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4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur Sieben ineinandergreifende Bereiche bestimmen das Althoch- deutsche als Anfang deutscher Sprachkultur: (1) Die erstmalige Fixierung der bisher nur gesprochenen althoch- deutschen Volkssprache in der neuen schriftlichen Form latei- nischer Buchstabenschrift neben der im Frühmittelalter be- herrschenden Schriftsprache Latein, was letztlich in Anleh- nung daran zu einer lateinisch-althochdeutschen, ja vereinzelt rein althochdeutschen Buchkultur führt, in welche sowohl volkstümliche Sprechsprache wie dem Lateinischen nachge- bildete althochdeutsche Schreibsprache einfindet. (2) Die Grundlegung eines deutschen Sprachbewußtseins über die reinen Stammesdialekte hinaus. (3) Das allmähliche Zusammenwachsen des Sprachsystems der verschiedenen Dialekte zu einer gegenseitig nicht nur versteh- baren, sondern auch bis zu einem gewissen Grade nach Gram- matik und Lexik vereinheitlichten deutschen Sprache. (4) Der Aufbau einer erstmals christlichen deutschen Sprache im Gefolge der Christianisierung südgermanischer Stämme und des Aufbaus einer entsprechenden Klosterkultur und Kirchen- organisation nach west- und südeuropäischem Vorbild. (5) Die Anfänge einer deutschen Bildungssprache, was wiederum mit der frühmittelalterlichen Klosterkultur zusammenhängt. (6) Die Ausformung eines vielfältigen volkssprachlichen Dichter- tums. (7) Das Zusammenwachsen zu einem ersten geographisch ge- schlossenen deutschen Sprachraum. Im Folgenden sollen diese sieben Bereiche kurz besprochen wer- den. 4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 4.1.1. Althochdeutsch als Volkssprache Das einseitigste Urteil über das Althochdeutsche hat der von seinen eigenen Forschungen her mit der ältesten deutschen Sprachstufe Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 1/2/14 10:57 PM

Althochdeutsche Sprache und Literatur (Eine Einführung in das älteste Deutsch. Darstellung und Grammatik) || 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

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Page 1: Althochdeutsche Sprache und Literatur (Eine Einführung in das älteste Deutsch. Darstellung und Grammatik) || 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Sieben ineinandergreifende Bereiche bestimmen das Althoch-deutsche als Anfang deutscher Sprachkultur:

(1) Die erstmalige Fixierung der bisher nur gesprochenen althoch-deutschen Volkssprache in der neuen schriftlichen Form latei-nischer Buchstabenschrift neben der im Frühmittelalter be-herrschenden Schriftsprache Latein, was letztlich in Anleh-nung daran zu einer lateinisch-althochdeutschen, ja vereinzelt rein althochdeutschen Buchkultur führt, in welche sowohl volkstümliche Sprechsprache wie dem Lateinischen nachge-bildete althochdeutsche Schreibsprache einfindet.

(2) Die Grundlegung eines deutschen Sprachbewußtseins über die reinen Stammesdialekte hinaus.

(3) Das allmähliche Zusammenwachsen des Sprachsystems der verschiedenen Dialekte zu einer gegenseitig nicht nur versteh-baren, sondern auch bis zu einem gewissen Grade nach Gram-matik und Lexik vereinheitlichten deutschen Sprache.

(4) Der Aufbau einer erstmals christlichen deutschen Sprache im Gefolge der Christianisierung südgermanischer Stämme und des Aufbaus einer entsprechenden Klosterkultur und Kirchen-organisation nach west- und südeuropäischem Vorbild.

(5) Die Anfänge einer deutschen Bildungssprache, was wiederum mit der frühmittelalterlichen Klosterkultur zusammenhängt.

(6) Die Ausformung eines vielfältigen volkssprachlichen Dichter-tums.

(7) Das Zusammenwachsen zu einem ersten geographisch ge-schlossenen deutschen Sprachraum.

Im Folgenden sollen diese sieben Bereiche kurz besprochen wer-den.

4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt

4.1.1. Althochdeutsch als Volkssprache

Das einseitigste Urteil über das Althochdeutsche hat der von seinen eigenen Forschungen her mit der ältesten deutschen Sprachstufe

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 165

über Otfrid hinaus nur wenig vertraute Arno Schirokauer gefällt, der das Althochdeutsche merkwürdig genug als Mönchs- und Klo-stersprache bezeichnet hat, dem jede Emphase fehle. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die völlig uneinheitliche, aber sich zwischen Glossen, vielfältiger Übersetzung und autochthoner Literatur be-wegende althochdeutsche Überlieferung verfügt zusammen mit der das Sprachmaterial erstaunlich weitsichtig und objektiv ver-mittelnden Mönchsdisziplin über ein Sprachspektrum, das fast alle Bereiche des vielfältigen sachbezogenen wie halb- oder hochlite-rarischen Sprachlebens einfängt: von der gesprochenen Sprache bis zu den Resten einer archaisch-germanischen Dichtersprache, von der neuen geistlich-spirituellen wie emphatischen Bibeldich-tung bis zum Humorvollen und selbst Obszönen in Spott- und Lie-besversen, von der volkssprachlich getragenen Naturschilderung bis zur Kunstprosa christlicher und antiker Übersetzung. Das Alt-hochdeutsche hat sich, trotz aller Schreibsystemschwierigkeiten, von allem Anfang an als Volkssprache etabliert - so war es auch in Karls des Großen Admonitio generalis von 789 zunächst anvi-siert - : daß die älteste schriftlich bezeugte Stufe des Deutschen dar-über hinaus schon in ihrer Frühzeit eine des Dichterischen und schon bald auch des Wissenschaftlichen fähige Schreibsprache ge-worden ist, verdankt sie einerseits einem immerhin um 800 noch bis zu einem gewissen Grade nachlebenden spätgermanischen Formgefühl mündlich anonymer Dichtungstradition - das Hilde-brandslied, die archaisch-heidnischen Merseburger Zaubersprüche zeigen das deutlich genug, auch wenn ihre Überlieferung im Alt-hochdeutschen fast zufällig erscheint - , der im 9. Jh. sich verstär-kenden Faszination einer von innen dichterisch genährten wie von außen vorbildhaft beeinflußten sacra poesis einer neuen christli-chen Bibeldichtung andererseits und schließlich ihrer volkssprach-nahen und doch imitatiohaft auf das Lateinische ausgerichteten, als Ganzes durchaus einheitlichen Übersetzungshaltung von den Glossen des 8. Jhs. bis zu Notker von St. Gallen um 1000 und Wil-liram von Ebersberg im 11. Jh. Man darf hinter der uneinheitlichen und auseinanderstrebenden, außerdem offenbar zufälligen, d. h. keineswegs vollständig auf uns gekommenen Überlieferung des Althochdeutschen wieder einmal seine erstaunliche Sprachfülle und seine einheitliche Übersetzungshaltung und Volkssprachlich-keit sehen, die als Sprachmaterial jenseits der nur ungleich oder

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166 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

einseitig bezeugten literarischen Gattungen steht. Dies schwebte Georg Baesecke vor - im Kern hat er es richtig gesehen, ohne sein eigenes ineinander allzusehr verstrebtes Literaturgerüst ausfüllen zu können: von der Sprache und Übersetzungshaltung her scheint uns eine einheitliche Sicht weitgehend und ohne Strapazierung möglich. Denn das eigentliche Sprachereignis des Althochdeut-schen ist doch dies: daß es als Volkssprache sichtbar wurde trotz seiner zunächst spröden Schreibsprachlichkeit, die als Vorschule der Eindeutschung und bildenden Umschichtung einer bäuerlich schriftlosen Vorstufe in der weiten Rodungslandschaft um den al-ten Siedlungsgrund weniger primär lohnender Zonen verstanden werden darf; daß es alles in allem durch seine scheinbar nur mön-chische Schriftlichkeit immer wieder Volkssprache spiegelt - in fast allen seinen uns bekannt gewordenen Sprachschichten; daß es dem vornehmsten sprachlichen Ausdruck der menschlichen Indi-vidualität, den Eigennamen, einen breitesten und in der Sprach-form fast rein althochdeutschen Raumbezirk seiner Überlieferung gönnte. Namen, Glossen, Denkmäler - dies alles macht ja schon materialmäßig viel mehr aus - und ist immer noch in der erschlie-ßenden Sammlung begriffen - , als man noch vor wenigen Jahr-zehnten ahnte, als die großen althochdeutschen Literaturgeschich-ten geschrieben wurden. Erst recht kam das Volkssprachliche darin zu kurz, weil man es hinter den literarischen Kategorien nicht sehen zu können vermeinte.

Volkssprache ist das Althochdeutsche - dem Bewußtsein und der inneren Sprachhaltung seiner bedeu-

tendsten Verfasser nach - nach der tatsächlichen Erscheinungsform der breiten Schicht

gesprochener Sprache, die wir selbst aus der Schriftlichkeit der Denkmäler zu fassen vermögen

- aus der Tragfähigkeit der volkssprachlich gegründeten Nach-wirkungen des Sprachinstrumentariums heraus.

Wir wollen diese drei Gesichtspunkte noch etwas näher erläutern. Sie bilden eine innere Einheit in der äußerlichen Uneinheitlichkeit der sogenannten althochdeutschen Literatur - ein überflüssiges Streitobjekt, wenn man einfach der Sache gemäß von althochdeut-scher Überlieferung spricht, in die außerdem Literatur oder not-wendige Vorstufen dazu im Sinne der Sprachschulung eingefun-den haben.

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 167

Zunächst sind es die Bemühungen Karls des Großen (768/ 771-814) um eine deutsche Volkssprache. Unmittelbar auf Karls des Großen Admonitio generalis vom 23. März 789 gehen die äl-testen althochdeutschen Paternoster-Übersetzungen und Glau-bensbekenntnisse zurück. In Weiterführung der ältesten Konzils-beschlüsse und kirchlichen Vorschriften bestimmt die Admonitio generalis, daß die im Mittelpunkt der Glaubenslehre stehenden Glaubensbekenntnisse und das Vaterunser dem Volke von den Priestern vorzutragen und zu erklären seien. In einem späteren Reichsgesetz von 802 heißt es außerdem, das ganze christliche Volk müsse Glaubensbekenntnis und Vaterunser auswendig ken-nen, lateinisch ut omnis populus christianus fidem catholicam et dominicam orationem memoriter teneat. Ganz ähnlich heißt es in der altbairischen, auf die Freisinger und Fuldaer Überlieferung zurückgehenden Exhortatio ad plebem christianam aus dem An-fang des 9. Jhs. lateinisch und althochdeutsch, die Grundbegriffe des Glaubens müßten von allen verstanden und im Gedächtnis be-halten werden: lateinisch ut omnes possent intellegere et memori-ter retiñere, althochdeutsch (Fassung B) thai mahtin allefarstan-tan ia in gahuhti gahapen. Auf diesem allgemeinen Hintergrund sind die im späteren 8. Jh. entstehenden althochdeutschen Über-setzungen des Vaterunsers und des Credo sowie der Taufgelöb-nisse zu verstehen, wie sie uns aus verschiedenen althochdeut-schen Überlieferungsorten entgegentreten (vgl. dazu Abschnitt 2.6. und 2.7. oben S. 82/91 ff.). Auf Karl den Großen gehen wei-tere Bemühungen um die Volkssprache zurück, wie Einharts Vita Caroli magni in Kapitel 29 knapp berichtet: die Nachricht über die Sammlung und Niederschrift von Heldenliedern (barbara et anti-quissima carmina), leider nicht näher erkennbar; die Verdeut-schung von Monats- und Windnamen (mensibus etiam iuxta pro-priam linguam vocabula imposuit...; item ventos duodecim pro-priis appellationibus insignivit...), die im einzelnen genannt sind (vgl. dazu Abschnitt 4.3., S. 201 ff.); die zentrale Stelle Inchoavit et grammaticam patrii sermonis, welche nach Klaus Matzel mit dem Satz „Er leitete auch die Beschäftigung mit der Grammatik des patrius sermo, der ,Vätersprache', ein" zu übersetzen ist.

In diesen Zusammenhang gehören nun die ungewöhnlich hochstehende, orthographisch klar geregelte fränkische Isidor-Übersetzung (De fide catholica ex veteri et novo testamento contra

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168 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Iudaeos) um 800 und ihre Ableger im Β airischen (Mondseer Frag-mente) sowie im Murbacher Glossar Je (Oxforder Handschrift Ju-nius 25).

Damit ist am Anfang eines deutschen Schrifttums vor und nach 800 die Komponente einer volkssprachlichen Bewußtseinswer-dung deutlich genug gegeben. Das Althochdeutsche erscheint da-bei gegenüber dem bildungsbestimmenden Latein als die Väter-sprache eigener Tradition, die es auf die schriftliche Stufe wie das Latein emporzuziehen gilt. Und nun sind es nur noch weitere Ver-festigungsschritte in dieser Richtung, Neunansätze an verschiede-nen Überlieferungsorten, die zur eigentlichen volkssprachlichen Literatur führen. Vor allem Otfrids von Weißenburg ausdrücklich begründete Bibeldichtung in fränkisch-deutscher Sprache (1,1 Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit, ,warum der Verfasser dieses Buch auf Deutsch gedichtet habe', zu dictare Mlat. Wb. III, 598), sodann Notkers von St. Gallen autobiographisches Brief-zeugnis gegen 1015 in seinem Schreiben an Bischof Hugo von Sit-ten (998-1017) aus einer Brüsseler Handschrift (Bibliothèque Royale Nr. 10615-10729, pag. 58 r, 11./12. Jh.), wo Notker das Einzigartige seines Beginnens betont (ausus sum rem paene inusi-tatam ,ich wagte etwas so gut wie Ungewöhnliches') und weiter ausführt, es gehe ihm nicht um eine Übersetzung allein, sondern um Übersetzung und Erklärung (ut latine scripta in nostram cona-tus s im vertere et... elucidare , indem ich lateinisch Geschriebenes in unsere Sprache versuchte zu übersetzen und ... zu erklä-ren') - gemeint ist dabei die Heranziehung der im St. Galler Scrip-torium verfügbaren Kommentarwerke, die er ausdrücklich nennt. Für Notker ergibt sich so durch den Gebrauch einer althochdeut-schen Übersetzung ein neues, vertieftes Textverständnis aus der Volkssprache heraus. Im Mittelpunkt von Notkers Bemühungen stehen die kirchlichen Schriften. Ihrem Verständnis dienen auch die Schulautoren. Dem gradualistisch theozentrischen Weltbild entspricht die Stufenhaft auf das kirchliche Schrifttum bezogene Schullektüre, deren Übersetzung und Auslegung (Sunt enim ec-clesiastici libri et praeeipue quidem in scolis legendi ,Es müssen nämlich die kirchlichen Bücher, und diese in erster Linie, in den Schulen gelesen werden').

Dergestalt läßt sich die Geschichte des Althochdeutschen in Sprache und Literatur ganz allgemein als Geschichte von Auf-

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 169

brach und Vertiefung, ja von immer wieder neuer Verfestigung ei-nes volkssprachlichen Bewußtseins begreifen, wie es einerseits durch direkte Zeugnisse, andererseits durch eine zunehmende Verdeutschung bisher lateinischer Texte gewährleistet bleibt. Die immer weiter um sich greifende Vervolkssprachlichung der schriftlichen Quellen - eine der großen Konstanten deutscher Sprachgeschichte bis zur Liturgiereform der katholischen Kirche in den 1960er Jahren - beginnt ausdrücklich genug in althoch-deutscher Zeit. Dabei muß die althochdeutsche Volkssprache ih-ren Weg zur Literatursprache nach der herrschenden Theorie in heilsgeschichtlicher Sicht finden. Deshalb stehen die religiösen Texte im Übersetzungs- und Gestaltungsvorgang voran:

Spätes 8. Jh. (Bibel-)Glossen und (Bibel-)Glossare erste katechetische Texte

um 800 katechetische und theologische Texte 9. Jh. Bibelübersetzung und katechetische Literatur

Mönchsregel Bibeldichtung Aufzeichnung weiterer Literatur reiche Glossierung Rechtstexte

10. Jh. ganz allgemein Fortsetzung dieser Verdeutschungs-bewegung

Spätes 10. und zusätzlich Wissenschaftsprosa im Bereich der sieben 11. Jh. freien Künste und der allegorischen Naturkunde

Höhepunkte der Psalterverdeutschung und der Hohe-Lied-Paraphrase

Das ist auch der tiefere Grund, warum für das Althochdeutsche Sprache und Literatur zusammenzusehen sind: es ist ein werden-des Ineinandergreifen, das nur in seiner lose verbundenen Ge-samtheit voll gewürdigt werden kann.

Volks- oder Vätersprache heißt aber eigentlich dreierlei: - so wie die Vorfahren gesprochen oder Literarisches vorgetra-

gen oder gehört und dementsprechend vermittelt haben - so wie diese, auch gegenwärtige Sprache nach lateinischem

Vorbild schreibsprachlich aufgezeichnet und dadurch schrift-lich geregelt sein soll

- so wie Volkssprache tatsächlich gesprochen wird.

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170 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Damit leiten wir kurz zum Problem der gesprochenen Sprache in althochdeutscher Zeit über. Zunächst darf hier betont werden, daß alles, was in althochdeutscher Sprache geschrieben wurde, (a) entweder zum Vorlesen, für den Vortrag bestimmt ist (b) oder zur Bewältigung des Lateins verfaßt wurde (c) oder schließlich eine Zwischenstufe von (a) und (b) im Sinne

der rhythmischen (Schul-)Prosa Notkers des Deutschen und Willirams von Ebersberg oder der dichterischen Interlinear-version, etwa der Murbacher Hymnen darstellt - bis zu einzel-nen Zitaten übersetzter prägnanter Bibelstellen

(d) oder schließlich Reflex des Aufrufes oder Anrufes ist, soweit es die nur Bezeichnungsfunktion beanspruchenden althoch-deutschen Namen betrifft.

Damit gelangen wir zu folgender Einteilung der althochdeutschen Sprachdenkmäler (Auswahl) in bezug auf das gesprochene Wort, den Vortrag oder das Vorlesen:

(a) (c) (b) (d)

Vortrag/Vorlesen -» Zwischenstufe «- Bewältigung des Aufruf/Anruf

Otfrid geistliche Reim-dichtung Predigt

Das darf aber zunächst nur als allgemeiner Hinweis auf die Mög-lichkeiten sprechsprachlichen Sagens oder einprägsamen Vorle-sens gelten. Darüber hinaus kennen wir im Althochdeutschen zwei spezifische Denkmäler eigentlich gesprochener Sprache: (a) die in diesem Zusammenhang meist genannten Altdeutschen

Gespräche (Ahd. Gl.V, 517-524) aus dem 10. Jh., konzipiert

(schulisches Lesen)

Lateins als Aus-gangspunkt

Zaubersprüche Notker Segensformeln Williram Inschriften Hildebrandslied Muspilli Ludwigslied Georgslied

Glossen Namen Interlinear- Befehle Versionen (schulische) interlinearartige Anweisungen Texte weitere Über-setzungstexte

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 171

als Sammlung von wirklich sprechbaren Sätzen zur gegensei-tigen Verständigung, zum täglichen Gebrauch, geschaffen von und für Romanen, ein eigentliches kurzes Konversationsbüch-lein. Man vergleiche die Sätze:

51 Gimer min ros .i. da mihi meum equum ,Gib mir mein Pferd' 53 Gimer min schelt .i. scutum ,Gib mir meinen Schild' 56 Gimer min stap .i. fustum ,Gib mir meinen Wanderstab' (ahd. gimer ist sprechsprachliche Kürzung von gib mir ,gib mir, reich mir, hol mir' zu gëban ,geben, übergeben')

(b) die sogenannten Kasseler Glossen des 9. Jhs. aus Fulda (Ahd. Gl. III, 9-13), auch in ihnen einige typische Gesprächssätze

Quis es tu uuerpistdu ,werbistdu?' Unde uenis uuanna quimis ,woher kommst du?' De quale patria pergite [= pergis?] fona uueliheru lantskeffi

sindos ,Aus welchem Land reisest du daher?'

Dieser letzte Satz kommt inhaltlich auch im Altdeutschen Ge-sprächsbüchlein vor:

20 Gueliche lande cumen ger .i. de qua patria ,Aus welchem Land kommt Ihr?'

In diesen beiden kleinen Sammlungen typischer Gebrauchssätze entsprechen die Satzgefüge zweifellos der gesprochenen Sprache des Althochdeutschen. Einfache Fragen und Aufforderungen sind es, für den Verkehr des Reisenden bestimmt, im Gespräch zwi-schen Herren und Dienern, auf das praktische Leben ausgerichtet, insofern sozusagen zeitlos - man vergleiche die Wendungen

skir min fahs ,Haarschneiden bitte' (wörtl. ,schneid mein Haupthaar')

skir minan hals ,Ausputzen bitte' (wörtl. .schneid meine Halskrause')

skir minan part ,den Bart stutzen, bitte' (ahd. skir ist Imperativ Sg. zu skëran .scheren, schneiden') firnimis .verstanden?' ih firnimu ,ja, ich verstehe'

In Richtung Konversationsgrammatik weisen außerdem Auf-zeichnungen der auf das notwendigste beschränkten Verbformen für den mündlichen Verkehr.

Darüber hinaus sind unendlich viele Reflexe einer gesproche-nen Sprache im Althochdeutschen festzustellen, die bald da bald dort in den Denkmälern hervortreten, vor allem

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172 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

(a) in gewissen stehenden Formeln aus der Rede oder Sprechspra-che, besonders häufig in kurzen rhetorischen Fragen bei Not-ker vom Typus uuîo? uuîo mag (taz sîn)? uuîo dánne? Lose noh mêr. Fóne uuiu ist táz? und viele andere. Das heißt ,wie, welcher Art?', ,wie kann (das sein)?', ,Wie weiter?', ,Hör weiter zu',,Weswegen (wörtl. von was) ist dies (so)?'

(b) in Gebeten, Beichten, Taufgelöbnissen, soweit sie nicht im Formular erstarrt sind, ferner in Predigten und geistlichen Rat-schlägen

(c) in wesentlichen Bestandteilen der verschrifteten Rechtsspra-che, vor allem in Eidformeln, Bußandrohungen, Grenzbestim-mungen

(d) in kurzen, prägnanten Sprichwörtern, so die St. Galler Sprich-wörter im Umkreis Notkers (z. B. alter al genimet ,das Alter nimmt [einem] alles weg')

(e) im Anruf der Zauber- und Segenssprüche, die so oft auf eine wirkliche Situation bezogen bleiben: Lorscher Bienensegen:

Kirst, imbi ist hucze! Jesses, das Bienenvolk ist weg! ' (Kirst mit früher dialektal-rheinischer Metathese aus Krist,Anruf Christus')

So könnte ein Bauer des 10. Jhs. an der Bergstraße bei der Fest-stellung des Verlustes tatsächlich gesprochen haben. Auch das balladenhafte Stück Ad equum errçhet enthält in seinen Redetei-len Kurzsätze situationsbezogener, direkt gesprochener Sprache:

,wes, man, gestu? .Weshalb, Mann, gehst du zu Fuß? zu neridestu? ' Warum reitest du nicht?' ,waz mag ih riten? , Wie kann ich reiten? min ros ist errçhet. ' Mein Roß hat die Rähe.'

Nun ist diese kurze Aufstellung noch keineswegs vollständig, sie soll auch nur den Weg zum Material hin vorläufig markieren. Für eine systematische Erfassung bedarf es der Besinnung auf die ver-schiedenen Erscheinungsformen gesprochener Sprache nach Quellengruppen oder stilistischen Kategorien. Faßt man alle diese Gesichtspunkte zusammen, ergibt sich ein breites Spektrum von Denkmälern weitgehend gesprochener Sprache oder doch erst im Vor- bzw. Nachsprechen vollzogener Diktion im Althochdeut-schen, wie es in Abbildung 6 (S. 173) dargestellt ist.

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 173

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174 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Jedenfalls kann man sagen: große Teile der ahd. Überlieferung, auch der Übersetzungstexte und selbst der Glossen, zeigen eine Verankerung in der gesprochenen Volkssprache, die den großen Generierungshintergrund althochdeutscher Sprachwirklichkeit ausmacht.

Um so weniger erstaunlich ist es, daß in frühmittelhochdeut-scher Zeit das Sprachinstrumentarium nun geschaffen ist, dessen sich eine neue Dichtung vielseitigster Ausrichtung bedienen kann - selbst unter neuen geistesgeschichtlichen Ansätzen. Die relativ breit verbürgte, wenn auch erst langsam erwachsene Volks-sprachlichkeit des Althochdeutschen hat es von der Sprache her in langer Vorschule ermöglicht. Volkssprache ist über die Stammes-dialekte hinaus deutsch geworden und in eine Schriftlichkeit hin-eingewachsen, die ihre spröden und gespreizten Züge mehr und mehr abzustreifen vermochte. Es ist ein doppelseitiger Vorgang in der Geschichte des Althochdeutschen: die Wirkung schreib-sprachlicher Neuverdeutschung in die Volkssprache hinein, be-sonders was die zunächst noch schwierigen Glaubens- und Wis-senschaftsbegriffe betrifft, und die noch größere, aber bisher meist weniger beachtete Ausstrahlung der Volkssprache in die erste Schriftwirklichkeit der ältesten deutschen Sprachstufe.

4.1.2. Auf dem Weg zu einer neuen Buchkultur

Hauptsächliche kulturgeschichtliche Voraussetzung für das Alt-hochdeutsche im Hinblick auf dessen Verschriftung bis hin zur Buchkultur ist die Christianisierung der süd- oder westgermani-schen Stämme und ihrer sie beeinflussenden Nachbarn (Goten, Burgunder, Langobarden 4.-5. Jh., Franken um 500 und 6. Jh., Iren um 500 und 6. Jh., Angelsachsen um 600 und 7. Jh., Aleman-nen und Baiern 7. Jh., Friesen, Hessen und Thüringer 7./8. Jh., Sachsen vor und nach 800). Die Christianisierung hat die frühmit-telalterliche Klosterkultur vor allem vom galloromanischen We-sten und irisch-angelsächsischen Nordwesten her begründet, diese schuf die neue christliche Schreib- und Schriftkultur, die sich als-bald auch der aus dem römisch-griechischen Altertum überliefer-ten antiken Literatur und Gelehrsamkeit zu öffnen begann. Der Schlüssel zur umfassenden wie langanhaltenden Wirkung des Christentums auf die europäische wie frühdeutsche Sprachge-

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 175

schichte liegt zweifellos auf dem Wesen der christlichen Religion als vielsprachige Buchreligion, was vor allem in der Mehrspra-chigkeit der biblischen Überlieferung (AT Hebräisch, NT Grie-chisch, Lateinisch als westliche Bibel- und Kirchensprache) wie in der Vielsprachigkeit des frühmittelalterlichen christlichen Rau-mes mit der Notwendigkeit zur Übersetzung von den Bibelspra-chen in die Volkssprachen zum Ausdruck kommt. Insgesamt ste-hen die Anfange volkssprachlicher Schriftlichkeit fast ausschließ-lich im Einflußbereich christlicher Bildung.

Außerhalb der wenigen vor- und frühalthochdeutschen Runen-inschriften aus der altgermanischen Schreibtradition vollzieht sich der Weg zur ersten Schriftlichkeit in der Volkssprache im Hinblick auf eine neue eigenständige Buchkultur in einem Fünfstufen-schritt, der zudem unter dem Einfluß lateinischer Vorbilder steht. In diese Vorbilder nämlich wachsen die volkssprachlichen Anteile sozusagen hinein oder werden darin integriert, bis hin zur verein-zelten Verselbständigung als frühe deutsche Bücher:

(Vgl. dazu im einzelnen Abb. 7: Fünfstufenschritt der Buchwerdung im Ahd.)

Vorbildhaft wirkten dabei zweifellos diejenigen Buchtypen, die man aus der im übrigen so typisch christlichen Codex-Tradition

Memorialbücher (mit Namen)

lat.-ahd. Glossare

1. Stufe: 2. Stufe: 3. Stufe: 4. Stufe 5. Stufe Namen/ Glossen Glossare Texte Bücher Einzel- ahd. bui Wörter buoh f. in lat. Texten

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176 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

schon kannte: die Buchformen von Bibelhandschriften, unter ih-nen auch bilinguale griechisch-lateinische, wie zum Beispiel Codex Sangallensis 48 um 850; die frühmittelalterlichen Memo-rial- oder Verbriiderungsbücher (Libri confraternitatum, auch Li-bri vitae genannt) und die Necrologien mit ihrer mehr und mehr rein volkssprachlichen Namensfülle; die ein- oder zweisprachigen lateinischen oder griechisch-lateinischen Glossare oder Herme-neumata; die lateinischen Buchhandschriften der artes-Literatur und die vielen Legeshandschriften oder lateinischen Volksrechts-bücher der frühmittelalterlichen Stammesrechte. Dabei blieb der Weg zur ersten volkssprachlichen Schriftlichkeit noch während der gesamten althochdeutschen Sprachperiode nach Vorausset-zung wie als Herausforderung in folgender Weise an die lateini-sche Schrifttradition geknüpft, um alsbald und in der relativ kur-zen Zeit von einem bis vier Jahrhunderten seine eigene Fortent-wicklung zu nehmen:

(1) Aus dem grundsätzlichen Gegensatz lateinische Bildungs-sprache versus althochdeutsche Volkssprache entwickelte sich bis zum Spätalthochdeutschen innerhalb der Klosterschulen eine schulisch gebildete althochdeutsche Volkssprache, wie sie uns beispielhaft Notker der Deutsche von St. Gallen in grammatisch-stilistischer Durchformung hinterlassen hat.

(2) Das Gefalle lateinische Buchsprache/althochdeutsche Glossensprache konnte sich wenigstens stellenweise und nicht zu-letzt über die zwischenzeilig angeordnete Vollglossierung, das heißt über die sogenannte Interlinearversion, zu einer neuen Form einer lateinisch-althochdeutsch gemischten Buchsprache entwik-keln, in der selbst geschlossene Bucheinheiten überliefert sind.

(3) Stand der lateinischen Urkunden- und Formularsprache zunächst nur brockenweise für einzelne kaum lateinisch wieder-zugebende Begriffe zur besseren Kommunikation mit den von den Rechtsgeschäften betroffenen Landleuten die althochdeut-sche Ergänzungssprache gegenüber (zum Beispiel St. Galler Ur-kunde a. 837 in / ad meam swasscaram ,zu meinem Eigenanteil ahd. swâsscara f.), so ergaben sich teilweise auch schon Anfänge einer althochdeutschen Urkundensprache, wie sie in den Grenz-beschrieben etwa der Würzburger Markbeschreibungen faßbar sind.

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 177

1. Stufe: Namen/Einzelwörter in lateinischen Texten

oder Urkunden

3. Stufe: Glossare

alphabetisch nach Sachgruppen Textglossare

5. Stufe (ahd. buah, buoh f. n.)

2. Stufe: Glossen zu lateinischen

Wörtern/Formen • interlinear • marginal • kontextual • Sonderform: Griffelglossen

4. Stufe Texte als Teile von lateinischen

Codices oder darin eingefügt

Memorialbücher mit Namen (Libri confraternitatum, Necrologia) lat.-ahd. Glossare (z. B. Abrogans) lat.-ahd. Interlinearversionen in Buchform (z. B. Benediktinerregel) lat.-ahd. Bibelbilingue (Tatian) lat.-ahd. Bibelübersetzung mit Kommentar (Notkers Psalter, Williram) lat.-ahd. Schultextbücher (Notkers Werke der artes-Literatur) ahd. Evangelienbuch (Otfrid von Weißenburg) ahd. Rechtsbücher (Leges-Übersetzung : Lex Salica - Fragment eines Codex)

Abbildung 7: Fünfstufenschritt der Buchwerdung im Althochdeutschen.

(4) Das während der ganzen althochdeutschen Zeit vielfach und immer wieder aufs neue erprobte Verhältnis lateinische Aus-gangssprache (oder Grundsprache L,): althochdeutsche Überset-zungssprache (oder Zielsprache L2) entwickelte sich allmählich zum Verhältnis Ausgangssprache: kommentierte oder ergänzte Übersetzungssprache (L,: L2komm/erg), womit auch die Idiomatik des Althochdeutschen teilweise zum Durchbruch kam.

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178 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

(5) Galt zunächst das Lateinische unumschränkt als Vorbild-sprache, das Althochdeutsche daneben nur als Nachbildungsspra-che, regt sich bereits in karolingischer Zeit beim ersten mit Na-men bekannten deutschen Dichter Otfrid von Weißenburg der Gedanke, die Muttersprache solle in den Wettstreit mit den Spra-chen der Antike eintreten und die Franken könnten auch in ihrer eigenen Sprache dichten. Dementsprechend heißt es gemäß der lateinischen Überschrift zum ersten Gesang des ersten von fünf Büchern seiner Evangelienharmonie Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit (.Warum der Verfasser dieses Buch auf deutsch gedichtet habe') in Vers 1,1, 33-34:

Uuánana sculun Fráncon éinon thaz biuuánkon ni sie in frénkisgon biginnen sie gotes lób singen? , Warum sollen denn die Franken allein darin noch wanken daß sie auf fränkisch nicht begännen Gottes Lob zu singen?'

Beim spätalthochdeutschen Übersetzer Notker dem Deutschen wiederum läßt sich ein kontrastives Sprachverständnis Lateinisch/ Deutsch feststellen, welches zusammen mit der Erkenntnis des besseren Sinnverständnisses der lateinischen Schriften über das Medium der eigenen Muttersprache dem Deutschen bereits einen nicht unbedeutenden Eigenwert zukommen läßt.

(6) Groß bleibt während der gesamten althochdeutschen Zeit der Abstand zwischen lateinischer Schriftsprache - zumal durch die Bildungsreform Karls des Großen als norma rectitudinis auf lange hin neu vereinheitlicht - auf der einen Seite und immer wie-der neu verschrifteten althochdeutschen Schreibdialekten auf der anderen Seite. Dennoch gelang den großen Sprachbildnern Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert und Notker III. von St. Gallen im Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert je eine erstaunlich gute Normierung ihrer nach Zeit und Dialekt in Laut- und Formensy-stem verschiedenen Sprache des Südrheinfränkischen und Hoch-alemannischen, wozu sich auch beide Persönlichkeiten geäußert haben. Dergestalt kann man unter der Vorbildwirkung des Latei-nischen teilweise schon von normierten Schreibdialekten des Alt-hochdeutschen sprechen. Man vergleiche etwa ähnlich lautende Sätze aus der Paternosterverdeutschung:

Otfrid II, 21, 27 (Endreimverse):

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 179

Fáter unser guato, bist drúhtin thu gimyato in himilon io hoher, wíh si námo thiner. Biquéme uns thinaz ríchi, thaz hoha himilrichi, thára wir zua io gingen joh émmizigen thíngen.

, Vater unser guter, du bist Herr uns huldvoll, in den Himmeln stets erhaben, heilig sei dein Name. Es komme zu uns dein Reich herbei, das hohe Himmelreich, wonach wir immer verlangen und ständig darauf hoffen.'

Notker III. von St. Gallen, Oratio dominica (im Anhang seines Psalters, kommentierte Prosa, hier verkürzt wiedergegeben):

Fater unser, dû in himile bist. Dîn namo uuerde geheîligot. Dîn riche chôme, daz êuuiga. dára alle guote zuo dingent. daz uuir dih kesêhen súlen. unde angelis keliche uuordene. lîb âne tôd háben súlen.

, Vater unser, der du im Himmel bist, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme, das ewige, worauf alle Rechtschaffenen hoffen, damit wir dich erblicken können und Engeln gleich geworden Leben ohne Tod haben werden.'

Beide Verfasser haben ihr besonderes Akzentsystem, Otfrid ein rhythmisches für den Versakzent seiner aus zwei Vierhebern auf-gebauten und in sich end(silben)reimenden Langzeile, Notker ein phonetisches zur Angabe von betonter Kürze und Länge der Vo-kale, in der späteren Handschrift des Psalters (Codex Sangallensis 21,12. Jh., vgl. Hs. Foto 19, S. 211) freilich nicht mehr vollständig und ζ. T. unrichtig durchgeführt.

(7) Selbst das weit über die Zeit des Frühmittelalters hinausrei-chende Spannungsverhältnis lateinische Kirchen- und Kleriker-sprache versus althochdeutsche Laiensprache wird in der Zeit zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert bisweilen gemildert, indem sich stellenweise und gerade bei Otfrid und Notker eine Art dich-terisch und katechetisch profilierter ,Kirchensprache' für Laien entwickelt hat, wie obige Beispiele zeigen mögen. Die vielen alt-hochdeutschen Paternoster, Glaubensbekenntnisse, Beichten und andere katechetische Denkmäler seit der Zeit um 800 lassen den allmählichen Aufbau einer althochdeutschen Kirchensprache er-kennen, worauf wir später beim Gesichtspunkt des Aufbaus einer christlichen deutschen Sprache noch zurückkommen werden.

Wie sehr die volkssprachliche Schriftlichkeit, ja die Schreibtä-tigkeit überhaupt bei den Germanen in Spätantike und Frühmittel-

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1 8 0 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

alter etwas Neues bedeutet, zeigt die Uneinheitlichkeit der Be-zeichnungen für schreiben' in den germanischen Sprachen, auf die wir gerade im Hinblick auf die älteste deutschsprachige Schriftkultur hinweisen dürfen. Dem dreimaligen Entstehungs-vorgang des Schreibens nach Runen, in der ersten germanischen Bibelübersetzung bei den spätantiken Goten (Wulfila-Bibel) und in der frühmittelalterlichen Schreibkultur lateinischer Ausrich-tung entsprechen zunächst drei verschiedene Wörter, gesamtger-manisch betrachtet:

(1) Altgermanisch writan, skandinavisch rita, rita ist zunächst das spezifische Wort für die Schreibtechnik der Runen, auch auf dem Kontinent bis ins Altsächsische und Althochdeutsche hinein. Noch auf der fränkischen Bügelfibel von Freilaubersheim unweit Bad Kreuznach heißt es in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts in voralthochdeutscher Lautung Boso wraet runo ,Boso ritzte die Runen'. In der englischen Sprache ist writan ,to write' zum allge-meinen Wort für .schreiben' geworden. Im Gotischen des 4. Jahr-hunderts begegnet das Substantiv writs m. für .Strich, Haken, Zei-chen an einem Buchstaben', entsprechend griechisch κεραία, la-teinisch apeχ: so lautet der Vers Lukas 16,17 ψ azetizo ist himin jah airpa hindarleipan pan witodis ainana writ gadriusan, das heißt ,es ist leichter, [A. c. i.] daß Himmel und Erde vergehen als daß ein Strich des Gesetzes zu Fall komme'. Auch die althoch-deutschen Glossen kennen noch riz , Schriftzeichen, Strich' als Entsprechung zu lateinisch apex. Hingegen wird die vergleichbare Stelle Matthäus 5,18 in der althochdeutschen Evangelienharmo-nie nach Tatian (im sog. lat.-ahd. Tatian vor der Mitte des 9. Jh., Codex Sangallensis 56) anders übersetzt:

lat. donee transeat caelum et terra, iota unum aut unus apex non prae-teribit ex lege, donee omnia fiant.

ahd. ér thanne zifare himil init erda, ein .i. odo ein houbit ni furferit fon theru evvu, ér thanne siu ellu uuerdent. (houbit etwa ,Strichlein')

d. h. ,bis nämlich Himmel und Erde vergehe, wird nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz zugrunde gehen, bis es alles (ahd. im PI. siu alliu, d. h. was vorher von der Erfüllung des Gesetzes gesagt worden war) geschieht.'

An derselben Stelle verwendet die gotische Bibelübersetzung va-riierend striks ,Strich' für griechisch κεραία.

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 181

(2) Demgegenüber ist das reich bezeugte Wort der gotischen Bibel Wulfilas für griechisch γράφειν,schreiben' meljan (mit vie-len Präfixen ana-, faura-, ga-, fauraga-, uf-, ufar-), eigentlich ,malen' nach seiner etymologischen Bedeutung bzw. ,mit Farbe schreiben', und das Geschriebene, die Schrift heißt pata gamelido (griech. το γεγραμμένον, ή γραφή), auch im Sinne der heiligen Schrift oder des Wortes Gottes; damit steht gotisch meljan bedeu-tungsmäßig dem runeninschriftlichen faihiöo , schrieb mit Farbe, malte' auf dem Stein von Einang in Norwegen (Oppland fylke) nahe (|ek Go]dagastiR runofaihido ,ich Godagastir malte die Ru-nein]') - auch gotisch heißt ja filu-faihs ,sehr bunt', griechisch πολυποίκιλος, dem es auch etymologisch entspricht - , ferner kommt altnordisch fá ,färben' der Edda, meist auf Runen ange-wandt, vor.

(3) Südgermanisch-festländisch wie skandinavisch hat sich da-gegen altgermanisch scrïban, deutsch schreiben, niederländisch schrijven, friesisch skriuwe, skandinavisch skriva (an. skrifa, -ad) wohl in Anlehnung an lateinisch scribere durchgesetzt; im Engli-schen lebt es über altenglisch scrïfan in einer Sonderbedeutung nach (,to shrive, to impose a penance or compensation' und ähn-lich).

Was die altgermanischen Sprachen betrifft, kennt nur das Alt-sächsische in seiner Mittelstellung zwischen Nordseegermanisch und südlichem Festlandgermanisch beziehungsweise Fränkisch die freie Austauschbarkeit zwischen wrïtan und skrïban im Sinn von ,in Bücher schreiben, mit Buchstaben schreiben'. So gibt es in der altsächsischen Helianddichtung drei Stellen mit dichterischer Variation beider Verben von der Art (wir nennen nur Vers 1085-86) Gescriban uuas it giù lango / an bocun geuuriten ge-schrieben war es schon lange/in Büchern aufgezeichnet'. Im Alt-hochdeutschen zeigt sich wenigstens noch in Otfrids von Weißen-burg Evangelienbuch um 870 eine Differenzierung zwischen scrïban ,mit der Feder schreiben', rizan ,mit dem Finger in die Erde ritzen'. Dieses rizan, altgermanisch wrïtan verwendet Otfrid lediglich in der dichterischen Gestaltung der Stelle Johannes 8, 6 und 8, 8 (Iesus... digito scribebat in terra bzw. Et iterum... scri-bebat in terra):

III, 17, 36 in érdu thó, so man weiz, mit themo fingere reiz. ,in die Erde dann, wie man weiß, ritzte er mit dem Finger'

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III, 17, 42 mit themo fíngare avur reiz joh íagilih sar úzsmeiz. ,mit dem Finger wiederum schrieb er, und trieb jeglichen gleich hinaus'

Letztere Stelle wird dann im folgenden Vers freilich mit scrïban variiert, doch tritt für scrïban bei Otfrid umgekehrt nie auch rizan ein:

III, 17, 43 Nihein tharinne bleib unz er thar nidare tho screib. ,Nicht einer blieb dannile, solange er da niedergebeugt schrieb'

Die Tatian-Übersetzung verwendet an diesen Stellen allein alt-hochdeutsch scrïban: Ther heilant... mit sinemofingare screib in erdu (Io 8,6); Thô abur sih nidarneigenti screib in erdu (Io 8,8). Dies zeigt die Verfestigung auf das deutsche Lexem schreiben hin, nicht zuletzt unter dem Vorbild des lateinischen scribere. Ande-rerseits bedeutet die Abkehr von runisch writan ,ritzen', althoch-deutsch eingeschränkt rizan zu Gunsten von scrïban im ältesten Deutschen den Wandel von der Einritztechnik der Runen auf har-ten Gegenständen zum Schreiben auf Pergament, dieser freilich zunächst noch so mühevollen, körperlich wie geistig anstrengen-den Tätigkeit mit Federkiel und Tinte in den Scriptorien der Klö-ster, worüber der sogenannte althochdeutsche Schreibervers eines St. Galler Mönches aus dem 9. Jahrhundert als Stoßseufzer am Ende der Niederschrift eines Codex beredtes reimendes Zeugnis ablegt (Codex Sang. 623, teilweise auch 166):

Chumo kiscreib filo chumor kipeit. , Mühsam habe ich (dies) zu Ende geschrieben, noch viel mühsamer habe ich es (das heißt diese Fertigstellung und damit das Ende des Schreibens) erwartet.'

Ähnlich uneinheitlich sind die hauptsächlichen Entsprechungen für lat. legere, griech. άναγι(γ)νώσκω, άναγνώναι,lesen' in den alt- und sogar neugermanischen Sprachen: im Gotischen steht da-für siggwan, ussiggwan ,singen, d.h. liturgisch vortragen', im Englischen altenglisch rœdan (auch ,raten, beraten, herrschen'), neuenglisch to read, in den übrigen germanischen Sprachen lesan (ahd. lesan, skandinavisch läsa, lœse u. ä., niederländ. lezen) mit der Lehnbedeutung von lat. legere geschriebenes lesen, vorle-sen' , bei gleichzeitigem Nachleben der ursprünglichen Bedeutung von , sammeln, zusammenlesen' (so gotisch lisan, altengl. lesan usw.). Handarbeit und Lesung der heiligen Schrift wie von Bü-

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 183

ehern überhaupt schreibt die Benediktinerregel Kap. 48 den Mön-chen im Kloster ausdrücklich vor.

So z .B. Kap.48, 13:

lat. Post refectionem autem vacent lectionibus suis aut psalmis. nhd. ,Nach der Mahlzeit aber sollen sie sich ihren Lesungen und den

Psalmen widmen'. ahd. (Interlinearversion in einer St. Galler Hs.) After imbizze... muaz-

zoen [lecjzom iro... salmsangum. nhd. ,Nach dem Imbiß sollen sie Muße haben für ihre Lesungen und

Psalmengesänge'. Ferner z .B. Kap.48, 15-16: lat. In quibus diebus Quadragesimae aeeipiant omnes singulos codi-

ces de bibliotheca, quos per ordinem ex integro legant; qui codi-ces in caput Quadragesimae dandi sunt.

ahd. (nur teilweise übersetzt)... in dem [ta]gum ... intfahen [al]le ein[lu]ze puah... dea duruh antreitida er alongi lesan [so, statt le-sen], dei puah in [hau]pit... za kepanne sint.

nhd. ,In diesen Tagen der Fastenzeit sollen alle je ein Buch aus der Bi-bliothek empfangen, die sie nach der Reihe (d. h. der Reihe nach) in ihrer Gänze lesen sollen; diese Bücher sind zu Anfang der Fa-stenzeit auszugeben'.

Zu Anfang von Kap. 48 verordnet die Benediktinerregel ausdrück-lich die lectio divina .göttliche Lesung', d.h. die Lesung bibli-scher und theologischer Schriften neben der Handarbeit (labor manum). Lateinisch lectio wird in der althochdeutschen Überset-zung der Regel als lectia, leezia, leezea, lekza f. eingedeutscht, in Glossen des 9. Jh. auch als lirnunga f . ,Lernen durch Lesen', wäh-rend spätahd. lirnunga bei Notker allgemeiner für,Lehre, Wissen-schaft, Methode' steht. Dieser Lernprozeß führt über die Lektüre von Büchern, über Schreiben und Lesen. Bei Otfrid von Weißen-burg bedeutet lekza f. ,Leseabschnitt, Probestück', und eine lekza the re ra buachi ,eine Leseprobe dieses seines Evangelienbuches' sendet er an Bischof Salomon von Konstanz mit den Worten in Versen (Sal. 5-8):

Lékza ih therera búachi iu sentu in Suábo richi, thaz ir irkíaset über ál, oba siu frúma wesan seal; Oba ir hiar findet iawiht thés thaz wírdig ist thes lésannes: iz iuer húgu irwállo, wísduames follo.

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184 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

D.h. ,Eine Leseprobe dieses Buches Euch sende ich in das Reich der Schwaben, damit Ihr in jeder Hinsicht prüfen könnt, ob sie von Nutzen sein wird. Ob Ihr hier findet etwas dessen, was würdig ist des Lesens: es durchmustre Euer Sinn dies, der Weisheit voll.'

Das althochdeutsche Lehnwort lekza f. ,Lesung' nach lat. lectio zeigt, wie der Leseprozeß nach mittellateinischem Vorbild er-folgte, während die volkssprachliche Bildung lesunge, Lesung erst seit spätmittelhochdeutscher Zeit als ,Lesung von Büchern' be-zeugt ist. Gegenüber der mündlichen Vortragstradition der altger-manischen Dichtung mit ihren Bezügen auf Gehörtes oder Erzähl-tes geht die christliche Dichtung vom Bibellesen aus. Lesen uuir thaz fuori, ther heilant fartmuodi heißt es am Anfang der bibli-schen Dichtung Christus und die Samariterin, während Otfrid sich mit einer Aufforderung zum Lesen in den Evangelien mehrmals an den Leser wendet, z. B.

II, 9, 71 Lis sélbo, theih thir rédion in sínen evangélion ,Lies selbst, was ich dir darlege, in seinen Evangelien'

III, 14,4b (mit Bezug auf die vier Evangelisten, genannt scriptora fiari m. PI. zum Lehnwort scriptor ,Schreiber, Verfasser') lis sélbo theih thir redion.

Einheitlich ist im Vergleich zu den Wörtern für schreiben' und ,lesen' die Bezeichnung für Buch in den alt- wie neugermanischen Sprachen. Man geht neuerdings in der etymologischen Forschung nicht mehr vom lautähnlichen, aber doch formverschiedenen Baumnamen Buche aus, sondern von germanisch *bök- ,Zeichen, Los mit Zeichen', dann ,Schriftzeichen', wobei sich die Bedeu-tung ,Buch' in allen altgermanischen Sprachen und so bis heute verfestigt hat (engl, book, niederl. boek, skand. bok, bog, deutsch Buch). Davon abgegrenzt hat sich in nachgotischer Zeit für littera *bökstabaz (anord. bókstafr, altengl. bôcstœf, althochdt. buoh-stab) ,Buchstabe', während griechisch γράμμα in der gotischen Bibel noch einfach als boka wiedergegeben wird. Indessen ist das Spektrum der Bedeutungen von germanisch *bök- ,Buch' in den verschiedenen altgermanischen Sprachen außerordentlich weit, wie folgende Aufstellung zeigen mag (vgl. unter den Wörterbü-chern besonders Althochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Berlin 1968, Sp. 1494-1499, wobei die dort nicht besonders angeführte Bedeutung ,Wissenschaften, Gelehrsamkeit' aus der Entspre-

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 185

chung litterae bzw. disciplinae ahd.Pl. büoh bei Notker, Sp. 1497 hervorgeht).

Bedeutungen von germ. *bôk- ,Buch'

Sprachen Bedeutungen von germ. *bôk- ,Buch' Got. Ahd. As. Afr. Ae. Anord.

1. Schriftzeichen, Buchstabe

+ +

2. Schreibtafel +

3. Mit Figuren oder Zeichen versehener Gegenstand

+

4. Schriftstück, Brief, Urkunde

+ + +

5. Buch (Schriftrolle, Codex), i. d. R. auch Teil eines Werkes, insbes. Hl. Schrift, liturgisches Buch

+ Pl.

+ meist

PI.

+ + + +

6. Wissenschaften, Gelehrsamkeit (auf lat. Hintergrund)

+ PI.

+

Es zeichnet das Althochdeutsche besonders aus, daß bei buoh, buah f. n. (selten auch m.) von sechs möglichen Bedeutungen de-ren vier, und damit vergleichsweise die größtmögliche Zahl inner-halb der altgermanischen Sprachen, vertreten sind, neben den mehr archaischen Bedeutungen 1 und 4, die sich auch im Goti-schen finden. Von völlig untergeordneter Bedeutung blieb dabei das zwar neben Glossen in der frühalthochdeutschen Isidor-Über-setzung De fide catholica und bei Otfrid gelegentlich vorkom-mende Lehnwort libel, livol ,volumen, libellus, commentarius' aus lateinisch libellus ,Büchlein, kleine Schrift'. Immerhin ver-wendet es Otfrid neben dem häufigeren buah unter seinen fünf Be-legen auch zweimal im Reim, so in der Versepistel an die St. Galler Mönche Hartmuat und Werinbert im ursprünglichen Dedikations-exemplar V. 125-126:

Lis thir in then lívolon thaz sélba theih thir rédinon .Lies für dich in diesen Schriften, was ich dir habe auszurichten'

um dann im nächsten Vers das die biblischen Bücher bezeich-nende Fremdwort gleich mit dem heimischen buah zu variieren:

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fon álten zitin hiña fórn so sint thie búah al thèses fol ,νοη alten Zeiten her geholt, so sind die Bücher davon voll'.

Wie stark die sechste Bedeutung .Gelehrsamkeit' mit dem Buch, mit der Buch- und Schreibkultur verbunden ist, zeigt sich auch in gotisch bokareis, das neben Schreiber auch Schriftgelehrter, griech. γραμματεύς bedeutet, im Althochdeutschen buohhari, im Altenglischen böcere .scholar, scribe, writer', im Mittelhochdeut-schen buohmeister ,Schriftgelehrter, Philosoph', während die sí-be η bûohliste bei Notker von St. Gallen in Umdeutung auf Uber ,Buch' statt Uber ,frei' die Septem artes liberales, also die sieben Buchgelehrsamkeiten (statt die sieben freien Künste) bezeichnen. Dies dürfte auf eine Interpretation des für die frühmittelalterliche Buchkultur so bedeutenden Cassiodor zurückgehen. Im Altengli-schen heißt böccrceft .learning, science', das Adjektiv dazu böc-crœftig ,book-learned'. Noch Hartmann von Aue sieht den Typus des gebildeten Ritters um das Jahr 1200 als lesend in den buochen (,Der arme Heinrich' 1-3):

Ein ritter sô gelêret was daz er an den buochen las swaz er dâr an geschriben vant ,Ein Ritter war so schulgebildet, daß er in den Büchern lesen konnte was immer er darin geschrieben vorfand'.

Demgegenüber bezeichnet sich Wolfram von Eschenbach wenige Jahre später als nicht gebildeten Autodidakten mit den Worten (.Parzival' 115, 27):

i'ne kan decheinen buochstap und seine Erzählung sei nicht als von ihm niedergeschriebenes Buch zu betrachten (Ebd. 115, 26):

der enzel s'ze keinem buoche ,der rechne sie [die Erzählung] zu keinem Buch'.

Trotzdem bleibt die Vorstellung, ja der Gegenstand Buch vom Frühmittelalter bis in die Frühdruckphase des 15. und 16. Jahrhun-derts und teilweise darüber hinaus mit der Vorstellung von Holz verbunden: denn das älteste Buch, der lateinische caudex oder codex, besteht eben aus Lagen von Pergament, später Papier, wel-che zwischen zwei Holzdeckeln, im Rücken verleimt, angeordnet sind. Dabei wurde im übrigen nicht selten das harte Buchenholz verwendet, unabhängig vom etymologischen Befund des Wortes.

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4.1. Volkssprache als Basis - Buchkultur als Endpunkt 187

Das volkssprachliche Buch geht in den germanischen Sprachen von der Bibel aus, auch wenn diese nicht von vornherein als Ganzes übersetzt wird. Die Hauptbeispiele dafür sind die gotische Bibel des Missionsbischofs Wulfila aus der Mitte des 4. Jahrhunderts, die althochdeutsche Übersetzung der Evangelienharmonie nach der la-teinischen Fassung des frühchristlichen Kirchenlehrers Tatian vor der Mitte des 9. Jahrhunderts in Fulda in Form einer Bibelbilingue (Codex Sang. 56, vgl. Hs. Foto 14,15, S. 127,130) sowie Notkers von St. Gallen vollständiger, dazu um eine althochdeutsch-lateini-sche Kommentierung vermehrter Psalter nach dem Jahr 1000 (Codex Sang. 21, 12. Jh., vgl. Hs. Foto 19, S. 211) ferner aus dem altenglischen Bereich verschiedene größere Teile von Bibelüber-setzungen (zum Beispiel Lindisfarne Gospels Mitte 10. Jhs., Ves-pasian Psalter Mitte 9. Jhs., Paris Psalter 11. Jh.). Auch die Glos-sierung umkreist zu einem großen Teil die Werke der Bibel, von den ältesten Glossen des 8. Jahrhunderts bis zur spätalthochdeutschen Zusatzglossierung von Notkers Psalter im 11. Jahrhundert, und so ist wesentlich auch das älteste deutsche Buch, der lateinisch-alt-hochdeutsche Abrogane zu begreifen, dessen erste Textseite der äl-test erhaltenen Überlieferung aus St. Gallen (Codex Sang. 911, pag. 4, vgl. Hs. Foto 3, S. 69) kurz vor 800 lautet: Incipiunt closas ex ueterç testamento. Im Dienst des durch die Bibel vorgezeichneten Ordenslebens steht sodann - wohl versehen mit vielen entspre-chenden Bibelzitaten - die Regula Sancti Benedicti, die Benedik-tinerregel, deren Verdeutschung in Form einer Interlinearversion aus dem zweiten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts in der St. Galler Handschrift 916 der Stiftsbibliothek vorliegt (vgl. Hs. Foto 13, S. 125). Von dieser biblisch-kirchlichen Buchgrundlage aus kommt es erst allmählich zu weiteren volkssprachlichen Büchern, zu Bi-beldichtung und zur artes-Literatur in Form von lateinisch-althoch-deutschen Schultextbüchern, wie sie deren erster Meister in der Ge-schichte des Deutschen, Notker III. Labeo oder Teutonicus, in sei-nem Brief an Bischof Hugo von Sitten um das Jahr 1015 als Hilfs-mittel (instrumenta) für das volle Verständnis der kirchlichen Schriften (ecclesiastici libri) sieht und deshalb auch in seine Volks-sprache Satz für Satz neben dem lateinischen Text in Buchform übersetzt hat (vgl. Hs. Foto 17, 18, 19, 20, S. 138, 140, 211, 368).

Vielfältig gibt sich in althochdeutscher Zeit zunächst noch die Eindeutschung der lateinischen Wörter für Bibliothek und Biblio-

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188 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

thekar, woraus man das Ringen um die neue Buchgelehrsamkeit ersehen kann:

(1) lat. arca libraria .Bücherschrein, Bücherkiste' (Mlat.Wb. 1, 872) ahd. buoharka f. .Bücherkasten' (belegt 10. Jh. poharacha;

Ahd.Wb.l, 1499) (2) lat. armarium .Bücherschrank, Bücherregal, Bibliothek'

(Mlat.Wb. 1,960) ahd. buohkamara f. ,Bücherkammer, Bibliothek, Archiv'

(Ahd.Wb.l, 1503) ahd. buohskrïni η. .Bücherschrank' (Ahd. Wb. 1, 1504)

(3 a) lat. bibliotheca .Bibliothek' (griech. βιβλιοθήκη, Mlat. Wb. 1, 1462)

ahd. buohfaz n. ,Bücherschrein, Bücherschrank' (um 800 belegt im lat.-ahd. Abrogans als poahfaz dar man poah pirkit,Bücherge-fäß wo man Bücher verwahrt' für lat. bibliotheca ubi libri re-conduntur; Ahd. Wb. 1, 1499)

ahd. buohgistriuni n. ,Büchersammlung, Bibliothek' (Ahd. Wb. 1, 1500)

ahd. buohkamara f. ,Bücherkammer, Bibliothek, Archiv' (Ahd. Wb. 1, 1503)

(3b) lat. bibliothecarius .Bibliothekar' (Mlat.Wb. 1, 1462) ahd. buohgoumil m., eigentlich ,Buchaufseher' (Ahd. Wb. 1, 1500

.Bibliothekar, Pfleger und Verwalter einer Bibliothek') ahd. buohuuart m., eigentlich ,Buchwart' (Ahd. Wb. 1, 1507 .Bi-

bliothekar') (dazu ahd. buohkamaräri m. .Archivar' u. ä„ Ahd.Wb.l, 1504)

(4) lat. librarium ,Bücherkasten, Bücherschrank' ahd. buohkamara f. ,Bücherkammer' (Ahd. Wb. 1, 1503) (dagegen

bedeutet mlat. librarius .Schreiber, Kopist, Sekretär', ahd. skribo m., briaväri m.)

Um das Buch gruppieren sich sodann weitere Wörter frühmittelal-terlicher Gelehrsamkeit, wie vor allem folgende von ahd. buoh f. n. m. abgeleitete oder damit zusammengesetzte Substantive be-legen (Belege im einzelnen im Ahd. Wb. Bd. 1, Zusammenstel-lung der Wortfamilie bei Jochen Splett, Ahd. Wb. Bd. I, 1, 116): ahd. buohhäri m. .Schriftgelehrter (im Sinne der Bibel)', viel-leicht auch .Buchgelehrter i. a.', sonst für lat. scriba .Schreiber'; ahd. buohmahhäri m. .Verfasser von Büchern, Dichter' (bezogen auf lat. poeto); ahd. buohmeistar m. .(amtlicher) Schreiber, Kanz-ler'; ahd. buohscrift f. .Schriftwerk', lat. litteratura; ahd. buoh-giuuizzida f., buohuuizzi f. .gelehrtes Buchwissen, Buchgelehr-

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4.2. Grundlegung eines deutschen Sprachbewußtseins 189

samkeit', lat. litteratura; ahd. briafbuoh n. (belegt brîefpûoh bei Notker),Blich für Eintragungen, Register'.

4.2. Grundlegung eines deutschen Sprachbewußtseins

Fast von selbst ergab sich in althochdeutscher Zeit als logische Folge der eben und notwendigerweise etwas breiter besprochenen ersten volkssprachlichen Schriftlichkeit die Eigenbezeichnung der deutschen Sprache und damit der Ausdruck für den Beginn ei-nes deutschen Sprachbewußtseins. Als erste Stufe wird zunächst vor dem Ende des 8. Jahrhunderts lediglich die stammessprachli-che Bewußtseinsstufe in den lateinisch geschriebenen Volksrech-ten, den frühmittelalterlichen Leges barbarorum oder Germanen-rechten, zum Ausdruck gebracht, dort nämlich, wo volkssprachli-che Wörter zur Erklärung eines Tatbestandes eingeführt werden müssen (vgl. oben Abschnitt 2.7.1., S. 89 ff.). So heißt es in der Lex Baiuvariorum, 6.-8. Jh., Kapitel 19,2: Si quis liberum occide-nt furtibo modo et in flumine eicerit vel in tale loco eicerit, aut ca-daver reddere non quiverit, quod Baiuwarii murdrida dicunt (an anderen Stellen quod dicit, quod dicimus), das heißt ,wenn einer einen Freien auf heimliche Weise tötet und in einen Fluß wirft oder an einen solchen Ort, daß der Leichnam nicht mehr beige-bracht werden kann, was die Baiern Mord nennen'. Oder in der Lex Alamannorum, 7. Jh., Kapitel 48: Si quis [homo] hominem Oc-cident, quod Alamanni mortuado dicunt (so geradezu stereoty-pisch), das heißt ,wenn einer einen Mann getötet hat, was die Ale-mannen Tötung durch Mord nennen'. Primär stammessprachlich ist zunächst auch das Adjektiv frankisg, frenkisg ,fränkisch' zu verstehen, so weit es sich auf die Sprache bezieht.

Als zweite Stufe darf der Durchbruch der allgemeinen Be-zeichnung .deutsch' seit dem späten 8. Jh. im Sinn eines über-mundartlichen volkssprachlichen Bewußtseins bezeichnet wer-den. Der erste Beleg für die theodisca lingua begegnet in den , An-nales regni Francorum' zum Jahr 788, wobei man annimmt, der Bericht über die Verurteilung des letzten Baiernherzogs Tassilo zum Tode wegen Fahnenflucht (quod theodisca lingua harisliz di-citur ,was in der Volkssprache Heeresschlitzung [d.h. Heeresspal-tung, Heereszersplitterung] genannt wird') sei unmittelbar nach dem Ereignis verfaßt worden. Seit dem Anfang des 9. Jahrhun-derts erscheint die Sprachbezeichnung theodisca, teudisca lingua

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190 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

u. ä. dann häufiger, besonders auch in den Kapitularien, das heißt in den fränkischen Königserlassen.

Ausgangspunkt für das Wort deutsch ist ein Adjektiv des Ger-manischen, mit dem Zugehörigkeitssuffix -isk zum Substantiv peudö f., ahd. diota f., diot m. η.,Volk, Stamm' gebildet, wie es in verschiedenen altgermanischen Sprachen vorkommt, indessen nur im Deutschen und - vorzugsweise im älteren - Niederländischen zur Eigenbezeichnung der Volkssprache verwendet wurde:

germ. *peudisk- ,zum Volk oder Stamm gehörig'

nicht sprachbezogen

- gotisch piudisko Adv. .heidnisch', entsprechend griechisch εθνικώς

- altenglisch pëodisce (men) .gentiles, Heiden' vgl. el-, œl-pëodisc .barbaras, fremd-stämmig'

sprachbezogen

allgemein auf verschie-dene Sprachen - altenglischpêodiscn.

.Sprache, Rede' (substantiviertes Adj.)

- mittellat. theodiscus u.ä.

spezifisch auf die Spra-che des eigenen Volkes - ahd. thiutisc, diutisk - westfränk. und alt-

niederl. *peodisk, piodisk altsächs. thiodisc, thiudisc substantiviert ahd. (in) githiuti ,in der Volkssprache'

Drei Dinge sind dabei auffallend: (1) Die Bezeichnung deutsch, ahd. diutisk ist in vergleichbare Bil-

dungen anderer altgermanischer Sprachen eingebettet, unter denen auch das altenglische substantivierte Adjektiv pëodisc η. ,language, speech, idiom, translation' einen wenn auch all-gemeinen Sinnbezug zu Sprachlichem aufweist.

(2) Aus der westfränkischen und frühalthochdeutschen Form *t>eodisk u. ä. haben sich die verbreiteten mittellateinischen Formen theodiscus (bzw. theodisca lingua), teudiscus, theotis-cus u. ä. entwickelt, welche seit dem späten 9. und 10. Jahrhun-dert durch teutonicus (Adv. teutonice), einer Bildung in Anleh-nung an den aus der antiken Historiographie bekannten germa-nischen Volksstamm der Teutoni, Teutones abgelöst wurde, so daß etwa bei Notker der Gegensatz latine!teutonice (auch uuir

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4.2. Grundlegung eines deutschen Sprachbewußtseins 191

teutones chéden ,wir Deutschsprachigen sagen [dafür]') neben latine/in diutiskûn ,lateinisch/in der deutschen (Sprache)' for-muliert wird.

(3) Nur dem deutsch-niederländischen (das heißt ursprünglich ahd.-altsächs.-altniederl.) Sprachkreis kommt diese Sonderbe-zeichnung ,eigensprachlich, volkssprachlich' zu, im Gegen-satz zu den benachbarten, aus Stammesnamen (wie englisc ,anglisch', die Sprache der Angeln und Saxen) oder geogra-phischen Begriffen (wie nederlands niederländisch') gebilde-ten Sprachbezeichnungen, aber nur im Deutschen hat sie sich bis zur Gegenwart so gehalten (ahd. diutisk, nhd. deutsch, nie-derdt. düdesch; älter auch niederländisch dietsch u. ä., das-selbe Wort noch in englisch Dutch < mittelniederl. duutsc ebenfalls für die eigene Sprache). Dies ist vor allem aus der seit dem Frühmittelalter bestehenden besonderen Lage des Deutschen in Mitteleuropa zwischen Romanisch im Westen und Süden sowie Slavisch im Osten und Südosten zu verste-hen, ferner aus dem früh empfundenen Gegensatz zum Latei-nisch-Romanischen, gegenüber welchem sich die eigene Volkssprache mehr und mehr auch in schriftlicher Form als et-was Anderes wie Eigenes abzuheben hatte.

Die Entstehung eines übergreifenden volkssprachlichen Bewußt-seins in althochdeutscher Zeit läßt sich durch einen Vergleich der Wörter mit dem Sinngehalt,volkssprachlich' bei den beiden lite-rarischen Hauptgestalten der ältesten deutschen Literatur, Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert und Notker III. von St. Gallen um das Jahr 1000, verdeutlichen. Während bei Otfrid im althoch-deutschen Gebrauch noch das stammessprachliche Bewußtsein in der Verwendung von frenkisg,frenkisga zunga überwiegt, in latei-nischer Verwendung freilich schon die übergreifende Bezeichnung theodisce .deutsch' neben francisce als vorherrschend erscheint, verwendet Notker im Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert nur noch das Wortpaar lateinisch teutonice, -us / althochdeutsch diu-tisg. Otfrid intendiert ein neues volkssprachliches Dichten im Sinne der poesis sacra, der verherrlichenden Bibeldichtung, Not-ker ein neues, vertieftes Übersetzen in die Volkssprache und eine nachvollziehende Aneignung christlich-antiker Bildung im deut-schen Wort. So ist es gegeben, daß der Benennung der Volksspra-che bei den beiden großen Sprachschöpfern der althochdeutschen

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192 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Zeit besonderes Gewicht zukommt. Ein aufschlußreiches Beispiel eigenen Sprachbewußtseins im Spannungsfeld Lehnwort aus dem Lateinischen/altheimisches deutsches Wort bietet Otfrid von Wei-ßenburg an einer Stelle seiner Evangeliendichtung (V, 8, 7-8), wo es in Anlehnung an eine Erklärung Alkuins zu Johannes 20,12 quod latina lingua angelus [aus griechisch άγγελος] nuncius di-citur heißt:

Thaz uuir éngil nennen, thaz héizent, so wir zéllen, bóton in githíuti frénkisge liuti , Was wir Engel nennen, das heißen, wie wir's kennen, Boten in ihrem Deutsch fränkische Leut.'

Die Wendung in githíuti bedeutet wörtlich ,in der Volkssprache', so wir zellen heißt eigentlich ,wie wir es sagen, erzählen'. Das Lehnwort engil ,Engel', frühahd. angil aus lateinisch angelus wird so kontrastiv zu seinem etymologischen Pendant boto m. ,Bote' in der Volkssprache abgehoben. Auch bei Notker finden sich Bausteine zu einer vergleichenden oder kontrastiven Sprach-typologie lateinisch/deutsch in seinem Übersetzungswerk. Dabei werden die vergleichbaren oder abweichenden Beispiele der eige-nen Sprache etwa mit der Markierung in únsera uuîs ,in unserer Redeweise', tèmo gelîcho mugen uuír chéden teutonice .desglei-chen können wir auf deutsch sagen', áber déro diutiskûn uuírdit sâr uuéhsal ,aber in der deutschen Sprache vollzieht sich (hier) sogleich ein Konstruktionswechsel'.

Dergestalt läßt sich die Geschichte des Althochdeutschen in Sprache und Literatur ganz allgemein als Geschichte von Auf-bruch und Vertiefung, ja von immer wieder neuer Verfestigung ei-nes volkssprachlichen Bewußtseins begreifen, wie es einerseits durch direkte Zeugnisse, andererseits durch eine zunehmende Verdeutschung bisher lateinischer Texte gewährleistet bleibt. Die immer weiter um sich greifende Vervolkssprachlichung der schriftlichen Quellen - eine der großen Konstanten deutscher Sprachgeschichte bis zur Liturgiereform der katholischen Kirche in den 1960er Jahren - beginnt ausdrücklich genug in althoch-deutscher Zeit. Und gerade das neue volkssprachliche Bewußtsein ist in seiner sprachkulturellen Hochform in Verbindung mit der Verdeutschung der Bibel und der an sie anschließenden Bibeldich-tung zu sehen, gleichsam Vollzug der christlichen Heilsbotschaft

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 193

in der eigenen Sprache, so wie es Otfrid von Weißenburg schon im 9. Jahrhundert in die stolzen dichterischen Worte gefaßt hat (I, 1, 123-126):

Nu fréwen sih es álle, so wer so wóla wolle, joh so wér si hold in múate Fránkono thíote, Thaz wir Kríste sungun in únsera zungun, joh wir ouh thaz gilébetun, in frénkisgon nan lóbotun! ,Nun freuen sich darüber alle, und jedem es gefalle, wer auch im Sinn sei hold dem fränkischen Volk, Daß wir Christ besungen in unserer Zungen, auch das noch so erlebten, daß fränkisch wir ihn lobten.'

In der obigen Übersetzung versuchten wir, Otfrids Assonanzen und End(silben)reime in der neuhochdeutschen Sprache nachzu-bilden. Streng wörtlich genommen heißt der Text: ,Nun freuen sich alle darüber, jeder der gut gesonnen sei/und auch wer immer in seinem Sinn dem fränkischen Volk geneigt sei,/daß wir Christus in unserer Sprache besungen haben/und daß wir auch das noch er-lebten, daß wir ihn auf Fränkisch lobten'.

4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache

Sprachkultur beruht in hohem Grade auf Vereinheitlichung einer Sprache oder Sprachstufe, hier des Althochdeutschen. Auseinan-derstrebende Vielfalt der frühmittelalterlichen Stammesdialekte mußte erst zu einen neuen Ganzen innerhalb des ostfränkischen Reiches zusammenwachsen, um für eine neue Sprachkultur trag-fähig zu werden. Dabei kann nicht genug betont werden, daß die althochdeutsche Sprachperiode vom 8. bis zum 11. Jahrhundert die erste Phase einer mindestens teilweise vereinheitlichten deutschen Sprache ausmacht, indem nämlich aus den verschiedenen Stam-mesdialekten der Franken und ihrer Untergruppen, der Thüringer, der Baiern und Alemannen eine zwar noch weiterhin dialektal recht verschiedene, indessen gleichzeitig mit manchen gemeinsa-men Merkmalen ausgestattete und dadurch einigermaßen allge-mein verstehbare, kommunikationsfähige Sprachform entstand, welche von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zusammenwuchs. Dementsprechend konnten von Kloster zu Kloster seit karolingi-scher Zeit auch Handschriften mit volkssprachlichen Denkmälern ausgetauscht, ja von Schreibdialekt zu Schreib- oder neuem Mischdialekt umgeschrieben werden, wofür es manche Beispiele

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194 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

gibt. So konnte Otfrids von Weißenburg Evangeliendichtung des 9. Jahrhunderts (um 860/70) im frühen 10. Jahrhundert in Freising vom ursprünglichen Südrheinfränkischen ins Bairische umge-schrieben werden. Andererseits setzt gerade Otfrid in seinen Vers-widmungen an Bischof Salomon von Konstanz (ther biscof ist nu ediles Kostinzero sédales ,der Bischof ist des edlen Konstanzer Sitzes') und an seine St. Galler Mitbrüder Hartmuat und Werinbert voraus, daß man auch im alemannischen Süden seine südrheinfrän-kische Dichtersprache versteht. Notker des Deutschen alemanni-scher Psalter aus der Zeit nach 1000 wiederum wurde verschie-dentlich umgearbeitet, unter anderem noch im 11. Jahrhundert im Kloster Wessobrunn zum sogenannten Wiener Notker (Psalm 1-50,101-150 und Anhang) in bairischer Sprachform. Drei Haupt-gründe lassen sich für die Vereinheitlichung der verschiedenen Stammesdialekte zum Althochdeutschen namhaft machen:

(1) Die ostfränkische Reichsklammer als reichspolitische Vor-aussetzung für den sprachlichen Einigungsprozeß unter fränki-scher Führung seit merowingischer und karolingischer Zeit. Diese Tatsache kommt auch sprachlich etwa bei Otfrid von Weißenburg zum Ausdruck, wenn er seine Widmung an den fränkischen König Ludwig den Deutschen mit den Versen zweier sinnvariierender Langzeilenpaare anhebt (Lud. 1-4):

Lúdowig ther snèllo, thes wisduames follo, er óstarrichi ríhtit ál, so Fránkono kúning seal. Ubar Fránkono lant so gengit éllu sin giwalt, thaz ríhtit, so ih thir zéllu, thiu sin giwált éllu.

,Ludwig der Kühne, an Weisheit voll, herrscht über das ganze Ostreich, so wie der Franken König soll. Über der Franken Land, so geht seine ganze Gewalt, das beherrscht, wie ich dir sage, seine Gewalt voll und ganz'.

Und noch bei Notker von St. Gallen im letzten Viertel des 10. Jahr-hunderts wirkt dieses karolingisch-fränkische Reichsbewußtsein bis in die Volkssprache hinein nach, wenn er im Prolog zu seiner Boethius-Übersetzung ,De consolatione Philosophiae' von den Franken sagt tie uuír nú héizên chárlinga ,welche wir nun Karo-linger nennen.'

Diese ostfränkische Reichsklammer ist die erste große Eini-gungsklammer historisch-politischer Art in der Geschichte des Deutschen, und sie blieb als deutsche Reichsklammer bis in die

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 195

frühe Neuzeit einigermaßen bestehen, solange man eben von der relativen Einheit des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation noch sprechen konnte.

(2) Als zweiter Hauptgrund für die Vereinheitlichung sind die gemeinsamen innersprachlichen Entwicklungstendenzen des Alt-hochdeutschen in allen seinen Dialekten zu sehen. Im einzelnen sind dies, was das Lautsystem betrifft, in verschiedenartigem Nord-Südgefälle vor allem die folgenden Erscheinungen:

gegenüber dem Germanischen eingeschränkte Umlautwir-kung

Norden

Süden

Umstrukturierung des Vokalsystems durch Teilmono-phthongierung und Diphthongierung

vor allem neues Diphthongsystem

ia/io iu oa/ua/uo ou

totale Umgestaltung des Konsonanten-systems durch die hochdeutsche Laut-verschiebung

/Entstehung neuer Spi-ranten und Affrikaten

Ohne hier schon auf lautgeschichtliche Einzelheiten einzugehen, sei wenigstens betont,

(a) daß das althochdeutsche und spätere deutsche Sprachsystem bis heute durch die Beschränkung der vielen altgermanischen Umlautmöglichkeiten auf den einzigen /-Umlaut diesem ein entscheidendes morphologisches Gewicht verliehen hat, ins-besondere für die Pluralbildung (ahd. gast, umlautlos im gan-zen Singular, Plural gesti ,Gast, Gäste'), für den Komparativ und Superlativ (ahd. alt, fränkisch eltiro, sonst al tiro, frän-kisch eltisto, sonst altisto ,alt, älter, ältest', aber allgemein bez-ziro, bezzisto ,besser' zu ahd. baz ,mehr, weiter'), für die Wort-bildung (zum Beispiel ahd. sterchï, sterkï neben starchï ,Stärke', zu stark) und teilweise wie später auch für andere Ka-tegorien (Diminutiv, Konjunktiv);

(b) daß durch die mehr diphthongisch als monophthongisch aus-gerichtete Umstrukturierung des Lautsystems die für das ganze deutsche Mittelalter (ahd. wie mhd.) so typischen Fall-diphthonge íe, úo (und mit Umlaut mhd. iie, geschrieben u) entstehen, welche erst wieder durch die neuhochdeutsche Mo-nophthongierung mehr als fünfhundert Jahre später beseitigt

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196 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

werden (außer in den oberdeutschen Dialekten, ahd. mhd. lieb ,lieb\muot ,Mut'; ahd. guotï, mhd. güete ,Güte'), und daß im Verlauf des Althochdeutschen von einer zunehmenden Verein-heitlichung der ursprünglichen dialektalen Vokalsysteme min-destens der Haupttonsilben gesprochen werden kann,

(c) daß die totale Umgestaltung des ursprünglichen germanischen Konsonantensystems im Althochdeutschen durch die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung bei aller dialektalen Nord-Süd-Staffelung dennoch gleichzeitig ein neues, eben ty-pisch deutsches Gefüge von Reibelauten, Affrikaten und ver-härteten Verschlußlauten zu schaffen vermochte.

Bei der Beurteilung der hochdeutschen Lautverschiebung des 5./6. bis 8./9. Jahrhunderts ist nämlich das Folgende zu unter-scheidend (a) Was ist in allen Teilen des Althochdeutschen neu einheitlich

geworden? Die t-Verschiebung zu tz im Anlaut, nach Konso-nant und bei Geminate (ahd. zeihhan ,Zeichen' < germ. *taikn-, ahd. holz ,ΗοΙζ' < germ. *holta-) und nach Vokalen zu dentalem Reibelaut zz, z, auch 33, 3 geschrieben (ahd. ezzan ,essen' < germ. *etan, ahd. hwaz, waz ,was' < germ. *hwata, allerdings mittelfränk. wat)\ die inter- und postvokalische p-Verschiebung zu j f f , f - auch hier mit kleineren Ausnahmen am Mittelrhein - (ahd. offan ,offen' < germ. *opana; ahd. skif ,Schiff' aus germ. *skipa); die inter- und postvokalische Ver-schiebung von k zu ch (ahd. mahhön ,machen' < germ. *ma-kön, ahd. ih ,ich' < germ. *ik).

(b) Was ist im Verlauf des Althochdeutschen in Sachen Lautver-schiebung zunehmend einheitlich geworden? Die d > t- Ver-schiebung innerhalb der Medien, freilich nach Position und Dialekt recht verschieden (zum Beispiel tohter/dohter ,Toch-ter', faterlfader ,Vater', bitten/bidden ,bitten'), jedoch über-wiegend verschoben; dazu die allerdings außerhalb der Laut-verschiebung stehende Entwicklung von germ, p > d (ahd. ther, dher, der ,der', thing, ding ,Ding').

(c) Was ist während der gesamten althochdeutschen Periode (wie noch größtenteils später, bis in die heutigen Mundarten hinein) uneinheitlich geblieben?

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 197

- Grundsätzlich die p-Verschiebung (ahd. pflegan/plegan .pflegen', apful/appul .Apfel', scarpf/scarp .scharf');

- die ¿-Verschiebung im Anlaut, nach Konsonant und bei al-ter Geminate (ahd. korn/chorn ,Korn', folk/folch .Volk', queman/chweman, chomen ,kommen', quedchwek, -chi check, -ch > *quekka .lebendig, keck');

- die Medienverschiebung von b > ρ und g > k (oder c ge-schrieben), Kennzeichen des Oberdeutschen, besonders des Bairischen (pruader, pruoder ,Bruder', kot ,Gott').

So vermischen sich die Resultate der zweiten Lautverschiebung nach altem und neuem Lautbestand je nach Einzellaut (t, p,k) und Position (Anlaut, Inlaut und Auslaut nach Konsonant oder Vokal, Geminate) verschieden auf die Dialekte, und dennoch ergibt sich ein lautverschobener Hauptbereich, der vom Oberdeutschen mehr oder weniger weit und in seiner Intensität abnehmend nach Nor-den ins Fränkische reicht. Dies gilt ja, etwas gemildert, noch für das Neuhochdeutsche, so daß selbst beim gleichen Laut Verschie-denheiten auftreten (Kirche, niederländ. kerk; Küche, niederländ. keuken; Pfaffe, niederländ. paap), welche teils sprachgeogra-phisch, teils positionsbedingt sind.

(3) Der dritte Hauptgrund für die Vereinheitlichung des Alt-hochdeutschen ist der im wesentlichen auf der Aufnahme und Durchsetzung neuer Lehn- oder Fremdwörter aus dem Latei-nisch(-Griechischen) beruhende lexikalische Ausgleich, was die frühalthochdeutsche Vielfalt in gewissen Bereichen zu einer neuen relativ einheitlichen Lexik des Spätalthochdeutschen ge-führt hat. Ohne daß wir hier für jedes der angeführten Wörter eine genauere geschichtliche Analyse vorlegen können, sei doch auf die folgenden Beispiele verwiesen, welche neben kulturgeschicht-lich neuen, wichtigen Sachwörtern (wie etwa ahd. win m. , Wein' < lat. vinum, ahd. müra f. ,Mauer' < lat. mürus) zumeist auf der neuen Glaubensgrundlage christlicher Religion beruhen:

lat.(-griech.) Grund- gemeinalthochdeut- altheimische, zumeist läge sehe Lehnwörter ältere Synonyme

kyriakón

crux, Akk. crucem

kirïhha, chirihha, chtticha .Kirche'

krüzi, chriuze .Kreuz'

ladunga .ecclesia', sa-manunga, samenunga, gimeinida, christanheit

galgo, boum

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198 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

lat.(-griech.) Grund- gemeinalthochdeut- altheimische, zumeist lage sche Lehnwörter ältere Synonyme

sacrificiuml hostia! ophar, opfer zebar, gelstar, bluostar, libamen offerung , Opfer' antheizida

angelus angil, engil (gotes)boto, chundo, chundare, pl. cootlihhe geista .gütige Geister'

diabolus tiuval, tievel fîant, altfîant, widar-werto, widerwarto, unholdo u. ä.

praedicare predi gön, prediön biatan, forabotön, .predigen' meinen, (fora-)sagën,

künden u. ä.

senior .Herr' hêriro, hërro frö, truhtin (dominus) (Lehnübers.) ,Herr'

geistl. und weltlich

archiater arzät, arzenäre ,Arzt' lähhi, lähhanarra f.

calix, Akk. calicem kelih, chelih ,Kelch' stouf

Neben diesen Lehnwortschub treten freilich auch fränkisch be-stimmte Ausgleichsbewegungen, welche etwa von der frühalt-hochdeutschen Vielfalt im Bereich von Richter, Gericht, Urteil zu einer stärker gestrafften Terminologie im Verlauf der Jahrhunderte geführt haben, so daß oberdeutsch so(o)neo, suanari, suonari ,Richter', sona, suana ,Gericht' mehr und mehr in den geistlichen Bereich gedrängt werden, während sich das ursprünglich fränki-sche urteilo »Richter', urteilida, urteili, urteil,Gericht, Urteil' all-gemeiner verbreitet, das archaische tuomo ,Richter', tuom, toam ,Urteil' hingegen zurücktritt, und neu rihtari ,Lenker, Herrscher, Richter' dazutreten kann.

Vereinheitlichungen in bestimmten Wortschatzbereichen erga-ben sich sodann bei den Wochentagsbezeichnungen und Monats-namen, deren Verfestigung nach lateinischen, z. T. griechischen Vorlagen sich im Althochdeutschen nachzeichnen läßt. Antike und Christentum begegnen sich, zusammen mit alten volkssprach-lichen Elementen besonders in den Wochentagsnamen. Die Tage der vorderorientalischen siebentägigen Woche wurden bei den Griechen und Römern nach Sonne, Mond und den Planetengöt-tern bezeichnet, was sich bei den Germanen bis ins Althochdeut-

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 199

sehe hinein mit einheimischen Gestirns- und Göttemamen fort-setzt. Daneben finden sich aber auch christlich empfundene Be-nennungen, so der jüdische Sabbat im Neuen Testament griech. τό σάββατον oder τα σάββατα, vulgärgriech. auch mit -m- σάμβα-τον, und als Auferstehungstag Christi der Sonntag als Tag des Herrn, griech. κυριακή ήμερα, lat. dominicus dies oder dominica, welcher auch neuer Ausgangspunkt für die christliche Zählung von 1 (Sonntag) bis 7 (Samstag) ζ. B. im Griechischen wurde, weshalb der Mittwoch zur Mitte der Woche werden konnte. Für das Althochdeutsche ergibt sich das folgende Bild der Woche (ahd. wëhha, wohha f.):

Wochentag Griechisch (Auswahl)

Lateinisch Al thochdeutsch (und ζ. T. weitere altgerm. Sprachen)

Sonntag (1) ήμερα Ηλίου

(2) κυριακή ήμερα

(1) So lis dies (2) dominicus

dies, dominica

(1)ahd. sunnüntag (zu sunna f. .Sonne'), as. sunnundag ae. sunnandœg .Sunday' an. sunnudagr

(2) ahd. fröntag ,Tag des Herrn' (zu frö m. ,Herr') ae. häligdeeg .Heiligtag'

Montag ήμέρα Σελήνης

dies Lunae Lunae dies, lunis

ahd.mänintag(zumanom. .Mond') ae. mönandeeg .Monday' an. mánu-, mánadagr

Dienstag ήμέρα "Αρεως

dies Mortis Martis dies

(1) vermutlich got. *Areins dags .Tag des Ares' mhd. (bair.) eri(n)-, erg(e)tac u.ä. bair.-österr. Ertag

(2) germ. *Tlwesdagaz (zu *Tiwaz .Gott Ziu') mhd.-alem. zlestac nhd.-dial. Ziischtig ae. Tïwesdœg .Tuesday' an. Ty(r)sdagr

(3) germ. *pingesdagaz (zu lat.-agerm. Mars Thingsus .Gerichtsgott') mhd. di(e)nstac nhd. Dienstag mnd. dingesdach mnl. dinxendach nl. dinsdag

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200 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Wochentag Griechisch (Auswahl)

Lateinisch Al thochdeutsch (und ζ. T. weitere altgerm. Sprachen)

Mittwoch (1) ημέρα Έρμου

(2) spät-griech. μέση έβ-δομάς

(1)dies Mer-curis Mercuri dies

(2) media hebdomas

(1)germ. *Wödanesdagaz (zu *Wödanaz ,Gott Wotan/Odin') ae. Wôdnesdœg .Wednesday' afries. Wëdnes-, Wërn(e)sdei mnl. wödensdach ni. woensdag an. Odinsdagr, skand. onsdag

(2) ahd. mittawecha (zu mitti .mittler-') mnd. middeweke ais. midvikudagr .Mittwochtag' Schweiz, dial. Mecktig .Mittwochtag'

Donnerstag (1) ήμερα Διός

(2) ημέρα πέμπτη (5. Tag)

dies Iovis Jovis dies jovia

(1)germ. *punaresdagaz (zu *punaraz .Donar, Donnergott, Thor') ahd. donarestag nl. donderdag ae. pu(n)resdœg .Thursday' an. pórsdagr skand. torsdag

(2) mhd. pfinztac bair.-österr. Pfinztag (< germ. Lehnbildung *pent-dagaz nach griech. Vorbild)

Freitag (1) ημέρα 'Αφρο-δίτης

(2) ημέρα παρα-σκευής

( 1 ) dies Vene-ris Veneris dies

(2) parasceue

(1) ahd. frïatag nl. vrijdag ae. Frïgedœg .Friday' an. Friádagr (zu germ. *Frijö .Göttin Freia', ahd. Frî(j)a)

(2) ahd. garotag (zu garo .bereit, gerüstet'), pherintag ,Rüsttag, Freitag', frühmhd. pherntag (bair. Lehnwort über got. *pa-reinsdags nach griech. Vorbild)

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 201

Wochentag Griechisch (Auswahl)

Lateinisch Althochdeutsch (und ζ. T. weitere altgerm. Sprachen)

Samstag (1) ημέρα ( 1 ) dies Sa- (l)germ. entlehnt *Saternesdag Κρόνου turnis ae. Sœter(n)es-, Sœterndœg

(2) τό σάβ- Saturni , Saturday' βατον dies afries. säterdei τά σάβ- (2) dies mnd. sater(s)dach βατα Sab(b)a- nhd. dial. Satertag vulgär- tus nl. zaterdag griech. Sab(b ja- (2) ahd. sambaztag auch tus dies nhd. Samstag σάμβα- sab(b)a- (3) ahd. sunnün-äband τον tum nhd. Sonnabend

Sambatus ae. sunnan-œfen dies afries. sunna ewende

(3) mlat. nfries. sneon dominica ostfries. son-, sanneifend vespera .Sonntag-vorabend, -vortag'

Da die Übernahme der Wochentagsbezeichnungen nach spätanti-ken Vorbildern ins Germanische in die heidnisch-vorchristliche Zeit fällt, sind als rein christlich zu verstehende Wörter im Alt-hochdeutschen in diesem Bereich später entstanden und selten. Sie beschränken sich auf die allgemein durchschlagskräftig ge-wordenen mittawecha ,Mittwoch' und sambaztag ,Samstag' so-wie auf die seltenen Neben- und Regionalwörter fröntag ,Tag des Herrn' und garotag bzw. pherintag ,Freitag', neben dem erst mhd. belegtenpfinztac ,Donnerstag'.

Was die Monatsnamen betrifft, hat Karl der Große nach Ein-hards Vita Karoli Magni (um 835), Kap. 29, den Anstoß zu deren Verdeutschung - wie übrigens auch der Windnamen - gegeben: Mensibus etiam iuxta propriam linguam vocabula imposuit, cum ante id temporis apud Francos partim latine partim barbaris no-minibus pronunciarentur. Das heißt: „Auch den Monaten legte er Benennungen gemäß der Volkssprache bei, nachdem sie bis zu dieser Zeit bei den Franken teils lateinisch, teils mit einheimi-schen Namen ausgesprochen wurden." Umrahmt vom lateini-schen Satzrahmen Et de mensibus quidem... appellavit („Und was die Monate nämlich betrifft benannte er...") lauten die neuen Mo-

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natsnamen wie folgt (ergänzt um weitere spätahd. Belege v. a. aus den Ahd. Gl. Bd. III und dem Summarium Heinrici des 11. Jh., vgl. auch Grimm, Dt. Wb. zu einzelnen Namen im Nhd.):

Einhard Zusätzliche spätahd. Belege (Auswahl)

ahd. Grundwörter allgem.: mänöd, -th m.,Monat'

januarium uuintarmanoth

jarmanot, wintermanot wintar m. , Winter' jär n. ,Jahr' (im Sinn von .Jahresbeginn')

februarium hornung

hornung m. ,Februar' (zu altgerm. hornung-Bastard', also .Kurzmonat')

martium lentzinmanoth

merze vel lenzimanot, lenzemanot

lenzo (< *lengizo) m., langez, lenzin m. .Frühling'

aprilem ostarm anoth

ostermanot östara f. .Ostern, Osterfest'

maium uuinnemanoth

wunnemanot/meie winne f. .(Laub-)Weide' (mit Ersatz durch die Nebenform wunne f.)

junium brachmanoth

brachod brähha f. .Brache, Brachland', brächöd m.,Brachmonat, Juni'

julium heuuimanoth

howemanot hewi, houwi n. ,Heu'

augustum aranmanoth

arnomanot, ernemanot ougusto, ögesto

aran m., arn f. (Gen. erni) .Ernte'

septembrem uuitumanoth

herbistmanot witu m. η. ,ΗοΙζ' herbist, herbisto m. .Herbst'

octobrem uuindum anoth uuindumema-noth

windemanot wintermanot (12./13. Jh. auch wynmanot)

windema f. .Weinlese' wintar m. .Winter' (sekundär win m., Wein')

novembrem herbistmanoth

wintermanot herbist, -o m. ,Herbst' wintar m. .Winter'

december heilagmanoth

hertimanot hei lag .heilig' herti .hart, streng, beschwerlich'

Von diesen Bezeichnungen leben im Deutschen neben den jünge-ren Lehnwörtern nach lateinischem Vorbild vor allem regional-

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 203

sprachlich noch bis heute nach: Hornung, Horner für Februar, Lenzmonat für März, Ostermonat für April, Wonnemonat (ge-lehrte Wiederaufnahme und Umdeutung des alten winne, wunne ,Weide') für Mai, Brachmonat, Brächet für Juni, Heumonat für Juli, Erntemonat für August, Herbstmonat für September, Wein-monat (älter auch Wind-, Windemonat) für Oktober (bzw. mit An-lehnung an nhd. Wind für November), Wintermonat für Novem-ber, Dezember, seltener Januar und ζ. T. Oktober, Heiligmonat frühnhd. für Dezember. Die langanhaltende allgemeine Verbrei-tung dieser Monatsnamen beruht auf ihrer einem bäuerlichen Ver-ständnis entgegenkommenden Motivik nach Jahreszeiten, Wetter-bedingungen, Feld-, Wald- und Weinbergarbeit.

Auch bei allen erkennbaren und im einzelnen weit über die oben genannten Hauptgründe hinaus nachweisbaren Vereinheitli-chungstendenzen eines geschriebenen Althochdeutschen darf ebenso hier auf die Vorbildwirkung der lateinischen Kirchen-, Bil-dungs- und Verwaltungssprache hingewiesen werden, welche mindestens tendenziell ein Gleiches in der Volkssprache mit Hilfe eines allenthalben aufbrechenden Verdeutschungsprozesses nach sich zog. Dies geschah - die reiche Lehnwortschicht gerade des frühmittelalterlichen Deutsch zeigt dies überdeutlich - jenseits von jedem Purismus. Denn die Aneignung der spätantik-frühmit-telalterlichen Kulturgüter in den südgermanischen Stammesdia-lekten erforderte geradezu eine sprachliche Haltung, die mehr auf vermittelnde Integration als auf bewußte Abgrenzung bedacht war. Dergestalt finden sich sowohl rein lateinische Wörter als auch eingedeutschte Lehnwörter in den frühen volkssprachlichen Tex-ten, die nicht selten teilweise gemischtsprachlich erscheinen. Bei Notker von St. Gallen folgt einem vollständig ins Althochdeutsche übersetzten Satz oft eine sprachlich lateinisch-deutsch gemischte Erklärung. So setzt Notker zunächst die folgenden Verse aus Bo-ethius, ,De consolatione Philosophiae', I carmen 5, V. 23-27 (sog. anapästische Dimeter), um (Texte: Boethius, Trost der Philoso-phie, lat.-dt., hrsg. v. E. Gegenschatz u. O. Gigon, Zürich-Stuttgart 21969,28; Notker der Deutsche, Boethius, De consolatione Philo-sophiae, Buch I—II, hrsg. v. Petrus W. Tax, Tübingen 1986, 32):

Omnia certo fine gubernans Hominum solos respuis actus Merito rector cohibere modo.

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204 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Notkers Prosa lateinisch: Omnia rector gubernans certo fine, re-spuis solos actus hominum. cohibere merito modo. ,Alles zu si-cherem Ziele steuernder Herrscher, verschmähst du allein die Handlungen der Menschen in gebührendem Maße zu beschrän-ken.' Die um einen Kommentarsatz erweiterte althochdeutsche Übersetzung dazu lautet in christlicher Profilierung so: Alliu ding kót in geduánge hábende. neuuíle du ménniskôn täte, tuíngen ze irò réhte. Uuâr uuâre dânne liberum arbitrium. úbe ér sie tuúnge? Das heißt: ,Alle Dinge, oh Gott, in Schranken haltend, willst du (doch) nicht die Taten der Menschen in deren Gerechtigkeit ein-zwingen (das heißt dafür sorgen, daß die Menschen gerecht han-deln). Wo wäre dann der freie Wille, wenn er sie hineinzwänge?' Obwohl Notker sonst liberum arbitrium wie arbitrii libertas auch mit sélb-uuála f.,freie Wahl, Willensfreiheit' übersetzt, läßt er an der oben angeführten Stelle den lateinischen Terminus stehen, während er im vierten Buch der gleichen Boethius-Übersetzung den Begriff lateinisch und althochdeutsch nebeneinander stellt (Texte wie oben lat. Gegenschatz-Gigon, S. 202; lat-ahd. Notker, Boethius, Buch IV-V, hg. v. P.W. Tax, Tübingen 1990, S. 212): De arbitrii liberiate. Fóne dero sélbuuálo. Hier ist ze uuízenne. dáz uuír dúrh sémfti ántfristoén liberum arbitrium. sélbuuala! sámo so liberam electionem. ,Über die Freiheit der Entscheidung. Von der Selbstwahl. Hier wird dargelegt (wörtlich: soll man wissen), daß wir aus Bequemlichkeit liberum arbitrium mit Selbstwahl übersetzen, so wie freie Wahl.' Dies wird dann im Anschluß an Aristoteles-Boethius, ,De interpretati one', näher erläutert, wobei Notker zu einer differenzierten Deutung des liberum voluntatis arbitrium, ahd. sélbuualtîg chîesunga des uuíllen selbständige Entscheidung des Willens' oder uuílleuuáltigi ,Willensverfügbar-keit, Willensfreiheit' gelangt.

Die Notwendigkeit einer übersetzenden Begriffsbestimmung ist es demnach, welche zur lateinisch-althochdeutschen Sprach-mischung in Prosa geführt hat, wie auch der ständige Rückgriff auf die verbürgten lateinischen Termini, gerade auch in Glaubens-fragen. So kreist das Athanasianische Glaubensbekenntnis auch in der Übersetzung durch Notker von St. Gallen um den darin näher erläuterten Trinitätsbegriff, der dabei zunächst nur lateinisch, spä-ter indessen auch volkssprachlich ausgedrückt wird (Text: Notker der Deutsche, Der Psalter, Psalm 101-150, die Cantica und die ka-

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4.3. Erste Phase einer vereinheitlichten deutschen Sprache 205

techetischen Texte, hrsg. v. Petrus W. Tax, Tübingen 1983, S. 568-575, die zitierten Stellen S. 569 und 573):

(1) Daz ist diu âllîcha geloûba. daz uuir einen Gót êreen an trini-tate. unde trinitatem an unitate. (Lat.: Fides autem catholica hqc est. ut unum deum in trinitate. et trinitatem in unitate ue-neremur). Dazu weitere Stellen mit lateinisch trinitas im alt-hochdeutschen Text: ze démo undersceîte sanctç trinitatis ,im Unterschied zur heiligen Dreieinigkeit'. - Trigescêidene per-sonç. ougent uns tri gágennémmeda dero trinitatis. ,Drei un-terschiedliche Personen führen uns drei Gegenbenennungen (das heißt gegenseitig verbundene Relationen, Beziehungen) dieser Trinität vor Augen'. - Vnde an dirro trinitate... ,Und an dieser Trinität...'

(2) So daz in alle uuís. so ouhfore geságet ist. ze êrenne sì drîsg-heit in einigheîte. unde êinighêit in drisghêite. (Lat.: Ita ut per omnia sicut iam supra dictum est. et trinitas in unitate. et uni-tas in trinitate ueneranda sit).

(3) Dann aber folgt wieder der Rückgriff auf den lateinischen Ter-minus: Der gehalten uuelle sîn. der ferneme iz so fone trini-tate. (Lat.: Qui uult ergo saluus esse, ita de trinitate sentiat.)

Notkers Lehnübersetzung drísghéit f. (handschriftlich einmal auch drîsgheit bzw. -hêit) bedeutet ,Dreifachkeit, Dreifaltigkeit', da eine Zusammensetzung von drisg .dreifach' und - bei Notker nicht belegtem - Simplex -heit,Wesen, Beschaffenheit' vorliegt, während sonst vor ihm im Althochdeutschen dhrinissa f. (Isidor-Übersetzung), drînissa f. (Benediktinerregel), driunissa, thriu-nissa f. (Murbacher Hymnen), thrinissi n. (Fränkisches Taufge-löbnis, Weißenburger Katechismus), thrinissi f. (Weißenburger Katechismus), beim Glossator zu Notkers Psalter trinnissa f. (Ps 54 Notker in trinitate, Gl. in trinnisso) vorkommen. Das Beispiel mag das für die althochdeutsche Sprachperiode kennzeichnende jahrhundertlange Ringen und Experimentieren um die Übernahme lateinischer Begrifflichkeit aufzeigen, was immerhin schon teil-weise zu einer Vereinheitlichung des Wortschatzes führt.

Man darf das Althochdeutsche nicht nur in seiner dialektalen Vielfalt, überlieferungsgeschichtlichen Zersplitterung und frag-mentarischen Erhaltung sehen, sondern muß es auch nach seinen vereinheitlichenden Kräften würdigen, ohne welche das nachfol-

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206 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

gende Mittelhochdeutsche mit seinen großen sprachkünstleri-schen Leistungen nicht hätte verwirklicht werden können.

4.4. Der Aufbau einer christlichen deutschen Sprache

Seit Rudolf von Raumers bahnbrechendem Buch ,Die Einwirkung des Christenthums auf die Althochdeutsche Sprache' von 1845, geschrieben zu einer Zeit, als man noch mehr die archaischen Spu-ren des auslaufenden Germanentums im Althochdeutschen auf-spürte als nach der neuen Durchdringung mit den Begriffen christ-lichen Glaubens suchte, gilt die älteste schriftlich bezeugte Sprachstufe des Deutschen auch als Beginn einer neuen sprachge-wordenen Christlichkeit. Tatsächlich geht ja dem Einsetzen einer althochdeutschen Schriftlichkeit im 8. und 9. Jahrhundert die Mis-sionierung und Bekehrung der südgermanischen Stammesver-bände und der Aufbau einer Kirchenkultur nur um einen Zeit-raum - j e nach Stamm und Region - von ein bis drei Jahrhunderten voraus. Andererseits bleibt die Entstehung einer Buchkultur bei al-len Germanen aufs engste mit der Aneignung der christlichen Kul-tur verbunden - so auch bei den althochdeutschen Sprachträgern der verschiedenen Stämme, wo seit dem 8. Jahrhundert die karo-lingische Klosterkultur aus verschiedenen Missionierungsimpul-sen heraus und zum Teil im Anschluß an das Wirken von Glau-bensboten schon - wie in St. Gallen - des 7. Jahrhunderts entstand.

Vier zeitlich ineinandergreifende Grundströme oder Verein-heitlichungsbewegungen lassen sich beim Aufbau des neuen reli-giösen Wortschatzes unterscheiden:

(1) Erster Grundstrom. Die Verdeutschung der neuen christli-chen Glaubensbezeichnung und der Aufbau einer volkssprachli-chen Katechetik.

Der Name Christen und die Bezeichnungen Christenheit, Christentum gehen auf den Beinamen des Jesus von Nazareth, griech. χριστός ,der Gesalbte, der Messias, Christus', lat. Chri-stus zurück und setzte sich über griech. χριστιανός, lat. christia-nus sowie griech. χριστιανισμός, lat. christianismus bzw. über-wiegend christianitas als unverwechselbare Kennzeichnung der neuen Glaubensgemeinschaft seit dem 2. Jh. im Mittelmeerraum rasch durch. Im Althochdeutschen erscheinen die Grundwörter (vgl. Weiteres bei Jochen Splett, Ahd. Wb. 1,1, 487):

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4.4. Der Aufbau einer christlichen deutschen Sprache 207

Christ, Krist, mit r-Metathese auch Kirst (rheinfränk.) .Christus, Gesalbter, Christ'

christäni, kristäni, -e .christlich, gläubig; Christ' kristin .christlich, kirchlich' christänheit, kristänheit f. .Christenheit, Kirche, Christentum' christänheite n. .Christenheit, Kirche'

Eine umdeutende Vervolkssprachlichung ergab sich bei der Über-nahme von griech. αντίχριστος, lat. antichristus ,der zur Endzeit auftretende Gegner des Messias' bzw. ,Irrlehrer, falscher Pro-phet', ahd. Antikrist, -o neben Endikrist (mit Anlehnung an ahd. enti, endi n. ,Ende').

Für die Nichtchristen bzw. Nichtjuden, griech. im NT PI. τά εθνη, eig. ,die Völker', lat. gentiles .Heiden' (dazu das Adj. gen-tilis) oder pagani (dazu das Adj. paganus) entstand in den germa-nischen Sprachen eine einheitliche Gesamtbezeichnung, dt. Heide (Pl. -en), engl, heathen usw., welche nach neueren etymologi-schen Einsichten auf einem gotischen Lehnwort des 4. Jhs., belegt als bibelgot. haipnö f. ,Heidin' (mit Graphem <ai> für einen ¿-Laut) für griech. Έλληνίς ,Hellenin, Griechin', beruhen, unter Anlehnung an got. haipi f. ,Feld' (ahd. heida f. ,Heide'), im Ahd. als heidan m. .Heide, Ungläubiger', Adj. heidan ,heidnisch' (und weitere Bildungen, ζ. B. heidanisc .heidnisch', heidantuom n. ,Heidentum') bezeugt.

Der Aufbau einer christlichen Katechetik ist vor allem im Ge-folge der karolingischen Admonitio generalis von 789 und weite-rer Reichsgesetze und Weisungen aus der Zeit vor und nach 800 zu sehen, welche zur polygenetischen Entstehung entsprechender Denkmäler wie der althochdeutschen Vaterunser, Glaubensbe-kenntnisse, Beichten vom 8. bis 11. Jahrhundert an ganz verschie-denen Orten, des Weißenburger Katechismus um 810 bis 820, des fränkischen wie auch eines altsächsischen Taufgelöbnisses um 800, der Freisinger Ermahnungsschrift , Exhortado ad plebem christianam' nach 800 und verschiedener prosaischer wie gereim-ter Gebete vom 9. bis 11. Jahrhundert geführt haben. Über das Glaubensbekenntnis, die regula fidei, heißt es in der ,Exhortatio ad plebem christianam', der Heilige Geist habe diese Worte den Lehrern der Kirche, den heiligen Aposteln, in solcher Kürze auf-gesetzt oder vorgeschrieben, damit, was von allen Christen zu glauben und gleichzeitig als Bekenntnis zu sprechen sei, alle ver-stehen wie auch im Gedächtnis halten könnten (Text in: Die klei-

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208 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

neren althochdeutschen Sprachdenkmäler, hrsg. v. Elias von Steinmeyer, Berlin 1916, S. 49f.; mahtin nach Fassung Α, Β hat mathin; die Infinitive nach za sind in A durch die Gerundium-For-men za galauppenne, za pigehanne wiedergegeben):

lat.: sanctus etenim spiritus magistris ecclesiae sanctis apostolis ista dictauit uerba tali breuitate, ut, quod omnibus credendum est christianis semperque pro-fitendum, omnes possent intellegere et memoriter retiñere.

ahd. (Fassung B): uuiho atum gauuisso dem meistrun thera christan-heiti dem uuihom potom sinem theisu uuort tihtota suslihera churtnassi, za diu, daz allem christanem za galaupian ist ia auh simplun za pigehan, thaz mahtin alle farstantan ia in gahuhti gahapen.

Daran schließen sich weitere Ermahnungen zur Erlernung und auswendigen Beherrschung von Credo (ahd. galaupa f. g l a u -ben') und Oratio dominica (daz/thaz fröno gapet ,das Gebet des Herrn') wie zu deren Unterweisung an (vgl. die Textbeispiele dar-aus in Abschnitt 2.7.2., S. 91 ff. und 2.7.3., S. 95 ff.).

(2) Zweiter Grundstrom: Das textliche Bibelverständnis über die volkssprachliche Übersetzung von Teilen der Bibel, welche mindestens ansatzweise auch zur volkssprachlichen Aneignung der Bibel beigetragen hat. Grundsätzlich gliedert sich die althoch-deutsche Bibelüberlieferung in die folgenden sechs zum Teil in-einandergreifenden Bereiche:

(1) Bibelglossen und Bibelglossare

(2) Bibelzitate in geistlichen Tex-ten (z. B. Isidor-Übersetzung um 800, Benedikti-nerregel um 810/20, Glossie-rung von Notkers Psalter Mitte 11. Jh., spätahd. Predigten)

(3) Katechetische und liturgische Texte aus der Bibel (Paterno-ster, Cantica)

(4) Fragmente von Bibelteilüber-setzungen (z. B. Mondseer Fragm. des Matth.-Ev.; viele Psalmen)

(5) größere Bibel-teile in ahd. Spra-che (Evangelien-harmonie des Tatian um 840, Fulda; Notkers komm. Psalter nach 1000, St. Gallen; Willi-rams Hohelied-Paraphrase um 1060, Ebersberg)

(6) Bibeldichtung mit dichterischen Teilen einer Bi-belübersetzung (Otfrids Evange-lienbuch, 3. Viertel 9. Jh.; Christus und die Samariterin, Ende 9. Jh.; Psalm 138, bair., Anfang 10. Jh.)

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4.4. Der Aufbau einer christlichen deutschen Sprache 209

Bei solch relativ erstaunlicher Fülle schon innerhalb der althoch-deutschen Bibelüberlieferung - immerhin große Teile der vier Evangelien in der Harmonie nach der lateinischen Fassung des frühchristlichen Syrers Tatian, in Fulda für St. Gallen als latei-nisch-volkssprachliche Bibelbilingue um 840 gefertigt (vgl. Hs. Foto 14, 15, S. 127, 130), sowie der gesamte Psalter mit den Can-tica und katechetischen Stücken durch Notker von St. Gallen nach 1000 kommentierend übertragen (vgl. Hs. Foto 19, S. 211) und von da aus weiterwirkend, das Hohelied nach der Mitte des 11. Jahrhunderts mit Erläuterungen in rhythmische Prosa vom fränkischen Abt Williram im bairischen Ebersberg übertragen - , zu der sich neben köstlichen Einzelzitaten und Fragmenten auch eine bedeutende Bibeldichtung gesellt, regt sich der Wunsch nach entsprechenden Textvergleichen. So kann man etwa die Schluß-worte aus dem Matthäus-Evangelium 28,20 durch die gesamte alt-hochdeutsche Sprachperiode verfolgen, wie wir oben (Kap. 2.7.5) gezeigt haben (S. 99-101).

Weitere Vergleichsmöglichkeiten ergeben die verschiedenen Psalterteile oder Psalmenzitate, soweit sie mehr als einmal über-liefert sind. Als erste Beispiel sei ein Vergleich von Psalm 129,1-6 der Altalemannischen Psalmen (Interlinearversion, 2. Viertel 9. Jh.) mit Notkers Psalter (freie, kommentierende Übersetzung) vermittelt (Texte nach den Editionen von Ursula Daab, Drei Rei-chenauer Denkmäler der altalemannischen Frühzeit, Tübingen 1963, S. 90-91 bzw. Petrus W. Tax, Notkers Psalter, Ps. 101-150, Tübingen 1983, S.496):

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210 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Psalm 129,1-6

1. De profundis clamavi ad te domine.

2. Domine exaudí vocem meam. Fiant aures tuae intendentes in vo-cem deprecationis meae.

3. Si iniquitates observa-veris domine, domine quis sustinebit?

4. Quia/Quoniam apud te propitiatio est: et propter legem tuam sustinui te domine. Sustinuit anima mea in verbo ejus.

5. Speravit anima mea in domine.

6. A custodia/vigilia ma-tutina usque in noctem.

Altalem. Psalmen

fona tiuffem hereta ce dih truhtin. truhtin kehori stimma mina, sin orun diniu anauuartontiu in stimma des kebetes mines, ubi unreht haltis truhtin. truhtin uuer kestat imo? danta mit tih kenada ist. duruh uuizzud tinan fardolata dih truhtin. fardolata sela miniu in uuorte sinemo. uuanta sela miniu in truhtine. kihaltidu morgenlihera uncin ce naht.

Notker III. von St. Gallen (ohne Kommentar)

Vzzer dero tiêfi déro sun-don ruôfta ih ze dir truh-ten... truhten gehöre mina stimma. Ze minero digî. lóseen dîniu ôren. Vuile du manlîchemo sîn únreht kehalten truhten? truhten uuer mag iz danne liden?

Ze dir ruôfta ih. uuanda an dir suôna is t . . . Vmbe dina êa bêit ih dîn trúhten... Ze dînen geheîzzen fersah ich mih. Fone dero ûohtûn unz ze náht. kedingta ih an mînen trúhtenen.

Nhd. Ubersetzung

Altalem. Psalmen

1. Aus den Tiefen schrie ich zu dir, Herr.

2. Hen, erhöre meine Stimme. Es seien deine Ohren aufmerkend auf die Stimme meines Gebetes.

3. Wenn du das Unrecht (im Auge) behältst, Herr, Herr wer besteht vor ihm?

4. Denn mit dir ist Gnade, um deines Gesetzes willen wartete ich auf dich, Herr. Meine Seele harrte auf sein Wort.

5. Es hoffte meine Seele auf den Herrn,

6. von der morgenlichen Wache bis in die Nacht.

Notker

Aus der Tiefe der Sünden rief ich zu dir, Herr. Herr, erhöre meine Stimme. Auf mein Flehen mögen deine Ohren lauschen.

Willst du bei jedem sein Unrecht beachten, Herr? Herr, wer kann es dann erdulden? Zu dir rief ich, weil an dir Versöhnung ist. Um deines Gesetzes willen harrte ich dein, Herr. Auf deine Verheißungen verließ ich mich. Vom Tagesanbruch an bis zur Nacht hoffte ich auf meinen Herrn.

(Zur Bedeutung von ahd.fardolën, lat. sustinere, vgl. Ahd. Wb. II, 595).

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4.4. Der Aufbau einer christlichen deutschen Sprache 211

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aia tngagrne Λ íiiperbia infirmnaf· Γι ycmñuicñ-Umdt b d b a a ^ " " o ' d o «T i h í t u c c ban

g n a inííiftamrf-diruno zuo rbadrn-A v F r f - t" iv^p F«l· ai ougxa r r fib Kegurrendar ouvra r r flb fbrtr tfparam ad uhtlin rr frrrrH^mne , « roHoandof malof-i r <in ftrmaiin orbe « r i r «¡ih 1 f ·.> n u w r t m ' f y moíidogrfrf l r i 101a rr(fcim crrCím-dm furder^ ze rtrrr ftar-undr in iu igr r nriiuirt>Ci ffcir finder tnffír-Pon run& magri! uumlni- ronuul íd n r u u i r r íí-JIurira fhirfü^f

ín fW*f}tn atniv Jifv »Λ" f r tutu"· Damian baia u t cam din itz-lnfcra faxe mundi

Hs. Foto 19: St. Gallen, Stiftsbibl. Cod. 21, Notkers Psalter mit der zusätzlichen Glossierung, pag. 345, 2. Viertel 12. Jh. aus dem Kloster Einsiedeln. Schluß von Ps. 91 sowie Einleitung und Anfang von Ps. 92 (in der Mitte) mit Initiale Dominus regnavit. Truhten cham hara in uuerlt unde riche sota hier (,Der Herr kam hieher auf die Welt und herrschte hier'). Zwischen den Zeilen die zusätz-liche ahd. Glossierung lat. Textteile und Bibelzitate durch Ekkehart IV., z. B. Zeile 7 von unten Ave rex ivdeorum heil herro du iudon chuninc, oder Zeile 1 von unten fn sexta çtate mundi an demo sehstin altire dero uuerlte. Notkers Akzentuierung ist nur noch teilweise verwirklicht, in unserem Legendentext aber weggelassen.

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212 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Der Vergleich zeigt neben Gemeinsamkeiten im Aufbau eines christlichen Wortschatzes auch große lexikalische Unterschiede, vor allem aber eine je verschiedene übersetzungsstilistische Hal-tung: bei den altalemannischen Psalmen die interlineare, nahezu kongruente Wort-fiir-Wort-Nachbildung des lateinischen Grund-textes in die von ihm völlig abhängige althochdeutsche Zielspra-che, bei Notker die freiere Gestaltung im Sinne einer neuen Profi-lierung auf den Gesamtsinn hin, wodurch der Übersetzungstext ei-nen gewissen Eigenwert erreicht.

Als zweites Beispiel sei Psalm 44,7-8 im Vergleich der Isidor-übersetzung (um 800, Text nach der Edition von Hans Eggers, Der ahd. Isidor, Tübingen 1964, S. 17) mit Notkers Psalter (nach 1000, Text nach der Ausgabe von Petrus W. Tax, Notkers Psalter, Ps. 1-50, Tübingen 1979, S. 155) vermittelt:

lateinisch: Sedes tua, deus, in saeculum saeculi, virga aequitatis virga regni tui. Dilexisti iustitiam et odisti iniquitatem. Propterea unxit te deus, deus tuus, oleo laetitiae prae consortibus tuis.

Isidor-Übersetzer, eingefügtes Zitat: Dhiin sedal, got, ist fona euuin in euuin, rehtnissa garda ist garde dhines riihhes. Dhu minnodos reht endi hazssedos unreht; bidhiu auur chisalboda dhih got, dhiin got, mit freuuuidha olee fora dhinem chihlozssom.

Notker von St. Gallen, Psalter, ohne den Kommentarzusatz: Din stuôl Got. unde din rîche uuéret iêmer... Kerta gerihtennis. ist dines riches kerta... Du mínnotost reht. unde házzetost unreht... Fone diû sálbota dih Got. dîn Got... Mit démo oleo dero firéuui sálbota er dih ... Fore dînen geteîlon. ,Dein Thron, Gott, (und dein Reich) ist / währt von Ewigkeit zu Ewigkeit / immer. Das Zepter der Gerechtigkeit ist das Zepter deines Reiches. Du liebtest das Recht und hasstest das Unrecht. Deshalb (aber) salbte dich Gott, dein Gott, mit dem Öl der Freude vor deinen Genossen.'

Bei all diesen Gemeinsamkeiten muß freilich auch betont werden, daß sich der biblische wie überhaupt religiöse Wortschatz des Alt-

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4.4. Der Aufbau einer christlichen deutschen Sprache 213

hochdeutschen aus verschiedenen Wurzeln genährt hat, wobei sich erst nach und nach, indessen zunehmend, eine Vereinheitli-chung ergab. So konnten sich frühe gotische Einflüsse im Ober-deutschen nur teilweise behaupten, etwa althochdeutsch toufen, toufî f.,taufen, Taufe', entsprechend gotisch daupjan, daupeins f . ,taufen, eig. untertauchen; Taufe'; nur frühahd. der wïho ätum ζ. B. Murbacher Hymnen und Weißenburger Katechismus ent-sprechend gotisch ahma weihs, sa weiha ahma gegen angelsäch-sisch-fränkisches und später allgemein althochdeutsches heilag geist u. ä. ,heiliger Geist', entsprechend altenglisch se hälga gäst ,the holy Ghost'. Auch althochdeutsch heilant, heilanto Christ ,Heiland' hat sich neben anderen Bildungen wie dher nerrendeo druhtin (Isidor-Übersetzung), in Christ gotes sun nerrienton (Akk., fränkisches Taufgelöbnis) - vergleiche gotisch sa nas-jands, -a, altsächsisch neriand, neriendo Crist neben hêliand, hê-leand - erst allmählich neben vereinzeltem heilari durchgesetzt, wobei bis zu Notker aber noch haltare, haltendo, der haltente Christ (auch schon frühahd. dher haldendeo druhtin Isidor-Über-setzung) steht. Mehrfach erfolgte auch die Eindeutschung von Evangelium, als deren Haupttypen neben dem Lehnwort êuangé-lio m. bei Otfrid von Weißenburg (vgl. gotisch aiwaggeljo f., ai-waggeli n. aus griechisch εύαγγέλιον) frühalthochdeutsch cuat-chundida (St. Galler Benediktinerregel) ,Gutbotschaft', früh-christlich als bona adnuntiatio erklärt, cot/koad aruntporo u. ä. (lat.-ahd. Abrogane) ,Gut-Verkündiger, Gutbotschaftsträger' so-wie das angelsächsisch beeinflußte gotspel (Mondseer Fragmente, Tatian), Umdeutung aus altenglisch godspell, gekürzt aus göd-spell ,evangelium, id est bonum nuntium', unter Anlehnung an althochdeutsch got ,Gott', erscheinen, neben verschiedenen spät-althochdeutschen Bildungen beim Glossator von Notkers Psalter (kuôtârende ,Gutbotschaft', pétinbrot ,erbetenes [geistliches] Brot', prédiga ,Verkündigung'), während Notker selbst sich aus-schließlich an das Lateinische hält (euangelium, diuina lex, diuina pagina).

Insbesondere am Beispiel der germanisch-deutschen Vervolks-sprachlichung des griechisch-lateinischen εύαγγέλιον - evange-lium läßt sich der südeuropäisch-west- bzw. nordwesteuropäische Weg christlichen Wortgutes über verschiedene Sprachen schritt-weise nach Maßgabe der Christianisierung verfolgen, wobei sich

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im Frühmittelalter auf lange hin erbwörtliche Nachbildungen ne-ben Lehnwörtern die Waage halten, wie dies Abb. 8, Die Eindeut-schung des Wortes Evangelium (S. 215) zeigen mag.

Während das Wort Bibel erst mittelhochdeutsch als biblie, bi-bel f. (aus kirchenlat. biblia, ursprünglich griech. n. PI. τά βιβλία zu Sg. t ò βιβλίον) in die Volkssprache übernommen worden ist, erscheint im Althochdeutschen der Ausdruck heilige Schrift als Übersetzung des lat. sacra oder sancta scriptura wie folgt:

Isidorübersetzung (um 800) daz heilega giscrib Tatianiibersetzung (gegen 850) thaz giscrib, PI. thiu gescrip Notker (Psalter, nach 1000) diu heilige scrift, goteliche scrifte

(für divinae scripturae)

Daneben bedeutet ahd. èwa, êa, è f. ,Gesetz (Gottes)', vor allem verbunden mit den Adjektiven alt und neu auch Altes bzw. Neues Testament (vgl. Ahd. Wb. III, 449-451): thiu alta ëuua, alta ëa, thiu niuua ëuua, niuua ëa u. ä.

(3) Die dritte Verchristlichungsbewegung des althochdeut-schen Wortschatzes beruht auf der kirchenorganisatorischen Festi-gung, in deren Gefolge kirchliche Institutionen, Gebäude, Ämter, Feste und kultische Handlungen im wesentlichen vom Griechisch-Lateinischen oder Lateinisch-Romanischen her volkssprachlich zumeist mit neuen Lehnwörtern ausgedrückt wurden, wobei auch altes heimisches Wortmaterial mit neuem Sinngehalt erfüllt wer-den konnte. Angesichts der reichen Wortforschung in diesem Be-reich können wir uns auf einige exemplarische Beispiele be-schränken. (Grundlegend mit der entsprechenden Fachliteratur Theodor Frings, Germania Romana I, 2. Aufl., bes. v. Gertraud Müller, Halle/Saale 1966. Gertraud Müller und Theodor Frings, Germania Romana II. Dreißig Jahre Forschung romanischer Wör-ter, Halle/Saale 1968):

Institutionelles: Krist< lat. Christus; christanheit, k- f., christanheite n. < lat. christianitas; christäni, k-, kristïn < lat. christianus, vgl. oben unter (1); kirihha ,Kirche' u. ä. f. < griech.-lat. kyri(a)ké ,Haus des Herrn'; pharra .Diözese, Pfarrsprengel', gekürzt < griech.-lat. par(r)ochia.

Gebäude: kirihha .Kirche' u.ä. f.; tuom m.n. ,Dom' < lat. domus epi-scopalis .Bischofskirche'; munistiri n. .klösterliche Niederlas-sung, Klosteranlage' < lat. monasterium; porzih, phorzih m. .Vor-halle (der Kirche)' < lat. porticus, älter nhd. und noch mundartlich Vorzeichen; glocca, ciocca ,Glocke' < keltisch *cloc, irisch clocc.

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Ämter: priest, priester m.,Priester' < griech.-lat. presbyter; biscof m. ,Bischof, Priester' < griech.-lat. episcopus; probost m., probosta f. ,Propst, Vorsteher, -in' < lat. prae-, propositus; spätahd. pharräri m. .Pfarrer' < lat. parrochianus; pfaffo ,Geistlicher, Pfaffe' über gotisch papa < griech. papäs .Kleriker'; bäbes ,Papst' < spätlat. päpes < griech.pappäs .ehrwürdiger Vater'; sigiristo m. .Kirchen-diener, Sigrist' < lat. sacrista; ahd. alem. chlirich ,Geistlicher, Kle-riker' < lat. clêricus über altirisch clérech, neben spätbair. klerich offenbar direkt aus dem Lateinischen.

Feste, Daten: öst(a)run f. pl. ,Ostern', Weiterbildung von östan .Osten', Verdeutschung von albae paschalis bzw. pascua .österli-ches Morgenlicht, Osterfeier', vgl. altenglisch ëastron Dat. PI. ,Easter';/o/jafimfchustim Dat. PI. ,νοη Pfingsten' (St. Galler Bene-diktinerregel) < griech.-lat. pentecoste (vgl. altenglisch fïftigdœg ,50. Tag [nach Ostern]'; sambaztag m. .Samstag' < griech.-lat. sambatum, sabbatum; fir(r)a f. .Feiertag' < lat.feriae .Feiertage', feria ,Festtag').

kultische Handlungen: ojfrön, opharön u. ä.,opfern' < lat. ojferre und operari, dazu offerung, ophar u.a. ,Opfer, sacrificium'; bigiht,pi-jiht, piiht u. ä. f. .Beichte' (zu bijehan .bekennen'), bei Notker ge-iiht f. für lat. confessio; missa f.,Messe, Gottesdienst' < lat. missa, Teil der liturgischen Worte ite, missa est,gehet, es ist Entlassung' ( = dimissio) am Schluß der Messe, vor dem Offertorium; alamuo-san n., auch elemosyna u. ä. f. .Almosen, Barmherzigkeit und de-ren Werke' < griech.-lat. eleemosyna (ελεημοσύνη).

(4) Die vierte Verchristlichungsbewegung der althochdeutschen Lexik geht auf die theologische Erörterung zurück, wie sie neben der auf praktische Bedürfnisse ausgerichteten Katechetik seit der im lothringischen Raum um 800 entstandenen Isidor-Übersetzung, nämlich des Traktates ,De fide catholica ex veteri et novo testa-mento contra Iudaeos' des spanischen Bischofs Isidor von Sevilla, immer wieder in Erscheinung tritt, so etwa in den moralischen und spirituellen Erörterungen von Otfrids Evangeliendichtung - je-weils als moraliter oder spiritaliter überschrieben - oder im Werk Notkers des Deutschen. In solchen theologischen Erörterungen werden beispielsweise folgende Begriffe volkssprachlich wieder-gegeben (vgl. die Spezialwörterbücher zum Althochdeutschen, insbesondere: Hans Eggers, Vollständiges lateinisch-althochdeut-sches Wörterbuch zur althochdeutschen Isidor-Übersetzung, Ber-lin 1960; Edward H. Sehrt, Notker-Glossar. Ein Althochdeutsch-Lateinisch-Neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deut-schen Schriften, Tübingen 1962; sodann Emil Luginbühl, Studien

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zu Notkers Übersetzungskunst. Mit einem Anhang: Die Altdeut-sche Kirchensprache, Berlin 1970):

divinitas: Isidor: gotnissa f., gotliihhîn f. (substantiviert für divinus) Benediktinerregel: cotchundii, - f f . ,Gottesartigkeit' Otfrid: gotnissi n. Notker: gót(e)heit f., neben gót,göttliches Wesen' Glossator von Notkers Psalter: gotaheit f.

mysterium: Isidor: chirüni n. .Geheimnis' Murbacher Hymnen: karüni n. Otfrid (nach Kommentar Hrabans zu Io 20): dátfilu díafa ,eine sehr tiefgründige Begebenheit (wörtlich Tat)' Notker: bezéìcheneda .bedeutungsvolles Geheimnis', tóugen (ding) .verborgene (Sache)', tóugeni f. .Verborgenheit' Glossator zu Notkers Psalter: bizeihhenida f., tougeni f.

Bei solchen Vergleichen ist es freilich oft sinnvoll, zuerst die ver-schiedenen Bedeutungen der lateinischen Ausgangsbegriffe zu analysieren, um von da aus die nicht selten reiche Fülle volks-sprachlicher Entsprechungen zu beurteilen, wie dies etwa bei den Übersetzungen von sacramentum gezeigt werden kann (Auswahl nach Gilbert de Smet, Die Wortwahl der althochdeutschen Denk-mäler für lat. sacramentum [1972], in: Ders., Kleine deutsche Schriften, ausgew. und hg. v. L. de Grauwe, Gent 1991, S. 92-97):

- als Eid: e id, gisuuoranan eid (Akk.) m. - im Sinn von mysterium: heilac chirüni n. (Isidor), gatougani f.,

touganï f., pîzeichannussida u. ä. f. - Gnadenmittel im einzelnen, heilige Handlungen: héilig-méi-

neda f. (Notker) eig. ,etwas Heiliges Bezeichnendes wie Be-wirkendes', heiligtuom n. (Glossator zu Notker), uuteda (das heißt wîhida) f. bzw. opheruuîeda f. (ebenda), gotes uuîhida (Bamberger Glauben und Beichte).

- Meßopfer, Eucharistie: uuizzôd η. (Abrogane, Notker, sonst vor allem .Gesetz, Gebot, auch [Neues, Altes] Testament'), wizzot (Summarium Heinrici), auch daz uuiha/heilega uuizzod u. ä. (verschiedene Beichten), daz hêra heiligtuom (Bamberger Glauben und Beichte).

Von besonderer Bedeutung für die althochdeutschen Glaubensbe-griffe ist der Rückgriff auf den altgermanischen Rechtswortschatz (vgl. dazu Kap. 6.2.4), da hier ein Bereich deflatorisch gefestig-ter, d. h. auch unverbrüchliche Sicherheit vermittelnder Wörter vorlag. Neben den schon oben erwähnten ahd. ëwa, ëa f. ,Gesetz,

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Gebot, Testament' und wizzöd η. ,Gesetz, teilw. Testament' sind als Beispiele u. a. zu nennen: ahd. triuwa f. .Vertragstreue, Verläß-lichkeit', religiös ,Treue gegenüber Gott, Glaube' (vgl. bei Notker neben gelouba f.: Daz ist réhtiû triúuua. daz uuir geloûben für lat. Est ergo fides recta ut credamus im Athanasianischen Glaubens-bekenntnis); ahd. Wörter der Familie thing, ding n. Volksver-sammlung, Gerichtsstätte, Rechtssache' usw., religiös Weltge-richt, jüngstes Gericht, Verheißung Gottes' (vgl. Ahd. Wb. II, 464ff.), ferner z. B. githingi n. gerichtliche Beratung, Abkom-men, Rechtsanteil', religiös spätahd. gidinge, gedinge ,christliche auf Gott gegründete Hoffnung'; ahd. huldi f. .Wohlwollen, Huld, Treue, Huldigung', religiös ,Gnade, Gnadenerweis, Gnadengabe' (vgl. Ahd. Wb.IV, 1342-44); ahd. truhtïn, -in m. ,Gefolgsherr', religiös ,Herr, v. a. für Christus'; ahd. suntea, sunta f.,Sünde', al-tes germ. Rechts wort .Schuld an einer Tat, erwiesene Verursa-chung', dann mehr und mehr für lat. peccatum, culpa u. ä. verwen-det (dazu die Ableitungen wie suntïg ,sündig, Sünder' u. ä.).

Eine teilweise Zusammenfassung des kirchlichen Wortschat-zes findet sich erst spätalthochdeutsch im gewaltigen lateinisch-volkssprachlichen Glossenwerk ,Summarium Heinrici', vermut-lich um 1020 in Lorsch oder Würzburg im Auftrag des Bischofs Heinrich I. (um 995/96-1018 im Amt) entstanden. Hier finden sich in der zweiten Fassung von Buch I die folgenden Kapitel mit teilweise auch althochdeutschen Termini (Handschrift des 12. Jhs., Text in: Summarium Heinrici. Textkritische Ausgabe der zweiten Fassung Buch I-VI sowie des Buches IX in Kurz- und Langfas-sung, hrsg. v. Reiner Hildebrandt, Berlin/New York 1982, Bd. 2, S. 8-13):

De Clericis et aliis Ordinibus ecclesiasticis. Hier z. B.: Papa vel apostolicus babist. Archiepiscopus ercibiscof vel metropolitanus. Praesul piscofye. 1 pontifex vel antistes vel epi-scopus... Monachus munich vel cuculilo vel cucullaris [.Kapuzen-mönch'] ... Sanctimonialis [.Ordensfrau'] nunna. Inclusus klosi-nare. Heremita vel solitarius vel anachorita einsidilo.

De sacris ¿Edificiis. Hier z. B.: Matricula est episcopalis ecclesia vel ecclesia vel basi-lica kilcha. Templum goteshus. Oratorium betehus... Martyrium grecum est et est parva ecclesia vel capella kapella... Coras kor... Altare altere vel ara... Cripta krufta... Lucerna liehtfaz... Cande-labrum kerzistal.

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De sacratis Vestibus. Hier z.B.: Poderis [,langes Priesterkleid'] alba [,Albe l] est vestís linea sacerdotalis... Velum [,Schulterumhang']/Cortina [,Decke'] umbehanc... Dorsale [.Rückenumhang'] ruggelachen [,Rückenla-ken'].

De DEI Nominibus et sacris Ordinibus. Hier z. B.: Christus grece, messias krist hebraice, unctus latine. Je-sus hebraice, soter grece, salvator heilant latine... Angeli engila. Archangeli furstinengila [.Fürsten-, das heißt vorderste Engel']... Baptista döfere. Propheta wisago vel vates vel videns. Apostoli bo-tun. Euangeliste. Discipuli jungerun. Martyres martilerelmarte-rere.

Alles in allem kann der Aufbau einer christlichen deutschen Spra-che aus dem Zusammenwirken ganz verschiedener Bekehrungs-bewegungen, geistlicher Unterweisungsvorgänge, Bibelstudien und Auseinandersetzungen mit theologischer Literatur verstanden werden, so daß sich ein vielfaltiges Bild des so neubegründeten Wortschatzes ergibt. Die althochdeutsche Kirchensprache ist das große Ereignis einer Neukonstituierung des geistlich-religiösen Wortschatzes in der Frühgeschichte des Deutschen aus verschie-denen Wurzeln heraus. Damit wurde ein kirchensprachliches In-strumentarium geschaffen, welches auch für die mittelhochdeut-sche Sprachperiode bei aller zusätzlichen Differenzierung beson-ders in der späteren volkssprachlichen Scholastik und Mystik tragfähig blieb. Viele bibelsprachliche Grundbegriffe wie Gott, Himmel, Glaube, taufen, Kirche waren schon im Althochdeut-schen fest oder wenigstens übergreifend (ahd. got m., himil m., gi-louba f. neben giloubo m., toufen, kirihha f.), während andere mindestens als wichtige Varianten nachzuweisen sind (ahd. hë-riro, hërro m. ,Herr' neben truhtïn, truhten; ahd. heilant m. Hei -land' neben haltandeo, haltento, haltare und nerrendeo truhtin bzw. heilant; opphar, obphar, opfer η. ,Opfer ' neben zebar n., gel-star η., bluostar η., antheizida f. und offerunc m.). In der Regel läßt sich die Vereinheitlichung über die Evangelienübersetzung nach Tatian (gegen 850), die dichterische Evangelienharmonie Ot-frids von Weißenburg (863-871) und Notkers des Deutschen Psal-ter (mit Cantica und katechetischen Stücken, nach 1000) ablesen.

Grundlegend bleibt dabei die Einsicht, dass durch die Christia-nisierung Europas ein neues kulturell-religiöses Beziehungsnetz unter den europäischen Sprachen entstand und daß es kaum aus-geprägte Sonderformen einer beispielweise typisch germanisch-

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220 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Abb. 9: Einflußbereiche für den Aufbau des christlichen Wortschatzes im Alt-hochdeutschen und Altsächsischen

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4.5. Anfange einer deutschen Bildungssprache 221

althochdeutschen Christlichkeit oder gar einer Germanisierung des Christentums auf dem Kontinent gegeben hat. Vielmehr ordnet sich das europäische Abendland das Frühmittelalters etappen-weise in die neue vom Griechisch-Lateinischen, seiner Bildung und seinem Mönchtum ausgehende Frömmigkeit und Vergeisti-gung ein, die sich im übrigen regionalen Gegebenheiten anzupas-sen und solche teilweise unter Anpassung des altgermanischen Erbwortschatzes in sich aufzunehmen wußte. Dementsprechend sind auch die Wortschatzbewegungen nach den Einflußbereichen der christlichen Hauptsprachen und früh verchristlichten Volks-sprachen zu sehen, wie dies im Hinblick auf das Althochdeutsche (und auch des benachbarten Altsächsischen) in Abb. 9 (S. 220) auf-gezeichnet ist.

4.5. Anfänge einer deutschen Bildungssprache

Schon die älteste Sprachstufe des Deutschen, das Althochdeut-sche, hat Anteil am Aufbau einer Bildungssprache im Bereich der sieben freien Künste, also über die theologische Erörterung und Bibelverdeutschung hinaus. Die Bemühungen um eine volks-sprachliche Schulbuchliteratur sind dabei allein dem großen Ma-gister oder Klosterlehrer und Übersetzer Notker III. Labeo oder Teutonicus von St. Gallen (um 950-1022) und seiner Nachwir-kung zuzuschreiben. Wahrend die für das Althochdeutsche insge-samt konstitutiven Übersetzungen aus dem Lateinischen sich sonst fast ausschließlich auf Bibel, Katechetik, Theologie und Rechtsdenkmäler beschränkten, hat Notker den Kreis des Über-setzens tief in die Septem artes liberales hinein, vor allem des Tri-viums, erweitert. Hintergrund dafür sind, wie insbesondere aus Notkers Brief an Bischof Hugo von Sitten um 1015 hervorgeht:

- die Einsicht in die Notwendigkeit weltlich-antiker Bildung als Instrumentarium für das volle Verständnis der libri ecclesia-stici, das heißt von Bibel und Theologie, was in der Schule vor-rangig zu unterrichten sei, wie wir schon oben - am Schluß von Abschnitt 4.1.1 (S. 168) - betont haben;

- die Erfahrung, daß über das Medium der Muttersprache (per patriam linguam) Bildungsinhalte viel besser erfaßt werden können als in einer fremden Sprache (in lingua non propria);

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222 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

- der daraus resultierende Impetus, aus Liebe zu seinen Schü-lern - wie deren hervorragendster, Ekkehart IV., es formuliert hat (propter caritatem discipulorum) - schwierige lateinische Texte zu übersetzen;

- die Anwendung eines differenzierenden Übersetzungsverfah-rens, an die sich eine Erklärung für das syllogistisch, bildlich oder rhetorisch Ausgedrückte unter Beizug von Fachschrift-stellern anschließt (latine scripta in nostram [linguam] vertere et syllogistice aut figurate aut suasorie dicta per Aristotelem vel Ciceronem vel alium artigraphum elucidare), wobei die um eigene Zusätze bereicherte kommentierende Erläuterung oft im Sinne einer interpretatio Christiana verändert erscheint.

Dies alles geschieht auf dem Hintergrund breiter benediktinischer Bildung des Frühmittelalters, in deren Mittelpunkt neben der alles überwölbenden Theologie die Orientierung an Augustinus und Boethius (sowie über diesen auch an Aristoteles nach der lateini-schen Fassung seiner Werke) sowie die erste Rezeption Ciceros in der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte stehen. Überdies werden durch Notker viele weitere Werke (u. a. Kirchenväter, Ge-schichtsschreiber, Kommentare besonders zu Boethius) herange-zogen oder sogar als Schullektüre nach dem gültigen Kanon über-setzt. Von diesen ist leider etwa ein Drittel verloren, jedoch durch Notkers Brief bezeugt. Die Haupthandschriften von Notkers Wer-ken befinden sich indessen bis heute in der Stiftsbibliothek zu St. Gallen.

Geradezu als symbolisches Schlüsselerlebnis für Notkers Zu-gang zur artes-Literatur darf der übersetzerische Nachvollzug des Eintritts der personifizierten Philosophie in den Kerker des zu Un-recht verhafteten und darüber klagenden Boethius im Werk des-selben Verfassers ,De consolatione Philosophiae' zu Beginn von Buch I betrachtet werden, da diese Schrift am Anfang von Notkers Übertragungen steht und etwa in das letzte Viertel des 10. Jahr-hunderts zu datieren ist. Hier wird unter Mitverwendung von Kommentaren, unter anderem des Remigius von Auxerre, das Kleid der stattlichen Frauengestalt Philosophie beschrieben als aus den artes liberales gewirkt, während sie selbst in ihrer rechten Hand Bücher trägt, welche die freien Künste enthalten. Daraus seien die folgenden Kernsätze zitiert (I, 3 De amictu eius ,Über ihre Bekleidung', Text nach Notker der Deutsche, Boethius, De

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4.5. Anfange einer deutschen Bildungssprache 223

consolatione Philosophiae Buch I—II, hrsg. von Petrus W. Tax, Tü-bingen 1986, 8 f.):

Vestes erant perfectç tenuissimis filis, subtili artificio, indissolubili ma-teria. íro uuât uuâs chléine. únde uuáhe. únde festes kezívges... íro uuât. táz sínt artes liberales, (nach Kommentar: vestes i. artes liberales). ,Ihr Kleid war fein und schön und aus festem Stoff. Ihr Kleid, das sind die freien Künste.' Quas ipsa texuerat manibus suis, uti post cognoui eadem prodente. Tía uuât sí íro sélbiu uuórhta! sô ih áfter dés fóne íro uernám. Uuánnán máhtin die artes chómen. âne uóne dei sapientia? , Dieses Kleid hatte sie für sich selbst verfertigt, wie ich später von ihr vernahm. Woher hätten die artes (im Sinn von Wissenschaften) kom-men können, wenn nicht aus der Weisheit Gottes?'

Et gestabat quidem dextra libellos. sinistra uero sceptrum. An dero zé-seuuûn trûog si bûoh. târ liberales artes ána uuâren. án dero uuinsterûn sceptrum! uuánda si chúningen ist. (nach Kommentar: libelli: ipsi sunt in quibus liberales artes continentur;... in sinistra tenetur [sceptrum], quia in sinistra illius divitiae et gloria). ,In der Rechten trug sie Bücher, worinnen sich die freien Künste be-fanden, in der Linken ein Szepter, weil sie eine Königin ist.'

Dabei muß betont werden, daß Notker die septem artes liberales in Anlehnung an Cassiodors Erklärung in den Institutiones 2,4 liber autem dictus est a libro sowie unterstützt durch die oben genannte Kommentierung des Remigius von Auxerre zu Boethius als die si-ben bûohliste ,die sieben Buchgelehrsamkeiten' versteht, wie sie in Büchern aufgeschrieben werden konnten, von denen Notker an an-derer Stelle übersetzend sagt uuâren súmelichiu (sc. bûoh) mit tínctun gescríbeniu,manche Bücher waren mit Tinte geschrieben'. Die Erinnerung des Boethius an den Aufenthalt in der Bibliothek reicht im übrigen in der ,Consolatio' bis in den Kerker hinein und findet auch in Notkers Übersetzung packenden Ausdruck (I, 12): Heccine est illa bibliotheca. Ist tánne diz nû diu bûohchâmera. Quam ipsa deleger as tibi certam sedem in no stris laribus? Târ du gémo inné sâze le mînemo hûs? ,Ist dies (das heißt der Kerker) denn nun jene Bücherkammer, wo du gerne Einsitz hieltest in mei-nem Haus' und - wie es in der Fortsetzung heißt - , ,mit mir zu-sammen sitzend, alle Gott und die Menschen betreffende wissen-schaftliche Einsicht erörtert hast?' (ahd. Únde sámentmír sizzendo. tráhtotóst állen dén uuîstûom. tér an gót kât! únde án die líute.).

Tatsächlich lassen sich auch Notkers Werke völlig in das Ge-rüst der sieben freien Künste von Trivium und Quadrivium einord-

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nen, überwölbt durch die späten theologischen Übertragungen, wie wir dies bereits in Kap. 3.4.61 gezeigt haben (S. 135-141).

Ohne hier auf den Aufbau der Bildungssprache im einzelnen eingehen zu können, seien wenigstens die Verdeutschungen der Fächer selbst oder ihrer Vertreter genannt, so weit solche vorlie-gen:

Grammatik: lat. grammatica, ahd. grámatih neben gramátih η., Geni-tiv gramatiches (so auch beim Glossator zum Psalter in gramma-tiche, in gramatiche)', lat. grammaticus, ahd. gramáticháre.

Rhetorik: lat. rhetorica, ahd. annähernd etwa méisterscáft des kechô-ses .Meisterschaft der Redeführung'; lat. rhetor, ahd. díngmán (forensisch, vor Gericht, aber auch für iudex), sprâhmân (consi-liarisch, in der Beratung), sodann rédenâre.

Dialektik bzw. Philosophie: lat. philosophia, dialéctica, ahd. annä-hernd méisterscáft chîesennes únde ráchonnis (für lat. iudicandi peritia, vel ut alii dicunt disputandi scientia) ,die wissenschaftli-che Fähigkeit des Beurteilens und Erörterns'; philosophus, ahd. der uuîso, die uuîsegérnen ,die Weisheitbegehrenden' (vgl. Glos-sator uuîsilinge Pl.), uuîstûomis flégare ,der Weisheit Pfleger, Hüter'.

Quadrivium: lat. doctrina quaternaria (nach griech.-lat. mathente-trada), ahd. Akk.Sg. dîafîerzinkun méisterscáft ,die vierzinkige, das heißt vierteilige Wissenschaft'.

Beim besonderen Interesse Notkers für die Fächer des Triviums ist es nicht verwunderlich, daß dem St. Galler Übersetzer und Schul-fachschriftsteller die erste Rhetorik (eine kleine althochdeutsche, eingestreut in die Consolatio-Übersetzung des Boethius, und eine größere lateinische mit volkssprachlichen Termini) zu verdanken ist, ferner die erste philosophische Leseanweisung in deutscher Sprache. Letztere findet sich in der kleinen Vorrede zur Aristote-les-Boethius-Übersetzung ,De interpretatione' oder ,Perierme-nias' (,Prçfatiuncula in Periermenias'), wo Notker nach dem kur-zen Hinweis auf die Kategorien des Aristoteles und auf den Inhalt der eben eingeleiteten Schrift so fortfährt (Text in: Notker der Deutsche, Boethius' Bearbeitung von Aristoteles' Schrift ,De In-terpretatione', hrsg. v. James C. King, Tübingen 1975, S. 3 f.): Näh periermeniis sòl man lésen prima analitica [das heißt des Aristo-teles Werk άναλυτικά πρότερα]... tára náh sòl man lésen se-cunda analitica [άναλυτικά υστέρα] . . . ze iúngist [,zuletzt'] sòl man lésen tòpica [τοπικά], wobei zu jedem Werk eine kurze An-

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4.5. Anfänge einer deutschen Bildungssprache 225

gäbe vermittelt wird, um dann mit dem Satz abzuschließen: Tiu partes héizent sáment logica ,diese Teile heißen (oder nennt man) gesamthaft Logik'.

Nachwirkungen von Notkers wissenschaftlicher Bildungsspra-che ergeben sich über die teilweise Übernahme von Fachtermini durch seinen Schüler Ekkehart IV., dem die Glossierung zu Not-kers Psalter aus der Mitte des 11. Jahrhunderts zuzuschreiben ist und der sich den artes auch sonst verbunden wußte, ferner über die sogenannte St. Galler Schularbeit mit der übersetzenden Einfüh-rung von grammatischen Fachausdrücken aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Wenn hier beispielsweise für lateinisch com-parano althochdeutsch uuídermezúnga steht, so ist dies zweifellos auf Notkers Vorbild mézunga f. ,moderatio' und uuidermézôn .de-putare, vergleichen' beziehungsweise mézen .comparare, verglei-chen' zurückzuführen, auch wenn dieses kleine Schulübungsstück über Notker hinausgeht.

Natürlich hat auch die reiche althochdeutsche Glossierungstä-tigkeit am Aufbau einer frühen Bildungsterminologie Anteil, frei-lich außerhalb einer größeren textlichen Verwirklichung über die Erklärung im lateinischen Zusammenhang hinaus.

Demgegenüber ist Notker wirklich neue Wege gegangen. Man fühlt sich in seine Klosterschule versetzt, wo etwa die folgende Er-läuterung zu Grammatik und Rhetorik aus Anlaß der Boethius-Lektüre im zweiten Buch der ,Consolatio Philosophiae' II, 10 (,Quid sit rhetorica') gegeben wird (vgl. Hs. Foto 17, S. 138) - wir zitieren als Beispiel nur den Anfang des Kapitels dieser in den spätantiken Text eingeschobenen kleinen althochdeutschen Rhe-torik (Text in der Edition von Petrus W. Tax, Tübingen 1986,54 f.).

Rhetorica ist ein dero Septem liberalium artium. dáz chît tero síben bûohlisto. dîe únmánige gelimêt hábent. únde áber mánige genémmen chúnnen. / Téro síbeno ist grammatica diu êrista. diu unsíh lêret recti-loquium. dáz chît réhto sprechen, táz ióh chínt kelírnén mugen, sô uuír tágoliches hôrên. / Tiu ánderíu ist rhetorica. tíu únsih férrôr léitet. uuánda sí gibet uns tía gesprâchi. déro man in dinge bedárf. únde in sprâcho. únde so uuâr dehéin éinúnga ist geméinero dúrfto. / Tára zû diu chínt nehéin núzze sínt. nube frûote líute. / Sprâchâ únde ding, ne-múgen âne strît nîeht uuérdent. / Uuâr ist sâr sólih strîtôd uuórto. sô in dinge, únde in sprâcho? Pedíu neíst nîonêr gesprâches mánnes mêr dúrft. tánne dar. /

In neuhochdeutscher Übersetzung bedeutet dies:

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Die Rhetorik ist eine der sieben freien Künste, das heißt der sieben Buchgelehrsamkeiten, die nur wenige gelernt haben, aber viele anfüh-ren können. Von diesen sieben Künsten ist die erste die Grammatik, die uns die Sprachrichtigkeit lehrt, das heißt richtig sprechen, was so-gar die Kinder lernen können, wie wir täglich feststellen können. Die zweite ist die Rhetorik, die uns weiter führt, denn sie vermittelt uns die Beredsamkeit, derer man vor Gericht bedarf und in der Beratung und wo immer keine Übereinstimmung besteht in gemeinschaftlichen In-teressen. Dazu kann man die Kinder nicht brauchen, nur erfahrene Leute. Beratungen und Rechtssachen können ohne Auseinanderset-zung nichts werden. Wo ist ein solches Streiten mit Worten wie vor Gericht und wie in der Beratung? Deshalb bedarf man nirgends eines redegewandten Mannes mehr als dort.

Schulischer Erläuterung folgt, den Schulton auflockernd, gele-gentlich eine rhetorische Frage, während die gegebenen Definitio-nen geschickt vom lateinischen Fachausdruck zum althochdeut-schen überleiten, eine Frühform des zweisprachigen Unterrichts, möchte man sagen, so wie wir es bei Notker in seinen Schriften immer wieder vorfinden.

Althochdeutsche Bildungssprache durch neue Übersetzung: es ist ein ähnlicher Weg wie beim Aufbau der neuen christlichen deutschen Sprache, nur wird er außerhalb der reichen Glossie-rungstätigkeit erst selten beschritten: - die wenigen althochdeutschen Rechtsdenkmäler, zumal die

frühe karolingische Lex Salica-Übersetzung aus Mainz nach 800 (Hs. Fragment 2. Viertel 9. Jh., Trier, vgl. Hs. Foto 16, S. 133) und das Trierer Capitulare aus dem 10. Jahrhundert, schließen an die mittellateinischen Rechtskodifizierungen an, und wenn auch manches Germanisches in diese Fassungen ein-geflossen ist, als rein althochdeutsch erscheinen sie erst wieder in Form der Übersetzung oder - wie bei dem Doppeltext der althochdeutsch-altfranzösischen Straßburger Eide von 842 - in Anlehnung an ein dahinter liegendes lateinisches Formular;

- der oben näher erläuterte erste Meister und Lehrer einer deutschsprachigen Artes-Literatur, Notker III. Labeo oder Teutonicus, als St. Galler Schulvorsteher der wissenschaftli-chen Bildung so verpflichtet wie als Mönch der geistlichen Li-teratur und Bibel;

- der spätalthochdeutsche Physiologus des 11. Jahrhunderts aus dem alemannischen Raum in stark reduzierter Form gegenüber der lateinischen Vorlage, immerhin die erste christlich-allego-

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4.5. Anfange einer deutschen Bildungssprache 227

rische Naturlehre, beschränkt auf die Tiere und deshalb im er-sten Kapitel einleitend bezeichnet als .Rechenschaftsbericht über die Tiere, was sie in geistlicher Hinsicht bedeuten' : [H]ier begin ih einna reda umbe diu tier, uuaz siu gesliho bezehinen. (Zitiert nach: Der altdeutsche Physiologus, hrsg. v. Friedrich Maurer, Tübingen 1967, S.91).

Übersetzen meint gleichzeitig erklären, dies zeigen auch die vier hauptsächlichen Termini des Althochdeutschen für diese geistige Arbeit:

(1) antfristön ,deuten, erklären, auslegen, in Worte fassen'; dann spezifischer ,νοη einer Sprache in die andere übersetzen', für lateinisch transferre, interpretari, vertere; dazu die Substan-tivbildung antfristunga f. ,Deutung, Erklärung, Ausgabe, Be-arbeitung', für lateinisch interpretatio, translatio, editio;

{2) recken (auch mit Präfixen ar-lir-ler-, ga-lgi-lge-) ,erklären, auseinandersetzen, übersetzen', jedoch mit Schwergewicht auf .erklären', für lateinisch interpretari, exponere, explicare; dazu die Substantivbildung reccheda (auch ge-, er-) u. a. Er -klärung' bei Notker;

(3) diuten ,deuten, erklärend übersetzen' bei Notker; (4) heizen ,(so oder so) nennen, heißen, genannt werden', gele-

gentlich für lateinisch interpretari oder in anderem sprachver-gleichenden Zusammenhang bei Notker.

Am meisten verbreitet sind, diachronisch gesehen, antfristön (Glossen, Otfrid, Notker) und recken mit verschiedenen Präfixbil-dungen (Glossen, ältere und jüngere Denkmäler), und beide lassen sich in die mittelhochdeutsche Zeit hinein weiterverfolgen, antvri-sten zwar selten geworden und auslaufend, recken nur mehr als .erklären, darlegen' (auch ,sagen, erzählen'). Im lateinisch-alt-hochdeutschen Tatian gegen Mitte des 9. Jahrhunderts wird die Übersetzung der aramäischen Worte Christi heli heli lama sabac-thani durch lateinisch quod est interpretatum, althochdeutsch thaz ist erreckit eingeleitet: lateinisch deus meus deus meus ut quid de-reliquisti me, althochdeutsch got min got min ziuforliezi thu mih, d.h. .Gott, mein Gott, weshalb verließest du mich?' Andererseits verwendet Notker nach dem Jahr 1000 errecken für exponere in der Übersetzung einer Kommentarstelle des Augustinus in der Einleitung zu Psalm 118: Ρ salmos omnes ceteros, quo s codicem

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psalmorum nouimus continere [...] partim sermonicando inpopu-lis, partim dictando exposui. Bei Notker: Alle die ändere salmen. die án demo sáltere stânt. irráhta ih êinuuéder dictando, aide fore diên Hüten sermonicando. Das heißt: ,Alle die anderen Psalmen, die im Psalter stehen, erklärte ich entweder in schriftlicher Form diktierend oder vor den Leuten predigend'. Am reichsten er-scheint - wie wäre es anders zu erwarten - eine Übersetzungster-minologie bei Notker von St. Gallen ausgestaltet, und sie reicht über die eigentlichen termini technici zu zusätzlichen Überset-zungsindikatoren wie ih méino ,ich meine', diciturl(dáz) héizet, héizit ,das heißt', dáz íst/sínt ,dies ist/sind' entsprechend latei-nisch id est, scilicet (nämlich in der deutschen Sprache), in únsera uuîs ,in unserer (Rede-)Weise' und ähnlich.

So steht das Althochdeutsche nicht nur am Anfang der für Sprachbildung und Sprachgeschichte des Deutschen so entschei-dend gewordenen Übersetzungskultur, sondern auch am Anfang einer zwar noch vielfältig abtastenden, aber doch verhältnismäßig reichen Übersetzungsterminologie.

4.6. Vielfältiges volkssprachliches Dichtertum

Steht das Althochdeutsche auch am Anfang einer neuen Schrift-und Buchkultur des größeren westeuropäischen Zusammenhangs, so darf dabei doch nicht vergessen werden, daß sich im Zeitraum vom 7. bis 11. Jahrhundert verschiedenartige Verschriftungsten-denzen erkennen lassen, die teils vom Mündlichen der gesproche-nen Sprache, teils vom Übersetzen aus dem Lateinischen, teils von einer noch nachwirkenden altgermanischen Oraltradition und teils aus der bewußten Nachahmung mittellateinischer oder gar klas-sisch-lateinischer Dichtung ausgehen. Vereinfacht gesehen, könnte man im Hinblick auf die Verwirklichungen dichterischer Sprache die in den althochdeutschen Quellen eruierbaren Ver-schriftungstendenzen so auffächern:

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4.6. Vielfältiges volkssprachliches Dichtertum 229

© Altgermanische Oraltradition

(fa) in der auslaufen-den Runenverschrif-

tung

©

Althochdeutsche Verschriftung von Elementen gespro-chener Sprache oder in Anlehnung an diese

(2a) in nur prosai-scher, undichteri-scher Verwendung

(fb) in der neuen Handschriftenauf-zeichnung von Stab-reimdichtungen

(gb) als Bestand-teile in dichterische Sprache eingebettet

(£d)als prägnante Stab-reimverwendung (sog. Stabstilisierung) in der Prosa

(lc)als lexemgebundenes Nachleben einzelner Aus-drücke selbst beim Überset-zen aus dem Lateinischen

© Althochdeutsche Verschrif-tung aus der Übersetzung heraus in ganz verschiedenen Ausformungen

© Neue althochdeutsche christ-liche oder verchristlichte Endreimdichtung, zumeist in Anlehnung an Bibelrezep-tion und Bibelübersetzung

© Verschiedene Mischformen

Das Faszinierende an der althochdeutschen literarischen Überlie-ferung ist weder deren Quantität noch - von vereinzelten Ausnah-men abgesehen - deren besondere Qualität, da diese im einzelnen sehr unterschiedlich ist, sondern die Fülle literarischer Gattungen und ihrer ganz verschiedenen dichterischen Verwirklichungen, die oft nur als tastende Versuche angelegt sind: Heldenlied (Hilde-brandslied), Kosmogonie und Eschatologie in Stabreimgedichten (Wessobrunner Schöpfungsgedicht und rhetorisch predigthaftes Muspilli), Zauber- und Segenssprüche, im Übergang vom Germa-nischen zum Christlichen oft ineinander verwoben, Legenden-und Heiligendichtung (Ludwigslied, Georgslied, Petruslied sowie das nur in mittellateinischer Umdichtung erhaltene Galluslied), Bibeldichtung vom Episodenlied (Christus und die Samariterin) und der Psalmendichtung (138. Psalm) bis zu Otfrids gewaltigem Evangelienbuch in 7416 in sich end(silben)reimenden Langzei-

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len, historisches Lied (De Heinrico, lateinisch-althochdeutsch ge-mischt), Kleinformen wie Inschriften (Runeninschriften und ge-reimte Kölner Versinschrift), Merkverse zur Runenreihe (Abece-darium Nordmannicum), Spottverse, Schreibervers, Sprichwörter, schließlich die mannigfachen Formen mehr oder minder litera-risch gestalteter Übersetzung von der dichterischen Interlinearver-sion etwa in den Murbacher Hymnen über die rhythmische Nach-bildung im Carmen ad Deum bis hin zur auf weite Strecken litera-risch ausgeformten Translationsprosa Notkers von St. Gallen (Ar-tes-Literatur und Psalter) und Willirams von Ebersberg (Hohe-Lied-Paraphrase) in der Spätzeit althochdeutscher Sprachkultur. Nimmt man alle diese Zeugnisse zusammen, so ergibt sich allein schon für diesen weltlichen Anteil ein entwicklungsgeschichtli-ches Kontinuum, wie es Wolfgang Stammler schon 1947 in sei-nem Aufsatz ,Die Anfänge weltlicher Dichtungen in deutscher Sprache' in Loslösung von den einseitigen literaturwissenschaft-lichen Clichés „karolingische und ottonische Renaissance" sowie unter Mitberücksichtigung mittellateinischer Zeugnisse wie folgt formuliert hat: „Es genügt die Feststellung: Seit dem karlingi-schen Zeitalter besteht eine ununterbrochene weltliche Kunstdich-tung in deutscher Sprache. Das muß einmal energisch in den Vor-dergrund gerückt werden. Denn dadurch ändert sich das her-kömmliche geistesgeschichtliche Bild doch erheblich. ,Die große literaturgeschichtliche Lücke zwischen Otfrid und Ezzo', die von manchem beklagt worden ist, wird ausgefüllt und die Verknüp-fung zwischen althochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Li-teratur hergestellt, [usw.]" Wie immer man die sich allmählich verbreiternde schriftliche Aufzeichnung dichterischer Formen im Althochdeutschen beurteilen mag: sie stellen sich mehr oder we-niger alle in das auseinanderstrebende Formungsgerüst zwischen altgermanisch auslaufendem Stabreim und neu aufkommendem altdeutschem Endreim mittellateinisch-romanischer Ausrichtung. Allein schon die gegenüber dem Altsächsischen, Altenglischen und Altnordischen spärlichen althochdeutschen Stabreimdichtun-gen zeigen eine im Gefolge der zunehmenden Abschwächung des germanischen Stammsilbenakzentes zerbröckelnde Staffelung in folgender Hinsicht:

(1) Denkmäler in reiner Stabreimtechnik (Gleichlaut der stamm-bildenden Anfangskonsonanten sowie der Verbindungen sk,

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4.6. Vielfaltiges volkssprachliches Dichtertum 231

sp, st und aller anlautenden Vokale untereinander, so auch in den zweiten Kompositionsgliedern und bei Nominalpräfixen), so etwa ein Teil der älteren Zaubersprüche.

(2) Durch Lücken in der Überlieferung oder wahrscheinlich ge-machte Textumstellungen in ihrer Stabreimtechnik vereinzelt und geringfügig gestörte Denkmäler (Hildebrandslied, Wesso-brunner Schöpfungsgedicht), dennoch Hauptzeugen für den altgermanischen Stabreim im Althochdeutschen.

(3) Denkmäler zerfallender Stabreimtechnik, wobei die alten Ge-setze der Stabreimverteilung im Langvers oder des vorzugs-weise verschiedenen statt eines gleichlautenden Vokaleinsat-zes nicht mehr voll berücksichtigt werden, wie vor allem im Muspilli.

(4) Vermischung des Stabreims mit dem Endreim, wie z.B. in jün-geren Zauber- und Segenssprüchen oder in Notkers des Deut-schen Versbeispielen zu Figuren der Rhetorik, vereinzelt sogar in Otfrids Evangelienbuch, das zwar grundsätzlich dem End(silben)reim verpflichtet ist.

(5) Rückzug des Stabreims auf vereinzelte, im wesentlichen pro-saische Stilisierungen oder auch auf bloße Wortpaare wie sta-bende Zusammensetzungen, mehr punktuell als durchgehend und ohne die alten Gesetzmäßigkeiten, wie mehr und mehr in der spätalthochdeutschen Prosa Notkers, soweit diese rhyth-misch oder gar dichterisch ausholt.

Zunächst bleibt eben in althochdeutscher Zeit der Stabreim selbst für die überlieferungsgeschichtlich so vorrangigen Übersetzungen ein altererbtes und somit noch auf lange hin wirkendes Stilisie-rungsmittel. Dieses erscheint bis in dichterisch empfundene Teile von Interlinearversionen hinein, wie etwa in den auf der Rei-chenau entstandenen Murbacher Hymnen, wo Stabreimstilisie-rungen neben frühen Endreimnachbildungen stehen, z.B. XIX, 1 (Text bei Ed. Sievers, Die Murbacher Hymnen, Halle 1874, 46 bzw. bei Ursula Daab, Drei Reichenauer Denkmäler der Frühzeit, Tübingen 1963, 57):

Aurora lucis ruti/αί tagarod leohtes lohazit celum laudibus intonat himil lopum donarot mundus exsultans iubi/αί uueralt feginontiu uuatan/ gemens infernus ulu/af suftonti pech uuafit

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Die Verteilung der zwei l- und w-Stäbe (ahd. uu steht dabei gra-phematisch zweimal für uuu = wu: wuatarit, wuafit) je doppelt in Vers 1 und 3, je einmal in Vers 2 und 4 entspricht einigermaßen der Stabreimverteilung in der Langzeile, wobei der l-Stab den la-teinischen Wortlaut lucisilaudibus nachbilden mag, während am Schluß der Zeilen 3 und 4 sich in Nachbildung des lateinischen Endreims eine deutliche Assonanz einstellt: uuatarit/uuafit. Frei übertragen lautet die Strophe neuhochdeutsch so:

„Morgenröte des Lichtes lohet, Himmel voll Lobes donnert, Welt in Jubel ertönt, Hölle in Wehklagen dröhnt."

Oft sind es in der Übersetzungsprosa markante Bibelverse, welche der Stilisierung durch den Stabreim unterliegen, und zwar von Denkmal zu Denkmal unabhängig von einander. So übersetzt die St. Galler Benediktinerregel im frühen 9. Jahrhundert das darin eingebettete Zitat Psalm 36,5 Revela domino viam tuam et spera in eum mit den Worten intrih [truhti]ne uuec dinan indi uuani in inan „enthülle dem Herrn deinen Weg und hoffe auf ihn", mit deutlichem w-Stab. Notker der Deutsche wiederum profiliert nach einem kommentierenden Einschub, der sich mittels Pronomens und im Anschluß an den vorausgehenden Vers auf Gott bezieht, die gleiche Stelle in Form eines vokalischen Stabreims: Óffeno imo dînen uueg. [Kommentar] Vvaz dû lîdêst. des iíh imo. „Öffne ihm [betont!] deinen Weg. Was du immer erleiden mögest, das vertraue ihm an." Darauf folgt nach weiterem Einschub: Unde ge-dinge an in. „Und hoffe auf ihn".

Vollends zwischen Stabreim und Endreim mit Teilhaftigkeit an beiden stehen teilweise Notkers des Deutschen vielbeachtete Verse in seinem schwergewichtig lateinischen Kompilationswerk ,De arte rhetorica'. Die kleine Strophe Sicut teutonice de apro „Wie auf deutsch vom Eber" im Kapitel Quid sit elocutio zeigt fol-gende Reimstrukturen (wir gliedern den Text danach; Text nach der Hs. bei James C. King u. Petrus W. Tax, Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften, Tübingen 1996, Kap. 53, S. 162f.):

Text Imo sínt fûoze fuodermâze. imo sínt búrste ébenhô forste, únde zéne sîne zuuélifelnîge.

Stabreimformel (nach A. Heusler) xa ax ax ax ax ax

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4.6. Vielfaltiges volkssprachliches Dichtertum 233

„Ihm sind Füße von Fudern das Maß. Sind seine Borsten gleich hoch den Forsten, die Zähne aber zwölf Ellen lang."

Neben die deutliche Stabreimstruktur treten Endsilbenreim und Assonanzen fûoze/mâze, búrste/forste, sînelelnîge. Demgegen-über sind die beiden übrigen Versbeispiele Notkers im selben Ka-pitel fast nur noch vom Endreim bestimmt, der indessen breiter verwirklicht ist (Text nach der Hs. in der Edition wie oben S. 160 f.):

Sóse snél snélìemo pegágenet ándermo. sô uuírdet si temo firsníten sciltríemo.

„Wenn ein kühner Kämpfer trifft auf andern Kühnen wird sogleich inmitten der Schildriemen zerschnitten."

Der heber gât in lîtun. er trégit spér in sì tun. sîn báld él lin. nelâzet in uéllin.

„Der Eber geht an der Leite, er trägt den Speer in der Seite. Seine kühne Kraft ihm noch Stand verschafft." (wörtl.: „läßt ihn nicht zu Fall kommen") (ahd. lita f., nhd. regional Leite bedeutet,Abhang, Haldé')

Ansätze zu durchgehender Stabreimstilisierung in der Prosa fin-den sich immer wieder bei Notker, und dies ganz besonders in den stellenweise geradezu dichterischen Prosaübertragungen der car-mina innerhalb seiner Boethius-Übersetzung ,De consolatione Philosophiae'. Denn diesen Teilen - das heißt den carmina bei Bo-ethius wie auch bei Martianus Capeila - kommt ein besonderes stilistisches Gewicht in Notkers Übertragung zu, da er - wohlbe-wußt der metrischen Strukturen in den handschriftlich in dieser Hinsicht meist besonders markierten Vorlagen - hier freier als bei Prosavorlagen verfahren kann oder gestalten muß. Als Beispiel zur Illustration wählen wir einen Ausschnitt aus dem Anfang von carmen 12 in Boethius, De consolatione Philosophiae, bei Not-ker III, Kap. 123 mit der offenbar von ihm eingesetzten Über-schrift Luce reperto, ad tenebras non esse reuertendum, d. h. ,Hat man einmal das Licht erkannt, soll man nicht mehr in die Finster-nis zurückfallen', wo die erschütternde fabula von Orpheus und Eurydike dichterisch behandelt wird. Dabei ist, wie grundsätzlich in den Notkerschen Übersetzungen der artes-Werke, zwischen Auctor-Text (handschriftliche Vorlage), Notkers Umstellung in syntaktisch einfacher gegliederte Schulprosa (mit teilweisen

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234 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Kommentareinschüben auf Grund herangezogener Kommentar-werke) und Notkers althochdeutscher Übersetzung zu unterschei-den, wobei die Notker-Handschriften Satz für Satz je den lateini-schen Schulprosatext und die entsprechende althochdeutsche Übersetzung vermitteln. Schon der erste Satz des in Glykoneen verfaßten Gedichtes zeigt in Notkers Übersetzung eine besondere Herausstellung einzelner Begriffe in Anlehnung an die kommen-tierende Schulprosa (wir übersetzen dabei lediglich den althoch-deutschen Text ins Neuhochdeutsche; Texte nach Boethius, Trost der Philosophie, Lat. u. Deutsch, hrsg. von E. Gegenschatz und O. Gigon, Zürich-Stuttgart 21969, 158 ff. bzw. Notker der Deut-sche, Boethius De consolatione Philosophiae, Buch III, hrsg. v. Petrus W. Tax, Tübingen 1988, 179ff.):

Boethius, Verstext Notkers Schulprosa Felix qui potuit boni Felix qui potuit uisere lucidem fonte boni. Fontem visere lucidum, i. summum bonum uidere. Felix qui potuit gravis felix qui potuit soluere uincula Terrae solvere vincula. gravis terrç. i. sarcinam carnis uincere.

Notkers althochdeutsche Übersetzung Sâligo dér den lûteren Urspring pescóuuot hábet álles kûotes.

únde úberuuínt ketân hábet tero irdiskûn búrdi. „Glücklich, wer den klaren Ursprung alles Guten erspäht hat

und die irdische Bürde überwinden konnte." Auffällig in Notkers althochdeutschem Text ist die Profilierung auf die vokalischen Stabreimbindungen úrspringlálles kûotes/ úberuuínt/írdiskün búrdi, welche mit Rücksicht auf den kommen-tierten Schultext so gestaltet sind, denn úrspring alles kûotes be-zieht sich sai fontem boni. i. summum bonum (mit Betonung auf summum bzw. álles), während úberuuínt tero írdiskün búrdi die Verdeutlichung der Kommentierung sarcinam carnis aufnimmt.

Noch einen Schritt weiter in der Reimstilisierung geht Notker bei der Übersetzung des zweiten Satzes, in dessen ersten Teil ne-ben Stabreimverbindungen auch ein Endreim vorkommt:

Quondam fuñera coniugis Postquam treicius uates quondam Vates Threicius gemens gemens fuñera coniugis. Postquam flebilibus modis coegerat flebilibus modis. Silvas currere, mobiles mobiles siluas currere. Amnes stare coegerat amnes stare.

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4.6. Vielfältiges volkssprachliches Dichtertum 235

To iu orpheus musicus. fóne tracia, sînero chénûn dôd chlágonde mit cháreléichen.

ketéta den uuáld kân. únde die àhâ gestân.

„Als einstmals der Sänger Orpheus aus Thrakien den Tod seiner Gattin beklagte mit Trauergesängen,

brachte er den Wald zum Gehen und die Flüsse zum Stehen."

Offenbar um die Wirksamkeit der zweimal dreitaktigen Endreim-fügung ketéta den uuáld kân. unde die ahâ gestân nicht zu beein-trächtigen, hat Notker die Übersetzung des lateinischen (mobiles siluas) gekürzt.

Konkreter übersetzt Notker die Fortsetzung des Satzes, wie-derum mit Heraushebung der Handlungsträger hínda, háso, húnt mittels Stabreims:

Iunxitque intrepidum latus Iunxitque cerua intrepidum Saevis cerva leonibus latus leonibus. Nec visum timuit lepus nec lepus timuit uisum canem. Iam cantu placidum canem, iam cantu placidum.

Unde diu hínda báldo gîeng mit tien léuuôn. nóh háso húnt nefórhta. stille uuórtenen fóne sánge.

„Und die Hirschkuh ging mutig mit den Löwen, noch fürchtete Hase den Hund, den ruhig gewordenen vom Gesänge."

Und ähnlich geht es dann weiter durch die gesamte Übersetzung des Gedichtes, ohne daß wir hier die gesamte Fortsetzung vermit-teln können. Dabei bleibt immerhin auch für diesen Text die Ein-sicht, die Johann Gottfried Herder in seinem Aufsatz , Andenken an einige ältere Deutsche Dichter' schon 1793 nach der Lektüre von Notkers Psalter in Johannes Schilters Thesaurus I (Ulm 1726) formuliert hat: „Viele von Notkers Psalmen sind selbst in der Prose Poesie." Jedenfalls reicht die stilistische Verwendungskraft des Stabreims bis in die spätalthochdeutsche Prosa hinein.

So kann man angesichts der besonderen Übergangslage, in welcher sich die literarische Sprachkultur in althochdeutscher Zeit befindet, insgesamt geradezu von zwei Herausforderungen spre-chen:

- einerseits von der modernistischen Herausforderung, die mit-tellateinisch-romanische Endreimdichtung auch in althoch-deutscher Sprache zu versuchen und nachzuvollziehen,

- andererseits die konservative Herausforderung, die immer noch schallwirksamen Stabreimfügungen in neue dichterische

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236 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Formen stellenweise zu integrieren und darüber hinaus in eine ebenfalls neuartige Prosakultur aus der Übersetzung heraus einzubauen,

um dadurch von zwei Seiten her dichterische Sprache mit moder-nen wie altbewährten Mitteln stilistisch zu bereichern. Dazu kom-men die vielfältigen Wurzeln dichterischer Gestaltung im Alt-hochdeutschen, welche immer wieder zu neuen Gestaltungen in Poesie wie Prosa geführt haben.

4.7. Erster geschlossener deutscher Sprachraum

Mit der seit dem 8. Jahrhundert einsetzenden schriftlichen Über-lieferung des Althochdeutschen wird, dank den literarisch wie durch die Namenlisten zumal der Verbrüderungsbücher sowie durch die Zeugenlisten von Urkunden faßbaren klösterlichen und teilweise städtischen Orten, erstmals ein einigermaßen geschlos-sener Sprachraum des Deutschen im Frühmittelalter sichtbar, wie er von Echternach im Luxemburgischen bis in den Raum Salz-burg, von Köln am Mittelrhein und von Fulda im ostfränkischen Hessen bis zur Reichenau im Bodenseegebiet und nach St. Gallen, vom Elsaß bis in den Donauraum über Regensburg und Passau hinaus reicht (vgl. dazu Abbildungen 3 und 4 in Kap. 2, S. 57,58). Insgesamt darf man dabei von einem noch während der althoch-deutschen Sprachperiode nach Osten, Südosten und Süden aus-greifenden Siedlungsvorgang besonders im zentralen und östli-chen Alpenraum wie von einer zunehmenden Siedlungsdurch-dringung in galloromanischen Relikträumen etwa des Moseltales und im Schwarzwald sowie in Teilen der nördlichen deutschen Schweiz und östlich davon im benachbarten Österreich - hier auch auf rätoromanischer Grundlage - sprechen. So treten zum althochdeutschen Altland seit der Merowingerzeit des 5. und 6. Jahrhunderts neue Siedlungsgebiete als althochdeutsches Neu-land seit dem 7. und 8. Jahrhundert, dazu weitere Rodungsland-schaften und Siedlungsgebiete vom 9. bis zum 11. Jahrhundert, die freilich erst in nachalthochdeutscher Zeit literarisch von Be-deutung werden. Südgrenze des Althochdeutschen im engeren Sinn bleibt, wenn man vom nah verwandten, jedoch absterbenden und keineswegs landschaftsdichten Langobardischen in Oberita-lien absieht, der Alpenraum, mögen althochdeutsch sprechende

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4.7. Erster geschlossener deutscher Sprachraum 237

Siedler seit dem 8. und 9. Jahrhundert auch tiefer in diesen einge-drungen sein, wie etwa in der deutschen Schweiz (Innerschweiz, Wallis, Unterrätien), in Österreich oder im Südtirol. Grosso modo würde man gerne sagen, das Althochdeutsche reiche so weit wie die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung in den Siedlungs-und Gewässernamen - besonders, was die späte k zu ch- und die d zu t- Verschiebung des 8. und 9. Jahrhunderts betrifft - , wenn da nicht die Fernwirkung dieser wäre, welche auch wichtige benach-barte, noch nicht oder überhaupt nie durch deutschsprachige Sied-ler erreichte Gebiete erfaßte: so das in althochdeutscher Zeit noch rätoromanische Chur (ahd. Chura, neben Kura, Kure, schwzdt. Chur, älter Curia, rätorom. Cuéra, Cuira, Cuoira) oder der ober-italienische Fluß Po (ahd. Pfät < Pädus). Immerhin bietet das Kri-terium der durchgeführten Lautverschiebung in vielen Fällen ein sicheres Indiz für bereits althochdeutsche Besiedlung, so etwa bei Sitten im Wallis (franz. Sion < Sëdûnum), Zürich (ahd. Zuriche < Turïcum, statio Turicensis), Innichen im Pustertal (822 Intihha usw. < *Indica, *Indiaca), Toblach ebenda (893 Doublach usw. < *Dublacu, vgl. 827 Duplagum). Im Namen und Begriff althoch-deutsch östarrichi,Ostreich, Österreich, auch Morgenland' ist in-sofern geradezu eine Ostverschiebung festzustellen, als Otfrid von Weißenburg in den 860er Jahren den Ausdruck für das Ostfran-kenreich Ludwigs des Deutschen verwendet, von dem er sagt er óstarrichi rihtit ál ,er herrscht über das ganze Ost(franken)reich', während im Kaiserdiplom Ottos III. vom 1. November 996 in re-gione vulgari vocabulo ostarrichi die Mark am östlichen bayri-schen Donauabschnitt, das Land Niederösterreich gemeint ist, im ,Summarium Heinrici' des frühen 11. Jahrhunderts oster riche ein-fach ,Orient' bedeutet und im Gegensatz zu westerriche ,Okzi-dent' steht. Entsprechend der zunehmenden Nähe des althoch-deutschen Sprachraums zu den Alpen wird auch das lateinisch-vorrömische Wort alpis, PI. alpes beziehungsweise der Name Al-pes eingedeutscht: so heißt es schon im lateinisch-althochdeut-schen ,Abrogans' in alemannischem Schreibdialekt im Übergang vom 8. zum 9. Jahrhundert Italia lantscaf untar Alpeom anti seuuiu ,Italien (das heißt Oberitalien), Landschaft zwischen den Alpen und dem Meer', während der St. Galler Glossator von Not-kers Psalter im 11. Jahrhundert die Erklärung zu Psalm 103, 18 über das Murmeltier (lat. erinatius, mus montis, ahd. múrmunto

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2 3 8 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

< rom. *mur[em]munt-), welches in foraminibus alpium sînafesti hábet mit in diên lochen dero alpon übersetzt.

Kennzeichen für den ersten geschlossenen Sprachraum des Deutschen über alle zwar noch bedeutenden Dialektunterschiede hinaus ist der breite Schriftenaustausch zwischen den althochdeut-schen Skriptorien, wobei oft Vorlagen von Dialekt zu Dialekt min-destens teilweise umgeschrieben werden. Indiz dafür sind die zahlreichen Denkmäler und Glossensammlungen in Mischdialek-ten oder gemischten Schreibsprachen. Darüber hinaus weiß man aus direkten oder weiteren indirekten Zeugnissen um den Manu-skriptenaustausch oder Bücherverleih von Kloster zu Kloster, ins-besondere etwa zwischen der Reichenau und St. Gallen, die ja au-ßerdem durch räumliche Nähe und teilweise gemeinsame Ge-schichte verbunden waren; aber auch zwischen Klöstern ganz ver-schiedener Dialektgebiete, wie etwa zwischen dem alemannischen St. Gallen und dem ostfränkischen Fulda oder zwischen dem süd-rheinfränkischen Weißenburg im nördlichsten Elsaß und St. Gal-len. Dies läßt sich anhand der Überlieferungsgeschichte von Handschriften oder aus Widmungen in Denkmälern aufzeigen, wie beispielsweise am lateinisch-althochdeutschen Tatian Codex Sangallensis 56, der bedeutendsten neutestamentlichen Evange-lienübersetzung des deutschen Frühmittelalters. Obwohl diese große Bibelbilingue aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts in Form einer zweisprachig angeordneten Evangelienharmonie des Syrers Tatian (um 170 n. Chr.) nach der lateinischen Bearbei-tung durch Bischof Victor von Capua ("f" 554) nicht in St. Gallen, sondern im Kloster Fulda entstanden ist, zeigen - nach den For-schungen von Achim Masser - Benutzerspuren eine frühzeitige Beschäftigung mit der Handschrift in St. Gallen, wo um die Mitte des 9. Jahrhunderts unter Hartmuot, seit 849 Dekan, 872 bis 883 Abt des Klosters, ein besonderes Interesse am Erwerb erstklassi-ger Bibelhandschriften wie Bibelbilinguen bestand. Dadurch er-klärt sich die St. Galler Bemühung um eine genaue Kopie der Ful-daer rein lateinischen Tatianhandschrift, wovon der für St. Gallen bestellte Codex 56 eine um die Übersetzung in die althochdeut-sche Volkssprache vermehrte Abschrift darstellt, welche um 850 direkt nach St. Gallen gekommen ist (vgl. Hs. Foto 1 4 , 1 5 , S. 1 2 7 ,

130). Ein zweiter Bezug, wie er von Weißenburg im Elsaß etwas später im 9. Jahrhundert, so um 870 nach St. Gallen reicht, geht aus

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4.7. Erster geschlossener deutscher Sprachraum 239

der Versepistel des Evangelienbuchdichters Otfrid an seine St. Gal-ler Studienfreunde Hartmuat und Werinbert hervor. Dies dürfte zu-sammen mit der Übersendung eines handschriftlichen Exemplars seines Werkes nach St. Gallen geschehen sein, dessen Spuren sich freilich verloren haben. Immerhin verdankt St. Gallen dieser Vers-widmung die sonst im Friihmittelalter nur lateinisch erscheinende Nennung seines Gründers und damit auch direkt des darauf beru-henden Kloster- und Ortsnamens in althochdeutscher Sprache. Eingebettet in seine End(silben)reimdichtung heißt es dort

V. 112 in sélben sancii Gállen ,beim heiligen Gallus selbst', ebenso V. 154 zi sélben sancii Gállen ,zum heiligen Gallus selbst',

während der Abschluß des Gedichtes von den Mönchen und der heiligen Gemeinschaft spricht, welche dort dem heiligen Gallus dienen - thar sánete Gállen thíonont.

St. Gallens Ausstrahlung wiederum nach außen geht vor allem von Notkers Psalter aus, dem gewaltigen und erstmals vollständi-gen Übersetzungswerk der hundertfünfzig Psalmen in die deut-sche Sprache, vermehrt um den Anhang der Cantica und kateche-tischen Stücke. Bekannt geworden sind vor allem der sogenannte Wiener Notker (Psalter aus dem Kloster Wessobrunn) des 12. Jahrhunderts und der Münchener Notker des 14. Jahrhunderts aus Passau in bairischer Sprachform, während die bei diesem Werk zusätzlich freilich nur in Fragmenten besonders reiche Handschriftenüberlieferung auf eine weitere Rezeption des Textes schließen läßt, die man spurenweise bis in die mittelhochdeutsche Psalmenübersetzungen verfolgen kann, da Notker als Begründer einer relativ freien Psalterverdeutschung und damit im Gegensatz zur im Mittelalter weit verbreiteten interlinearartigen Überset-zungsweise steht.

Ausgetauscht wurden sodann vom 8. bis 10. Jh. Namenlisten der lebenden und verstorbenen Klosterbrüder verschiedener Kon-vente im Rahmen der frühmittelalterlichen Gebetsverbrüderungen für die Anlage von Gedenkbüchern (Libri confraternitatum, Libri memoriales oder Libri vitae), was freilich über den rein althoch-deutschen Sprachraum hinausgeht, indessen seinen Schwerpunkt darin findet (vgl. dazu Abb. 4 [Karte] in Abschnitt 2.2.3., S. 57). Jedenfalls vermitteln die großen Verbrüderungsbücher vorzugs-weise der Reichenau und von St. Gallen neben den überreich ver-tretenen Personennamen auch manche Namen der entsprechenden

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240 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

Klöster und weiterer Örtlichkeiten oder Landstriche, nicht nur in lateinischer oder latinisierter Form, sondern auch rein althoch-deutsch, so ζ. B. Altaha (Niederaltaich in Nieder-Bayern), Basala (Basel), Cheamincseo, Chamincseo (Chiemsee in Ober-Bayern), Elechenuuanc (Ellwangen in Württemberg), Friburch (Freiburg i. B.), F ulta (Fulda), Loreshaim (Lorsch), Maninseo (Mondsee in Oberösterreich), Nörinberc (Nürnberg), Rinauua (Rheinau, Kt. Zürich/Schweiz), Salzburc (Salzburg), Uttinburra (Ottobeuren in bayer. Schwaben) und viele andere, woraus man neben den Orts-nennungen in Urkunden und anderen historischen Quellen den Sprachraum des Althochdeutschen klarer erkennen kann.

Mit diesen Hinweisen zum althochdeutschen Sprachraum müssen wir uns begnügen, obwohl dazu noch vieles zu sagen wäre. Es mag dabei die Einsicht bleiben, daß mit der althochdeut-schen Sprachperiode des 8. bis 11. Jahrhunderts die siedlungsge-schichtliche wie schrifttumshistorische Grundlage des hochdeut-schen Sprachgebietes mit seinem alten Schwergewicht mehr im Westen und Süden des heutigen gesamtdeutschen Sprachraums gelegt worden ist.

Literaturhinweise zu Kapitel 4

Stefan Sonderegger, Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur, Freiburg/Schweiz 1997 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germani-sche Philologie, Vorträge, hrsg. vom Mediävistischen Institut der Univ. Freiburg Schweiz, Heft 2; hier weitere Fachliteratur).

(1) Volkssprache - Buchkultur:

Georg Baesecke, Vor- und Frühgeschichte des dt. Schrifttums, Bd. 1-2, Halle 1940-1953. - Werner Betz, Karl d. Gr. und die lingua theodisca, in Karl d. Gr., Lebens werk und Nachleben, Bd. II Das geistige Leben, hrsg. von Bernhard Bischoff, Düsseldorf 1965, 300-306. - Klaus Matzel, Karl d. Gr. und die lingua theodisca, in Rheinische Vierteljahrsblätter 34,1970, 172-189. - Karl Heinz Rexroth, Volkssprache und werdendes Volksbe-wußtsein im ostfränkischen Reich, in Aspekte der Nationenbildung im ost-fränkischen Reich, Nationes Bd. 1, Sigmaringen 1978, 275-315. - Arno Schirokauer, Germanistische Studien, Hamburg 1957. - Stefan Sondereg-ger, Reflexe gesprochener Sprache in der ahd. Literatur, in Frühmittelal-terliche Studien 5, 1971, 176-192 (bzw. in St. S., Germanica selecta, Tü-bingen-Basel 2002,433-449). - Ders., Reflexe gesprochener Sprache im Ahd., in Sprachgeschichte, Ein Handbuch zur Gesch. d. dt. Sprache und ih-rer Erforschung, 2. Aufl., 2.Teilbd„ Berlin-New York 2002, 1231-1240 (hier weitere Lit.). - Ders., Ahd. als Volkssprache, in Gedenkschrift für In-

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Literaturhinweise zu Kapitel 4 241

gerid Dal, Tübingen 1988,17-27. - Ders., Notker's Realization of a Latin Vernacular Book Tradition, in James C. King (Editor), Sangallensia in Wa-shington, The Arts and Letters in Medieval and Baroque St. Gall Viewed from the Late Twentieth Century, New York-San Francisco-Bern etc. 1993,233-240. - Ders., Language and Culture in the Germanic-Speaking World: The History of the Written Word, in Kungl. Humanistiska Veten-skaps-Samfundet i Uppsala, Ársbok 1996, Uppsala 1997, 57-89 (bzw. in St. S., Germanica selecta, Tübingen-Basel 2002,79-107). - Ders., Latein und Ahd., Grundsätzliche Überlegungen zu ihrem Verhältnis, in Variorum muñera Horum, Festschrift Hans F. Haefele, Sigmaringen 1985, 59-72 (bzw. in St. S., Germanica selecta, Tübingen-Basel 2002, 319-331).

(2) Sprachbewußtsein:

Hans Eggers (Hrsg.), Der Volksname Deutsch, Darmstadt 1970. - Joachim Ehlers, Die dt. Nation des Mittelalters als Gegenstand der Forschung, in Ansätze und Diskontinuität dt. Nationsbildung im Mittelalter, Nationes 8, Sigmaringen 1989, 11-58. - Sr. Raphaela Gasser, Propter lamentabilem vocem hominis, Zur Theorie der Volkssprache in ahd. Zeit, Diss. Zürich, Freiburg/Schweiz 1970. - Norbert Morciniec, Theotiscus - diutisk bei Ot-frid und Notker, in donum natalicium gilbert a. r. de Smet, Leuven 1986, 355-362. - Ingo Reiffenstein, Bezeichnungen der dt. Gesamtsprache und Metasprachliche Äußerungen über das Dt. und seine Subsysteme bis 1800 in histor. Sicht, in Sprachgeschichte, Ein Handbuch zur Gesch. d. dt. Spra-che und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 3. Teilbd., Berlin-New York 2003, 2191-2205 u. 2205-2229. - Alexander C. Schwarz, Der Sprachbegriff in Otfrids Evangelienbuch, Diss. Zürich, Bamberg 1975. - Stefan Sondereg-ger, Deutsch, Die Eigenbezeichnung der dt. Sprache im geschichtlichen Uberblick, Ahlhorn-Bayreuth 1996. - Ingrid Strasser, diutisk-deutsch, Neue Überlegungen zur Entstehung der Sprachbezeichnung, Wien 1984 (Österr. Ak.d. Wiss., Philosophisch-hist. Kl., SB, Bd. 444).

(3) Vereinheitlichungstendenzen im Ahd.:

Karl Frederik Freudenthal, Arnulfingisch-karolingische Rechtswörter, Eine Studie in der juristischen Terminologie der ältesten germ. Dialekte, Göteborg 1949. - Stefan Sonderegger, Tendenzen zu einem überregional geschriebenen Ahd., in Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Na-tiones Bd. 1, Sigmaringen 1978, 229-273 (bzw. in St. S., Germanica se-lecta, Tübingen-Basel 2002,451-488). - Zur Verbreitung der verschiede-nen ahd. Wörter in den Sprachdenkmälern siehe bes. Rudolf Schützeichel, Ahd. Wörterbuch, Tübingen 51995 bzw. - soweit erschienen - Althoch-deutsches Wörterbuch, Bd. Iff., Berlin [1952-]1968ff. (mit erschöpfen-den Belegen).

(4) Christliche deutsche Sprache:

Gilbert de Smet, Kleine deutsche Schriften, Gent 1991. - Stefan Sonder-egger, Sprachgeschichtliche Aspekte der europäischen Christianisierung,

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242 4. Althochdeutsch als Anfang deutscher Sprachkultur

in Sprachgeschichte, Ein Handbuch zur Gesch. d. dt. Spr. und ihrer Erfor-schung, 2. Aufl., 2.Teilbd., Berlin-New York 2000,1030-1061 (hier weit. Lit.).

(5) Bildungssprache:

Stefan Sonderegger, Notkers des Deutschen Terminologie des Überset-zungsvorganges, in Zs. f. dt. Philologie 106, 1987, 15-24 (bzw. in St. S., Germanica selecta, Tübingen-Basel 2002, 403-410). - Ders., Fach-sprachliche Phänomene in den zum Trivium gehörenden Werken Not-kers III. von St. Gallen, in Fachsprachen, Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, 2. Halbbd., Berlin-New York 1999, 2319-2333.

(6) Volkssprachliches Dichtertum:

Vgl. die Literatur zu Kapitel 3, ferner Stefan Sonderegger, Frühe Erschei-nungsformen dichterischer Sprache im Ahd., in Typologia Litterarum, Festschrift für Max Wehrli, Zürich-Freiburg i. Br. 1969, 53-81 (bzw. in St. S„ Germanica selecta, Tübingen-Basel 2002,283-303). - Ders., Not-ker der Deutsche als Meister einer volkssprachlichen Stilistik, in Althoch-deutsch, Fs. für Rudolf Schützeichel, Bd.I, Heidelberg 1987, 839-871 (bzw. in St. S., Germanica selecta, Tübingen-Basel 2002, 333-363). -Ders., Orpheus und Eurydike bei Notker dem Deutschen, Besonderheiten einer dichterischen Schulübersetzung, in Grammatica ianua artium, Fest-schrift für Rolf Bergmann, Heidelberg 1997,115-138 (bzw. in St. S., Ger-manica selecta, Tübingen-Basel 2002, 411-432). - Wolfgang Stammler, Die Anfange weltlicher Dichtungen in dt. Sprache (1947), in W. St., Klei-nere Schriften zur Literaturgesch. des Mittelalters, Berlin 1953, 3-25. - John M. Jeep, Alliterating word-pairs in old high German, Bo-chum 1995.

(7) Sprachraum:

Vgl. die neue Übersicht in Sprachgeschichte, Ein Handbuch zur Gesch. d. dt. Spr. und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 3. Teilbd., Berlin-New York 2003, Kap. XX, Das Dt. im Sprachenkontakt II: Aspekte der Sprachgrenz-bildung des Dt. (hier v. a. Wolfgang Haubrichs, Gesch. d. dt.-romanischen Sprachgrenze im Westen, S. 3331-3346, und Stefan Sonderegger, Gesch. d. dt.-rom. Sprachgrenze im Süden, S. 3347-3365). - Dieter Geuenich, Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung des Ahd., in Sprachgeschichte, Ein Handbuch zur Gesch. d. dt. Spr. und ihrer Erforschung, 2. Teilbd., Berlin-New York 22000, 1144-1155. - Ders., Zum Zeugniswert frühmittelalterlicher Personennamen für die Sprachge-schichte des Althochdeutschen, in Verborum amor, Festschrift für Stefan Sonderegger, Berlin-New York 1992, 667-679.

Zum Handschriftenaustausch: Achim Masser, Die lat.-ahd. Tatianbilingue des Cod. Sang. 56, Nachr. d. Ak. d. Wiss. in Göttingen 11991/3, Göttingen

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Literaturhinweise zu Kapitel 4 243

1991. - Wolfgang Haubrichs, Nekrologische Notizen zu Otfrid von Wei-ßenburg, in Adelsherrschaft und Literatur, Beiträge zur älteren dt. Litera-turgesch. 6, Frankfurt a. M. 1980,7-113 (mit Karte der kulturellen Bezie-hungen Weißenburgs zur Zeit Otfrids).

Verbrüderungsbücher: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hrsg. von J. Autenrieth, D. Geuenich und Karl Schmid (Mon. Germ, hist., Libri memoriales et Necrologia, Nov. Series I), Hannover 1979. - Subsidia Sangallensia I, Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungs-büchern und älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hrsg. von M. Borgolte, D. Geuenich und Karl Schmid, St. Gallen 1986. - Roland Rappmann u. Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im frühen Mittelalter, Mit einem einleitenden Beitrag von Karl Schmid, Sigmaringen 1998.

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