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Ludwig-Maximilians-Universität München Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft Übung: Anarchismus reloaded (PT) Sommersemester 2010 Dr. Peter Seyferth Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne Wozu wissenschaftlicher Anarchismus? 15. September 2010 Florian Geisler HF: Politikwissenschaft, 4. FS Prinzregentenstraße 156 NF: Soziologie, 4. FS 81677 München Ausführliche Korrektur [email protected]

Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

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What can anarchism contribute to political theory and the social sciences in general? A lot, argues the author, and points out that an academic discourse of the social without an anarchist paradigm will more and more lack explanatory power in the future. In order to open up a new perspective for political theory, the author examines crucial points of classical scientific anarchism and combines them with key arguments of postmodern philosophy to conlude that anarchy and the academy both need each other.

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Page 1: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGeschwister-Scholl-Institut für Politische WissenschaftÜbung: Anarchismus reloaded (PT)Sommersemester 2010Dr. Peter Seyferth

Anarchistische Politische Theorie in der PostmoderneWozu wissenschaftlicher Anarchismus?

15. September 2010

Florian Geisler HF: Politikwissenschaft, 4. FSPrinzregentenstraße 156 NF: Soziologie, 4. FS81677 München Ausführliche Korrektur

[email protected]

Page 2: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Ich versichere, dass ich die vorgelegte Seminararbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe verfasst, keine anderen als die angegebenen Quellen verwendet und die den benutzten Quellen entnommenen Passagen als solche kenntlich gemacht habe. Die Seminararbeit ist in dieser oder einer ähnlichen Form in keinem anderen Kurs vorgelegt worden.

Datum Unterschrift

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Abstract

What can anarchism contribute to political theory and the social sciences in

general? A lot, argues the author, and points out that an academic discourse

of the social without an anarchist paradigm will more and more lack

explanatory power in the future. In order to open up a new perspective for

political theory, the author examines crucial points of classical scientific

anarchism and combines them with key arguments of postmodern

philosophy to conlude that anarchy and the academy both need each other.

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Inhaltsverzeichnis:i. Eigenständigkeitserklärungii. Abstractiii. Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung: Wiederkehr einer totgelaubten Disziplin? ............................ ........ 1

II. Wissenschaftlicher Anarchismus - Wer kann das eigentlich wollen? ........... 3

1. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Anarchismus ......................... 3 a) nationalstaatliche Organisation der Wissenschaft ............................... 4 b) Hierarchie in der Wissenschaft ............................................................... 4 c) Wissenschaft zwischen Reproduktion und Revolution ...................... 5

2. Der Anarchismus braucht die Wissenschaft ............................................ 6 a) Eine Ideologie für Verrückte? ................................................................. 6 b) Anarchismus als Diskurs ........................................................................ 7 c) Entrismus ................................................................................................... 8

3. Die Wissenschaft braucht den Anarchismus ........................................... 8 a) Kinder der Aufklärung ........................................................................... 9 b) Der blinde Fleck der Sozialwissenschaft ............................................. 10

III. Pjotr Kropotkins wissenschaftlicher Anarchismus ....................................... 11

1. Anarchistische Anthropologie: Darwin ................................................... 11 a) Der schlechte Mensch als Quelle das Staates und vice versa ............ 12 b) Kropotkins Gegenkonstruktion: "Naturwüchsige Ordnung"............ 13

2. Dialektik von Herrschaft und Freiheit: Hegel ........................................ 14 a) Die scholastische Tradition der Dialektik ............................................ 14 b) Kropotkins Dialektik aus Herrschaft und Freiheit ............................. 15

IV. Postmoderne Anschlüsse für wissenschaftlichen Anarchismus .................. 16

1. Letztbegründungen und Universalismus ............................................... 16 a) Letztbegründungszusammenhänge in der Moderne ........................ 16 b) Postmoderne: Skepsis gegen die Metaerzählungen ........................... 17

2. Wissen als Entwicklungsfaktor ................................................................. 17 a) Fortschritt als Übersetzungsproblem .................................................... 17 b) Anarchismus im Wechsel der Metadiskurse........................................ 18

V. Schluss: Delegitimierung und Ent-episierung .................................................. 19

iv. Literaturverzeichnis iii

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I. Einleitung: Anarchismus - Wiederkehr einer totgelaubten Disziplin?

Der Anarchismus gehört nicht gerade zu den prägenden politischen Theorien

der heutigen Welt. Es sind vor allem die Gedanken des Liberalismus und des

Marxismus, die - in verschiedenen Kombinationen und Spielarten - den

gesellschaftlichen Strukturen nicht nur der westlichen Welt zu Grunde liegen.

Beide schreiben sich auf denkbar unterschiedliche Weise Freiheit und

Gerechtigkeit auf die Fahnen. Doch wie gehen die beiden tatsächlich mit der

Freiheit um? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass beide Ansätze für ihre

theoretisch antizipierte Freiheit die zunächst praktische Unfreiheit in Kauf

nehmen: Der Liberalismus ignoriert bewusst die faktische Unfreiheit der

materiell Benachteiligten und sagt vorraus, dass mit dieser Methode die

größtmögliche Freiheit für alle herrschen wird. Ähnlich der Marxismus: Er will

in Kauf nehmen, den Menschen zunächst im Zuge der Abschaffung der

materiellen Ungleichheit Gewalt anzutragen, und auch er prophezeit mit dieser

Methode eine in Zukunft freiheitlichere Gesellschaft.

Mit diesen beiden Denkfiguren kommt man bei der Erklärung der heutigen

Gesellschaften sehr weit. Doch wenn es an Perspektiven für die Zukunft der Welt

geht, stößt man mit ihnen bald an Grenzen. Zwar hat die Kombination beider

Ansätze unleugbar zu einem gewissen Grad von Freiheit geführt - genauso

eindeutig bleibt die heutige Gesellschaft aber auch in vielerlei Hinsicht sehr

unfrei.

Doch nicht nur als konkrete politische Theorien oder Gesellschaftsmodelle,

sondern auch als abstrakte sozialwissenschaftliche Paradigmata haben beide

Ansätze viel von ihrer einstigen Anschlussfähigkeit verloren. Besonders der

Marxismus hat einiges von seinem einst sehr kritischen, revolutionären

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Potential eingebüßt. Es stellt sich daher die Frage, wo nach neuen Ansätzen

gesucht werden kann. Gerade im Kontext jener Problematik um den

Freiheitsbegriff, der in den beiden herkömmlichen Ansätzen kein vollständiger

Freiheitsbegriff zu sein scheint, lohnt es sich, einen Blick auf den Anarchismus

als politische Theorie zu werfen. Mit seinem Paradigma der praktisch-

antizipatorischen Politik gibt er eine sozialphilosophische Alternative zu den

eher theoretisch-antizipatorischen Programmen von Liberalismus und

Marxismus. Nicht die Frage, wie man die Welt in Zukunft frei machen kann (ob

eher durch Selbstregulierung materiellen Zwänge oder Fremdregulierung der

materiellen Zwänge durch politischen Zwang), sondern die Frage, wie die Welt

jetzt und hier frei sein kann (nämlich durch Beseitigung aller Zwänge), steht im

Mittelpunkt. Damit ist eine ganz andere Perspektive für die

sozialwissenschaftliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft aufgetan.

Angewendet wird diese jedoch nur wenig. Die klassisch liberale Vertragstheorie

und die marxistische Theorie bilden den Normalzustand der

Sozialwissenschaften. Auf die Frage, warum es kaum einen anarchistischen

sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt, wird man intuitiv schnell auf die

prinzipielle Unvereinbarkeit von Anarchie und Wissenschaft verwiesen. Eine

Philosophie, die in erster Linie die Abschaffung jeglicher Hierarchien

propagiert, passe nicht mit einem notwendigerweise hierarchischen System wie

dem der Wissenschaft zusammen. Aber ist dem wirklich so? In der

vorliegenden Arbeit soll diesen Fragen nachgegangen werden: Ist ein

wissenschaftlicher Anarchismus nötig und möglich?

Dazu soll in drei Schritten vorgegangen werden: Zuerst werden die

vermeintlichen Inkompatibilitäten zwischen Anarchismus und der Akademie1

1 "Akademie" wird hier in Anlehnung an das englische "academy" verwendet; gemeint ist immer das wissenschaftliche System im weiteren Sinn, also Forschung, Lehre, Studium, Universitäten und Fakultäten als System, nicht konkrete Institute

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dargestellt und in Bezug auf anarchistische Autoren gezeigt, warum diese

Argumente bei genauerem Hinsehen nicht gegen, sondern gerade für eine

solche Verbindung sprechen. In einem zweiten Schritt wird wird ein notwendig

kurzer Blick darauf geworfen, auf welche Art und Weise der namhafte

klassisch-anarchistische Autor Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, der wie kein

anderer für einen wissenschaftlichen Anarchismus steht, mit dieser Verbindung

umgegangen ist. Dazu werden einige Kernpunkte der wissenschaftlich-

anarchistischen Themen Kropotkins herausgegriffen und aufgezeigt, warum ein

solcher wissenschaftlicher Anarchismus einerseits besonders fruchtbare

Alternativen anbieten kann, andererseits an manchen Knackpunkten gerade aus

anarchistischer Perspektive ganz besonders problematisch erscheint. In einem

dritten Schritt soll skizzenhaft angedeutet werden, inwiefern im Umfeld der

Postmodernen Philosophie manche dieser alten Probleme des klassischen

wissenschaftlichen Anarchismus verschwinden können bzw. welche neuen

Anschlussmöglichkeiten für autonomes und antiautoritäres Denken

entstandenden sind. Konkret sollen in Bezug auf die Diskursphilosophie Jean-

François Lyotards, einem wesentlichen Wegbereiter der Postmoderne, an den

Problemstellen eines wissenschaftlichen Anarchismus weitergedacht werden.

II. Wissenschaftlicher Anarchismus - Wer kann das eigentlich wollen?

1. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und AnarchismusDie akademisch betriebene Auseinandersetzung mit dem Anarchismus ist

umstritten. Es gibt Stimmen, die auf eine vermeintliche prinzipielle

Unvereinbarkeit von anarchischer und akademischer Praxis hinweisen und

damit automatisch auch eine Unvereinbarkeit von anarchistischer Theorie und

akademischer Arbeitsweise implizieren. Vor dem Hintergrund der besonderen

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Auffassung der Anarchisten vom Verhältnis von Theorie und Praxis, in der

letzterer ein eindeutiger Vorrang eingeräumt wird, stellt dies Akademiker, die

sich mit dem Anarchismus als wissenschaftlichem Objekt betrachten und sich

gleichzeitig einer anarchistischen Bewegung mehr oder weniger zurechnen

wollen, vor ein gewisses Erklärungsproblem. Denn wenn eine ideologische

Haltung zum Gegenstand (und auch zur Forschungspraxis) werden soll, die

gerade Freiheit von Hierarchie und Ausbeutung artikulieren will ist die

Wissenschaft ein schwieriger Ort dafür. Denn tatsächlich gehört das

Wissenschaftssystem auf den ersten Blick zu den ausbeuterischsten und

hierarchischsten, einfach un-anarchistischsten Gesellschaftsbereichen

überhaupt:

Erstens sind Wissenschaft und Bildung in großen Teilen noch immer primär

nationalstaatlich organisiert. Die Wissenschaften, der akademische Diskurs,

werden von Staaten zum Zwecke des nationalen oder supranationalen

Standortvorteils gefördert. Es wird ein Konkurrenzverhältnis zwischen

künstlichen Nationen hergestellt, dass eben nicht einer anarchistischen Idee

vom Teilen entspricht, sondern gerade auf der Nicht-Verfügbarmachung bzw.

Verknappung von Wissen zum eigenen Vorteil basiert.

Zweitens ist der akademische Diskurs sehr stark hierarchisiert. Professoren

bestimmen über Dozenten, Dozenten über Studenten, und über alle drei

bestimmt das Rektorat. Die Vorstellung, dass ein Dozent als Experte (und als

Vertreter der Lehrmeinung des Ober-Experten, des Professors nämlich) seinen

Studenten beibringt, was denn genau Anarchismus ist, erscheint einem

Anarchisten wohl untragbar. Damit einher geht die Generierung von

Abhängigkeits- und Kontrollverhältnissen - der Student muss dem Dozenten

bis zu einem gewissen Punkt Folge leisten, besonders aber findet Indoktrination

4

Page 9: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

statt: Indoktrination nämlich auf die jeweils geltenden Prinzipien der

Wissenschaft - die, wie wir heute wissen, eben auch keine logisch

einwandfreien, wertfreien Axiome sind, sondern eine, provokant gesagt

"beliebige", soziologisch gesagt "sich-in-der-Praxis(!)-bewährende"

Diskursform.

Diese Punkte lassen die Wissenschaft - nicht ganz zu unrecht - als Teil der

Reproduktion des Gesamtsystems erscheinen. Es scheint fragwürdig, ob ein

Denker, der sich in diesem Feld bewegt, überhaupt einen wirklich kritischen

Beitrag leisten kann, oder nur am das Bestehen des Systems mitwirkt. Das

meinen auch Shukatitis und Graeber - beides Akademiker mit Reputation in der

anarchistischen Szene, wenn sie in ihrem Aufsatz No Gods, No Masters Degrees

unter der Überschrift Escaping the College-Industrial Complex schreiben:

"Education as we know it exists primarly to indoctrinate habits."2 Aber sie

erkennen gleichzeitig an, dass Wissenschaft und Bildung auch mehr sind als

nur Reproduktion des Bestehenden. Während in dem genannten Aufsatz das

Bildungssystem zumindest schon als Absprungspunkt, als Teil des "resource-

seizing" für anarcho-revolutionäre Bewegungen gesehen wird, spricht Shukaitis

in einem anderen Aufsatz namens Infrapolitics and the nomadic educational

machine schon von einem "ambivalent relationship"3 zwischen Anarchismus und

der Akademie. Neben all den Inkompatibilitäten sind damit vor allem auch die

Anschlussmöglichkeiten gemeint, die eine solche Verbindung bieten kann.

Vorausgesetzt, dass anarchist studies nicht nur bei "the study of anarchism and

anarchists by anarchists"4 -also bei einer Institutionalisierung des anarchistischen

2 CrimethInc. (2007). No Gods, No Masters Degrees. Constituent Imagination. Militant Investigations. Collective Theorization. S.Shukaitis and D. Graeber. Oakland/Edinburgh, AK Press: 301-313, S.302

3 Shukaitis, Stevphen (2009): Infrapolitics and the Nomadic Educational Machine. In.: Adams, M. R.; Garton, A.; Amster, Randall: Contemporary Anarchist Studies. An introductory anthology of anarchy in the academy. London: Routledge S.164

4 ebd., S. 166

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Page 10: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Geists - stehen bleiben, können sie einen Beitrag leisten zur "articulation,

preservation, and reinterpretation of cultural and social forms"5. Ich möchte

mich in dieser Arbeit diesem Grundgedanken eines möglichen fruchtbaren

Verhältnisses von Anarchismus und akademischer Reflexion anschließen.

Darüber hinausgehend soll argumentiert werden, dass akademische

Gesellschaftswissenschaft und der Anarchismus auf einander angewiesen sind.

Die These zerfällt in zwei Hälften: Erstens wirft sie die Frage auf, wozu eine

anarchistische Bewegung eine - am Ende sogar institutionell fixierte -

wissenschaftliche Selbstreflexion braucht. Zweitens muss begründet werden,

warum die Sozialwissenschaft sich ein neues, anarchistisches Paradigma

eröffnen sollte.

2. Der Anarchismus braucht die WissenschaftDie "Anarchie" hat zuallererst einmal das Problem, dass ihr Name ein verpönter

Begriff ist. Im Allgemeinen werden dadurch Assoziationen von Chaos,

Zerstörung, Unordnung, Asozialen usw. hervorgerufen. Anders als

beispielsweise "den Sozialdemokraten" oder "den Liberalen" wird mit "den

Anarchisten" keine politische Einstellung verbunden. Gleichzeitig ist es gängige

gesellschaftliche Praxis, sich zur Begründung politischer Entscheidungen auf

wissenschaftliche Argumente zu beziehen. Wissenschaftlichkeit ist eine

wesentliche Legitimationsquelle für Politik. Am deutlichsten sieht man dies in

der heutigen Energiepolitik und all ihren Derivaten, aber auch Bildungs-,

Wirtschafts-, Finanzpolitik und viele mehr richten sich nach wissenschaftlichen

Diskursen; eine "Autorität des Spezialisten" entsteht. Es scheint nur intuitiv, das

eine auch eine solche Autorität von Anarchisten hinterfragt wird. Allerdings

sollte thematisiert werden dürfen, wie rigide man sich als Anarchist von

5 ebd., S.167

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Page 11: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Wissenschaft als Autoritätsquelle abgrenzen sollte. Denn eine Gleichung

Autorität = Zwang scheint mir hier zu einfach gestrickt. Zumindest gegen einen

wissenschaftlichen anarchistischen Diskurs, der den Ideen des Anarchismus

insoweit "Autorität" verleiht, als dass sie wieder als ernstzunehmende Vision

statt weltfremdes Hirngespinst erscheinen, kann ich keine haltbaren Einwände

ausmachen. Solche Einwände würden dann wohl tatsächlich etwas weltfremd

anmuten.

Des Weiteren stellt sich auch einem anarchistischen Diskurs ein ganz

pragmatisches Problem: Nämlich dass er ein Diskurs ist, und somit nur als

gesprochene oder geschriebene Sprache funktioniert. Eine Sprache bedient sich

aber immer Begriffen, denen ihre gegenseitige Abgrenzung und Verbindung

wesentlich ist. Und gerade bei den besonders umstrittenen Begriffen kommt es

eben meistens auch aufs Detail an. Jede politische Perspektive, die über ein

"Gegen die Gesamtsituation" heraus kommen möchte, ist auf daher auf genaue

Begriffe angewiesen. Solche Begriffssysteme entstehen aber nicht von selbst, sie

müssen hergestellt werden. Das Ausarbeiten von Begriffen stellt im wahrsten

Sinne des Wortes Arbeit dar. Diese Arbeit beginnt selbstverständlich im

alltäglichen Gespräch. Aber der Ort, an dem die Begriffe bis ins Detail ausgefeilt

werden, die - wenn man so will - Begriffs-Fabrik trägt das Firmenlogo

"Wissenschaft". Ganz arbeitsteilig wird hier die Begriffsarbeit einem

bestimmten Teil der Gesellschaft übertragen. Dass diese Übertragung nicht

ohne Transformationsarbeit und -Verlust passieren kann, ist ebenso klar wie der

Umstand, dass die Fabrik ihrem Begriffsprodukt in mancherlei Hinsicht ihre

ganz eigene "Prägung" aufdrücken wird. Das kann problematisch sein. Etwa

dann, wenn - um bei der Metapher zu bleiben - die Arbeiter der Begriffsfabrik

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Page 12: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

sich nur einseitig aus bestimmten Kreisen der Gesellschaft rekrutieren. Dann

wird sie möglicherweise blind für die abnehmende Qualität ihrer Produkte.

Und wenn dies dann auch noch zu einer Verstärkung der einseitigen

Rekrutierung führt, entsteht daraus ein ungesunder Teufelskreis. Das ist aber

kein strukturelles Problem der Wissenschaft an sich, sondern nur eine Frage der

Betonung. Und gerade zu den Zeiten, in denen in der Wissenschaft andere

Probleme, z.B. das der wirtschaftlichen Rentabilität, stärker betont werden (ein

Trend, der heute gemeint ist, wenn das Wort "Neoliberalismus" fällt), sollte der

wissenschaftliche Diskurs von den Kritikern dieses Betonungs-

Ungleichgewichts nicht aufgegeben, sondern in neues Gleichgewicht gebracht

werden. "Reclaim the academy" wäre hier wohl die passende catchphrase.

Der klassische Vorwurf des Entrismus kann dann so gesehen auch gar kein

Vorwurf mehr sein, sondern immer nur eine Feststellung sein. Denn ein jeder

ist so schon immer im (hier: Wissenschafts-) System drin, schon dadurch, dass

er potentiell darin sein könnte. Vielleicht kann man es weniger provokant

andersherum formulieren: Das System ist immer schon überall, gerade dort, wo

man sich von ihm abgrenzen will. Aufs Wissenschaftssystem gemünzt: Dann,

wenn man sich radikal (im Sinne von prinzipiell statt konkret-inhaltlich) davon

abgrenzt, trägt man zur Verfestigung eines "falschen" Systems bei. Das kann

aber gerade nicht Perspektive für eine anarchistische Bewegung sein. Der

Anarchismus braucht den wissenschaftlichen Diskurs, sowohl zur

Überwindung seiner zweifelthaften Reputation in der Gesellschaft, als auch zur

Erzeugung einer soliden Position im wissenschaftlichen (politischen?)

Begriffssystem.

3. Die Wissenschaft braucht den Anarchismus

Im obigen Abschnitt hat sich bereits ein Teil dieser nun umgekehrten

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Argumentaton eingeschlichen. Liberalismus und Marxismus sind aus

revolutionären Bewegungen hervorgegangen. Heute erfüllen sie heute eine

staatstragende Funktion: Sie stellen zwei tragende Säulen der modernen Art der

Vergesellschaftung von Menschen dar. Der Liberale Gedanke erzeugt die

individuelle Person, die als ein freier Sprecher unter vielen gleichen und gleich-

berechtigten Sprechern eine freie Gemeinschaft mitbegründet. Das Individuum

erkennt die Autorität dieser Gesellschaft über sich dabei als seine eigene

Autorität über sich an. Das drückt sich im Gedanken der Volkssouveränität mit

all seinen Implikationen aus. Der Marxistische Gedanke erzeugt dagegen das

Bewusstsein dafür, dass die Freiheit der Person eben nicht a priori gegeben ist,

sondern dass das Individuum immer schon in seinem Dasein auf vielfältige

Weise, und ganz besonders auf materielle Weise vorbestimmt ist. Damit das

Individuum die Autorität einer Gemeinschaft anerkennen kann, muss daher

das Individuum von seiner Determiniertheit durch die materiellen

Gegebenheiten befreit werden, zumindest die Ungleichheit der materiellen

Umstände muss demnach überwunden werden. Der Knackpunkt liegt in den

Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze: Beide thematisieren nicht direkt oder

zumindest nicht hauptsächlich das Phänomen der Herrschaft von Menschen

über Menschen, sondern viel eher das Problem der Legitimation von Herrschaft.

Das ist einerseits ganz natürlich, denn Beide sind Kinder der Aufklärung:

Durch die sich im Zuge der Industrialisierung verändernden

Lebenserfahrungen der Menschen im 18. und 19. Jahrhundert, sprich der

fortschreitenden Zersetzung universalinklusiver Lebensformen (Familie, Stand,

Tradition) wurde absolute Herrschaft zunehmend erklärungsbedürftig. Aber eben

nur absolute Herrschaft nicht Herrschaft an sich. Auf dieses Problem reagierte die

(zuerst: bürgerliche) Gesellschaft mit dem Diskurs über Legitimität. So wurde

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Page 14: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

sichergestellt, dass das Prinzip Herrschaft einerseits erhalten bleibt,

andererseits den modernen Umständen angepasst wird. Gleichzeitig wurde

somit die Herrschaft in die "richtigen", d.h. bürgerlichen Hände gelegt, sowie

durch eine Verbindung von Herrschaftslegitimität an das Sachliche Argument

eine Rückversicherung eingebaut, dass die Herrschaft auch in bürgerlichen

Händen bleibt, weil das Bürgertum - die Subjekte der Gesellschaft weil

tatsächlich Subjekte im Wirtschaftskreislauf - das sachliche Argument verkörpert.

Das ist der Hintergrund liberaler politischer Theorie. Die Veränderung der

gesellschaftlichen Differenzierungschemata machte aber nicht an einem

bestimmten Punkt halt, so dass erneut eine ähnlich revolutionäre Bewegung

entstand: Diesmal war es das Proletariat, dem die bürgerliche Herrschaft

unplausibel wurde. Denn mittlerweile waren die Inklusionserfahrungen, die

die Gesellschaft für die Menschen bereithielt, so kleinteilig, dass sich letztlich

Alle als prinzipiell gleich darstellen lassen konnten, also auch als prinzipiell

gleiche Subjekte im Wirtschaftskreislauf. Unterschiede, die diesem

Gleichheitsgedanken zuwiderliefen, wurden daher nur noch als künstlich,

durch ein falsches System hervorgerufen, aufgefasst. Daher die marxistische

Lösung: System verändern und Ungleichheiten abschaffen. Deswegen heißt es im

kommunistischen Manifest: "1. Expropriation des Grundeigentums [...]", "2.

Starke Progressivsteuer", "3. Abschaffung des Erbrechts" und eben nicht zuletzt

auch "8. Gleicher Arbeitszwang für alle."6 Das ist der Hintergrund marxistischer

Gesellschaftstheorie. Und zusammen mit dem liberalen Ansatz spannt er den

ordnungsphilosophischen Raum auf, der uns heute als Sozialwissenschaft

vorliegt: Das Problem, dass prinzipiell jeder Mensch ein Subjekt ist, das tun und

lassen kann was es will und deshalb eine Ordnung nötig ist, um diese Freiheit

einzuschränken. Und das macht den blinden Fleck des mainstreams der

6 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1985) [1848]: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz

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Page 15: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Sozialwissenschaften heute aus: Sie fragen nach den richtigen Bedingungen für

eine gesellschaftliche Ordnung durch richtige Herrschaft uns suchen in den

Erfahrungen nach den Richtlinien dafür. Das Prinzip Herrschaft selbst wird

nicht hinterfragt. Und genau das wird heute aber wieder erklärungsbedürftig.

Die vorliegende Arbeit ist das beste Beispiel dafür: In einer aus Überfluß

geprägten Welt, in der sowieso für Alles gesorgt zu sein scheint wird die

Vorstellung einer Notwendigkeit der Einschränkung von Beliebigkeit und

Freiheit zunehmend unplausibel; Ordnung wird gar als lästig empfunden,

persönliche Freiheit und Entfaltung wird zu einer Maxime. Aber -zumindest:

hoffentlich- nicht mehr nur in der exklusiven Variante, sondern in der Gestalt

persönlicher Freiheit als allgemeiner Größe. Die Sozialwissenschaft wird sich

damit auseinandersetzen müssen und hat möglicherweise jetzt schon einiges

auf diesem Weg nachzuholen. Ein anarchistisches Paradigma wird hier hilfreich

sein.

III. Kropotkins wissenschaftlicher Anarchismus

Macht man sich Gedanken über die Vereinbarkeit von Anarchismus und

Wissenschaft, muss man nicht bei Null beginnen. Bei Pjotr Kropotkin findet

man ein breites philosophisches und sozialwissenschaftliches Denkgebäude

unter anarchistischem Paradigma. Sein wissenschaftlicher Anarchismus stellt

das libertäre Gegenstück zu Marx´ wissenschaftlichem Sozialismus dar. Viele

seiner Ansätze sind daher zwar wertvolle Variationen der Sozialphilosophie

seiner Zeit - doch darin liegt ein nicht geringes Problem: In vielerlei Hinsicht

bleibt Kropotkin damit nämlich den grundlegenden Denkfiguren seiner

Zeitgenossen verhaftet. Und diese Figuren führen in manchen Punkten zu ganz

und gar unfreiheitlichen Schlußfolgerungen, was einen wissenschaftlichen

11

Page 16: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Anarchismus als contradictio in adiecto erscheinen lassen könnte. Um das

genauer nachzuvollziehen, wird exemplarisch ein Blick auf Kropotkins

Anthropologie und auf seine Geschichtsphilosophie geworfen.

1. Anarchistische Anthropologie: DarwinWesentlicher Bestandteil von Kropotkins Sozialphilosophie ist seine

Anthropologie. Die wichtigste anthropologische Strömung seiner Zeit war der

Darwinismus. Dessen Kern, nämlich die Theorie vom "survival of the fittest",

also des Überlebens des Angepasstesten (der Begriff geht eigentlich auf Herbert

Spencer zurück), wurde schnell zu einem "struggle for existence", also im

Endeffekt einem Überleben des Stärksten umgedeutet. Im Zuge dessen wurde der

Mensch als ein von Natur aus schlechtes und feindseliges Wesen dargestellt.

Zusammen mit der Hobbes´schen Theorie vom Gesellschaftsvertrag ergab sich

damit ein bis heute wichtiges Paradigma für jede Sozialphilosophie: Die Frage

nämlich, wie die prinzipielle Bosheit des Menschen durch die Gründung eines

Staats unterdrückt werden kann. Kropotkin knüpft an Darwins

Evolutionstheorie an7, jedoch wendet er sich gegen die Annahmen Huxleys der

Schlechtigkeit des Menschen und dreht die Argumentation um: Nicht

Wettbewerb innerhalb einer Spezies sorgt für die genetische Auslese, sondern

Kooperation innerhalb einer Spezies verhindert deren Auslöschung durch

widrige Umstände. Nicht die komplexen Gesellschaften sind es, die es dem

Menschen ermöglichen, seinen natürlichen Wettbewerb auszusetzen, sondern

es ist die natürliche Soziabilität der Menschen, die ihnen das zum Überleben

notwendige Zusammenleben in Gesellschaft überhaupt ermöglicht. Die

Formation von Staaten ist also nicht die höchste, weil bislang komplexeste Form

von Gesellschaft, sondern durch ihren exklusiven Charakter (Grenzen,

7 vgl. Glassman, Michael: Mutual Aid Theory and Human Development. Sociability as Primary. In: Journal for the Theory of Social Behaviour, 30, 4, (2001). S. 396

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Page 17: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Nationalismus, etc.; heute möglicherweise der viel zitierte "Standortfaktor")

behindern die Staaten gerade die natürliche Soziabilität und stellen somit einen

evolutionären Rückschritt dar.8 Konsequent: Nicht die Schlechtigkeit der

Menschen mache einen Staat notwendig, sondern die Unterdrückung und

Ausbeutung der Menschen, die unter dem Deckmantel v.a. des Staates vor sich

geht, lassen die Schlechtigkeit des Menschen überhaupt erst entstehen.

Statt der Notwendigkeit eines Staates betont Kropotkin dagegen sozusagen

"naturwüchsige" Organisationsformen von Gesellschaft und Produktion, vor

allem die mittelalterlichen Städte. Diese seien mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit

(verstanden als politische Freiheit), ihrer Selbstverwaltung (verstanden als

Unabhängigkeit der Produktion) und ihrem Gildenwesen (Gilden als

Verkörperung des Prinzips gegenseitiger Hilfe) als Prototypen einer richtigen,

auf dem System der gegenseitigen Hilfe basierenden Lebensweise zu

betrachten.9 Aus heutiger Sicht hat dies einen komischen Beigeschmack, denn

die mittelalterlichen Städte stehen eigentlich nicht mehr für Prototypen einer

freien Gesellschaft, im Gegenteil. Hier findet sich wieder das Thema des

Ordnungsproblems: Ordnung ohne Herrschaft kann (und will - um jeden

Preis-) sich Kropotkin zwar vorstellen, aber ohne Ordnung geht es für ihn noch

nicht. Deswegen sein Suchen nach der richtigen Ordnung, die er in den

mittelalterlichen Städten finden will. Insofern liefern Kropotkins Ausführungen

hier eine wichtige Alternative zu seinen Zeitgenossen und bleiben gleichzeitig

mit gänzlich unanarchistischen, ordnungsphilosophischen Grundannahmen

verhaftet. Und gerade in der Überwindung dieser Annahmen wird der

Absprungspunkt für die politische Theorie zu suchen sein.

8 vgl. Glassman, ibid, S. 3959 Hug, a.a.O, S.26

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Page 18: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

2. Dialektik von Herrschaft und Freiheit: Hegel

Ein Blick auf Kropotkins geschichtsphilosophischen Ansatz zeigt ähnliches.

Kropotkin orientiert sich an Hegels Ansätzen und übernimmt Freiheit als einen

zentralen Begriff für die Geschichtsphilosophie. Hegels Denkgebäude besteht

aus der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Freiheit wird darin

historisch immer weiter verbreitet. Während die Freiheit in frühen

Gesellschaften nur sehr wenigen zugänglich war, ist die Freiheit in

gegenwärtigen Gesellschaften durch den modernen Nationalstaat jedem

Einzelnen gegeben. Freiheit ist der harmonische Endpunkt der Dialektik von

Allgemeinem und Besonderem. Das besondere Wesen dieser Freiheit ist die

Anerkennung der Autorität eines Staates und vor allem einer Rechtsordnung.

Nicht ein Vertragsschluss, sondern die Erkenntnis, dass zur Freiheit die

Unterordnung gehört, ja dass Freiheit aus dieser Unterordnung besteht. Somit

kommt es auch nicht auf das konkrete Wesen der Bürger und des Staates an.

Implizit: Noch der schlimmste Staat ist besser als keiner. Oder, etwas kryptisch

mit Hegels eigenen Worten: "Was wahr ist, ist vernünftig"10. Hegels ganze

Sozialphilosophie steht wohl in der alten scholastischen Tradition.11 Er

unternimmt dann auch den vorerst letzten Versuch eines philosophischen

Gesamtsystems, denn für ihn ist klar: "Das Wahre ist das Ganze."12

Demenstprechend muss eine wahre Lösung des Vergesellschaftungs-Problems

für Hegel ebenfalls die Züge einer allumfassenden Ganzheitlichkeit tragen. Dies

sieht er im modernen Staat als -zumindest potentiell- vollkommen inklusives

soziales Gebilde tatsächlich verwirklicht.

Kropotkin scheint der gleichen Tradition verhaftet zu sein. Denn obwohl

10 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1967): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner. S. 1411 vgl. Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S.

16112 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.. Suhrkamp. S. 24

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Page 19: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Kropotkin als Anarchist Hegels Ausführungen gegenüber inhaltlich zunächst

die genaue Gegenposition einzunehmen scheint, bedient er sich bei genauerem

Hinsehen dann doch wiederum ein und desselben Argumentationsmusters,

nämlich dem einer evolutionären Dialektik und variiert dabei nur die

Verortung des Freiheitsbegriffs: Anders als Hegel will Kropotkin den Zustand

Freiheit nicht einfach als bereits erreichten Endpunkt der Geschichte setzen. Er

sieht schließlich vor sich, dass sich die modernen Staaten ganz und gar nicht aus

freien Bürgern zusammensetzen, einen Umstand, den Hegel noch mehr oder

weniger ignoriert hat. Kropotkin holt die Freiheit aus diesem Himmelsreich

herunter und bringt sie zurück ins Spiel als Teil und nicht Zielpunkt der

Dialektik. Daraus entsteht sein eigenes Geschichtsmodell in Gestalt einer

Dialektik von Herrschaft und Freiheit.13 Fast schon ausversehen -nämlich

empirisch- kommt Kropotkin somit auf einen so wichtigen Anschlusspunkt (sh.

I., 3.). Die Einsicht, dass Freiheit als Begriff dann aber auch nicht unbedingt in

einen abgeschlossenen, dialektischen Diskurs passt, stand ihm aber noch nicht

zur Verfügung. Denn was steht notwendigerweiße am Ende einer Dialektik aus

Herrschaft und Freiheit, genauso wie am Ende einer Dialektik aus Allgemeinem

und Besonderem? Ein Ergebnis oder eine Wahrheit, vor allem aber: Ordnung,

also Einschränkung von Freiheit. Insofern liefert Kropotkin hier wieder beides:

Eine wichtige alternative Perspektive -die Freiheit als empirischen Begriff- und

dazu den richtigen Problemhorizont -das Denken der Gesellschaft ohne

Ordnung und Letztbegründung-, an dem sich die politische Theorie abarbeiten

kann.

13 vgl. Hug, a.a.O. S.102

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Page 20: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

IV. Postmoderne Anschlüsse für wissenschaftlichen Anarchismus

In der Postmodernen Politischen Philosophie finden sich Anknüpfungspunkte,

an denen man über den wissenschaftlichen Betrieb von Anarchismus

weiterdenken kann. Im Folgenden werden kursorisch zwei Gedanken aus

Lyotards Bericht über das Postmoderne Wissen durchgegangen und aus

anarchistischer Perspektive kommentiert, um diese Anschlüsse aufzuzeigen.

Lyotards Bericht über das Wissen in den höchstentwickelten Gesellschaften ist

eines der bedeutendsten Werke für die Diskussion um die Postmoderne.

1. Letztbegründungen und Universalismus

Lyotard eröffnet seinen Bericht mit der Unterscheidung von narrativem und

wissenschaftlichem Wissen. 14 Das für uns wichtigste an dieser Unterscheidung

ist die Frage der Legitimität.15 Charakteristisch für die moderne, nämlich

wissenschaftliche Form des Wissens ist die Legitimierung durch einen

Metadiskurs. Das moderne Wissen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts basiert auf

der Annahme allgemein gültiger Letztbegründungen. Zuerst und sehr deutlich

ausbuchstabiert hat das der Zweifler René Descartes: Cogito ergo sum, ein erster,

für ihn unverrückbarer, fester Standpunkt, von dem aus man der Wirklichkeit

auf den Grund gehen könnte.16 Die Vernunft selbst begründet einen

Wahrheitsanspruch für wissenschaftliche Aussagen. Immanuel Kant führt das

Spiel in der Folge noch weiter: Weil der Mensch in seiner physischen

Beschränktheit die eigentliche Welt sowieso nicht erkennen kann, sind im

Rahmen dieses Nicht-Erkennen-Könnens gerade sehr wohl Letztbegründungen

möglich, sie müssen nur "richtig" vollzogen werden. Dafür muss nur eine

14 Lyotard, Jean-François (1982): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Böhlau. S. 1915 ebd., S.1416 vgl. Descartes, René (1978): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der

wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner. S. 26 ff.

16

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Bedingung erfüllt sein: Die Begründung muss in sich selbst wieder vorkommen

können. Auf die Moralität gewendet wird dies bei zu Kants berühmten

kategorischen Imperativ: "[...] ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich

auch wollen könne, meine Maxime solle das allgemeine Gesetz werden.17 Hegel

treibt dieses Spiel ad absurdum: Er meint in der Vernunft das Weltprinzip

gefunden zu haben und bildet den Höhepunkt des seit Aristoteles bestehenden

Vertrauens auf die Vernunft als dem (einzigen) Subjekt der Welt: Das Wahre ist

das Ganze, und es kommt "alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz,

sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken."18

Die Postmoderne würde solche Begründungszusammenhänge als

Metaerzählungen bezeichnen und ihre Gültigkeit bezweifeln. So schreibt

Lyotard: "Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den

Metaerzählungen für 'postmodern'."19 Letztbegründungen und universalistische

Ansprüche aller Art werden bezweifelt. Aus dieser neuen Sichtweise aber

erwächst eine gewisse Sensibilität für den Totalitarismus, der in den

aufklärerischen Theorien mitschwingt.

2. Wissen als Entwicklungsfaktor

Lyotard entwickelt einen ganz eigene Version der Vorgänge, die heute als

Neoliberalisierung der Universität fast schon ein Gemeinplatz geworden sind.

Die Grundthese seiner Untersuchung besagt, "daß das Wissen in derselben Zeit,

in der die Gesellschaften in das postmoderne Zeitalter [...] eintreten, sein Statut

wechselt."20 Die Akkumulation moderner Technologien, die sich gegenseitig zu

17 Kant, Immanuel: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1977 [1785], S. 18-33 hier: S. 28

18 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp19 Lyotard (1982): a.a.O. S. 1420 Lyotard (1982): a.a.O. S. 19

17

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immer schnellerem Fortschritt antreiben, erzeugt die Nachfrage nach Experten,

die die sich ausdifferenzierenden und verkomplizierenden Sprachen (z.B. alte

Binärcodes und moderne HTML-Sprachen, alte Fahrräder und moderne

Hybridmotoren, medizinische Geräte usw.) wechselseitig übersetzbar machen.

Je besser diese Übersetzungen funktionieren, desto reibungsloser geht die

Akkumulation der Technologien vonstatten. Aber: Für diese Aufgabe benötigt

man nicht mehr "Bildung des Geistes" im klassischen Sinn, einfaches Fachwissen

genügt bereits, und Effizienz wird zum neuen Maßstab. Für gewöhnlich wird

dieser Abfall vom Humboldt´schen Ideal mit Skepsis betrachtet. Wehmütig

blicken manche Studenten und Dozenten auf die Zeiten zurück, in denen noch

"echte Bildung" vermittelt wurde. Mit Lyotard kann man aber sehen, dass der

Gedanke an ein solches Zurückgehen ebenfalls problematisch ist. Denn dieses

Humboldtsche Ideal (das übrigens als Kompromisslösung auf Fichte

zurückgeht - einem Idealisten par excellence, zwischen Kant und Hegel21)

entspricht genau jener Einheitsphilosophie, die für so viele Probleme gesorgt

hat. Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden"22 - das

kann und sollte kritisiert werden. Doch erwächst daraus für eine anarchistische

Perspektive eine nicht unwesentliche Anschlussmöglichkeit. Denn gleichzeitig

mit dem Bildungsideal fällt damit auch die Rolle der Staaten und Nationen als

Dreh- und Angelpunkt der Wissens- und Gesellschaftsreproduktion! So schreibt

Lyotard: "Der Staat wird für die Ideologie der kommunikativen 'Transparenz',

die mit der Kommerzialisierung des Wissens einhergeht, als ein Faktor der

Undurchsichtigkeit und des 'Rauschens' erscheinen."23

Doch was bedeutet das nun für wissenschaftlichen Anarchismus? Was wir vor

uns haben, ist nicht weniger als die Berührungspunkte von Liberalismus und

21 vgl. Lyotard (1982): a.a.O. S. 9922 Lyotard (1982): a.a.O. S. 2423 Lyotard (1982): a.a.O. S. 27

18

Page 23: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

Anarchismus, wie sie sich sowohl beim blinden Fleck der Sozialwissenschaft als

auch am Ende von Kropotkins Anthropologie und Geschichtsphilosophie

gezeigt haben: Die neoliberale Denkfigur ist dim Begriff, die Metaerzählung

von Staat und Nation abzuarbeiten. Aber eben nur, um eine andere Erzählung,

d.h. eine andere Ordnung an ihre Stelle zu setzen. nämlich die Erzählung vom

Markt, der durch freie Entfaltung die beste Entwicklung für Alle verspricht.

Gerade hier kann und muss die anarchistische Diskussion einhaken. Sie kann

den Gedanken ausarbeiten, dass auch die Marktideologie nur eine Erzählung

ist, die in bestimmten Situationen praktisch zwar sehr gut funktioniert, aber

niemals eine letzte Wahrheit sein kann: Einfach weil es keine letzten Wahrheiten

gibt. Um den Bogen zurück auf die Wissenschaft und konkret auf die

Universitäten zu schlagen: Gerade dann, wenn - dem allgemeinen

gesellschaftlichen Trend gemäß - an den Universitäten neoliberale Zustände

überhand nehmen, muss ein libertärer Diskurs diese Überhandnahme

eindämmen. Denn wenn der Angelpunkt der Wissens- und

Gesellschaftsreproduktion nur von einem Metadiskurs in den anderen verlagert

wird, also von Staat und Nation hin zum Markt, werden sich dieselben Brüche,

die die Welt auf Grund dieses Missverständnisses durchlebt hat,

möglicherweise wiederholen.

V. Schluß: Delegitimierung und Ent-episierungEs sollte hier nicht die These vertreten werden, dass die Postmoderne

Philosophie Antworten oder Lösungen für die Brüche der Politischen Theorie,

für die Organisation der Gesellschaft, oder für die Ausgestaltung

Bildungssysteme bereit stellt. Was dagegen gemeint war, ist, dass sie ein Gefühl

aufarbeitet, eine Sensibilität bereitstellt: Eine Sensibilität nämlich gegenüber

dem Universalismus der Aufklärung, ohne jedoch die Aufklärung an sich

19

Page 24: Anarchistische Politische Theorie in der Postmoderne

aufgeben zu müssen. Ein Gefühl für Distanziertheit, Zurückgenommenheit und

Mäßigung einem Weltgeschehen gegenüber, dessen Subjekt man zwar ist, dem

man aber dennoch keine letzte Sicherheit abtrotzen kann, auch nicht durch die

beste Ordnung. Eine Perspektive dafür, statt durch eine Ordnung Freiheit nur

zu Versuchen, sie tatsächlich zu tun. Das postmoderne Bewusstsein dafür, dass

es keine letzten Wahrheiten geben kann, sondern immer nur praktisch

funktionierende Diskurse, ist auf diesem Weg schon ein Meilenstein: Denn

darin enthalten ist der Gedanke, dass auch mit der besten Begründung, dem

ausgefeiltesten System oder der noch so großen Mehrheit letztlich keine

Herrschaft wirklich legitimiert werden kann. Denn auch die großen Epen von

Nation und Markt, aber auch die von Republik oder Sozialismus, noch

abstrakter Geld und Waren, sind tatsächlich Sprachspiele oder Diskursformen,

und zwar kontingente. Es ist der Gedanke, dasses letztlich keine Wahrheit gibt:

Hier nicht Orientierunglosigkeit zu diagnostizieren, sondern die freie

Gestaltbarkeit, wenn man sie nur in die Hand nimmt (und anderen die

Möglichkeit dazu eröffnet), anzunehmen, das ist dann eine wirklich

antiautoritäre Perspektive. Und dieses Gestalten kann auch und gerade in den

Diskursen in Wissenschaft und der Akademie beginnen. Und für das Gelingen

dieser Diskurse gibt es nur eine Bedingung: Man muss sie führen.

20

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Literatur:

CrimethInc. (2007): No Gods, No Masters Degrees. Constituent Imagination. Militant Investigations. Collective Theorization. S.Shukaitis and D. Graeber. Oakland/Edinburgh, AK Press: 301-313

Descartes, René (1978): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner

Glassman, Michael: Mutual Aid Theory and Human Development. Sociability as Primary. In: Journal for the Theory of Social Behaviour, 30, 4, (2001). S. 392-412.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1967): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner

Hug, Heinz (1989): Kropotkin zur Einführung. 1. Auflage. Hamburg: Junius

Kant, Immanuel: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1977 [1785], S. 18-33

Lyotard, Jean-François (1982): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Böhlau

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1985) [1848]: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz

Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Shukaitis, Stevphen (2009): Infrapolitics and the Nomadic Educational Machine. In.: Adams, M. R.; Garton, A.; Amster, Randall: Contemporary Anarchist Studies. An introductory anthology of anarchy in the academy. London: Routledge

iv

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