzwischen Feststoff und Schmelze besteht. Eine vollständige Trennungder Komponenten durch Kristallisation ist nicht möglich; zurAnreicherung sind mehrere Kristallisationsschritte erforderlich. SolcheSysteme werden auch als Feste Lösung bezeichnet.

2. Keine MischbarkeitHier unterbleibt die Bildung von Substitutionsmischkristallen. AmPhasenübergangspunkt kristallisiert eine reine Phase aus; hierdurchwird die zweite Phase in der Schmelze angereichert, derenSchmelzpunkt kontinuierlich absinkt. Am Eutektischen Punktkristallisiert ein (mikrokristallines) Gemisch der beiden reinen Phasen,das als Eutektikum bezeichnet wird. Die Zusammensetzung desEutektikums sowie seine Schmelztemperatur, die ein Minimum imSystem kennzeichnet, sind für das System konstante Größen.

3. Begrenzte MischbarkeitHier tritt in den Bereichen kleiner Konzentrationen die Bildung vonSubstitutionsmischkristallen ein. Es können folglich, ausgehend voneiner reinen Komponente, bis zu einem Grenzwert im AustauschAtome der zweiten Komponente in das Kristallgitter eingebaut werden.

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Im Bereich der mittleren Konzentrationen besteht eineMischungslücke. In diesem Bereich kristallisieren die beiden festenLösungen der Grenzkonzentrationen als Eutektikum. Dies istbeispielsweise im System Cu/Ag der Fall.

4. VerbindungsbildungHier bildet sich aus beiden Komponenten eine Phase definierterZusammensetzung, deren Schmelzpunkt ein lokales Maximumaufweist. Beim Abkühlen von Schmelzen abweichenderZusammensetzung kristallisiert die definierte Phase (Verbindung) biszum Erreichen des Eutektischen Punktes. Hier kristallisiert einGemisch (Eutektikum) aus Verbindung und reiner Phase. Dieser Fallliegt im System Cu/Au vor; hier sind als definierte Phasen CuAu undCu3Au bekannt.

Mit Phasendiagrammen wird auch das Schmelzverhalten vonMehrkomponentensystemen chemischer Verbindungen sowie derPhasenübergang von flüssiger zu gasförmiger Phase (vgl. E39)beschrieben.

18.3 Die Elemente des f-Blocks18.3.1 LanthanoideDie auf das Lanthan (6s25d1) im Periodensystem folgenden 14 Elemente(6s25d14f1-14) werden als Lanthanoide (La ist kein Lanthanoid, zeigt abervergleichbare Eigenschaften!) bezeichnet. Anders als bei den d-Blockelementen werden die hier zuletzt eingebauten f-Elektronen meistnicht zur Ausbildung chemischer Bindungen herangezogen. DieLanthanoide weisen deshalb ein der Gruppe 3 (und somit der Gruppe 13)weitgehend analoges Verhalten auf. Sie bilden salzartig gebauteVerbindungen, in denen sie meist in der Oxidationsstufe +III (4f1-14)vorliegen. Als typisches Strukturmerkmal weisen diese Salze dasMetallzentrum in Folge seiner Größe in hohen Koordinationszahlen auf,die das Strukturelement des dreifach überkappten trigonalen Prismas (KZ9/3), beispielsweise in den Trihalogeniden von La bis Gd (UCl3-Typ,Abb. 75) enthalten.

Abb. 75: Die Koordinationszahl 9 in Verbindungen der f-Blockelemente

Die auch als „Seltene Erden“ bezeichneten Elemente kommen in derNatur, auf Grund ihrer vergleichbaren Größe und Eigenschaften,vergesellschaftet vor [z.B. im Monazit, (Ln,Th)PO4] und sind keineswegsselten; die Häufigkeit ist der von Zn und Pb vergleichbar. Hierüberwiegen deutlich die Elemente der geraden Ordnungszahlen. IhrenNamen und, in früheren Zeiten, ihren hohen Preis verdanken die

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Reinelemente den bei der Trennung durch fraktionierte Kristallisationauftretenden Problemen.Die 14 4f-Elemente lassen sich, entsprechend ihrer Stellung imPeriodensystem, in 2 Gruppen vergleichbarer Spinanordnung (4f1-7 und4f8-14) einteilen, die ein „Unterperiodensystem“ bilden (Abb. 76).

Abb. 76: Das Periodensystem der Lanthanoide

Von besonderer technischer Bedeutung ist hier das Element Gadolinium(Gd), das in seinen dreiwertigen Verbindungen (High-Spin) pro Ion 7ungepaarte Elektronen aufweist.Entsprechend der relativen Stabilität unbesetzter, halbbesetzter bzw.vollständig besetzter 4f-Zustände treten die an den Rändern desUnterperiodensystems eingereihten Elemente Eu (4f6) und Yb (4f13) auchin reduzierend wirkenden Verbindungen der Oxidationsstufe +II auf,während sich für Ce (4f1) und Tb (4f8) oxidierend wirkende Verbindungender Oxidationsstufe +IV finden.

18.3.2 ActinoideDa die auf das Wismut (Bi) im Periodensystem folgenden Elementeausschließlich in Form bezüglich des Kernzerfalls instabiler Isotopevorliegen, treten auch die Actinoide nur als „radioaktive“ Elemente auf.Lediglich die natürlich vorkommenden Isotope 232Th 235U und 238U weisenzum Fortbestand seit dem „Urknall“ hinreichend große Halbwertszeiten(τ1/2 = 109 – 1010 a) auf. Jedoch zeigen auch kerntechnisch imLaboratorium erzeugte Radionuklide teilweise erheblicheHalbwertszeiten. Von Bedeutung ist insbesondere das durch seine „harte“Strahlung hochtoxische 239Pu (τ1/2 = 2.3 104 a).Auch Thorium und Uran sind recht häufige Elemente (vergleichbar Sn).Sie kommen in Form oxidischer Mineralien als Monazit (s.o.) undUranpechblende (UO2) vor.Anders als bei den Lanthanoiden (4f) werden bei den Actinoiden die 5f-Elektronen an der Bindungsbildung beteiligt. Hierdurch erreichenThorium und Uran jeweils die höchsten Oxidationsstufen +IV bzw. +VI.Wichtigste Verbindung hier ist das leicht flüchtige UF6 (Schmp. 64 °C),das zur Isotopentrennung mittels Gaszentrifugen verwendet wird.Thorium und Uran werden wegen ihrer hohen Dichte industriell erzeugtund genutzt. Die hauptsächliche Anwendung beider Elemente liegt jedochin der durch Kernspaltung als Folge von Kettenprozessen bewirktenEnergieerzeugung im zivilen und militärischen Sektor.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E37 Kernphysikalische Prozesse>

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Wir hatten bereits erwähnt, dass Atomkerne ab einer bestimmten Massefreiwillig zerfallen. Dieser von Becquerel (1896) sowie Pierre und MarieCurie (1898) entdeckte Vorgang wird als Radioaktivität bezeichnet. Alsstabiles Isotop höchster Masse tritt 209Bi auf.Der radioaktive Zerfall (Abb. 77) kann nach zwei Mechanismen erfolgen:dem α-Zerfall (Abspaltung von 4

2He-Kernen) und dem β-Zerfall(Abspaltung von Elektronen aus dem Atomkern unter Umwandlung vonNeutronen in Protonen). Hieraus entwickeln sich vielstufigeZerfallsreihen, die bei einem schweren stabilen Isotop enden. BeideVorgänge sind mit einer Energiefreisetzung in Form kurzwelligerelektromagnetischer Strahlung (γ-Strahlung) verbunden.

Abb. 77: Der Radioaktive Zerfall

Der Zerfall erfolgt kinetisch nach einer Reaktion 1. Ordnung (ohneZusammenstoß von Atomen!). Hieraus folgt eine konstante, für daszerfallende Nuklid charakteristische Halbwertszeit τ1/2, die zwischen 10-9

sec und 1014 a liegen kann.Zur Abschätzung der Gesundheitsgefährdung ist neben der Halbwertszeitdas Ausmaß der Energiefreisetzung wichtig.Neben dem spontanen („freiwilligen“) Zerfall konnen radioaktive Isotopedurch Einwirkung von langsamen Neutronen gespalten werden (OttoHahn und Lise Meitner, 1938). Hierbei werden neben statistischverteilten, d.h. nicht kontrollierbaren Bruchstücken weitere Neutronensowie große Energiemengen (ca. 200 MeV pro Spaltung) freigesetzt (Abb.78). Die unkontrollierte Reaktion führt als Kettenreaktion zur Explosion(„Atombombe“). Durch Moderatoren (Graphit) können die freigesetzten„schnellen“ Neutronen jedoch abgebremst und hinsichtlich der Zahlkontrolliert werden, so dass eine gesteuerte Kettenreaktion inKernreaktoren möglich wird. Zur Spaltung mit langsamen Neutronen sinddie Isotope 239Pu, 235U und 233U befähigt.

Abb. 78: Kernspaltung und Kettenreaktion

Die natürliche Häufigkeit des spaltbaren Isotops 235U in Uran beträgt0.7%. In Reaktoren wird „angereichertes Uran“ (ca. 3 % 235U) eingesetzt;„waffenfähiges Uran“ enthält mind. 60 % 235U, die „Kritische Masse“ fürreines 235U beträgt in Kugelform 23 kg). Als Nebenreaktion erfolgt aus238U die Bildung des hochgiftigen und leicht spaltbaren Isotops 239Pu, dasin den Spaltprozeß einbezogen werden kann („Brutreaktoren“).Als dritter möglicher Prozeß neben dem Kernzerfall und der Kernspaltungist die Kernfusion zu nennen. Die Verschmelzung leichter Kerne liefertsehr große Energiemengen, benötigt jedoch eine hohe Anregungsenergie.

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In Sternen wie der Sonne verläuft die Fusion von Wasserstoffkernen(„Wasserstoffbrennen“) bei ca. 107 K.

4 11H → 42He + 2 e+

Pro Heliumkern wird hierbei eine Energie von 25 MeV freigesetzt. Diekontrollierte und kontinuierliche Fusion ist uns derzeit nicht möglich. Immilitärischen Bereich („Wasserstoffbombe“) wird Lithiumdeuterid mitNeutronen beschossen; die hierfür erforderliche Temperatur wird durchdas vorgeschaltete Zünden einer Atombombe erreicht.

63Li + n → 31H + 4

2He21H + 3

1H → 2 42He

19 Einführung in die Organische Chemie

19.1 EinleitungAuf die Sonderstellung des Elements Kohlenstoff wurde bereits ananderer Stelle (Kap. 15.2.1) hingewiesen. Zur Erinnerung sei sie nochmalsbegründet.1. Auf Grund seiner Stellung in der Gruppe 4 erreicht der Kohlenstoff in

vierbindiger Bindungssituation sein Oktett.2. Als Element der 2. Periode (1. Achterperiode) unterliegt der

Kohlenstoff nicht den Restriktionen der Doppelbindungsregel.3. Der geringe Kovalenzradius führt zur Ausbildung thermodynamisch

stabiler Bindungen mit Atomen vergleichbarer Größe, insbesonderemit dem Kohlenstoff selbst und dem Wasserstoff.

4. Die mittelgroße Elektronegativität von ca. 2.5 ermöglicht dieAusbildung wenig polarer und somit kinetisch stabiler Bindungeninsbesondere mit dem Element Wasserstoff.

5. Das Fehlen verfügbarer leerer d-Orbitale erschwert den nukleophilenAngriff auf den Kohlenstoff und führt zu einer weiteren kinetischenStabilisierung.

6. Die trotz mäßiger Häufigkeit weite Verbreitung des Elements als CO2

in der Atmosphäre ermöglicht den Aufbau einer variantenreichenChemie.

Hieraus resultiert eine Vielzahl chemischer Verbindungen von essentiellerBedeutung insbesondere für die Biosphäre. Die Eingrenzung der amAufbau organischer Verbindungen beteiligter Elemente (außerKohlenstoff und Wasserstoff finden sich in größerem Umfang Stickstoff,Sauerstoff, Schwefel sowie die Halogene als Bindungspartner) macht eine

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von der Anorganischen Chemie abweichende Gliederung des Stoffeserforderlich.

19.2 Systematik organischer Verbindungen

19.2.1 Das KohlenstoffgerüstOrganische Verbindungen lassen sich in Stoffklassen und Unterklassen,die durch das Kohlenstoffgerüst bestimmt werden, einteilen. Als erstesSortierungskriterium dient hierbei die Gliederung in azyklische undzyklische Verbindungen (Abb. 79).

Abb. 79: Systematik organischer Verbindungen I

Die azyklischen Verbindungen lassen sich in bezüglich der C-C-Bindungen gesättigte und ungesättigte Verbindungen unterteilen. Bei denzyklischen Verbindungen wird zwischen Carbozyklen und Heterozyklenunterschieden.Bei den ungesättigten azyklischen Verbindungen lassen sich solche mit C-C-Doppelbindung (Alkene bzw. Olefine) und C-C-Dreifachbindung(Alkine bzw. Acetylene) unterscheiden. Die Alizyklen können gleichfallsC-C-Doppelbindungen (Cycloalkene) bzw. C-C-Dreifachbindungen(Cycloalkine) enthalten. Eine besondere Klasse bilden die polyzyklischenVerbindungen, in denen über ein Brückenkohlenstoffatom zweiRingfragmente verknüpft sind (Abb. 80).

Abb. 80: Systematik organischer Verbindungen II

Aromatische Ringsysteme sind durch durchgehend konjugierteDoppelbindungen der Elektronenzahl 2n+2 (Hückel-Regel, vgl. Kap.19.4.4) gekennzeichnet. Sie können gleichfalls Heteroatome enthalten(Abb. 81).

Abb. 81: Systematik organischer Verbindungen III

19.2.2 Funktionelle GruppenIn diesen Verbindungen können einzelne Wasserstoffatome durch sog.Funktionelle Gruppen ausgetauscht werden (Abb. 82). Auch dieFunktionellen Gruppen bestimmen durch die an ihnen erfolgendenchemischen Reaktionen sowie durch ihre Beeinflussung benachbarterBindungen wesentlich die chemischen Eigenschaften organischerVerbindungen.

Abb. 82: Funktionelle Gruppen der Organischen Chemie

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19.2.3 NomenklaturViele organische Verbindungen tragen sog. Trivialnamen, teils aushistorischen Gründen (z.B. „Benzol“), teils da eine systematischeBenennung bei komplexen Verbindungen (z.B. bei Naturstoffen wie„Fructose“) unhandliche Bezeichnungen mit sich brächte.Die IUPAC („International Union for Pure and Applied Chemistry“) hatverbindliche Regeln zur Bennenung organischer Moleküle aufgestellt, diejedoch im Alltagsgebrauch häufig umgangen werden. Dennoch sollen siehier kurz skizziert werden.Jede Verbindung ist fiktiv aus einem Stamm-Molekül CmHn aufgebaut,das rational benannt wird; Mehrfachbindungen, Funktionelle Gruppen undHeteroatome werden unter Angabe der Position vorangestellt bzw.eingefügt. Für die Stammsysteme gilt:Alkane CmH2m+2 werden, folgend auf die trivial bezeichneten MethanEthan, Propan, Butan (m = 1-4) mit ihren griechischen Zahlenwertenbenannt: C5H12 = Pentan, C6H14 = Hexan, C7H16 = Heptan usw.; zurUnterscheidung von verzweigten Verbindungen werden geradkettigeAlkane mit dem Präfix n- versehen, also z.B. n-Hexan.Cyclische Alkane CmH2m werden mit dem Präfix cyclo- versehen, alsoz.B. Cyclohexan.Ungesättigte Alkane werden mit dem Suffix –en (Alkene) bzw. –in(Alkine) unter Angabe der Stellung versehen: z.B. Cyclohexen, Buta-1,3-dien, Pent-2-in, Cyclohexa-1,4-dien usw.; die Numerierung erfolgt nachdem Prinzip der kleinstmöglichen Zahlenwerte. Bei Olefinen mußzwischen der cis- und trans-Anordnung der Substituenten an derDoppelbindung unterschieden werden: z.B. cis-Pent-2-en, trans-Pent-2-en.Für verzweigte Alkane wird die längstmögliche Kette gebildet und alsAlkan bezeichnet; die Verzweigungen bildenden Seitenketten werden alsSubstituenten (Methyl-, Pentyl-, Cyclohexyl- usw.) benannt und inalphabetischer Folge der Stammverbindung vorangestellt: z.B. 2-Methylpentan (nicht 4-Methylpentan!), Methylcyclohexan, 2-Ethyl-4-methylnonan. In Cycloalkanen muß die relative Orientierung derSubstituenten angegeben werden: z.B. syn-1,2-Dimethylcyclohexan, anti-1,2-Dimethylcyclohexan.Heterozyklen werden meist mit ihren (historischen) Trivialnamenbezeichnet). Ihre systematische Bezeichnung (vgl. Kap. 19.4.5) sowie diesehr komplexe Namensfindung spirozyklischer Verbindungen sollen hiernicht abgehandelt werden.Die Angabe von Substituenten (Abb. 83 und 84) an der Stammverbindungerfolgt in alphabetischer Folge unter Anwendung des o.gen.Numerierungsschemas: z.B. 3-Chlorhexan, Bromethylen, trans-1,2-Dichlorethylen, 3-Chlortoluol (= 3-Chlor-1-methylbenzol) usw.

Abb. 83: Benennung von Substituenten in der organischen Nomenklatur I

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Abb. 84: Bebennung von Substituenten in der organischen Nomenklatur II

19.3 Die organisch-chemische Reaktion19.3.1 Reaktionskoordinaten und ReaktionsverlaufDie in Kap.8 besprochenen Grundlagen der Physikalischen Chemie(Thermodynamik und Kinetik) sind auch für organisch-chemischeReaktionen verbindlich. Endergonische Reaktionen (ΔG>0) liegen gem. der Gleichung (n= Molzahl, R = Gaskonstante, T = Temperatur [K], K =Gleichgewichtskonstante)

ΔG = -n∙R∙T∙lnK

bei auf der Seite der Edukte liegenden Gleichgewichtsreaktionen vor;nachfolgend kann eine Gleichgewichtsverschiebung (Entfernen derPrimärprodukte bspw. durch Ausfällen oder Folgereaktionen) eintreten(Abb. 85).

Abb. 85: Reaktionskoordinaten

Die in der organischen Chemie übliche Unterscheidung zwischenthermodynamischer und kinetischer Produktkontrolle bezieht sich auf denVergleich der Werte von ΔG bzw. ΔG≠bei Parallelreaktionen: im Falle|ΔG1| > |ΔG2| tritt thermodynamische, im Falle |ΔG1

#| > |ΔG2#| kinetische

Produktkontrolle ein. Dies heißt, dass sich im letzteren Falle das wenigerstabile Produkt schneller bildet. Da alle Reaktionen Gleichgewichtebilden, sind bei hinreichend langer Reaktionsdauer alle Reaktionenthermodynamisch kontrolliert. Wegen der in vielen Fällenvergleichsweise geringen Energieunterschiede von Parallelreakionenbezüglich ΔG und ΔG≠ entstehen jedoch häufig Produktgemische, diekomplexe, hier nicht zu besprechende Trennverfahren nach sich ziehen.Auf der Reaktionskoordinate unterscheidet die Organische Chemiezwischen („hypothetischen“, d.h. nicht beobachtbaren)Übergangszuständen als Maxima auf der Reaktionskoordinate undZwischenstufen endlicher, meist geringer Lebensdauer, die in Einzelfällenmit spektroskopischen Methoden nachgewiesen werden können. DieBeschaffenheit der Übergangszustände (ΔG≠) hängt mit demReaktionsmechanismus zusammen. Dieser, und somit der Verlauf derReaktion, kann durch die Wahl der Reaktionsbedingungen (Temperatur,Konzentration, Lösungsmittel u.a.) beeinflusst werden.

19.3.2 Klassifizierung von Reaktionen19.3.2.1 AllgemeinesDie Reaktionen der Organischen Chemie lassen sich nach verschiedenenKriterien ordnen. Sämtlichen Einteilungen haftet eine gewisse Willkür

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und somit auch ein begrenzter Nutzen an. Die nahe liegende Sortierungnach Reaktionen am Kohlenwasserstoff-Grundgerüst oder anFunktionellen Gruppen ist wenig hilfreich und in vielen Fällen mehrdeutig(vgl. z.B. die Hydrierung von Nitrilen R-C≡N zu Aminen R-CH2-NH2).Deshalb erfolgt die Einteilung meist auf der Grundlage (allerdings nichtimmer gesicherter) Reaktionsmechanismen. Darüber hinaus lässt sichverlässlich zwischen Additionen, Eliminierungen und Substitutionenunterscheiden.

19.3.2.2 AdditionsreaktionenBei Additionsreaktionen werden reaktive Komponenten X-Y (z.B. H2,Cl2, HCl) an Mehrfachbindungen addiert. Dies können grundsätzlichsowohl C-C- wie auch sonstige Mehrfachbindungen sein. Hier stellt sichhäufig die Frage nach der Regioselektivität

trans-R1(H)C=C(H)R2 + HCl → R1H2C-CH(Cl)R2 oderR1(Cl)HC-CH2R

2

und der Stereoselektivität

R(H)C=C(H)R + Cl2 → R(H)ClC-CCl(H)R oderR(H)ClC-CH(Cl)R

Für die Konstitution der Produkte sind mechanistische Gegebenheiten,beispielsweise die Frage nach synchroner (gleichzeitige Bildung derBindungen C-X bzw. C-Y) oder stufenweiser (aufeinander folgendeBildung der Bindungen C-X bzw. C-Y) Addition sowie homolytischerbzw. heterolytischer Spaltung der Bindung X-Y von entscheidenderBedeutung (Abb. 86). Für die Regioselektivität wichtig ist die relativeStabilität von Zwischenstufen: so addieren beispielsweise Säuren HX andie olefinische Doppelbindung unter Bildung des stabileren Carbenium-Ions (Regel von Markownikow).

Abb. 86: Additionsreaktionen

19.3.2.3 EliminierungsreaktionenEliminierungsreaktionen stellen die Umkehrung der Additionsreaktionendar. Auch hier sind, wie an einem Beispiel (Abb. 87) erläutert,mechanistische und sterische Aspekte zur regio- und Stereoselektivitätund somit zur Produktbildung essentiell.

Abb. 87: Eliminierungsreaktionen

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19.3.2.4 SubstitutionsreaktionenMan unterscheidet die drei Fälle der radikalischen, nukleophilen undelektrophilen Substitution. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Naturdes das organische Molekül angreifenden Reaktionspartners. Bei dernukleophilen Substitution attackieren also Lewis-Basen, bei derelektrophilen Substitution Lewis-Säuren (vgl. E32). In beiden Fällen istdie Kenntnis mechanistischer Abläufe zum Verständnis der Reaktionwesentlich (Abb. 88 und 89).a) Die nukleophile Substitution kann nach einem Mechanismus 1.

Ordnung (SN1) oder 2. Ordnung (SN2) verlaufen. Im ersten Fall wirdim ersten geschwindigkeitsbestimmenden (also langsamsten) Schrittals Zwischenstufe ein planares Carbenium-Ion gebildet, das im 2.Schritt statistisch von beiden Seiten vom eintretenden Nukleophilattackiert wird. Im zweiten Fall erfolgen Eintritt des attackierendenNukleophils und Austritt der Abgangsgruppe simultan unter Bildungeines fünfbindigen Übergangszustandes. SN1-reaktionen werden durchVerwendung polarer, d.h. die ionische Zwischenstufe stabilisierendeSolventien gefördert. Die Zuordnung ist von Bedeutung in derenantioselektiven Synthese (s.u.).

b) Die elektrophile Substitution erfolgt regelmäßig beim Austausch vonWasserstoff-Substituenten in aromatischen Verbindungen (Friedel-Crafts-Reaktionen). Hier ist meist die Aktivierung des elektrophilenReaktionspartners durch einen Lewis-aziden Katalysator erforderlich.Die als Übergangszustände formulierten Wheland-Komplexe sind inFällen hochnukleophlier Aromaten als Zwischenstufen nachweisbar,in Einzelfällen isolierbar.

Abb. 88: Die nukleophile Substitution

Die radikalische Substitution soll hier nicht näher behandelt werden.

19.3.3 NachbargruppeneffekteIn Nachbarschaft zum Reaktionszentrum befindliche FunktionelleGruppen können die chemischen Eigenschaften des Reaktionszentrumsbeeinflussen. Allgemein wird unterschieden zwischen der Einflussnahmeauf σ- und π-Bindungen in Form induktiver (I) und mesomerer (M)Effekte sowie der Richtung der Ladungsverschiebung (+ steht fürelektronenschiebende, - für elektronenziehende Effekte).In der „klassischen“ Organischen Chemie sind mit dem KohlenstoffSubstituenten höherer Elektronegativität (N > 2.5) verbunden. Derhierdurch bewirkte –I-Effekt vermag benachbarte Bindungen stark zupolarisieren. So liegt der pKS-Wert von (NC)3C-H durch die hoheGruppenelektronegativität der Cyanogruppe (ca. 3.3) bei ca. -8 (!). +I-

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Effekte treten in der Organischen Chemie meist in Zusammenhang mitKohlenstoff-Metall-Bindungen (vgl. Kap. 19.5.3) auf.Mesomere Effekte spielen eine bedeutende Rolle bei der Stabilisierungionischer Zwischenstufen; sie können sich durch Konjugation übermehrere Bindungen erstrecken. Ein anschauliches und wichtiges Beispielliefert der Einfluß von Substituenten auf die Aktivierung und Steuerungder Elektrophilen Aromatischen Substitution (Abb. 89).

Abb. 89

Substituenten mit +M-Effekt (z.B. NH2) in Benzolderivaten aktivierenden Austausch von Wasserstoffatomen gegen Halogenatome in ortho- undpara-Stellung, während Substituenten mit –M-Effekt (z.B. NO2) denAustausch (im Vergleich mit Benzol selbst) deaktivieren und in meta-Stellung dirigieren. Zu den Substituenten mit +M-Effekt können über denBegriff der Hyperkonjugation auch Alkylgruppen gerechnet werden.

H-CH2-C ↔ H+CH2=C-

Gleichfalls als Nachbargruppeneffekt angesehen werden kann diesterische Abschirmung eines Reaktionszentrums durch eine benachbartevoluminöse Gruppe, die den Angruff eines Reaktanden auf dasReaktionszentrum be- oder verhindert. Dies kann in Zusammenhang mitder Regio- und Stereoselektivität einer Reaktion eine bedeutende Rollespielen.

19.4 Ausgewählte SubstanzklassenNachfolgend wird ein Einblick in die Chemie ausgewählterSubstanzklassen gegeben.

19.4.1 Alkane und CycloalkaneAlkane (CmH2m+2) kommen in der Natur umfangreich als Bestandteilefossiler Brennstoffe (z.B. Erdöl) vor. Sie können hieraus durchDestillation gewonnen werden, jedoch ist die Trennung ab der Einheit C5

problematisch. Einen gezielten Aufbau im Labor ermöglichtbeispielsweise die Würtz-Reaktion:

2 R-Br + 2 Na → R-R + 2 NaBr

Beim Aufbau der Ketten ist die relative Anordnung der Fragmente zubeachten (Abb. 90). Von den denkbaren Anordnungen ist die gestaffelteAnordnung die energetisch günstigste.

Abb. 90: Stereochemie der Alkane

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Alkane sind chemisch inert und reagieren selbst mit Chlor nur beiphotolytischer oder thermischer Anregung. Thermisch (T < 100 °C) lassensie sich in andere Alkane bzw. (unter Abspaltung von Wasserstoff)Alkene spalten (Crack-Prozeß).

2 CH3CH2CH2CH3 + Cl2 → 2 ClCH2CH2CH2CH3 + 2 HCl2 CH4 + Cl2 → 2 CH3Cl + 2 HCl (analog CH2Cl2, CHCl3, CCl4)2 CH3CH2CH2CH3 → CH3CH3 + CH3CH2CH2CH2CH2CH3CH3CH2CH2CH3 → CH3CH=CHCH3 + H2

Ein volkswirtschaftlich wichtiger Vorgang ist die Verbrennung zurErzeugung von Wärme.

2 CH3CH2CH2CH3 + 13 O2 → 8 CO2 + 10 H2O

Cycloalkane (CmH2m) verhalten sich im Bereich mittlerer Ringgrößen (m= 5-7) ähnlich. Die relative Instabilität hiervon abweichender Ringgrößenhängt mit dem Problem des Bindungswinkels C-C-C (sp3 entspr. 109 °)zusammen. Die Ringe sind (bis auf C3H6) gewellt gebaut; in Cyclohexanist die Sesselform die stabilste Anordnung. In den kleinen Ringen liegenfür die C-C-Bindungen keine „klassischen“ σ-Bindungen vor (Abb. 91).

Abb. 91: Stereochemie der Cycloalkane

19.4.2 AlkeneAlkene („Olefine“) enthalten wenigstens eine C-C-Doppelbindung, dieaus jeweils einer σ- und π-Bindung zusammengesetzt sind (vgl. E17).Bedingt durch die sp2-Hybridisierung des Kohlenstoffs ligen die beidenC-Atome und die hiermit verbundenen vier weiteren Atome in einerEbene; Ethylen bildet somit ein planares Molekül, in dem dieWasserstoffatome paarweise zueinender cis- und trans-ständig sind.Ethylene werden technisch durch das bereits erwähnte Crack-Verfahrenaus den im Erdöl bzw. Erdgas enthaltenen Alkanen gewonnen. Zurgezielten Synthese eignet sich auch die zuvor besprochene HX-Abspaltung (1,2-Eliminierung) aus Alkanen (X = Halogen).Wichtigstes Olefin ist das Ethylen (H2C=CH2, Sdp. -103 °C), dastechnisch in großem Umfang durch Crack-Prozesse, gezielt am bestendurch thermische Dehydrierung von Ethan gewonnen wird. ImLabormaßstab lässt es sich durch Abspaltung von Wasser aus Ethanolerhalten. Eine Übersicht über die technisch bedeutsamen Reaktionen desEthylens, die zugleich repräsentativ für die Chemie der Monoolefine sind,gibt Abb. 92.

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Abb. 92: Ausgewählte Reaktionen des Ethylens

Bei Di- bzw. Polyolefinen unterscheidet man zwischen solchen mitisolierten (z.B. Hexa-1,5-dien), kumulierten (z.B. Allen = Propa-1,2-dien)und konjugierten (z.B. Buta-1,3-dien) Doppelbindungen. In derKonjugation weisen die Doppelbindungen besondere, aus dem MO-Schema der π-Orbitale (Abb. 93) erklärliche Eigenschaften auf, die sichbeispielsweise in interessanten Zyklisierungsreaktionen nierderschlagen(Abb. 94).

Abb. 93: MO-Schema der π-Orbitale des Buta-1,3-diensAbb. 94: Ausgewählte Reaktionen des Buta-1,3-diens

19.4.3 AlkineEtwa analog zur Situation im Distickstoffmolekül können zweiKohlenstoffatome auch durch eine Dreifachbindung (Kombination auseiner σ- und zwei π-Bindungen, vgl. E17) verbunden werden. Wegen derhierin vorliegenden sp-Hybridisierung der Kohlenstoffatome bilden dieAtome der an die Dreifachbindung gebundenen Atome mit diesen einelineare Anordnung.Wichtigstes Alkin ist das Acetylen (HC≡CH, Sdp. -83 °C), das wegen derrelativ hohen Elektronegativität des sp-Kohlenstoffs (EN = 3.3) bereitsdeutlich sauer reagiert und Metallsalze („Acetylide“) bildet. Früher wurdeAcetylen durch Hydrolyse von Calciumacetylid („Calciumcarbid“)hergestellt. Heute wird es durch katalytische Dehydrierung von Methanim Lichtbogen bei 1400 °C oder durch katalytische Dehydrierung vonEthylen gewonnen.

CaC2 + 2 H2O → HC≡CH + Ca(OH)22 CH4 → HC≡CH + 3 H2H2C=CH2 → HC≡CH + H2

Acetylen gehört zu den wichtigsten Grundchemikalien der organischenSynthesechemie (Abb. 95).

Abb. 95: Ausgewählte Reaktionen des Acetylens

Wegen seiner hohen Verbrennungswärme wird es auch zum autogenenSchweißen verwendet.

2 HC≡CH + 5 O2 → 4 CO2 + 2 H2O (ΔH = -622 kcal mol-1)

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19.4.4 AreneDie auch als “Aromaten” bezeichneten Verbindungen gehören sämtlicheiner Verbindungsklasse mit cyclisch koniugierten Doppelbindungen an,in denen 4n + 2 (n = 0,1,2,3,…) π-Elektronen über das gesamteRingsystem delokalisiert sind. Diesem Kriterium genügt neben demBenzol das Cyclopentadienid-Ion, nicht aber das Cyclobutadien und dasCyclooctateraen(Abb. 96).

Abb. 96: Resonanzformeln zyklisch delokalisierter π-Elektronen

Die Stabilität ergibt sich, am Beispiel des Benzols, aus dem MO-Schemader π-Elektronen (Abb. 97), während für das antiaromatischeCyclooctatetraen eine nichtplanare Struktur resultiert (Abb. 98).

Abb. 97: MO-Schema der π-Elektronen des BenzolsAbb. 98: MO-Schema der π-Elektronen des Cyclooctatetraens

Wichtigster Vertreter dieser Verbindungsklasse ist das Benzol (Schmp. 6°C, Sdp. 80 °C). Benzol kann durch katalytische Trimerisierung vonAcetylen hergestellt werden, wird heute jedoch meist durch katalytischeDehydrierung von Kohlenwasserstoffen (Methylcyclopentan/Cyclohexan)an Cr2O3-Kontakten gewonnen.Die chemischen Eigenschaften des Benzols ergeben sich aus dem bereitsbesprochenen Reaktionsverlauf der elektrophilen aromatischenSubstitution (vgl. Kap. 19.3.2.4), der den Aufbau zahlreicher substituierterDerivate gestattet (Abb. 99). Im Gegensatz zum Toluol ist Benzol wegender durch Oxidation gebildeten Peroxid-Radikale toxisch.

Abb. 99: Übersicht der Reaktionen des Benzols

Die Präsenz elektronenziehender Substituenten ermöglicht jedoch auchReaktionen nach dem Muster der nukleophilen aromatischen Substitution(Abb. 100). So bildet sich durch Umsetzung von 1,2,4,5-Tetrachlorbenzolmit NaOH das hochgiftige 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin („Dioxin“).

Abb. 100: Die nukleophile aromatische Substitution

Gleichfalls hochtoxisch sind benzannelierte Aromaten („KondensierteAromaten“), die im Steinkohlenteer zugegen sind (Abb. 101).

Abb. 101: Kondensierte Aromaten

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E38 Arbeitssicherheit und Toxizität>

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Beim Umgang mit Chemikalien sind rechtlich kodifizierteSicherheitsvorschriften zu beachten, die beispielsweise in der Anleitung„Sicheres Arbeiten in chemischen Laboratorien“ niedergelegt sind. Dieseenthält neben allgemeinen Angaben eine Auflistung der Einstufung vonChemikalien nach ihrem Gefährdungspotential, die laufend aktualisiertwird und unter der Internetadressehttp://www.uni-tuebingen.de/Chemie/Chemie/Sicheres_Arbeiten_in_chemischen_Laboratorien.pdfzugänglich ist. Die relative Toxizität ergibt sich aus den MAK- bzw.TRK-Werten der Chemikalien. Die allgemeinen Gefahrensymbole sowiedie Risikoangaben und Sicherheitsratschläge (R- und S-Sätze) finden sichzudem auf den Etiketten der im Handel vertriebenen Präparate sowie inden Katalogen der Vertreiber (Abb. 102 und 103).

Abb. 102: GefahrstoffsymboleAbb. 103: MAK- und TRK-Werte

Ohne dokumentierte Sicherheitsbelehrung darf in chemischenLaboratorien (also auch in Praktika!) nicht gearbeitet werden.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

19.4.5 HeterozyklenHeterozyklen sind carbozyklische Verbindungen, in denen einzelne CH2-oder CH-Fragmente formal gegen Heteroatome (meist N,O,S) oder derenFragmente (z.B. NH) ausgetauscht sind.Heterozyklen tragen meist Trivialnamen, die allgemein akzeptiert werdenDie wichtigsten sind, wie auch die Aromaten, aus fünf- odersechsgliedrigen Ringsystemen aufgebaut. Auch annelierte bizyklischeSysteme sind häufig (Abb. 104).

Abb. 104: Heterozyklen (Heteroarene)

Jedoch existiert auch eine systematische Nomenklatur, die Ringgröße, Artund Stellung des Heteroatoms sowie den formalen Hydrierungsgradberücksichtigt (Abb. 105).

Abb. 105: Nomenklatur der Heterozyklen

Innerhalb dieser Substanzklasse sind die formal aromatischenVerbindungen („Heteroarene“), die hier ausschließlich besprochenwerden, von besonderer Bedeutung.Furan (Sdp. 31 °C) wird technisch aus Furfuraldehyd gewonnen; dieSynthese kann als Beispiel für die gezielte Aufarbeitung von Naturstoffen,

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hier unter Ringschluß, dienen (Abb. 106). Das als Lösungsmittel wichtigeTetrahydrofuran, ein zyklischer Ether, wird dort besprochen.

Abb. 106: Synthese von Furan

Thiophen (Sdp. 80 °C) tritt als Begleiter des Benzols im Steinkohlenteerauf und ist hiervon schwer abzutrennen. Die gezielte Synthese erfolgtdurch Umsetzung von Buta-1,3-dien mit Schwefel bei 650 °C.Pyrrol (Sdp. 130 °C), gleichfalls Bestandteil des Steinkohlenteers, wirdgezielt durch Umsetzung von Furan mit Ammoniak (Austausch derHeteroatome im Ring unter Ringöffnung) gewonnen.Pyridin (Sdp. 115 °C), ebenfalls Bestandteil des Steinkohlenteers, wirdheute technisch durch Reaktion vom Acetylen mit Ammoniak erhalten.Alle genannten Heteroarene zeigen die für Arene typische ElektrophileAromatische Substitution (Kap. 19.3.2.4), wodurch zahlreiche Derivatezugänglich sind (jedoch sind auch spezielle Zyklisierungsreaktionengebräuchlich). Die Reaktivität der Verbindungen lässt sich, analog derInterpretation der Elektrophilen Aromatischen Substitution, aus denmöglichen Resonanzformeln ableiten. Am Beispiel des Vergleichs vonPyrrol („elektronenreicher Heteroaromat“) und Pyridin („elektronenarmerHeteroaromat“) wird die Verwandtschaft zu Anilin („Aminobenzol“) undNitrobenzol deutlich (Abb. 107). Man beachte, dass das freieElektronenpaar am Stickstoffatom im Falle des Pyrrols im pz-Orbitalplatziert und somit Bestandteil des aromatischen π-Systems ist, währendes im Falle des Pyridins dem in der Ringebene liegenden sp2-Hybridorbital zugehört. Hieraus resultiert für das Pyrrol eine beträchtlicheπ-Basizität, für das Pyridin hingegen eine mittelstarke σ-Basizität.

Abb. 107: Delokalisierung der π-Elektronen in Pyrrol und Pyridin

Heteroaromaten spielen als Bestandteile vieler Naturstoffe und Pharmakaeine herausragende Rolle in der Biochemie.

19.4.6 AlkoholeAlkohole, R-OH, sind geringfügig stärker sauer als Wasser. Zu ihrerDarstellung existieren zahlreiche Methoden (Abb. 108).

Abb. 108: Synthese von Alkoholen

Die chemischen Reaktionen können eingeteilt werden in solche unterSpaltung der C-O-Bindung und der O-H-Bindung. Die Einwirkung vonSäuren erzeugt, je nach Reaktionsbedingungen, verschiedene Produkte(Abb. 109).

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Abb. 109: Reaktionen von Alkoholen

Wichtige Vertreter sind Methanol (Sdp. 65 °C, „Holzgeist“), Ethanol(Sdp. 79 °C, „Weingeist“) und Phenol (Schmp. 43 °C), die früher ausNaturstoffen gewonnen wurden („alkoholische Gärung“). Heute wirdMethanol technisch durch Hydrierung von Kohlenmonoxid unter Druckmittels ZnO/Cr2O3-Katalysator gewonnen, während Ethanol durchkatalytische Addition von Wasser an Ethylen erhalten wird.

CO + 2 H2 → CH3OHH2C=CH2 + H2O → CH3CH2OH

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E39 Siedediagramme>Zur destillativen Trennung von Flüssigkeiten sind die Siedediagramme zubeachten, die den gleichen Gesetzmäßigkeiten der zuvor besprochenenSchmelzdiagramme (vgl. Kap. 18.2.6) unterliegen (Abb. 110). Die denPhasenübergang beschreibenden Gleichgewichtskurven zwischenflüssiger und gasförmiger Phase werden hier als Siede- und Taukurvebezeichnet. In der Gasphase liegt immer vollständige Mischbarkeit vor.Bei der destillativen Trennung handelt es sich, wie hier besprochen, meistum auch in der flüssigen Phase vollständig mischbare Systeme. BeimÜbergang von der flüssigen Phase zur Gasphase am Siedepunkt stehenbeide Phasen mit unterschiedlicher Zusammensetzung im Gleichgewicht.Die Zahl der Isothermen wird als „Theoretische Bodenzahl“ bezeichnetund gibt die Anzahl der erforderlichen Destillationsvorgänge zur(angenähert) vollständigen Trennung an.Berühren sich Siede- und Taukurve an einem Minimum (AzeotroperPunkt), so ist eine vollständige Trennung der Komponenten durchDestillation nicht möglich. Dies ist beispielsweise beim SystemWasser/Ethanol der Fall (ein Gemisch aus 95.6 Massen% Ethanol und 4.4Massen% Wasser siedet bei 78.20 °C)

Abb. 110: Siedediagramme und Destillation

Wichtige mehrwertige Alkohole sind Ethylenglykol HO-CH2-CH2-OH(Sdp. 197 °C, Gefrierschutz), und Glycerin HO-CH2-CH2(OH)-CH2-OH(Sdp. 290 °C, Bestandteil von Fetten, vgl. Kap. 19.5.2.1).

19.4.7 EtherEther, R-O-R’, werden durch Umsetzung von Alkoholen mit Säuren oderdurch Reaktion von Alkoholaten mit Alkylhalogeniden erhalten.

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2 R-OH → R-O-R + H2OR-ONa + R’Cl → R-O-R’ + NaCl

Bekannteste Verbindung dieser Substanzklasse ist der früher alsNarkotikum verwendete, mit Wasser nicht mischbare Diethylether (Sdp.34 °C). In der industriellen Verwendung bedeutsam als Lösungsmittelsind die mit Wasser mischbaren cyclischen Ether Tetrahydrofuran (Sdp.66 °C) und 1,4-Dioxan (Sdp. 101 °C). Oxiran (Sdp. 14 °C, „Ethylenoxid“)besitzt beträchtliche Bedeutung in der organischen Synthese.Polyfunktionelle Ether bilden sehr stabile gut lösliche Metallkomplexe;durch Zugabe stöchiometrischer Mengen von 18-Krone-6 läßt sichbeispielsweise Kaliumchlorid in Benzol auflösen (Abb. 111).

Abb. 111: Zyklische Ether

Ether bilden beim Stehen an Luft Peroxide, die zu heftigen Explosionenführen können.

19.4.8 Amine und NitroverbindungenAmine R-NH2 und Nitroverbindungen R-NO2 lassen sich durchRedoxprozesse ineinander überführen. Amine zeigen, wie Ammoniak,basisches Verhalten; man unterscheidet primäre Amine (RNH2),sekundäre Amine (R2NH) und tertiäre Amine (R3N).Nitroverbindungen reagieren durch den –I- und –M-Effekt der NO2-Gruppe sauer; CH3NO2 (Nitromethan) weist einen pKS-Wert von 10.2,Dinitromethan gar von 3.6 auf (man beachte die Resonanzstabilisierungder Anionen). Wegen der hochtoxischen Eigenschaften der alsVerunreinigung gegenwärtigen Nitrosoverbindungen (R-NO) wie auchder explosiven Eigenschaften mancher Derivate (Trinitrotoluol wird alsSprengstoff verwendet) ist beim Umgang mit Nitroverbindungen Vorsichtgeboten.

19.4.9 Aldehyde und KetoneAldehyde R-C(=O)H und Ketone R-C(=O)R’ enthalten als funktionelleGruppe die reaktive Carbonylgruppe, deren chemische Eigenschaftendurch das Resonanzgleichgewicht verständlich werden. Neben derinduktiv verursachten Polarität der Gruppe ist die auf demNachbargruppeneffekt beruhende Aktivierung der β-CH-Bindung zubeachten. (Abb. 112).

Abb. 112: Resonanz und Tautomerie in Carbonylverbindungen

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Abb. 113 gibt einen Überblick über die vielfältigenSynthesemöglichkeiten. In Abb. 114 sind wichtige Reaktionen derSubstanzklassen zusammengefäßt.

Abb. 113: Synthese von CarbonylverbindungenAbb. 114: Reaktionen von Carbonylverbindungen

Bekanntestes Keton ist das nicht toxische Aceton CH3C(=O)CH3 (Sdp. 56°C), das durch katalytische Oxidation von Propen oder durchDehydrierung von Isopropanol gewonnen wird.

2 CH3C(H)=CH2 + O2 → 2 CH3C(=O)CH32 CH3CH(OH)CH3 + O2 → 2 CH3C(=O)CH3 + 2 H2O

Aceton findet wegen seiner guten Lösungseigenschaften in der Chemiewie im Haushalt (z.B. als Nagellackentferner) weite Verwendung.

19.4.10 Carbonsäuren und ihre DerivateCarbonsäuren R-C(=O)OH unterscheiden sich von den Ketonen durchAustausch eines Organosubstituenten R gegen eine Hydroxygruppe (Abb.115). Deren +M-Effekt schwächt die Elektrophilie des zentralenKohlenstoffatoms.

Abb. 115: Carbonsäuren und ihre Derivate

Die Resonanzstabilisierung des Anions bewirkt die sauren Eigenschaftender Carbonsäuren , die durch Nachbargruppeneffekte stark beeinflusstwerden (Abb. 116).

Abb. 116: Säurestärke von Carbonsäuren

Methoden zur Herstellung der Carbonsäuren sind in Abb. 117 angegeben.Abb. 117 enthält die wichtigsten Reaktionen zur Überführung in ihreDerivate.

Abb. 117: Darstellung von CarbonsäurenAbb. 118: Überführung der Carbonsäuren in ihre Derivate

Wichtige Carbonsäuren sind die Essigsäure CH3C(=O)OH (Schmp. 17 °C,Sdp. 118 °C) sowie die Benzoesäure C6H5C(=O)OH (Schmp. 122 °C,Sdp. 250 °C),die in technischem Maßstab durch katalytische Umsetzungvon Methanol und Kohlenmonoxid bzw. durch Oxidation von Toluolgewonnen werden.

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CH3OH + CO → CH3C(=O)OH2 C6H5CH3 + 3 O2 → 2 C6H5C(=O)OH + 2 H2O

Gleichfalls den Derivaten der Carbonsäuren zugerechnet werden dieNitrile R-C≡N wegen der hier für den zentralen Kohlenstoff gleichfallsvorliegenden Oxidationszahl +III. Sie können durch Wasserabspaltungder zugehörigen Carbonsäureamide oder durch Umsetzung derzugehörigen Alkylhalogenide mit Cyaniden gewonnen werden.

R-C(=O)NH2 → R-C≡N + H2OR-Cl + NaCN → R-C≡N + NaCl

Nitrile lassen sich bei höheren Temperaturen mit Wasser in diezugehörigen Carbonsäuren überführen und mit Wasserstoff zu primärenAminen reduzieren.

R-C≡N + 2 H2O → R-C(=O)OH + NH3R-C≡N + 2 H2 → R-CH2-NH2

Wichtigste Verbindung der Substanzklasse ist das aus Ammoniak undAcetylen zugängliche Acetonitril (Sdp. 82 °C).

HC≡CH + NH3 → CH3-C≡N + H2

19.5 Spezielle Kapitel der Organischen ChemieAbschließend werden ausgewählte Kapitel der Organischen Chemiebehandelt.

19.5.1 Hochmolekulare StoffeWegen ihrer besonderen Eigenschaften spielen Hochmolekulare Stoffe(„Polymere“) in der Natur (z.B. Cellulose, Stärke, Proteine) wie auch inder Technik (Kunststoffe) eine herausragende Rolle. Die in diesemAbschnitt zu besprechenden technischen, d.h. nicht natürlichvorkommenden Stoffe werden durch die Art ihrer Bildung, dieBeschaffenheit ihrer funktionellen Gruppen sowie durch diedurchschnittliche Molekülmasse charakterisiert. DurchschnittlicheMolekülmassen von 50000-100000 sind gebräuchlich.Abb. 119 gibt einen Überblick über funktionelle Gruppen natürlicher undtechnischer Makromoleküle. Man unterscheidet zwischen Polymerisaten,Polykondensaten und Polyaddukten; die Bildungsweise steht naturgemäßin direktem Zusammenhang mit den funktionellen Gruppen dermonomeren Edukte.

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Abb. 119: Arten hochmolekularer Stoffe

19.5.1.1 PolymerisateBei der Polymerisation treten Einzelmoleküle mit Mehrfachbindungen(meist C-C-Doppelbindungen) unter wechselseitiger Addition zuMakromolekülen zusammen. Je nach kinetischer Stabilität derMehrfachbindung ist hierzu eine Anregungsenergie wechselnder Höhedurch Katalyse aufzubringen. Die Eigenschaften des hochmolekularenStoffes werden durch die Regio- und Stereoselektivität der Additionbeeinflusst. Abb. 120 zeigt als Beispiele den Mechanismus der Styrol-und Ethylenpolymerisation sowie , für den Fall des Polystyrols, die durchhinsichtlich der Stereoselektivität verschiedene Additionen erhaltenenKonfigurationsisomeren (zur Frage der Chiralität vgl. Kap.???).

Abb. 120: Reaktionsverlauf der Polymerisation von Styrol und Ethylen.Die möglichen Konfigurationen von Polystyrol

Abb. 121 enthält Beispiele technischer Polymerisate.

Abb. 121: Beispiele technisch wichtiger Polymerisate

19.5.1.2 PolykondensateBei der Polykondensation reagieren funktionelle Gruppen verschiedenerEdukte im Sinne einer Substitutionsreaktion unter Eliminierung stabilerMoleküle (meist Wasser oder HCl) und Bildung des Polykondensats.Meist ist hierzu kein Katalysator erforderlich. Abb. 122 zeigt denReaktionsverlauf am Beispiel der Polycarbonate und Polyamide.

Abb. 122: Reaktionsverlauf der Polykondensation zu PolycarbonatenUnd Polyamiden

Abb. 123 enthält Beispiele technischer Polykondensate.

Abb. 123: Beispiele wichtiger Polykondensate

19.5.1.3 PolyadduktePolyaddukte weisen keinen einheitlichen Bildungsmechanismus auf. Sieunterscheiden sich von den zuvor besprochenen Polykondensaten durchden Fortfall des bei der Kondensation gebildeten Spaltprodukts (z.B. H2O,HCl). Allgemein addieren hier Hydroxy-Gruppen an Doppelbindungenoder, unter Ringöffnung, an gespannte Ringsysteme. Klassische undtechnisch wichtige Beispiele sind die Epoxidharze und die Polyurethane,deren Bildung in Abb. 124 wiedergegeben ist.

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Abb. 124: Reaktionsverlauf der Bildung von Polyaddukten(Epoxydharze und Polyurethane)

19.5.2 Naturstoffe

19.5.2.1 FetteFette sind Mischungen aus Glycerinestern verschiedener Fettsäuren mit12-20 C-Atomen. Sie dienen im Organismus zur Energieerzeugung, alsDepotsubstanzen, zur Wärmeisolierung und zur Umhüllung von Organen(Abb. 125).

Abb. 125: Fettsäuren und Fette

Durch Basen können die Ester zu Glycerin und den Salzen der Fettsäuren(„Seifen“) gespalten werden („Verseifung“). Ungesättigte Fettsäurenerzeugen Fette niedriger Schmelztemperatur (Öle), die durch Hydrierung„gehärtet“ werden können (Margarineherstellung).

19.5.2.2 KohlehydrateDie auch als „Saccharide“ bezeichneten Substanzen verdanken ihrenNamen der häufig anzutreffenden Zusammensetzung C(H2O)n; ausstruktureller Sicht handelt es sich um mehrwertige Alkohole, derenstrukturelle Gegebenheiten am Beispiel der Glucose erläutert werden(Abb. 126).

Abb. 126: Strukturen der Glucose

Meist liegen die Verbindungen als fünf- oder sechsgliedrige Ringe(„Halbacetal-Form“) vor. In der offenen wie auch ringförmigen Strukturliegen mehrere „asymmetrische“ Kohlenstoffatome vor, die Chiralitäterzeugen (vgl. E40). Die Einteilung der Monosaccharide erfolgt nach derAnzahl der Kohlenstoffatome (Pentose, Hexose u.a.), des Vorliegens vonAldehyd- bzw. Ketonfunktionen in der offenkettigen Form (Aldosen bzw.Ketosen) sowie der Zahl der ringständigen Atome in der Halbacetalform(Pyranose, Furanose).Man unterteilt weiterhin die Saccharide (Abb. 127) in Monosaccharide(s.o.), Disaccharide (z.B. Rohrzucker) und Polysaccharide (z.B. Cellulose,Stärke).

Abb. 127: Strukturen der Fructose. Di- und Oligosaccharide

Auch Kohlehydrate sind Energiespeicher. Zum Abbau im Organismusmüssen in Olisacchariden die Etherbindungen gespalten werden; dies ist

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beispielsweise im menschlichen Organismus bei der Cellulose nichtmöglich.

19.5.2.3 Aminosäuren und ProteineDie dritte Gruppe der als Nährstoffe wichtigen Substanzen, auch als„Eiweißstoffe“ bezeichnet, ist als Polyamid (Polykondensat, Molmasse >10000) aufzufassen. Bausteine sind natürlich vorkommende α-Aminosäuren (Abb. 128), die über sog. Peptidbindungen“ verknüpft sind(Abb. 129).

Abb. 128: Natürlich vorkommende neutrale AminosäurenAbb. 129: Zwitterionische Struktur der Aminosäuren und Peptidbildung

Abgesehen von Glycin („α-Aminoessigsäure“) enthalten allseAminosäuren ein „asymmetrischer Kohlenstoffatom“, d.h. einKohlenstoffatom mit 4 verschiedenen Substituenten. Verbindungen diesesBauelements treten als „Enantiomerenpaar“ auf; die Enantiomerenverhalten sich wie Bild und Spiegelbild, sie können ohne Lösung vonBindungen nicht ineinander überführt werden. Enantiomere haben gleichephysikalische und chemische Eigenschaften ausgenommen ihreBefähigung, die Ebene des polarisierten Lichtes um den Winkel αbzw- -αzu drehen (Abb. 130).Enthält ein Molekül mehrere asymmetrische Kohlenstoffatome, so bildensich Diastereomerenpaare, deren zugehörige Verbindungen sich nunchemisch uns physikalisch unterscheiden. Dies wird am Beispiel derWeinsäure deutlich (Abb. 131).

Abb. 130: Chiralität. Enantiomere und Diastereomere

Die Fähigkeit einer Verbindung, Enantiomerenpaare zu bilden, bezeichnetman als Chiralität („Händigkeit“). Sie ist eine Symmetrieeigenschaft derMoleküls, für deren Vorliegen die Präsenz von asymmetrischenKohlenstoffatomen weder hinreichend noch notwendig ist (Abb. 131). Sosind Hexahelicen wegen der sterisch erzwungenen Nicht-Planarität desMoleküls und die 6,6’-Dinitrodiphensäure wegen der gleichfalls sterischbedingten Hinderung der Rotation um die zentrale C-C-Bindung chiral,während in der meso-Weinsäure sich die Wirkung der beidenChiralitätszentren durch Bildung eines Inversionszentrums aufhebt.

Abb. 131: Strukturen der o,o’-tetrasubstituierten Biphenyle,des Hexahelicens und der Weinsäure

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E40 Symmetrie und Chiralität>

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Der Begriff der Chiralität ist an die formale Symmetrie gebunden undwird von ihr definiert. Die Symmetrielehre der Moleküle unterscheidetsich in einigen Punkten von der der Festkörper, die in Raumgruppeneingeordnet werden. Auf die Unterschiede soll zum Verständnis kurzeingegangen werden.Das Symmetriesymbol der Raumgruppen enthält neben der Angabe desBravais-Typs („Zentrierung“) Angaben zur Punktgruppensymmetrie(Drehung, Spiegelung, Inversion, Drehinversion), die in manchen Fällendurch die sog. „Translationssymmetrie“ (Schraubenachsen,Gleitspiegelebenen) ergänzt werden. In der Symmetriebetrachtung derMoleküle entfällt die Zentrierung wie auch die Translationssymmetrie; dieverbleibende Punktgruppensymmetrie erzeugt auch hier imZusammenwirken der einzelnen Operationen einen lagekonstanten Punkt,der nicht mit einer Atomlage besetzt sein muß.Zur Symmetriebeschreibung der Moleküle wird an Stelle der Hermann-Mauguin-Symbolik aus historischen Gründen die Schönflies-Symbolikverwendet. Die Drehinversion der Hermann-Mauguin-Symbolik wirddurch die Drehspiegelung der Schönflies-Symbolik ersetzt; beideOperationen sind durch die Drehung entlang der Drehinversions- bzw.Drehspiegelachse um 180 ° (2 bzw. C2) verbunden. Bei der Betrachtungvon Molekülen sind Drehachsen mit ganzzahliger Zähligkeit (n = 1-∞)unbeschränkt zulässig, das das Kriterium der Raumerfüllung entfällt.Auf die exakte gruppentheoretische Betrachtung der Symmetrielehre sollhier verzichtet werden. Abb. 132 gibt einen Überblick über dieSymmetrieoperationen beider Systeme.

Abb. 132: Symmetrieelemente und Operationen

Grundsätzlich lassen sich (hier in der Schönflies-Systematik formuliert)alle Symmetrieoperationen in zwei Gruppen einteilen:a) Drehungen Cn (incl. C1 = E)b) Drehspiegelungen Sn (incl. σ= S1 und i = S2)Hieraus resultieren hinsichtlich ihrer Symmetrie drei Klassen vonSubstanzen:1. Asymmetrische Substanzen (nur C1)2. Dissymmetrische Substanzen (nur Cn, n > 1)3. Symmetrische Substanzen (Sn, n = 1-∞).Asymmetrische und dissymmetrische Substanzen sind chiral und könnenEnantiomeren- bzw. Diastereomerenpaare bilden.xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

Die am Aufbau natürlicher Proteine beteiligten Aminosäuren liegen als L-Enantiomere vor.

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Die Struktur der helixartig gebauten Proteine lässt sich durch gestaffelteStrukturhierarchien (Primärstruktur, Sekundärstruktur ..) beschreiben(Abb. 133).

Abb. 133: Aufbau und Struktur von Proteinen

Die Helices (Abb. 134) sind zueinander diastereoisomer (rechts- undlinksgängige Schraube aus L-Enantiomeren der Aminosäuren!). Dierechstgängige Helix ist stabiler und liegt in natürlichen Proteinen vor.

Abb. 134: Schematische Darstellung der beiden möglichen Formen einerHelix aus L-Aminosäuren

19.5.3 Metallorganische Verbindungen19.5.3.1 ÜbersichtOrganische Verbindungen enthlaten, abgesehen von Wasserstoff und demKohlenstoff selbst, kovalente Element-Kohlenstoff-Bindungen mitElementen, die gegenüber dem Kohlenstoff eine höhere Elektronegativitätaufweisen und somit den Kohlenstoff als formal positivenBindungspartner enthalten (Cδ+-Eδ-). Verbindungen inverser Polarisierungwerden, ungeachtet des elementaren Zustandes von M (Metall,Halbmetall, Nichtmetall) als Metallorganische Verbindungen (Mδ+-Cδ-; M≠ C,H) bezeichnet.Ihrer Polarisierung entsprechend bilden sich bei der Hydrolyse solcherVerbindungen Kohlenwasserstoffe und Element-Hydroxide. DieVerbrennung liefert Elementoxide, Wasser und Kohlendioxid (R = z.B.CH3, M = Li).

CH3-Li + H2O → CH3-H + Li-OH4 CH3-Li + 8 O2 → 4 CO2 + 6 H2O + 2 Li2O

Wegen der hohen Stabilität der Reaktionsprodukte CO2 und H2O sind allemetallorganischen Verbindungen gegenüber Luft thermodynamischinstabil. Viele zersetzen sich deshalb spontan an Luft, andere können inFolge ihrer kinetischen Stabilität an Luft gehandhabt oder gar unbegrenztgelagert werden.

19.5.3.2 Metallorganische Verbindungen der HauptgruppenelementeFast alle Verbindungen dieser Klasse enthalten Element-Kohlenstoff-Einfachbindungen (σ-Bindungen). Die als Kunststoffe (Silikone)wichtigen Verbindungen des Siliziums, die kinetisch stabile Si-C-Bindungen enthalten, wurden bereits besprochen (Kap. 15.3.6).

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Trotz der vergleichbaren Bindungsenergie der Bindungen Si-C und Al-Cweisen die technisch gleichfalls wichtigen Verbindungen des Aluminiumsgänzlich anders geartete chemische Eigenschaften auf. WährendTetramethylsilan, Si(CH3)4, sich mit Wasser nicht mischt, tritt beimKontakt von Trimethylalan, Al(CH3)3, mit Wasser explosionsartigeZersetzung ein. Die Reaktion wird durch den nukleophilen Angriff desWassermoleküls auf das leere pz-Orbital des Aluminiums (niedrigeAktivierungsenergie) eingeleitet. Beim Silizium ist hierzu die Beteiligungenergetisch hochliegender leerer d-Orbitale erforderlich.Bei hinreichend hoher Elektronegativitätsdifferenz der Elemente M und Ckönnen auch salzartige Strukturen (z.B. Ionengitter in K+CH3

-)ausgebildet werden.

19.5.3.3 Metallorganische Verbindungen der NebengruppenelementeFast alle Verbindungen dieser Klasse sind Komplexverbindungen. Hierintreten die organischen Substrate formal als Liganden, die mit demMetallzentrum über Kohlenstoffatome verbunden sind, auf. Häufiggehorchen hierbei stabile Verbindungen der 18-Elektronen-Regel.Die organischen „Liganden“ lassen sich verschiedenen Klassen zuordnen:a) Carbanionen (R-)b) Neutrale C-Donorliganden (z.B. CO)c) Olefine und Oligoolefine (z.B. H2C=CH2, C6H6)d) Negativ geladene („anionische“) Olefine (z.B. C3H5

-, C5H5-)

Darüber hinaus lässt sich eine Einteilung der Komplexverbindungen anHand der Bindung C-M vornehmen. Hier unterscheidet mana) M-C σ-Donorbindungen (d.h. aus σ-Orbitalen der Liganden)b) M-C σ-Donor/π-Akzeptorbindungenc) M-C π-Donor/π-AkzeptorbindungenBeispiele für die Liganden sind in Abb. 135 wiedergegeben.

Abb. 135: Metallorganische Verbindungen der Nebengruppenelemente

Die besondere Bedeutung der Metallorganischen Komplexverbindungberuht auf ihrer Verwendung als homogene Katalysatoren in derorganischen Synthesechemie.

xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx<E41 Katalyse II>Metallkomplexe liegen als Katalysatoren einer organischen Reaktionmeist in Lösung, also in gleicher Phase wie die Reaktanden vor(„Homogene Katalyse“).In einer solchen Reaktion tritt ein zu aktivierendes Molekül alsKomplexligand in den Metallkomplex ein und wird in derKoordinationssphäre in Fole seiner Aktivierung (Schwächung der

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Element-Element-Bindung im Liganden) und räumlichen Fixierungbevorzugt mit einem Reaktionspartner zur Reaktion gebracht. Danacherfolgt Ablösung des Zielmoleküls unter Wiederherstellung desmetallorganischen Ausgangskomplexes.Das Prinzip wird an der Wirkungsweise des sog. „Wilkinson-Katalysators“ deutlich.

Abb. 136xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx