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83 § 8 Die Exponentialreihe Wir behandeln jetzt die Exponentialreihe, die neben der geometrischen Reihe die wichtigste Reihe in der Analysis ist. Die Funktionalgleichung der Exponentialfunk- tion beweisen wir mithilfe eines allgemeinen Satzes ¨ uber das sog. Cauchy-Produkt von Reihen. Satz 1. ur jedes x R ist die Exponentialreihe exp(x) := n=0 x n n! absolut konvergent. Beweis. Die Behauptung folgt aus dem Quotienten-Kriterium (§7, Satz 7). Mit a n := x n /n! gilt f ¨ ur alle x = 0 und n 2|x| a n+1 a n = x n+1 (n + 1)! · n! x n = |x| n + 1 1 2 , q.e.d. Mit der Exponentialreihe definiert man die ber ¨ uhmte Eulersche Zahl e := exp(1)= n=0 1 n! = 1 + 1 + 1 2 + 1 3! + ... = 2.7182818 .... Bemerkung. Eine ¨ aquivalente Definition e = lim n 1 + 1 n n werden wir sp¨ ater in (15.12) kennenlernen. Satz 2 (Absch¨ atzung des Restglieds). Es gilt exp(x)= N n=0 x n n! + R N+1 (x), wobei |R N+1 (x)| 2 |x| N+1 (N + 1)! ur alle x mit |x| 1 + 1 2 N . Bei Abbruch der Reihe ist also der Fehler in dem angegeben x-Bereich dem Betrage nach h¨ ochstens zweimal so groß wie das erste nicht ber¨ ucksichtigte Glied. O. Forster, Analysis 1, Grundkurs Mathematik DOI 10.1007/978-3-658-00317-3_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Analysis 1 || Die Exponentialreihe

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83

§ 8 Die Exponentialreihe

Wir behandeln jetzt die Exponentialreihe, die neben der geometrischen Reihe diewichtigste Reihe in der Analysis ist. Die Funktionalgleichung der Exponentialfunk-tion beweisen wir mithilfe eines allgemeinen Satzes uber das sog. Cauchy-Produktvon Reihen.

Satz 1. Fur jedes x ∈R ist die Exponentialreihe

exp(x) :=∞

∑n=0

xn

n!

absolut konvergent.

Beweis. Die Behauptung folgt aus dem Quotienten-Kriterium (§7, Satz 7). Mitan := xn/n! gilt fur alle x = 0 und n � 2|x|∣∣∣an+1

an

∣∣∣= ∣∣∣ xn+1

(n+1)!· n!

xn

∣∣∣= |x|n+1

� 12

, q.e.d.

Mit der Exponentialreihe definiert man die beruhmte Eulersche Zahl

e := exp(1) =∞

∑n=0

1n!

= 1+1+12

+13!

+ . . . = 2.7182818 . . . .

Bemerkung. Eine aquivalente Definition e = limn→∞

(1+ 1

n

)nwerden wir spater

in (15.12) kennenlernen.

Satz 2 (Abschatzung des Restglieds). Es gilt

exp(x) =N

∑n=0

xn

n!+RN+1(x),

wobei

|RN+1(x)|� 2|x|N+1

(N +1)!fur alle x mit |x|� 1+ 1

2N .

Bei Abbruch der Reihe ist also der Fehler in dem angegeben x-Bereich demBetrage nach hochstens zweimal so groß wie das erste nicht berucksichtigteGlied.

O. Forster, Analysis 1, Grundkurs Mathematik DOI 10.1007/978-3-658-00317-3_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

84 § 8 Die Exponentialreihe

Beweis. Wir schatzen den Rest RN+1(x) = ∑∞n=N+1 xn/n! mittels der geometri-

schen Reihe ab. Es ist

|RN+1(x)| �∞

∑n=N+1

|x|nn!

=|x|N+1

(N +1)!

{1+

|x|N +2

+|x|2

(N +2)(N +3)+ . . .

}� |x|N+1

(N +1)!

{1+

|x|N +2

+( |x|

N +2

)2+( |x|

N +2

)3+ . . .

}.

Fur |x| � 1 + 12N ist der Ausdruck innerhalb der geschweiften Klammer

� 1+ 12 + 1

4 + 18 + . . . = 2, woraus die Behauptung folgt.

Numerische Berechnung von e

Wir benutzen die Fehler-Abschatzung, um e = exp(1) mit hoher Genauigkeitzu berechnen. Aus Satz 2 folgt fur k � 1, dass Rk+1(1)� 1/k!, d.h. bei Abbruchder Reihe fur e ist der Fehler hochstens so groß wie das letzte berucksichtigteGlied. Die Partialsummen Sk := ∑k

ν=0 1/ν! kann man rekursiv durch

S0 := u0 := 1, uk :=uk−1

k, Sk := Sk−1 +uk, (k > 0),

berechnen. Um eine vorgegebene Fehlerschranke ε > 0 zu unterschreiten,braucht man nur solange zu rechnen, bis uk < ε wird. Wir schreiben eineARIBAS-Funktion euler(n), die e auf n Dezimalstellen mit einem Fehler� 10−n ausrechnet. Dabei verwenden wir Ganzzahl-Arithmetik und multipli-

function euler(n: integer): integer;var

S, u, k: integer;begin

S := u := 10**(n+5);k := 0;while u > 0 do

k := k+1;u := u div k;S := S+u;

end;writeln("Euler number calculated in ",k," steps");return (S div 10**5);

end.

§ 8 Die Exponentialreihe 85

zieren alle Großen mit 10n. Dann braucht nur bis auf ε = 1 genau gerechnetzu werden. Zur Berucksichtigung von Rundungsfehlern rechnen wir noch mit5 Stellen mehr. In diesem Code ist u div k (wie in PASCAL) die Integer-Division, d.h. es wird die ganze Zahl �u/k� berechnet, die vom exakten Er-gebnis u/k um weniger als 1 abweicht. Da u ganzzahlig ist, wird die while-Schleife abgebrochen, sobald u < 1 ist, und der gesamte akkumulierte Run-dungsfehler ist hochstens gleich der Anzahl der Schleifen-Durchgange. So-lange diese kleiner als 105 bleibt, wird die angestrebte Genauigkeit erreicht.Testen wir die Funktion mit n = 100, ergibt sich==> euler(100).Euler number calculated in 73 steps-: 2_71828_18284_59045_23536_02874_71352_66249_77572_47093_69995_95749_66967_62772_40766_30353_54759_45713_82178_52516_64274

Dies ist naturlich als e = 2.71828 . . . zu interpretieren. Hier wurde also in 73Schritten e auf 100 Dezimalstellen genau berechnet. Wir ersparen uns Testsmit hoherer Stellenzahl (etwa n = 1000 oder n = 10000), die der Leser leichtselbst durchfuhren kann.

Cauchy-Produkt von Reihen

Zum Beweis der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion benutzen wirfolgenden allgemeinen Satz uber das Produkt von unendlichen Reihen.

Satz 3 (Cauchy-Produkt von Reihen). Es seien ∑∞n=0 an und ∑∞

n=0 bn absolutkonvergente Reihen. Fur n ∈N werde definiert

cn :=n

∑k=0

akbn−k = a0bn +a1bn−1 + . . .+anb0 .

Dann ist auch die Reihe ∑∞n=0 cn absolut konvergent mit

∑n=0

cn =( ∞

∑n=0

an

)·( ∞

∑n=0

bn

).

Beweis. Die Definition des Koeffizienten cn lasst sich auch so schreiben:

cn = ∑{akb� : k + � = n}.Es wird dabei uber alle Indexpaare (k, �) summiert, die in N×N auf der Dia-gonalen k + � = n liegen. Deshalb gilt fur die Partialsumme

CN :=N

∑n=0

cn = ∑{akb� : (k, �) ∈ ΔN},

86 § 8 Die Exponentialreihe

wobei ΔN das wie folgt definierte Dreieck in N×N ist:

ΔN := {(k, �) ∈N×N : k + � � N}, vgl. Bild 8.1.

��

��

��

��

��

��

��

ΔN

QN � ΔN

QN

(0,N)

(N,0)

(N,N)

��

��

��

��

��

��

��

��

��

��

��

��

��

��

���

���

� � � � � � �

� � � � � � �

� � � �

� � � � � � �

� � � � � �

� � � � � � �

� � � � � � � Bild 8.1

Multiplizieren wir die Partialsummen

AN :=N

∑n=0

an und BN :=N

∑n=0

bn

aus, erhalten wir als Produkt

ANBN = ∑{akb� : (k, �) ∈QN},wobei QN das Quadrat

QN := {(k, �) ∈N×N : 0 � k � N, 0 � � � N}bezeichnet. Da ΔN ⊂ QN , konnen wir schreiben

ANBN−CN = ∑{akb� : (k, �) ∈ QN �ΔN}.Fur die Partialsummen

A∗N :=N

∑n=0|an|, B∗N :=

N

∑n=0|bn|

erhalt man wie oben

A∗NB∗N = ∑{|ak||b�| : (k, �) ∈ QN}.

Da Q�N/2� ⊂ ΔN , folgt QN �ΔN ⊂ QN �Q�N/2�, also

§ 8 Die Exponentialreihe 87

|ANBN−CN| � ∑{|ak||b�| : (k, �) ∈QN �Q�N/2�}= A∗NB∗N−A∗�N/2�B

∗�N/2� .

Da die Folge (A∗NB∗N) konvergiert, also eine Cauchy-Folge ist, strebt die letzteDifferenz fur N → ∞ gegen 0, d.h.

limN→∞

CN = limN→∞

ANBN = limN→∞

AN limN→∞

BN .

Damit ist gezeigt, dass ∑cn konvergiert und die im Satz behauptete Formeluber das Cauchy-Produkt gilt. Es ist noch die absolute Konvergenz von ∑cn

zu beweisen. Wegen

|cn|�n

∑k=0

|ak||bn−k|

ergibt sich dies durch Anwendung des bisher Bewiesenen auf die Reihen ∑ |an|und ∑ |bn|.Bemerkung. Die Voraussetzung der absoluten Konvergenz ist wesentlich furdie Gultigkeit von Satz 3, vgl. Aufgabe 8.2.

Satz 4 (Funktionalgleichung der Exponentialfunktion). Fur alle x,y ∈ R gilt

exp(x+ y) = exp(x)exp(y).

Bemerkung. Diese Funktionalgleichung heißt auch Additions-Theorem der Ex-ponentialfunktion.

Beweis. Wir bilden das Cauchy-Produkt der absolut konvergenten Reihenexp(x) = ∑xn/n! und exp(y) = ∑yn/n! . Fur den n-ten Koeffizienten der Pro-duktreihe ergibt sich mit dem binomischen Lehrsatz

cn =n

∑k=0

xk

k!· yn−k

(n− k)!=

1n!

n

∑k=0

(nk

)xkyn−k =

1n!

(x+ y)n.

Also folgt exp(x)exp(y) = ∑ 1n!(x+ y)n = exp(x+ y), q.e.d.

Corollar. a) Fur alle x ∈R gilt exp(x) > 0.

b) Fur alle x ∈R gilt exp(−x) =1

exp(x).

c) Fur jede ganze Zahl n ∈ Z ist exp(n) = en.

88 § 8 Die Exponentialreihe

Beweis. b) Aufgrund der Funktionalgleichung ist

exp(x)exp(−x) = exp(x− x) = exp(0) = 1 ,

also insbesondere exp(x) = 0 und exp(−x) = exp(x)−1.

a) Fur x � 0 sieht man an der Reihendarstellung, dass

exp(x) = 1+ x+x2

2+ . . . � 1 > 0 .

Ist x < 0, so folgt −x > 0 also exp(−x) > 0 und damit

exp(x) = exp(−x)−1 > 0 .

c) Wir zeigen zunachst mit vollstandiger Induktion, dass fur alle n ∈ N giltexp(n) = en.

Induktionsanfang n = 0. Es ist exp(0) = 1 = e0.

Induktionsschritt n→ n +1. Mit der Funktionalgleichung und Induktionsvor-aussetzung erhalt man

exp(n+1) = exp(n)exp(1) = ene = en+1.

Damit ist exp(n) = en fur n � 0 bewiesen. Mittels b) ergibt sich daraus

exp(−n) =1

exp(n)=

1en = e−n fur alle n ∈ N .

Somit gilt exp(n) = en fur alle ganzen Zahlen n.

Bemerkung. Die Formel c) des Corollars motiviert die Bezeichnung Exponen-tialfunktion. Man kann sagen, dass exp(x) die Potenzen en, n ∈ Z, interpoliertund so auf nicht-ganze Exponenten ausdehnt. Man schreibt deshalb auch sug-gestiv ex fur exp(x). Die Formel zeigt auch, dass es genugt, die Werte derExponentialfunktion im Bereich − 1

2 � x � 12 zu kennen, um sie fur alle x zu

kennen. Denn jedes x ∈ R lasst sich schreiben als x = n + ξ mit n ∈ Z und|ξ|� 1

2 und es gilt dann

exp(x) = exp(n+ξ) = en exp(ξ).

Da |ξ| klein ist, konvergiert die Exponentialreihe fur exp(ξ) besonders schnell.

AUFGABEN

8.1. a) Sei x � 1 eine reelle Zahl. Man zeige, dass die Reihe

s(x) :=∞

∑n=0

(xn

)

§ 8 Die Exponentialreihe 89

absolut konvergiert. (Die Zahlen(x

n

)wurden in Aufgabe 1.11 definiert.)

b) Man beweise die Funktionalgleichung

s(x+ y) = s(x)s(y) fur alle x,y � 1 .

c) Man berechne s(n+ 12) fur alle naturlichen Zahlen n � 1.

8.2. Fur n ∈ N sei

an := bn :=(−1)n√

n+1und cn :=

n

∑k=0

an−kbk .

Man zeige, dass die Reihen ∑∞n=0 an und ∑∞

n=0 bn konvergieren, ihr Cauchy-Produkt ∑∞

n=0 cn aber nicht konvergiert.

8.3. Sei A(n) die Anzahl aller Paare (k, �) ∈N×N mit

n = k2 + �2.

Man beweise: Fur alle x mit |x|< 1 gilt( ∞

∑n=0

xn2)2

=∞

∑n=0

A(n)xn.

8.4. Sei M = {1,2,4,5,8,10,16,20,25, . . .} die Menge aller naturlichen Zah-len � 1, die durch keine Primzahl = 2,5 teilbar sind. Man betrachte die zu Mgehorige Teilreihe der harmonischen Reihe und beweise

∑n∈M

1n

=52

.

Anleitung. Man bilde das Produkt der geometrischen Reihen ∑2−n und ∑5−n.

8.5. (Verallgemeinerung von Aufgabe 8.4.) Sei P eine endliche Menge vonPrimzahlen und N (P ) die Menge aller naturlichen Zahlen � 1, in deren Prim-faktor-Zerlegung hochstens Primzahlen aus P vorkommen (Existenz und Ein-deutigkeit der Primfaktor-Zerlegung sei vorausgesetzt.) Man beweise, dass

∑n∈N (P )

1n

= ∏p∈P

(1− 1

p

)−1< ∞ .

Bemerkung. Ist P die Menge aller Primzahlen, so besteht N (P ) aus allennaturlichen Zahlen � 1. Daraus kann man nach Euler folgern, dass es unend-lich viele Primzahlen gibt. Gabe es nur endlich viele, wurde die harmonischeReihe konvergieren.