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Andreas Gehrlach, Dorothee Kimmich (Hg.) Diebstahl!

Andreas Gehrlach, Dorothee Kimmich (Hg.) Diebstahl! Devi: Indiens Bandit Queen – Ein Leben zwischen Rache, Raub, Mord und Politik..... 261 SEBASTIAN SCHWESINGER Figuren des Nehmens

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Andreas Gehrlach, Dorothee Kimmich (Hg.)Diebstahl!

Andreas Gehrlach, Dorothee Kimmich (Hg.)

Diebstahl!Zur Kulturgeschichte eines

Kulturgrndungsmythos

unter Mitarbeit von Sara Bangert

Wilhelm Fink

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Reihe von Workshops, die durch das Konstanzer Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration

und im Rahmen des Projekts Kulturgeschichte des Diebstahls: Ein Grndungsmythos durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefrdert wurden.

Umschlagabbildung:Georges de la Tour: Die Wahrsagerin (um 1630)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulssig.

2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, Mnchen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6058-5

Inhalt

ANDREAS GEHRLACH/DOROTHEE KIMMICHEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

MANFRED SCHNEIDERParvae aures, lngliche Wulst, Knorren. Die Gestalt des Diebes . . . . . . . . . 17

ALEXANDER THUMFARTVon Dieben und Ruberbanden: Wiedergnger in der politischen Theorie der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

HELGE PETERSDas verloren gegangene diebische Subjekt und die herrschafts- begrndende Kriminalitt.Versuche, die neuere Devianzsoziologie ins Verhltnis zum Thema Der Diebstahl ein Grndungsmythos zu setzen und einige polit-konomische Erwgungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

TOBIAS MLLER-MONNINGDie Lust am Einbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

ANDREAS GEHRLACHDie Utopie der Diebe.Eine altgyptische Diebstahlsgesetzgebung und die moderne Idee des Privateigentums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

DOROTHEE KIMMICHGestohlenes Land? Niemandslnder und ihre Aneignungspolitiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

JENS ELZEDiebstahl, koloniale Expansion und die Mglichkeit des Romans: Defoes Moll Flanders und Dickens Great Expectations . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

ADRIAN BRAUNEIS/TOM KINDT Wie man zu seiner Portion kommt.Eigentum und Diebstahl bei Brecht: Von Baal zum Dreigroschenroman . . 179

THOMAS KELLERVergehen und Verbrechen (Diebstahl, Lge, Mord) als acte gratuit bei Andr Gide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

6 INHALT

CARLA SEEMANNSie machten sich das Gerippe streitig.Colette Peignot im Kontext des Collge de Sociologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

SCHAMMA SCHAHADATStehlen und Geben.Tadeusz Konwickis Roman Maa apokalipsa (Die kleine Apokalypse) im Kontext von Gabentheorien und Opferkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

SWATI ACHARYA Phoolan Devi: Indiens Bandit Queen Ein Leben zwischen Rache, Raub, Mord und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

SEBASTIAN SCHWESINGERFiguren des Nehmens.Eine Medienkulturgeschichte der Internetmusikpiraterie. . . . . . . . . . . . . . . 275

ANDREAS GEHRLACH UND DOROTHEE KIMMICH

Einleitung

Es gibt kleine Dieb, grosse Dieb, hoch- und wolgebohrne Dieb, schlechte Dieb, sammete

Dieb, zwilchene Dieb, reiche Dieb, arme Dieb, subtile Dieb, grobe Dieb, arge Dieb, karge Dieb,

Hau-Dieb, Gassen-Dieb, Nacht-Dieb, Tag-Dieb, offfene Dieb, verborgene Dieb, bettleri-sche Dieb, burische Dieb, burgerliche Dieb,

gestudierte Dieb, edle Dieb, allerley diebische Diebs Dieb.1

Abraham a Sancta Clara

I

In Emile Zolas Paris rechtfertigt der skrupellose, aber recht wortkarge Revolu-tionr Janzen einen unrhmlichen Diebstahl mit den folgenden Worten: Man mu sich eben nehmen, was einem nicht zurckgegeben wird.2 Darin klingt die Problematik des Diebstahls an: Sie besteht darin, dass er einerseits nach jeder denkbaren Definition ein Verbrechen ist, andererseits liegt ihm aber eine um-fassendere Problemstellung zugrunde, die die Institution Eigentum als solche betriffft. Denn Diebstahl lsst sich nur dann problemlos als Verbrechen und nicht doch vielleicht als ein heroisches Unterfangen deklarieren, wenn die der Verurteilung zugrundeliegende Eigentumskonzeption und -ordnung als voll-kommen und gerecht gelten kann. Das aber tut sie nie.

Oft genug fallen Diebsthle schlielich im Vergleich zu Gre, Umfang und Bedeutung des gesellschaftlichen oder individuellen Eigentums und seiner zweifelhaften Verteilung kaum ins Gewicht. Sogar ein Denker wie John Locke, der als einer der entschiedensten Legitimisten von Recht und Eigentum gelten muss, schien gelegentlich zu spren, dass die schiere Menge von Besitz einen geringfgigen Versto dagegen tolerieren knnen sollte: Niemand kann sich durch das Trinken eines anderen, auch wenn er einen guten Schluck genommen hat, fr geschdigt halten, wenn ihm ein ganzer Flu desselben Wassers bleibt, um seinen Durst zu stillen.3 Wenn John Locke an dieser Stelle ein Unbehagen

1 Abraham a Sancta Clara, Judas der Ertz-Schelm. Fr ehrliche Leuth, Salzburg, 1686, S.299.2 Emile Zola, Paris, bers.v.Irmgard Nickel, Leipzig 1991, S.362. 3 John Locke, Zwei Abhandlungen ber die Regierung, Frankfurt am Main, 1977, S.216.

8 ANDREAS GEHRLACH UND DOROTHEE KIMMICH

an seinen eigenen Legitimationforderungen empfand, so war er jedoch in der Lage, es im Rest seines Werkes zu unterschlagen.

Das Gefhl dafr, dass aus der Verteilung von Eigentum bzw.deren Begrn-dung eine Art minimale ethische Legitimation fr Diebsthle erwachsen knnte, fand seinen Niederschlag sogar in juristischen Grundsatzberlegungen: Cesare Beccaria, dem ohne grere bertrebung die Begrndung der modernen Rechtstradition und Kriminologie zugerechnet werden kann, hatte ein feines Gespr fr solche materiellen und oft genug banalen Grnde, aus denen Verbre-chen begangen werden. ber den Diebstahl schreibt er in seinem Hauptwerk ber Verbrechen und Strafen: Die Diebsthle, die nicht mit Gewaltthat verbun-den sind, sollten mit Geld gestraft werden. Wer sich durch Andere bereichern will, sollte des eigenen Besitzthums beraubt werden.4 Er fgt dem aber hinzu, dass zu dieser nchternen und angemessenen Strafentschlossenheit das Wissen gehrt, dass es ausgesprochen selten vorkmmt, da dieses Verbrechen anders, als von Elenden, Verzweifelten oder dem unglcklichen Theile der Menschheit begangen wird, dem das Recht des Eigenthums (ein entsetzliches und vielleicht nicht nothwendiges Recht) nur das nackte Leben gelassen hat.5 Beccaria be-schreibt hier, was das tglich zigtausendfach begangene Verbrechen des Dieb-stahls in den meisten Fllen auszeichnet: Es ist ein gewaltloses Verbrechen gegen Eigentum, das von Menschen begangen wird, die danach durch ein Recht verurteilt werden, das davon ausgeht, dass alle Menschen Eigentum haben. Wenn jemand aber, wie Beccaria hier nur andeutet, von diesem Recht auf Ei-gentum insofern ausgeschlossen ist, als er schlicht kein Eigentum hat, das dieses Recht beschtzen knnte, wird die Bestrafung eines Diebstahls zur Anwendung eines Gesetzes, dessen Gegenstand fraglich ist.

Die Problematik dieser in ihrer Abstraktion absolut gltigen Rechtskon-zeption, die gegenber den Eigentmern und den Armen gleichgltig ist, wurde in der westlichen Denktradition, die sich mit den Fragen von Eigentum und Ei-gentumsrechten bzw. den Vergehen dagegen auseinandersetzt, immer wieder artikuliert. Wenn es ein Recht gibt, das fr alle gilt, wird angenommen, dass auch alle Menschen die Eigenschaften haben, die dieses Recht schtzt. Aber gerade dadurch, dass das Recht an solcherlei Eigenschaften der Menschen ge-bunden ist, wird es zwiespltig. Es ist also gerade die zentrale Unterstellung, alle Menschen seien gleich, die hier die Ungleichkeit produziert.

Diese mythische Zweideutigkeit6 am scheinbar fr alle gleichen Recht wird von Walter Benjamin im kritischen Teil seiner Kritik der Gewalt beschrieben. Die Rechte sind majesttisch in ihrer Allgltigkeit: Sie verbieten es den Armen wie den Reichen gleichermaen, unter Brckenbgen zu nchtigen. Und sie verbie-

4 Cesare Beccaria, Ueber Verbrechen und Strafen, bers.v.M.Waldeck, Berlin, 1870, S.51. (Zuerst Rom 1764, Dei delitti e delle pene.)

5 Ebd.6 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Band II/1: Aufstze, Es-

says, Vortrge, hg.v.Rolf Tiedemann u.Hermann Schweppenhuser, Frankfurt am Main, 1991, S.179-203.

9EINLEITUNG

ten ebenso, wie Benjamin in diesem Zitat von Anatole France auslsst, auf der Strae zu betteln und Brot zu stehlen.7 Benjamin selbst hatte Zeit seines Lebens die Befrchtung, bestohlen zu werden: Seine Bcher, seine Ideen, sein Mantel, immer hatte Benjamin die Befrchtung, dass ihm auch das gesstohlen werden knnte, was ihm in seinem unsteten Reiseexil noch geblieben war.8 Es bestehlen eben nicht nur arme Menschen reiche, die gar nicht bemerken, wenn ihnen etwas von ihrem Reichtum fehlt. Vielmehr fhrt Armut allzuoft dazu, dass die-jenigen bestohlen werden, die ebenso wenig haben wie der Dieb selbst.

So erscheint jeder Diebstahl als eine verworrene Problematik, in der ein situ-ationsbedingtes Geflecht von (relativer) Armut und (relativem) Reichtum, Ei-gentum und Besitzlosigkeit, Recht und Strafe, Verbrechen und rettender Aneig-nung selten eine Perspektive oder gar ein Urteil zulsst, die in jeder Hinsicht gerecht und gewaltfrei wren.

Zum Diebstahl, so zeigen es auch die in diesem Band versammelten Texte, gibt es keine einfache oder endgltige Haltung, schon gar nicht, wenn auer den juristischen auch die mythischen, theologischen, literarischen, philosophi-schen, psychologischen und pdagogischen Texte und Positionen herangezogen werden. Und eben darin liegen die Faszination und vielleicht auch die Funk-tion des Diebstahls und seiner Geschichten: Er ist neben Mord, Raub und Vergewaltigung eines der hufigsten und grundlegendsten Verbrechen ber-haupt, er begleitet die menschliche Kultur permanent und ber die verschie-densten Eigentumsideen hinweg, und trotzdem bleiben die ihm zugrundelie-genden Fragen letztlich unbeantwortbar: Prometheus Aneignung des gttlichen Feuers und Rousseaus Plnderungen der Vorratskammer seines Genfer Lehr-meisters haben wenig mehr gemein als die immense Ambivalenz, mit der sie bewertet wurden.

Der Diebstahl ist also insofern ein besonderes Verbrechen, als ihn eine mit seiner moralischen Komplexitt zusammenhngende Ambivalenz auszeichnet, und genau diese eignet sich wie bei kaum einem anderen Verbrechen zur knst-lerischen Darstellung. Der Diebstahl hat ein spezifisches Element, das ihn aus den allermeisten anderen Verbrechen hervorhebt: Er erzhlt immer von einem scheinbar unbedarften oder bewusst provozierenden Schelmentum, das sich ber bestehendes Recht und ber Eigentumsgrenzen hinwegsetzt und oft genug ebenso in dieser demonstrativen Dreistigkeit und Theatralitt besteht wie in der einfachen Aneignung eines Gegenstandes. Insofern sind Diebe nicht nur krimi-nologisch interessante Figuren, sondern sie sind vor allem anderen narrative

7 Anatole France, Le Lys Rouge, Paris, 1906, S. 118: Ils y doivent travailler devant la majestueuse galit des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain.

8 Jean Michel Palmier legt in seiner Walter Benjamin-Biografie groes Gewicht darauf, dass Benjamin von einer dauernden Angst belastet war, bestohlen oder plagiiert zu werden. Jean Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und Bucklicht Mnnlein. sthetik und Politik bei Walter Benjamin, bers. v. Horst Brhmann, Frankfurt am Main, 2009, ins-bes.S.73.

10 ANDREAS GEHRLACH UND DOROTHEE KIMMICH

Gestaltungen eben der oben beschriebenen juristischen Ambivalenz. Eines der vielleicht ebenso reprsentativsten wie unglaubwrdigsten Beispiele fr diesen schelmischen und demonstrativen Aspekt des Diebstahls liefert Louis Althus-ser, der schon lange vor seiner Einweisung in geschlossene psychiatrische An-stalten ein durchaus bemerkenswertes Verhalten an den Tag legte. Althusser skizziert sich in seiner Autobiografie als Kleptomane, der nicht nur auf abstrak-ter Ebene die Produktionsbedingungen des Kapitalismus in Frage zu stellen ver-suchte, sondern der sich nicht zuletzt durch eine erstaunliche kriminelle Ener-gie auszeichnete:

Ich fate berdies den Entschlu, ein Atom-Unterseebot zu stehlen, eine Ge-schichte, die natrlich von der Presse unterdrckt wurde. Ich telephonierte, mich fr den Marineminister ausgebend, mit dem Kommandanten eines unserer Atom-Unterseeboote in Brest, um ihm ein wichtiges Ereignis anzukndigen und ihm zu sagen, sein Nachfolger wrde sich ihm unverzglich vorstellen, um unverzglich seine Ablsung zu bernehmen. Tatschlich prsentierte sich ein betreter Offfi-zier, tauschte mit dem alten die ordnungsgemen Dokumente aus und ber-nahm das Kommando, whrend der andere sich davonmachte. Der neue lie dar-aufhin die Mannschaft antreten und kndigte ihr an da er, aus Anla der Befrderung ihres alten Kapitns, ihr acht Tage Sonderurlaub gewhrte. Seine Ansprache wurde mit Hurra-Rufen begrt. Jedermann ging von Bord, ausgenom-men der Kchenbulle, der das alles unter dem Vorwand einer Ratatouille versu-men mute, die er auf kleinem Feuer zubereitete. Aber auch er ging schlielich an Land. Ich nahm meine geliehene Kapitnsmtze ab und telephonierte mit einem Gangster, der gerade ein Atom-Unterseeboot brauchte, um internationale Geiseln oder Breschnew zu erpressen, um ihm zu sagen, er knne die Lieferung berneh-men.9

Auer diesem Absatz in seiner Autobiografie weist wenig darauf hin, dass Alt-husser jemals ein Atom-U-Boot gestohlen hat, und es wre uerst unwahr-scheinlich, dass ein weltpolitisch so brisanter Coup eines der wichtigsten Intel-lektuellen seiner Zeit von der franzsischen Presse unbemerkt geblieben wre oder von staatlichen Stellen htte unterdrckt werden knnen. Auf einen beleg-baren Wahrheitsgehalt dieses Details aus Althussers Autobiografie kommt es aber gar nicht an, denn in dieser Anekdote, der wie allen Anekdoten ihr Tatsa-chencharakter fast gleichgltig ist, liegt viel mehr. Diese Tat, gegen die diejenige des legendren Hauptmanns von Kpenick verblasst wre, ist eine Art fiktiona-lisierter Handlungsanleitung, wie mit einfachsten Mitteln und ein wenig Uner-schrockenheit die unangreifbarsten Machtinstitutionen gefoppt und als das blogestellt werden knnen, was sie sind: tumbe Gewalten, deren berlistung fr die listigen und beherzten Schelme ein Kinderspiel darstellt.

In dieser ostentativen, oft mit einer selbstgewissen Bescheidenheit erzhlten Geste, wie durch eine kleine Entwendung groe autobiografische oder histori-

9 Louis Althusser, Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Zwei autobiografische Texte, bers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main, 1993, S.396.

11EINLEITUNG

sche Bahnen abgelenkt werden knnen, liegt der Kern des Diebstahlsmytholo-gems. Althussers Anekdote ber den Diebstahl eines Schifffes mit glhendem Atomkern hnelt damit in ihrer Struktur der Geschichte von Prometheus, der Apollon mit nichts mehr als Wagemut und einem trockenen Zweig die gttliche Glut der Sonne stehlen kann und damit die Gtter in eine panische berreak-tion versetzt, die den Menschen mit allen Plagen bestraft, die Olympiern in den Sinn kommen knnen. Es ist eben dieses Element der kleinen Geste mit grter Wirkung, das die Diebe zu den ambivalent-bewunderten Schelmengestalten werden lsst, deren Geschichten seit Jahrtausenden die Literatur und die My-then begeistern: Sie sind Figuren uerster Armut, Schwche und Unterlegen-heit, die ihre scheinbare Machtlosigkeit aber bemerkenswert leicht in eine kurz-zeitige berlegenheit verwandeln und die grte Macht dpieren oder gar strzen knnen.

Dadurch eignen sich diese Geschichten als Einsetzungs- und Anfangserzh-lungen erster Ordnung: Mit ihnen soll ein Ursprungsmythos erzhlt werden, der dort einen kleinen, eher vorsichtigen Anfang setzt, wo andere Grndungen und Ursprungssetzungen ebenfalls anhand von Verbrechen, aber meist mit Ge-walt einen klareren Schnitt zu setzen versuchen.10 Deshalb unterscheiden sich Diebesgeschichten wie die Althussers von anderen Grndungsverbrechen wie dem Vatermord, der raubartigen Eroberung oder der Unterwerfung vor allem durch ihre Leichtigkeit und eine gewisse Unbeschwertheit: Der Diebstahl ist ein so groes Verbrechen nicht, als dass sein Akteur nicht sympathisch, gewitzt und rafffiniert wirken knnte. Die Diebesgeschichten, die wie andere Ursprungser-zhlungen die Aufgabe haben, ein Auseinanderklafffen eines rechtlosen Zu-stands und eines Zustands neuen Rechts zu schlieen, machen sich diese Auf-gabe leichter als die anderen, schwereren Verbrechen.

Weil Systeme ihrer Natur nach auerstande sind, ihre eigenen Ausgangsbedin-gungen zu kontrollieren, mu sich der Akt ihrer Instituierung, und sei es fr die Dauer eines kaum merklichen Intervalls, gleichsam unter dem freien Himmel kul-tureller Improvisationen abspielen.11

Was Albrecht Koschorke hier als fr alle Grndungsverbrechen geltend be-schreibt, weist auf die spezifische narrative Form hin, in der Diebstahls- erzhlungen dies tun, und die sich von anderen Grndungsverbrechen deutlich unterscheidet: Die Sicherheit von Ordnung, Macht und Eigentum, die jedem Grndungsakt implizit vorausgeht, wird kaum je von den groen Emprern beendet; denn diese tendieren dazu, nach getaner Arbeit dasselbe neu aufge-richtet zu haben, was sie vorher so vehement bekmpft hatten. Die Diebe verfol-

10 Albrecht Koschorke, Zur Logik kultureller Grndungserzhlungen, in: Zeitschrift fr Ideen-geschichte, 2 (2007), S.5-12, hier S.12.

11 Albrecht Koschorke, Die sthetik und das Anfangsproblem, in: Grenzwerte des stheti-schen, hg. v. Robert Stockhammer, Frankfurt am Main, 2002, S.146-163, hier S.148.

12 ANDREAS GEHRLACH UND DOROTHEE KIMMICH

gen eine andere Strategie: Mit ihnen wird nicht ein bestimmtes Recht und Ei-gentum angegrifffen und abgeschaffft oder ersetzt, sondern die Institution des Eigentums, Ordnung und Macht als solche werden in Frage gestellt.

II

Die hier versammelten Untersuchungen beschreiben die Gestalt des Diebes, seine Reflexion in der Philosophie, seine Darstellung in der Literatur und seine Handlungsmglichkeit in unterschiedlichen Eigentumssystemen. Sie widmen sich den vielfltigen Aspekten einer Verunsicherung von festem Besitz, von gl-tigem Eigentum, von unumschrnkter Macht und umfassend durchsetzbarer Ordnung .

Manfred Schneider geht in seinem Beitrag mit dem Titel Parvae aures, lngli-che Wulst, Knorren. Die Gestalt des Diebes auf die Tradition der literarischen und theoretischen Vermittlung physiognomischer Theoreme zur Diebesgestalt ein. Den Spuren einer physiognomischen Interpretation der Figur des Diebes folgt seine Darstellung von dem Hintergrund der pseudoaristotelischen Begrn-dung der Physiognomik, der moralisierenden Interpretation der Gestalt, ber Dantes Inferno und della Portas De humana Physiognomonia, die phrenologi-schen Deutungen Lavaters und Galls und deren Kritik durch Hegel bis hin zur psychiatrischen Theorie Georgets und zu Lombrosos kriminologischer Semio-tik, um abschlieend Jean-Paul Sartres Buch Saint Genet. Comdien et Martyr auf den Aspekt der Gestalt hin zu lesen.

Eine politikwissenschaftliche Kontextualisierung der Frage nach dem Dieb als Bedrohung der Staats- und Eigentumstheorie leistet Alexander Thumfarts Beitrag Von Dieben und Ruberbanden: Wiedergnger in der politischen Theo-rie der Moderne. In der Analyse der Staats- und Eigentumstheorien Thomas Hobbes, John Lockes, David Humes, Jean-Jacques Rousseaus, Immanuel Kants und Karl Marx macht er den Dieb als Leerstelle aus, der in der politischen The-orie der Moderne dennoch deutliche Spuren hinterlsst, die Spuren einer Ver-drngung, die es zu rekonstruieren gilt.

Helge Peters greift in seinem Beitrag Das verloren gegangene diebische Sub-jekt und die herrschaftsbegrndende Kriminalitt. Versuche, die neuere Devi-anzsoziologie ins Verhltnis zum Thema Der Diebstahl ein Grndungsmy-thos zu setzen und einige polit-konomische Erwgungen Anregungen Gehrlachs auf, um transdisziplinre Bezge herzustellen, die mythische Diebes-figurationen und reale Diebe im Kontext verschiedener soziologischer und kri-minologischer Devianztheorien zu analysieren erlaubt. Dabei werden historisch und theoretisch variable Zugnge zum diebischen Subjekt, zu abweichendem Handeln und gesellschaftlichen Implikationen von Kriminalitt deutlich, die jeweils auch vor dem Hintergrund der Diskurse ber Kriminalitt und Devianz, Eigentum, Individuum und Kollektiv betrachtet werden mssen.

13EINLEITUNG

Den Abschluss der Reihe soziologisch bzw.kriminologisch orientierter Texte bildet der Beitrag Die Lust am Einbruch von Tobias Mller-Monning, der sich anschlieend an die frhere empirische Forschung des Autors zu Einbrechern in der Arbeit Brechen und Knacken. Zur Soziologie des Einbruchsdiebstahls der aktuellen Realitt von Dieben und Einbrechern nhert. Dabei fhrt Mller-Monning zunchst berlegungen zur konomie der Kriminalitt und rechtli-che und statistische Aspekte an und wertet in einem zweiten Schritt Interview-material aus, um den unterschiedlichen Motivationen der Diebe auf die Spur zu kommen.

Der Beitrag Die Utopie der Diebe. Eine altgyptische Diebstahlsgesetzge-bung und die moderne Idee des Privateigentums von Andreas Gehrlach unter-sucht die Quellen und die Rezeption der gyptischen Gesetzgebung in Diodors eine Utopie der Diebe vorstellendem Fragment, um eine den modernen Eigen-tumsbegrifff irritierende Perspektive zu formulieren, die als ein Heteronomos des Diebstahls rekonstruiert und als Faszinosum und Anderes eigentumstheo-retischer Konzepte in ihrer historisch auf bezeichnende Weise schwankenden Rezeption bis in die Moderne verfolgt wird.

In ihrem Beitrag No mans land oder: Wem gehrt die Prrie? fragt Dorothee Kimmich im Rckgrifff auf Rousseaus und Ciceros Beschreibungen von Akten der Landnahme bzw.der terra nullius nach dem Topos des Niemandslandes als Legitimationsstrategie kolonialer Aneignung. An unterschiedlichen Textbei-spielen Goethes Faust, Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe und am Bei-spiel U.S.-amerikanischer Western als paradigmatischer Verhandlungsort von Landnahme und Landbesitz werden eigentumsrechtliche Implikationen und narrative Verhandlungen des Niemandslandes aufgezeigt.

Der Beitrag Diebstahl, koloniale Expansion und die Mglichkeit des Ro-mans: Defoes Moll Flanders und Dickens Great Expectations von Jens Elze un-tersucht die literarische Reflexion kolonialer Aneignung durch die Deportation von Dieben als Siedler. Die Raumfffnung der Expansion ermglicht in Moll Flanders die Entwicklung des Sujets, der Romanhandlung sowie der Haupt- person, wobei die Aneignung von Diebesgut sich in der Aneignung der Land-nahme in Rumen auerhalb der bereits verteilten Welt spiegelt und Techniken der Neutralisierung wie die Geldwsche, Neuanfang und sozialer Aufstieg Die-besgut in Eigentum transformieren. Auch in Great Expectations ist die Kultur-grndung durch Diebe nur im exterritorialen Raum der Kolonie mglich, doch wird ber die Figur Magwitchs zugleich auf den Rckstrom von Kapital und Gtern verwiesen, der die wirtschaftliche Abhngigkeit vom kolonialen Empire erweist.

Ihrem gemeinsamen Beitrag Wie man zu seiner Portion kommt. Eigentum und Diebstahl bei Brecht: Von Baal zum Dreigroschenroman widmen Adrian Brauneis und Tom Kindt dem Stellenwert des Diebstahls und der Eigentumskri-tik in Werken Brechts. Zunchst gehen die Autoren auf den ebenso metaphori-schen wie konkreten Eigentumsbegrifff der frhen Schriften ein, um daraufhin insbesondere den von der marxistischen Gesellschaftsanalyse beeinflussten

14 ANDREAS GEHRLACH UND DOROTHEE KIMMICH

Dreigroschenroman zu untersuchen, in dem die kapitalistischen Praktiken des B.-Ladensystems als Diebstahl gebrandmarkt werden.

Thomas Kellers Text Vergehen und Verbrechen (Diebstahl, Lge, Mord) als acte gratuit bei Andre Gide kontextualisiert die ambivalenten Zusammenhnge von Gabe und Diebstahl und den heilenden, vom Besitz befreienden Aspekt des gebenden Diebstahls und des freiwilligen oder wenigstens lustvollen Bestohlen-werdens in Gides LImmoraliste mit Motiven aus Promthe mal enchan und Philoctte, die dem Mord in Les caves du Vatican vergleichend gegenbergestellt gestellt werden. Der acte gratuit werde selbst Gegenstand eines Diebstahls durch den bersetzer Greve; der Dieb zeigt sich so auf mehreren Ebenen als Medium einer bersetzung. Der Beitrag entwickelt entlang dieser Interpretationslinien eine Typologie des edlen und heiligen Diebes und verfolgt die durch Diebstahl und Verbrechen in Bewegung gesetzten Dinge und ihre bertragungen.

In ihrem Beitrag Sie machten sich das Gerippe streitig. Colette Peignot im Kontext des ,Collge de Sociologie untersucht Carla Seemann die aneignende Ausdeutung von Leben und Werk Peignots durch ihre mnnlichen Weggefhr-ten, insbesondere Georges Bataille, der sich etwa auch auf das Plagiat von Peig-nots Konzept des Heiligen erstreckt. Dabei werden der biografische Kontext re-konstruiert, die Stilisierung Peignots zu der Kunstfigur Laure untersucht und ihr Entwurf einer eigenen Theorie des Heiligen diskutiert, der sich von den The-orien des Collge deutlich absetzen lsst, um diese Aneignungsakte sichtbar zu machen.

Schamma Schahadat fhrt in ihrem Beitrag Stehlen und Geben. Tadeusz Konwickis Roman Maa apokalipsa (Die kleine Apokalypse) im Kontext von Gabentheorien und Opferkultur den Kontext der soziologischen und ethno- logischen Gabentheorien des 20. Jahrhunderts ein, der fr das sich historisch wiederholende polnische Opfernarrativ fruchtbar gemacht wird. Das in der Gabentheorie von dem Aspekt des Gabentauschs diffferenzierte Moment der antikonomischen Verschwendung im Batailleschen Begrifff des Opfers und der Verausgabung liee sich in Konwickis Roman als ironische Wendung des Opfer-narrativs nachvollziehen: Vor diesem Hintergrund eines polnischen Gegennar-rativs, das den Diebstahl des polnischen Staates durch ein freiwilliges Opfer kompensiert, gelesen, wrden in Maa apokalipsa Diebstahl, Gabe und Opfer als narrative Motive und Motoren und als kulturbegrndende Akte schlielich aus-tauschbar.

Nicht auf den heimlichen, subversiven Dieb, sondern das offfen widerstn-dige Banditentum und seine sozialpolitischen Implikationen reflektiert der Bei-trag Swati Acharyas ber die legendre indische Banditenknigin, Phoolan Devi: Indiens Bandit Queen Ein Leben zwischen Rache, Raub, Mord und Poli-tik. Die Biografie und die Legendenbildung beleuchtend, untersucht Acharya die komplexen Zusammenhnge von Banditentum, Religion, Kastenwesen und Unterdrckung von Frauen im lndlichen Indien des 20. Jahrhunderts, die etwa in der Auseinandersetzung mit den Behrden, aber auch der filmischen Rezep-tion durch Shekhar Kapurs Film Bandit Queen zum Tragen kommen. Als rebel-

15EINLEITUNG

lierende weibliche outlaw-Figur wird Phoolan zur Symbol- und Projektionsfigur derer, die unter gesellschaftlichen Strukturen der Unterdrckung (gender and cast) leiden, und zur paradigmatischen Figur des Subalternen.

In seinem Beitrag Figuren des Nehmens. Eine Medienkulturgeschichte der Internetmusikpiraterie zeigt Sebastian Schwesinger ausgehend von Michel Ser-res Figur des Parasiten und Carl Schmitts Theorie des nomos eine allgemeine Struktur auf, die die Internetmusikpiraterie als eine Figur der Insubordination beschreiben lsst. Die miteinander verbundenen Aspekte des Nehmens und Ge-bens, des Tausches und der quivalenz werden am Beispiel der historischen Diskurse, die den Begrifff der Piraterie auf den Bereich der illegalen digitalen Musik-Tauschbrsen wie Napster und Peer-to-Peer-Netzwerken bertragen, und der damit strategisch implizierten Argumente thematisiert, wobei sich die Prak-tiken als Eingrifff in die Verteilungsasymmetrie kultureller Gter lesen lieen.

Diebstahl, die mythische Figur des Diebes, der literarische Dieb, seine Gestalt, sein Ruf, sein Erfiolg und auch die Bewunderung, die er nicht selten erfhrt, werden in diesem Band in einem breiten philosophischen und kulturtheoreti-schen Kontext errtert. Neben der Frage nach dem Diebstahl als Kulturgrn-dungsfigur, also der Frage nach einem typischen Grndungsverbrechen, werden hier vor allem die einschlgigen Eigentumstheorien errtert, die ein Diebstahl immer mehr oder weniger explizit aufruft. Geben und Nehmen, Gabe, Ge-schenk, Besitz, Eigentum und eben Diebstahl verweisen jeweils aufeinander. Erst wenn diese Aspekte jeweils aus der Perspektive verschiedener Disziplinen betrachtet und errtert werden, ergibt sich ein annhernd komplexes Bild des-sen, was nicht nur juristisch, sondern auch moralisch, politisch, philsophisch, soziologisch und auch psychologisch als Eigentum gilt und somit gestohlen werden kann. Der Dieb macht Besitz und Eigentum nicht nur wertvoll, sondern bedeutsam.

Die vorliegendene Publikation wurde im Rahmen eines DFG-Projektes zu Kulturgeschichte des Diebstahls: Ein Grndungsmythos ermglicht. In diesem Projekt enstanden weitere Publikationen, darunter die im Rahmen der Frde-rung durch die Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der FU Berlin entstan-dene Dissertation Andreas Gehrlachs Diebe Die heimliche Aneignung als Ur-sprungserzhlung in Literatur, Philosophie und Mythos, Fink Verlag, Paderborn 2016. Die hier versammelten Beitrge sind z.T.aus Kolloquien hervorgegegan-gen, die zwischen 2012 und 2015 an der Universitt Tbingen stattfanden. Wir danken dem Exzellencluster Kulturelle Grundlagen von Integration der Uni-versitt Konstanz und der DFG fr die grozgige Unterttzuung der Tagungen, Jrg Hgel fr die formale Einrichtung und Lektre des Manuskripts, Sara Ban-gert, die das gesamte Projekt sowohl organisatorisch als auch inhaltlich beglei-tet und neben der Tagungsplanung und -durchfhrung das Lektorat der Beitrge bernommen hat, und nicht zuletzt dem betreuenden Lektor des Fink-Verlags, Henning Siekmann, fr seine Geduld und wichtige Hinweise.

MANFRED SCHNEIDER

Parvae aures, lngliche Wulst, KnorrenDie Gestalt des Diebes.

I

Dieser Beitrag ber die Gestalt des Diebes, die eine lange Tradition aus ver-schiedensten organischen und moralischen Einzelheiten montiert hat, knnte auch den Titel Das Sein des Diebes tragen. Denn durch die Geschichte der Phy-siognomik, aus der hier einige Beispiele zitiert werden, und womglich auch durch die Neurowissenschaft unserer Tage zieht sich eine lange Spur der Ge-wissheit, dass der Dieb eine Gestalt hat, eine eigene, intelligible, an vielen Zei-chen ablesbare Gestalt. Und wer immer organisch und mental in dieser Gestalt erscheint, dem ist darf man mit einem gewissen Recht sagen ein Sein zuge-wiesen. Der Dieb erwirbt seine Gestalt und dieses Sein nicht durch das Stehlen, er geht nicht aus seiner Tat hervor, wie es Jean-Paul Sartre ber den diebischen Jean Genet sagen wird, sondern er ist von Anfang an mit einer Serie von Merk-malen beladen, die ihm selbst, vor allem jedoch dem Beobachter und Deuter anzeigen, dass er in der irdischen und womglich auch in der ewigen Ordnung der Dinge einen eigenen, bereits markierten Platz einnimmt.

Auch der Ausdruck Gestalt ist theoretisch hochkartig. Die Gestalttheorie hat mit ihrem Leitbegrifff das Rtsel zu lsen versucht, dass bestimmte Phno-mene der Erfahrung in ein Bildschema integriert werden knnen. Ich kann eine Katze auf unendlich vielen Bildern erkennen, ich kann dieses Tier taktil durch Streicheln identifizieren oder ich kann auch das typische Schnurr- oder Klage-gerusch diesem einen Bild zuordnen.1 Freilich spricht die Gestalt des Diebes nicht ber so viele Sinne zu uns. Als theoretischer Begrifff entspricht Gestalt in gewisser Hinsicht dem Schema, wie es Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt hat. Danach muss eine solche Schema-Vorstellung rein, ohne alle Empirie, aber zugleich intellektuell und sinnlich sein.2 Die neurowissenschaftli-che Version dieses Konzepts geht davon aus, dass Gestalten am Ende einer Ver-arbeitungshierarchie durch eine Art gnostischen Neurons reprsentiert wer-den.3 Indem mithin die Gestalt als Struktur der Erkenntnis oder als neuronale

1 Vgl.Wolfgang Khler, Gestalt Psychology. The Definite Statement of the Gestalt Theory, New York, 1947.

2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bnden, Bd. 3, hg.v.Wil-helm Weischedel, Darmstadt, 1983, S.187ff.

3 Gerhard Roth u. Randolf Menzel: Neuronale Grundlagen kognitiver Leistungen, in: Neurowis-senschaft. Vom Molekl zur Kognition, hg. v. Josef Dudel, Randolf Menzel u. Robert F. Schmidt, Berlin u.a., 2001, S. 543-563.

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Funktion bestimmt werden kann, ist sie in neuerer Theorie so tief angesetzt, dass sich ihre Verwandlung oder Rckverwandlung in einen Mythos oder gar in Ideologie beinahe anbietet. Insofern lsst sich die Gestalt des Diebes auch als mythisch im Sinn von Roland Barthes beschreiben.4

Einen Verzicht auf den Titel Das Sein des Diebes empfiehlt nicht die Baisse, die ontologische Fragen gegenwrtig dank einiger Schwarzer Hefte an der Brse humanwissenschaftlicher Themen erleben.5 Eher droht das Risiko, dass ein phi-losophisch belasteter Begrifff das hier vorgestellte Material berfordert. Denn so groartig die kulturelle Gestalt des Diebes in der gttlichen Erscheinung des Hermes oder auch als Kulturgrnder auftreten kann, so bescheiden und wenig spektakulr nehmen sich dann doch die meisten der Figuren aus, die die fol-gende Beispielreihe bilden werden. Die Diebsgestalt, der Mann mit den kleinen Ohren, den Krallen, dem lnglichen Wulst oder dem Knorren, ist kein Kultur-grnder, kein gttlicher Schelm, er klaut allenfalls als Phantom der Wissen-schaft. Es ist eher seine Mission, als ein exemplarisches Gespenst zur Demonst-ration alter und neuer anthropologischer sowie kriminologischer Theorien anzutreten. Vielleicht ist er eine Wissensgrnderfigur, aber diese Rolle teilt er sich mit anderen belttern, so dass er dieses Sein als Beispiel, das beispiel-hafte Sein, mit anderen Gestalten teilen muss. Und berdies ist der Diebstahl, wenn nicht gerade das Feuer oder das Rheingold entwendet werden, ein alltg-licher Kriminalfall und kein erhabenes Verbrechen.

II

Die Wissenstradition, die sich Physiognomik nennt und die dem Dieb eine Ge-stalt zu geben sucht, ist ehrwrdig und kann sich auf eine pseudo-aristotelische Ur-Schrift berufen, die wie nahezu alle aristotelischen Schriften bis ins 18. Jahrhundert hinein groe Autoritt bewahrt hat.6 Die pseudo-aristotelische Physiognomik kennt zwar die Zge des Diebes noch nicht, aber sie entwickelt die methodischen Prinzipien, wie sie erkannt und kanonisiert werden knnen. Und dieser Kanon, diese Methode der Zuschreibung wird sich im Laufe der Jahrhunderte nur wenig ndern. hnlich wie die antike Medizin ist die Physiog-nomik eine Zeichenlehre, und im Zentrum dieser Semiotik stehen Afffekte und moralische Dispositionen. Sie gilt es zu lesen. Eine charakteristische Passage in der pseudo-aristotelischen Schrift lautet wie folgt:

4 Roland Barthes, Mythen des Alltags, bers. v. Horst Brhmann, Berlin, 2010.5 Martin Heidegger, Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948), in: ders., Gesamtausgabe,

Bd. 97, hg.v.Peter Trawny, Frankfurt am Main, 2015.6 Vgl.Rdiger Campe u.Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Text Bild

Wissen (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae, Bd. 36), Freiburg, 1996.

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. . - . - . . -. - . , -, a.

311 b.

Alle mit kleiner Stirn sind unwissend; zum Bei-spiel das Schwein. Alle mit zu groem Kopf sind trge, zum Beispiel das Rind. Die mit rundem Ge-sicht sind unempfindlich, zum Beispiel die Esel. Auch die mit relativ langer Stirn sind unempfind-lich; ein Beispiel dafr sind Hunde. Diejenigen mit quadratischem und symmetrischem Gesicht sind groherzig; Beispiel sind die Lwen. Solche mit einer berhngenden Augenbraue sind ver-wegen; das gilt fr den Stier und den Lwen. Die einen angespannten Blick haben, sind Schmeich-ler. Dies bezieht sich auf ihre Afffekte. Man kann das bei Hunden beobachten; wenn sie mit dem Schwanz wedeln, haben sie eine weiche Stirn.7

Die Natur hat die Zeichen der Afffekte, Charaktere und der Moral ber die ge-samte Tier- und Menschenwelt verstreut, und aus solchen Analogien beziehen sie im Grunde ihre Bedeutung und Evidenz. Jeder wei, dass die Elstern stehlen. Von der antiken Fabelerzhlung bis in die Moderne, etwa in Brehms Tierleben8, unterliegt die animalische Welt moralischen Zuschreibungen. Allerdings be-fasst sich die antike physiognomische Semiotik noch nicht mit den Zeichen des Kriminellen. Erst die an den Pseudo-Aristoteles anschlieende Renaissance-Physiognomik verhilft dem Dieb zu seinen Markierungen. Sie stattet ihn mit dieser literarisch generierten Semiotik aus und weist ihm seinen Platz in der Ordnung des Lebendigen zu. Doch bereits zuvor erhlt der Dieb in der scholas-tischen Bearbeitung des aristotelischen Wissens im 12. und 13. Jahrhundert eine Gestalt und einen Ort. Nur die Zeichen fehlen ihm noch.

Das erste dieser Beispiele, das indirekt an die aristotelische Tradition an-knpft, liefern die Diebe, die in Dantes Inferno ihre Strafen erleiden. An der ju-ristisch-theologischen Konzeption dieses Danteschen Jenseits hat bekanntlich der scholastische Meisterphilosoph Thomas von Aquin erheblichen Anteil. Dante hat in der Commedia streckenweise der metaphysischen und juristischen Dogmatik des Aristotelikers Thomas die passenden Sanktionen beigegeben. Alle Strafen im Inferno und im Purgatorio sind krnkend, schmerzhaft, aber im Allgemeinen bleibt die Gestalt der Verrter, Verleumder, Wollstigen oder Ket-zer unangetastet. Anders ergeht es den Dieben. Ihnen begegnen Dante und Ver-gil im 24. und 25. Gesang des Infernos. Alle dort auftretenden beltter sind Zeitgenossen Dantes, historische Figuren wie Vanni Fucci, der aber nicht nur gestohlen, sondern berdies Kirchenraub begangen hat. Solcher Frevel ist keine

7 Aristoteles, / Physiognomics, in: ders., Minor Works, bers. v. Walter Stanley Hett (The Loeb Classical Library, Bd. 307), Cambridge, 1955, S. 81-137, S. 123. 811 b [bersetzung: M.F.].

8 Alfred Edmund Brehm, Illustrirtes Thierleben: eine allgemeine Kunde des Thierreichs, 6 Bnde, Hildburghausen, 1864-1869.

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Kleinigkeit. Das zeigt ein Blick in die scholastische Rechtsmetaphysik: Wie be-urteilt Dantes juristische Referenz, nmlich Thomas von Aquin, in der Summa Theologica die Diebe und Kirchenruber? Ihnen hat er einen eigenen Abschnitt gewidmet.

[] quod poenae praesentis vitae magis sunt medicinales quam retributivae, retri-butio enim reservatur divino iudicio, quod est secundum veritatem in peccantes. Et ideo secundum iudicium praesentis vitae non pro quolibet peccato mortali infligitur poena mortis, sed solum pro illis quae infe-runt irreparabile nocumentum, vel etiam pro illis quae habent aliquam horribilem deformitatem. Et ideo pro furto, quod repa-rabile damnum infert, non infligitur secun-dum praesens iudicium poena mortis, nisi furtum aggravetur per aliquam gravem cir-cumstantiam, sicut patet de sacrilegio, quod est furtum rei sacrae [].9

Die Strafen fr die Lebenden auf Erden die-nen mehr zur Heilung als zur Vergeltung, denn die Vergeltung bleibt wahrheitsgem dem Gericht Gottes vorbehalten []. Daher triffft die Todesstrafe lediglich solche Tod-snden, die nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachen oder eine ganz grau-enhafte Untat darstellen. Da ein Diebstahl hingegen keinen unersetzlichen Schaden verursacht, triffft ihn die Todesstrafe nur dann, wenn ein hchst gewichtiger Um-stand hinzutritt, wie z.B.das Sakrileg, nm-lich der Raub heiliger Gter [].

Die Diebe im Strafsystem des Infernos unterliegen der obersten Strafbarkeit, weil sie auch Sakrilegien begangen haben und damit als metaphysische Krimi-nelle zu behandeln sind. Da ihre Tat an die allererste beltat, an die paradiesi-sche Urbeltat, erinnert, liegen sie in einem Graben mit zahllosen Schlangen, und diese Schlangen beien, nagen, wrgen an ihnen und verwandeln sie in monstrse Gestalten. So straft die Vorstellungkraft Gustave Dors die Delin-quenten des siebten Grabens im achten Hllenkreis:

Abb. 1: Gustave Dor: Illustration zu Inferno XXIV, 91fff. (1861)

9 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-IIae q. 66 a. 6 ad 2 [bersetzung: M.S.].

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Den siebten Graben und die himmlische Vergeltung, die dem Vanni Fucci dort widerfhrt, beschreibt der Dichter so:

Tra questa cruda e tristissima copiaCorran genti nude e spaventate,Senza sperar pertugio o elitropia:

Con serpi le man dietro avean legate;Quelle ficcavan per le ren la codaE l capo, ed eran dinanzi aggroppate.

Ed ecco a un chera da nostra proda,Savvent un serpente che l trafisseL dove l collo a le spalle sannoda.

N O s tosto mai n I si scrisse,Comei saccese e arse, e cener tuttoConvenne che cascando divenisse;

E poi che fu a terra s distrutto,La cener si raccolse per s stessaE n quel medesmo ritorn di butto.

Und mitten in dem scheulichen GedrngeSah man voll Schrecken nackte Leute rennen,Die weder Schutz noch Heliotropen fanden.

Die Hnde banden Schlangen auf dem Rcken,Und diese fraen sich mit Kopf und SchwnzenDurch ihre Lenden, vorn geschrzt zum Knoten.

Da strzt auf einen, der in unserer Nhe,Sich eine Schlange, die ihn ganz durchbohrte,Wo Hals und Schultern sich zusammenfgen.

Man kann das O und I nicht so schnell schreibenWie jener da entzndet ward und brannteUnd ganz als Asche in sich niederstrzte.

Und als er so vernichtet lag am Boden,Da fgt die Asche selbst sich neu zusammenUnd wurde pltzlich der, der er gewesen.10

Einen solchen auf die Ewigkeit hin ausgelegten Aufenthalt im Inferno kann man schon ein Sein nennen, es ist ein ewiges Sein, allerdings nicht in der zeitlosen Seinsart der Seligen. Es ist vielmehr ein von allen Zeitrhythmen entkoppeltes Unsein, die Unruhe der Unseligen. berdies ist es kein stabiles Sein, denn die poena aeterna fr den Kirchenruber besteht einmal im stndigen Lendenfra der Schlangen und weiter noch im permanenten Gestaltwandel. Vielleicht ist die ewige Metamorphose von Krper zu Asche und von Asche zurck ins Schat-tenfleisch, diese unaufhrliche Vernichtung und Rckkehr der Gestalt, doch kein Sein. Aber mit dem Raub, mit dem Sakrileg am heiligen Verwandlungsgut hatte der Snder selbst den Anspruch auf ein dauerhaftes Leiden, auf eine ewige Ruhe und Gleichfrmigkeit in der Sanktionsqual verspielt. Die Verwandlungs-strafen fr alle Diebe sind vom gleichen Gedanken getragen, denn auch im nchsten Graben des Infernos wird ihnen in dieser Weise von der Gerechtigkeit heimgezahlt. Die Strafen im Inferno suchen die Delinquenten ja stets sprechend heim. In ihnen antwortet, wie es in der Summa Theologica heit, das Sein auf das Vergehen.11 Die Gerechtigkeit, die das Corpus Iuris Civilis als constans et per-petua voluntas ius suum cuique tribuens12 definiert, als den bestndigen und dauerhaften Willen, jedem das Seine zuzuweisen, ist in alle Winkel und Ebenen des Seins gleich verteilt. Die gttliche Gerechtigkeit hat nicht nur rmisches

10 Dante Alighieri, Die Gttliche Komdie, Bd. I, bersetzt von Hermann Gmelin, Mnchen, 1988, S.286f. [Inferno XXIV, V.91ff].

11 Summa Theologica Ia - II ae q. 87 a. 3 arg. 1 Vgl.hierzu das groe Buch von Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Gttlichen Komdie. Francesca da Rimini, (Das Abendland, Bd. VI), Frankfurt am Main, 1942.

12 Corpus iuris civilis, I, praef.

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Recht, sondern die Feinheiten der Rhetorik studiert. Die Delinquenten sehen sich an ihrer Gestalt gestraft. Die Strafe vollzieht sich als dramatische Metamor-phose, denn die beiden Snder, die Diebe Cianfa und Brunelleschi, erhalten das Ihre, der eine als Drache, der andere als Mensch, sie verschmelzen miteinander, tauschen Glieder, Ohren, Lippen, nehmen eine Doppelgestalt an und kehren in die frhere Form wieder zurck. Eine Illustration William Blakes vermittelt davon eine Vorstellung:

Abb.2: William Blake: Illustration Inferno XXV, 4978 (182627)

Es gbe unendlich viel anzumerken, welche literarischen, theologischen und ju-ristischen berlieferungen in diese Sanktion ewiger Verwandlung und dauern-den Gestaltraubes eingegangen sind; aber Dantes Inferno bildet hier nur ein erstes literarisches Beispiel aus der Geschichte der diebischen Semiotik. Wie in der aristotelischen Semiotik laufen bei dieser Sanktion die Zeichen und Merk-male zwischen der animalischen und menschlichen Welt hin und her. Sie sind ergnzt um biblisch-dogmatische Zustze. Im Folgenden bewegt sich die Wis-senschaft der Physiognomiker methodisch entlang einer Linie, die der Pseudo-Aristoteles vorgegeben hat.

III

Der interessanteste unter den aristotelischen Physiognomikern ist ohne Zweifel der italienische Gelehrte Giovanni Battista della Porta, dessen vielfach aufgeleg-tes und neu bearbeitetes Werk De humana Physiognomonia reiches Material bie-tet.13

13 Io. Baptistae Portae Neapolitani [Giovanni Battista della Porta], De Humana Physiognomonia libri IIII, Neapel, 1562. Die Ausgabe von 1586 unter https://archive.org/stream/iobaptistaepor-ta00port (Zugriff 10.2.2017).

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Abb.3: Giovanni Battista della Porta: De Humana Physiognomonia, Titel der Ausgabe 1562.

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Della Porta, der von 1535 bis 1615 lebte, war ein Universalgelehrter, der sich mit Naturmagie, der Camera obscura, Ballontechnik, Kryptologie und diversen anderen Dingen befasste. Seine Lehre von der Physiognomik benutzt die aristo-telische Methode der hnlichkeiten und aller ber solche Analogien generier-baren und evidenten Bedeutungen. Noch ist das Sein der Dinge, in dem auch die Diebe ihren Platz haben, vor allem durch literarische Analogien und hnlich-keiten geordnet. Dafr einige Belege. Das erste Beispiel nimmt die eben ange-fhrte pseudo-aristotelische Bemerkung ber die Stirnen auf:

Hier folgen noch ein paar Beispiele zur hnlichkeit von Tier und Mensch bei della Porta, wobei jeweils offfen bleibt, was diese Zeichen zu bedeuten haben:

14 Ebd., S.60.

Umwlkte StirnDiejenigen, die eine umwlkte Stirn haben, sind khn, und das zeigt sich an Lwen und Stieren. So erklrt es Aristoteles in seiner Abhandlung ber Phy-siognomik. Und er schreibt, dass sich genau dieses Merkmal beim Lwen findet, wo die Nase und die Au-genbrauen wie Wolken zur Hhe der Stirn streben.14

Abb.4: Della Porta: De Humana Phyiognomonia, S.60: Zeichen auf der Stirn

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15 Diese Illustration entstammt einer spteren Auflage: Io. Batis. Portae Neap. [Giovanni Batti-sta della Porta], De humana physiognomonia li. VI: in quibus docetur quom[odo] animi propen-tes naturalibus remediis compesci possint, Neapel, 1586, S.60. Abrufbar im Internet: https://archive.org/details/iobatisportaenea00port (Zugriff 10.2.2017).

Abb.5: Della Porta: S. 76: Dicke Nase Abb.6: Della Porta: S. 32: Kleiner Kopf

Abb.7: Della Porta: S.53: Schmale Stirn statt Platons breiter Stirn

Abb.8: Della Porta: S.88: Wollstig, dumm und faul15

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Stets also geht es um bildliche, krperliche Evidenzen. Nach dieser Methode arbeitet auch die kriminologische Physiognomik. Die Errterung der Diebe fin-det sich in der Auflage von 1602 in dem Kapitel ber das uere der Unredli-chen: De improbi viri figura. Der Abschnitt trgt die berschrift: furis, rapacis, ad lupos, aquilas, acipitres, corvos et aves rapaces. Nachdem er kurz die Raub-tiere und Raubvgel beschrieben hat, sowie Wolf und Wlfin, die ihren Namen mit der Straendirne teilt, zitiert della Porta erstaunlicherweise einige Verse aus Dantes Divina Commedia. Er blickt dabei nicht in den Kreis der Kirchenruber, sondern fhrt eine Szene aus dem allerersten Gesang an, wo der Dichter einer Wlfin begegnet. Es ist ein Raubtier, das seit alters her emblematisch auch als Bild des Geizes gilt. Der Geiz ist nach dieser Semiotik der Afffekt des Diebes:

Furis, rapacis. Ad Lupos, aquilas, accipit-res, corvos, & aves rapaces. Lupa pro me-retrice ponitur, propter avaritiam, & ra-pacitatem. [] Romulum, & Remum non a lupa, sed a meretrice nutritos dicit Plutarchus in Romuli vita. Sunt qui di-cant nutricis ambiguitate fabulae nomen dedisse ; nam & feras, & meretrices com-muni vocabulo lupas vocamus. Corvus rapax est, & natura proclivis ad furtum; nam cicur semper pecuniam, & omnia quae ferre potest sub lapidibus, & orami-nibus abdit. Dantes Alaghrierius verna-culus Poeta pro avaritiam, & rapacitatem lupem depinxit.

Et una Lupa, che di tutta bramaSembrava carca nella sua macrezza. Et ha natura si malvaggia, cria,che mai non empie la bramosa voglia,che dopp il pasto ha piu fame, che pria.

Aures valde parvae. Supercilia coniuncta, & pilosa. Nasus valde parvus. Manus vald parvae, vel graciles, & angustae. Vel cum digitis longis pleniores. Ungues curvi. Oculorum inferior orbis viridis, su-perior ver niger. Oculi mobiles, & acuti visus. Vel magni, & commoti micantes, iracundis similes, & palpebris apertis pa-tuli, quales in lupis, & apris aparent.16

Diebe, Ruber. ber Wlfe, Adler, Habichte, Raben und Raubvgel. Die Wlfin betrachtet man wegen ihres Geizes und ihrer Gier als Straendirne. Romulus und Remus wurden nach Plutarchs Romulus-Vita nicht von einer Wlfin, sondern einer Dirne genhrt. Manche behaupten, dass die Ernhrerin ihren Namen wegen dieser Doppeldeutigkeit erhalten habe; denn sowohl wilde Tierweibchen als auch Dir-nen tragen den gemeinsamen Namen der Wl-fin. Der Rabe ist ein Raubvogel und neigt von seiner Natur her zum Stehlen. Denn selbst wenn er zahm ist, verbirgt er alles, was er da-vontragen kann, unter Steinen und Erde. Der epische Dichter Dante Alighieri beschreibt die Wlfin in ihrem Geiz und ihrer Raublust:

Und es schrie eine Wlfin, die in ihrer GierSo mager schien wie ein Gerippe. Und sie hat ein so belbestimmtes Wesen, dass sie niemals ihre gierige Lust stillen kann,und nach dem Mahl noch hungriger ist als davor.

Sehr kleine Ohren, miteinander verbundene, stark behaarte Augenbrauen, sehr kleine Nase, sehr kleine feingliedrige und schlanke Hnde, aber dafr mit langen, vollen Fingern und ge-bogenen Fingerngeln. Der untere Kreis der Augen ist grnlich, der obere hingegen schwarz. Bewegliche Augen und scharfer Blick. Oder auch groe, bewegt zuckende Augen, gleich-sam zornig, mit weit gefffneten Augenlidern, wie bei Wlfen und Wildschweinen.17

16 Ebd., S.234-235.17 Meine bersetzung.