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Unverkäufliche Leseprobe aus: Andrea Camilleri Die Revolution des Mondes Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheber- rechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Andrea Camilleri Die Revolution des Mondes · ŖŔ Der Vizekönig,Marqués Don Angel de Guzmán,hatte,als erknappzweiJahrezuvorinPalermoanLandgegangenwar, jedermann aus zwei Gründen

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Andrea CamilleriDie Revolution des Mondes

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch

auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheber-

rechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,

Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Erstes Kapitel

DeR vizeKöNiG eRöFFNetDie sitzuNG, DoCH jeMAND

ANDeRs BeeNDet sie

Die sitzung des Heiligen Königlichen Rates, die der vize-könig Don Angel de Guzmán, Marqués von Castel Rod-rigo, an jedem Mittwochmorgen schlag zehn uhr im Palasteröffnete,begann auch an diesem tag,dem 3.september desjahres 1677, wie üblich nach einem streng festgelegten Re-glement.

zunächst hatten fünf Dienstmädchen, nachdem sie dieFenster zum lüften geöffnet hatten, von sechs bis acht uhrden Boden gefegt und gewischt und die Möbel im saal ab-gestaubt und poliert.

Die lehnstühle der sechs Ratsherren waren jeweils zudreien links und rechts des großen goldenen Thrones an-geordnet, der ihren Majestäten, den Königen von spanien,vorbehalten war, denen sich allerdings nie die Gelegenheitgeboten hatte, ihren Allerwertesten darauf zu postieren,weilkeiner von ihnen je geruht hatte, sich auf die insel zu be-mühen.

Der Thron stand oberhalb von sechs hohen stufen, aufdenen ein dicker roter teppich lag.

Auf der rechten seite des Thrones, doch etwas versetztund um drei stufen niedriger, die ebenfalls mit einem rotenteppich bedeckt waren, befand sich ein weniger großer und

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weniger goldener Thron für den vizekönig. vier schritteentfernt vom letzten der drei lehnstühle auf der linken seitestand ein großer tisch mit zwei stühlen. Das waren diePlätze des Hofnotars und des Ratsschreibers.

An der Wand hinter dem Königsthron hing ein riesigesPorträt seiner Majestät, König Karls, das ihn von Kopfbis Fuß, doch vierfach vergrößert zeigte. Neben dem Bildprangte ein riesiges Kruzifix aus Holz. Dem schnitzer warjesu Gesicht nicht so recht gelungen; anstatt es von Agonieund schmerz erschüttert darzustellen, hatte er ihm einenerzürnten,ungehaltenen Ausdruck verliehen.Derart ungnä-digen Blicken ausgesetzt, war den Ratsherren, von denennicht einer ein reines Gewissen hatte, stets unbehaglich zu-mute,weshalb sie es vermieden,zum Kruzifix aufzuschauen.

Kaum waren die Dienstmädchen gegangen,war der Hof-schmied Alizio Cannaruto gekommen, dem die Aufgabeoblag, das komplett unter dem vergoldeten Holz verbor-gene eisengerüst zu überprüfen, von dem der Kleine Throndes vizekönigs gestützt wurde, den dieser sich als ersatzfür den zuvor verwendeten eigens hatte anfertigen lassenmüssen.

Kaum war der Hofschmied gegangen, war der oberstevermesser, Gaspano inzolia, mit zwei Gehilfen gekommen.Der vermesser hatte sich vergewissert, dass alle stühleexakt in Reih und Glied standen und keiner auch nur einenMillimeter zu weit nach vorn oder nach hinten gerückt war.schon die kleinste verschiebung eines stuhles konnte dieempfindlichkeit der Ratsherren reizen und womöglich alszeichen der Gnade oder der ungnade des vizekönigs miss-deutet werden oder aber als zeichen des Hochmuts einesder Ratsmitglieder und somit ernste und langanhaltende

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Folgen in Form von zwietracht, streitereien und sogarMord und totschlag nach sich ziehen.

um viertel zehn waren die zwei großen Flügel der gol-denen saaltür von den ersten lakaien Foti und Miccichèfeierlich geöffnet worden, die sich dann kerzengerade ge-genüberstanden und sich vor jedem Ratsherren verneigten,der zwischen ihnen hindurchging und sich auf seinen Platzsetzte.

Aufgeblasen, in prunkvollen Kleidern und ohne auf dieverbeugung der lakaien zu achten, waren in der Rangfolgeihrer stellung innerhalb des Heiligen Königlichen Rateseiner nach dem anderen erschienen: seine exzellenz DonRutilio turro Mendoza, Bischof von Palermo; Don Gius-tino Aliquò, Fürst von Ficarazzi und stadthauptmann;Don Alterio Pignato, Herzog von Batticani und obersterschatzmeister; Don severino lomascio, Marchese vonRoccalumera und Königlicher Richter; Don Arcangelolaferla, Graf von Naso und Großadmiral, und schließlichDon Cono Giallombardo,Baron von Pachino und obersterverwalter.

Dann war der Hofnotar Don Gerlando Musumarra ein-getreten und nach ihm der Ratsschreiber Don ernesto Rutè.

Nun waren die beiden ersten lakaien zum ersten Kam-merdiener des vizekönigs gegangen und hatten gemeldet,alle Ratsmitglieder seien versammelt und warteten hinterder geschlossenen tür geflissentlich darauf, dass seine ex-zellenz Don Angel erscheine.

inzwischen war es halb zehn.

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Der vizekönig, Marqués Don Angel de Guzmán, hatte, alser knapp zwei jahre zuvor in Palermo an land gegangen war,jedermann aus zwei Gründen in erstaunen versetzt.

Der erste war sein jugendliches Alter, hatte er dochnoch nicht die dreißig erreicht, und soweit man in sizilienzurückdenken konnte, hatte es nie einen vizekönig unterfünfzig gegeben.

Der zweite war seine große Magerkeit, an Don Angelwar nicht ein Gramm Fett, seine Haut saß ihm direkt aufden Knochen, und er wog allenfalls etwas mehr als drei-ßig Kilo. ein kräftiger Windstoß hätte ihn durch die luftgewirbelt wie ein dürres Blatt.

er war allein nach Palermo gekommen, doch einen Mo-nat später traf eines Nachts mit dem schiff auch seine Ge-mahlin Donna eleonora di Mora ein, die zwar spanierin,doch sizilianischer Herkunft und zudem seit ihrem elftenlebensjahr Waise war. Man hatte sie damals in ein Klostergesteckt, wo sie unterricht erhielt, unter anderem in ita-lienisch, und das sie erst im heiratsfähigen Alter wiederverließ. Don Angel und eleonora waren ein frischgeba-ckenes ehepaar, sie hatten erst drei Monate zuvor gehei-ratet. Über Donna eleonora war sogleich zu erfahren, dasssie etwa fünfundzwanzig jahre alt und von bestürzenderschönheit war, doch niemand hatte Gelegenheit, bestürztzu sein, weil niemand Gelegenheit hatte, ihrer ansichtigzu werden. Donna eleonora hielt sich nämlich seit ihrerAnkunft stets zurückgezogen in den Privatgemächern desPalastes auf, umsorgt von vier zofen, die sie aus spanienmitgebracht hatte.

einen Monat nach dem eintreffen seiner Gemahlin hatteDon Angel unter den zunächst erstaunten und dann zuneh-

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mend entgeisterten Blicken des Hofes begonnen sich zuverformen.

Dies äußerte sich anfangs in dem rasanten Wachstumseines Bauches und nur seines Bauches, so dass Don Angel,dessen übrige Körperpartien spindeldürr blieben, inner-halb einer Woche das exakte ebenbild einer schwangerenim neunten Monat war.

Dann griff die Fettheit rasch auf seine Arme, Hände,Beine und Füße über. zuletzt befiel sie sein Gesicht. Ausder Mondsichel, die es gewesen war, wurde ein vollmond.

in weniger als sechs Monaten wog Don Angel neunzigKilo, nach weiteren sechs Monaten kam er auf einhundert-fünfzig. und nun schien sich sein tonnengewicht auf ein-hundertneunzig eingepegelt zu haben. ein elefant.

und nichts, rein gar nichts, konnte diese entwicklungaufhalten. Der königliche leibarzt Don serafino Gusta-loca hatte nach vielen Besuchen und abermaligen Besuchen,nach einem tasten hier und einem Befühlen dort, nachunzähligen versuchen mit den verschiedensten Arzneien,nach Aderlässen und Abführmitteln, die Hoffnung aufge-geben und hilflos die Arme ausgebreitet.

Auch der großartige spanische Arzt, ein Ausbund anGelehrsamkeit, der von König Karl entsandt worden war,konnte nichts anderes tun.

selbst wenn der vizekönig eine ganze Woche lang kei-nen Bissen aß und nicht einmal einentropfen Wasser trank,nahm er weiter zu wie ein Mastschwein.

Der Hofschneider, Artemio savatteri, verdiente sich inkürzester zeit eine goldene Nase. er brauchte vier Gehil-fen,weil die gesamte Garderobe des vizekönigs allwöchent-lich komplett erneuert werden musste.

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um neun uhr fünfunddreißig wurde die tür bis zum An-schlag geöffnet und Don Angel aus den Händen der beidenKammerdiener, die ihm beim Ankleiden behilflich gewesenwaren, in die Hände der zwei lakaien übergeben. Don An-gel hakte sich bei Foti und Miccichè ein und begann, auf siegestützt, den Ratssaal anzusteuern.

Das Gehen fiel ihm nicht leicht. Wollte er einen schritttun, konnte er wegen seiner dicken schenkel den Fuß nichtvorsetzen, wie es natürlich gewesen wäre, sondern musstezunächst das ganze Bein zur seite bewegen, um dann denFuß nach vorn zu schieben.

Dadurch verlor sein Körper jedoch das Gleichgewicht,geriet ins Wanken und lastete auf dem vorderen Bein,weshalb derjenige, der ihn auf dieser seite stützte, in derverfassung sein musste, das ganze Gewicht dieses Fleisch-bergs zu halten. Hätte er unglücklicherweise die Balanceverloren, hätte ihn der auf ihn fallende vizekönig zer-quetscht.

Als Don Angel an der saaltür erschien, erhoben sichalle Ratsmitglieder, legten mit einer tiefen verbeugung ihrerechte Hand aufs Herz und warteten darauf, dass der vize-könig auf dem Kleinen Thron Platz nahm, damit sie sichwieder setzen konnten.

Doch Don Angel blieb eine Weile an der tür stehen undrang nach luft. in dem allgemeinen schweigen klang seinschnaufen geradeso wie ein mächtiger, langsam aufgezoge-ner Blasebalg. Dann setzte er seinen Gang fort, der wenigereinem schlichten Fußmarsch als vielmehr dem schlingerneines schiffes glich,das rollend und stampfend durch schwe-re see zog.

Das schlimmste, aber, kam erst noch.

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