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§ 8 Die Exponentialreihe
Wir behandeln jetzt die Exponentialreihe, die neben der geometrischen Reihe diewichtigste Reihe in der Analysis ist. Die Funktionalgleichung der Exponentialfunk-tion beweisen wir mithilfe eines allgemeinen Satzes uber das sog. Cauchy-Produktvon Reihen.
Satz 1. Fur jedes x ∈R ist die Exponentialreihe
exp(x) :=∞
∑n=0
xn
n!
absolut konvergent.
Beweis. Die Behauptung folgt aus dem Quotienten-Kriterium (§7, Satz 7). Mitan := xn/n! gilt fur alle x = 0 und n � 2|x|∣∣∣an+1
an
∣∣∣= ∣∣∣ xn+1
(n+1)!· n!
xn
∣∣∣= |x|n+1
� 12
, q.e.d.
Mit der Exponentialreihe definiert man die beruhmte Eulersche Zahl
e := exp(1) =∞
∑n=0
1n!
= 1+1+12
+13!
+ . . . = 2.7182818 . . . .
Bemerkung. Eine aquivalente Definition e = limn→∞
(1+ 1
n
)nwerden wir spater
in (15.12) kennenlernen.
Satz 2 (Abschatzung des Restglieds). Es gilt
exp(x) =N
∑n=0
xn
n!+RN+1(x),
wobei
|RN+1(x)|� 2|x|N+1
(N +1)!fur alle x mit |x|� 1+ 1
2N .
Bei Abbruch der Reihe ist also der Fehler in dem angegeben x-Bereich demBetrage nach hochstens zweimal so groß wie das erste nicht berucksichtigteGlied.
O. Forster, Analysis 1, Grundkurs Mathematik DOI 10.1007/978-3-658-00317-3_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
84 § 8 Die Exponentialreihe
Beweis. Wir schatzen den Rest RN+1(x) = ∑∞n=N+1 xn/n! mittels der geometri-
schen Reihe ab. Es ist
|RN+1(x)| �∞
∑n=N+1
|x|nn!
=|x|N+1
(N +1)!
{1+
|x|N +2
+|x|2
(N +2)(N +3)+ . . .
}� |x|N+1
(N +1)!
{1+
|x|N +2
+( |x|
N +2
)2+( |x|
N +2
)3+ . . .
}.
Fur |x| � 1 + 12N ist der Ausdruck innerhalb der geschweiften Klammer
� 1+ 12 + 1
4 + 18 + . . . = 2, woraus die Behauptung folgt.
Numerische Berechnung von e
Wir benutzen die Fehler-Abschatzung, um e = exp(1) mit hoher Genauigkeitzu berechnen. Aus Satz 2 folgt fur k � 1, dass Rk+1(1)� 1/k!, d.h. bei Abbruchder Reihe fur e ist der Fehler hochstens so groß wie das letzte berucksichtigteGlied. Die Partialsummen Sk := ∑k
ν=0 1/ν! kann man rekursiv durch
S0 := u0 := 1, uk :=uk−1
k, Sk := Sk−1 +uk, (k > 0),
berechnen. Um eine vorgegebene Fehlerschranke ε > 0 zu unterschreiten,braucht man nur solange zu rechnen, bis uk < ε wird. Wir schreiben eineARIBAS-Funktion euler(n), die e auf n Dezimalstellen mit einem Fehler� 10−n ausrechnet. Dabei verwenden wir Ganzzahl-Arithmetik und multipli-
function euler(n: integer): integer;var
S, u, k: integer;begin
S := u := 10**(n+5);k := 0;while u > 0 do
k := k+1;u := u div k;S := S+u;
end;writeln("Euler number calculated in ",k," steps");return (S div 10**5);
end.
§ 8 Die Exponentialreihe 85
zieren alle Großen mit 10n. Dann braucht nur bis auf ε = 1 genau gerechnetzu werden. Zur Berucksichtigung von Rundungsfehlern rechnen wir noch mit5 Stellen mehr. In diesem Code ist u div k (wie in PASCAL) die Integer-Division, d.h. es wird die ganze Zahl �u/k� berechnet, die vom exakten Er-gebnis u/k um weniger als 1 abweicht. Da u ganzzahlig ist, wird die while-Schleife abgebrochen, sobald u < 1 ist, und der gesamte akkumulierte Run-dungsfehler ist hochstens gleich der Anzahl der Schleifen-Durchgange. So-lange diese kleiner als 105 bleibt, wird die angestrebte Genauigkeit erreicht.Testen wir die Funktion mit n = 100, ergibt sich==> euler(100).Euler number calculated in 73 steps-: 2_71828_18284_59045_23536_02874_71352_66249_77572_47093_69995_95749_66967_62772_40766_30353_54759_45713_82178_52516_64274
Dies ist naturlich als e = 2.71828 . . . zu interpretieren. Hier wurde also in 73Schritten e auf 100 Dezimalstellen genau berechnet. Wir ersparen uns Testsmit hoherer Stellenzahl (etwa n = 1000 oder n = 10000), die der Leser leichtselbst durchfuhren kann.
Cauchy-Produkt von Reihen
Zum Beweis der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion benutzen wirfolgenden allgemeinen Satz uber das Produkt von unendlichen Reihen.
Satz 3 (Cauchy-Produkt von Reihen). Es seien ∑∞n=0 an und ∑∞
n=0 bn absolutkonvergente Reihen. Fur n ∈N werde definiert
cn :=n
∑k=0
akbn−k = a0bn +a1bn−1 + . . .+anb0 .
Dann ist auch die Reihe ∑∞n=0 cn absolut konvergent mit
∞
∑n=0
cn =( ∞
∑n=0
an
)·( ∞
∑n=0
bn
).
Beweis. Die Definition des Koeffizienten cn lasst sich auch so schreiben:
cn = ∑{akb� : k + � = n}.Es wird dabei uber alle Indexpaare (k, �) summiert, die in N×N auf der Dia-gonalen k + � = n liegen. Deshalb gilt fur die Partialsumme
CN :=N
∑n=0
cn = ∑{akb� : (k, �) ∈ ΔN},
86 § 8 Die Exponentialreihe
wobei ΔN das wie folgt definierte Dreieck in N×N ist:
ΔN := {(k, �) ∈N×N : k + � � N}, vgl. Bild 8.1.
��
��
��
��
��
��
��
ΔN
QN � ΔN
QN
(0,N)
(N,0)
(N,N)
��
��
��
��
��
��
��
��
��
��
��
��
��
�
��
���
���
� � � � � � �
� � � � � � �
� � � �
� � � � � � �
� � � � � �
� � � � � � �
� � � � � � � Bild 8.1
Multiplizieren wir die Partialsummen
AN :=N
∑n=0
an und BN :=N
∑n=0
bn
aus, erhalten wir als Produkt
ANBN = ∑{akb� : (k, �) ∈QN},wobei QN das Quadrat
QN := {(k, �) ∈N×N : 0 � k � N, 0 � � � N}bezeichnet. Da ΔN ⊂ QN , konnen wir schreiben
ANBN−CN = ∑{akb� : (k, �) ∈ QN �ΔN}.Fur die Partialsummen
A∗N :=N
∑n=0|an|, B∗N :=
N
∑n=0|bn|
erhalt man wie oben
A∗NB∗N = ∑{|ak||b�| : (k, �) ∈ QN}.
Da Q�N/2� ⊂ ΔN , folgt QN �ΔN ⊂ QN �Q�N/2�, also
§ 8 Die Exponentialreihe 87
|ANBN−CN| � ∑{|ak||b�| : (k, �) ∈QN �Q�N/2�}= A∗NB∗N−A∗�N/2�B
∗�N/2� .
Da die Folge (A∗NB∗N) konvergiert, also eine Cauchy-Folge ist, strebt die letzteDifferenz fur N → ∞ gegen 0, d.h.
limN→∞
CN = limN→∞
ANBN = limN→∞
AN limN→∞
BN .
Damit ist gezeigt, dass ∑cn konvergiert und die im Satz behauptete Formeluber das Cauchy-Produkt gilt. Es ist noch die absolute Konvergenz von ∑cn
zu beweisen. Wegen
|cn|�n
∑k=0
|ak||bn−k|
ergibt sich dies durch Anwendung des bisher Bewiesenen auf die Reihen ∑ |an|und ∑ |bn|.Bemerkung. Die Voraussetzung der absoluten Konvergenz ist wesentlich furdie Gultigkeit von Satz 3, vgl. Aufgabe 8.2.
Satz 4 (Funktionalgleichung der Exponentialfunktion). Fur alle x,y ∈ R gilt
exp(x+ y) = exp(x)exp(y).
Bemerkung. Diese Funktionalgleichung heißt auch Additions-Theorem der Ex-ponentialfunktion.
Beweis. Wir bilden das Cauchy-Produkt der absolut konvergenten Reihenexp(x) = ∑xn/n! und exp(y) = ∑yn/n! . Fur den n-ten Koeffizienten der Pro-duktreihe ergibt sich mit dem binomischen Lehrsatz
cn =n
∑k=0
xk
k!· yn−k
(n− k)!=
1n!
n
∑k=0
(nk
)xkyn−k =
1n!
(x+ y)n.
Also folgt exp(x)exp(y) = ∑ 1n!(x+ y)n = exp(x+ y), q.e.d.
Corollar. a) Fur alle x ∈R gilt exp(x) > 0.
b) Fur alle x ∈R gilt exp(−x) =1
exp(x).
c) Fur jede ganze Zahl n ∈ Z ist exp(n) = en.
88 § 8 Die Exponentialreihe
Beweis. b) Aufgrund der Funktionalgleichung ist
exp(x)exp(−x) = exp(x− x) = exp(0) = 1 ,
also insbesondere exp(x) = 0 und exp(−x) = exp(x)−1.
a) Fur x � 0 sieht man an der Reihendarstellung, dass
exp(x) = 1+ x+x2
2+ . . . � 1 > 0 .
Ist x < 0, so folgt −x > 0 also exp(−x) > 0 und damit
exp(x) = exp(−x)−1 > 0 .
c) Wir zeigen zunachst mit vollstandiger Induktion, dass fur alle n ∈ N giltexp(n) = en.
Induktionsanfang n = 0. Es ist exp(0) = 1 = e0.
Induktionsschritt n→ n +1. Mit der Funktionalgleichung und Induktionsvor-aussetzung erhalt man
exp(n+1) = exp(n)exp(1) = ene = en+1.
Damit ist exp(n) = en fur n � 0 bewiesen. Mittels b) ergibt sich daraus
exp(−n) =1
exp(n)=
1en = e−n fur alle n ∈ N .
Somit gilt exp(n) = en fur alle ganzen Zahlen n.
Bemerkung. Die Formel c) des Corollars motiviert die Bezeichnung Exponen-tialfunktion. Man kann sagen, dass exp(x) die Potenzen en, n ∈ Z, interpoliertund so auf nicht-ganze Exponenten ausdehnt. Man schreibt deshalb auch sug-gestiv ex fur exp(x). Die Formel zeigt auch, dass es genugt, die Werte derExponentialfunktion im Bereich − 1
2 � x � 12 zu kennen, um sie fur alle x zu
kennen. Denn jedes x ∈ R lasst sich schreiben als x = n + ξ mit n ∈ Z und|ξ|� 1
2 und es gilt dann
exp(x) = exp(n+ξ) = en exp(ξ).
Da |ξ| klein ist, konvergiert die Exponentialreihe fur exp(ξ) besonders schnell.
AUFGABEN
8.1. a) Sei x � 1 eine reelle Zahl. Man zeige, dass die Reihe
s(x) :=∞
∑n=0
(xn
)
§ 8 Die Exponentialreihe 89
absolut konvergiert. (Die Zahlen(x
n
)wurden in Aufgabe 1.11 definiert.)
b) Man beweise die Funktionalgleichung
s(x+ y) = s(x)s(y) fur alle x,y � 1 .
c) Man berechne s(n+ 12) fur alle naturlichen Zahlen n � 1.
8.2. Fur n ∈ N sei
an := bn :=(−1)n√
n+1und cn :=
n
∑k=0
an−kbk .
Man zeige, dass die Reihen ∑∞n=0 an und ∑∞
n=0 bn konvergieren, ihr Cauchy-Produkt ∑∞
n=0 cn aber nicht konvergiert.
8.3. Sei A(n) die Anzahl aller Paare (k, �) ∈N×N mit
n = k2 + �2.
Man beweise: Fur alle x mit |x|< 1 gilt( ∞
∑n=0
xn2)2
=∞
∑n=0
A(n)xn.
8.4. Sei M = {1,2,4,5,8,10,16,20,25, . . .} die Menge aller naturlichen Zah-len � 1, die durch keine Primzahl = 2,5 teilbar sind. Man betrachte die zu Mgehorige Teilreihe der harmonischen Reihe und beweise
∑n∈M
1n
=52
.
Anleitung. Man bilde das Produkt der geometrischen Reihen ∑2−n und ∑5−n.
8.5. (Verallgemeinerung von Aufgabe 8.4.) Sei P eine endliche Menge vonPrimzahlen und N (P ) die Menge aller naturlichen Zahlen � 1, in deren Prim-faktor-Zerlegung hochstens Primzahlen aus P vorkommen (Existenz und Ein-deutigkeit der Primfaktor-Zerlegung sei vorausgesetzt.) Man beweise, dass
∑n∈N (P )
1n
= ∏p∈P
(1− 1
p
)−1< ∞ .
Bemerkung. Ist P die Menge aller Primzahlen, so besteht N (P ) aus allennaturlichen Zahlen � 1. Daraus kann man nach Euler folgern, dass es unend-lich viele Primzahlen gibt. Gabe es nur endlich viele, wurde die harmonischeReihe konvergieren.