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dtv Bibliothek der Erstausgaben Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche

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Annette von Droste-HülshoffDie Judenbuche

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Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen

Stuttgart und Tübingen 1842

Herausgegeben vonJoseph Kiermeier-Debre

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Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

www.dtv.de

Originalausgabe 199711. Auflage 2017

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München© 1997 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Ausschnitt des Gemäldes„Vanitas“ (17. Jh.) von Edwaert Colyer

(Museum der Bildenden Künste, Leipzig / AKG, Berlin)Gesetzt aus der Bembo Berthold

Satz: Fritz Franz Vogel, CH-WädenswilDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · isbn 978-3-423-02607-9

Der Nachdruck des Textes folgt originalgetreuder Erstausgabe von 1842.

Die Originalpaginierung wird im fortlaufenden Text vermerkt.Der Anhang gibt Auskunft zu Autor und Werk.

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Wo ist die Hand so zart, daß ohne IrrenSie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,So fest, daß ohne Zittern sie den SteinMag schleudern auf ein arm verkümmert Seyn?Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,Zu wägen jedes Wort, das unvergessenIn junge Brust die zähen Wurzeln trieb,Des Vorurtheils geheimen Seelendieb?Du Glücklicher, geboren und gehegtIm lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt!Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –

Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohneines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigenthü-mers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlechtgebaut und rauchig es seyn mag, doch das Auge jedesReisenden fesselt durch die überaus malerische Schön-heit seiner Lage in der grünen Waldschlucht einesbedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebir-ges. Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einerjener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken undHandel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdesGesicht Aufsehen erregte, und eine Reise von dreißig

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Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seinerGegend machte – kurz, ein Fleck, wie es deren sonstso viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln undTugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wiesie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter höchsteinfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen warendie Begriffe der Einwohner von Recht und Unrechteinigermaßen in Verwirrung gerathen, oder vielmehr,es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Rechtgebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, derGewohnheit und der durch Vernachläßigung entstan-denen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niede-re Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohntennach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; derUntergebene that, was ihm ausführbar und mit einemetwas weiten Gewissen verträglich schien, und nurdem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubig-ten Urkunden nachzuschlagen. – Es ist schwer, jeneZeit unparteiisch in’s Auge zu fassen; sie ist seit ihremVerschwinden entweder hochmüthig getadelt oderalbern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu vieltheure Erinnerungen blenden und der Spätergeborenesie nicht begreift. So viel darf man indessen behaupten,daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehenhäufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wernach seiner Ueberzeugung handelt, und sey sie nochso mangelhaft, |382| kann nie ganz zu Grunde gehen,wogegen nichts seelentödtender wirkt, als gegen das

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innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruchnehmen.

Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmen-der als alle seine Nachbarn, ließ in dem kleinen Staate,von dem wir reden, manches weit greller hervortretenals anderswo unter gleichen Umständen. Holz- undJagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei denhäufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbstseines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedochgroße und ergiebige Waldungen den Hauptreichthumdes Landes ausmachten, ward allerdings scharf über dieForsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege,als in stets erneuten Versuchen, Gewalt und List mitgleichen Waffen zu überbieten.

Das Dorf B. galt für die hochmüthigste, schlausteund kühnste Gemeinde des ganzen Fürstenthums.Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeitmochte schon früh den angeborenen Starrsinn derGemüther nähren; die Nähe eines Flusses, der in dieSee mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug,um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zuführen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit derHolzfrevler zu ermuthigen, und der Umstand, daß Allesumher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufre-gend wirken, da bei den häufig vorkommenden Schar-mützeln der Vortheil meist auf Seiten der Bauern blieb.Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in denschönen Mondnächten, mit ungefähr doppelt so viel

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Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knabenbis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahre-ner Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewußtseynanführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube ein-nahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos demallmähligen Verhallen des Knarrens und Stoßens derRäder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Eingelegentlicher Schuß, ein schwacher Schrei ließen wohleinmal eine junge Frau oder Braut auffahren; keinanderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrteder Zug eben so schweigend heim, die Gesichterglühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenemKopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach einpaar Stunden war die Umgegend voll von dem Mißge-schick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus demWalde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupfta-bak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufenachzukommen.

In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel ge-boren, in einem Hause, das durch die stolze Zugabeeines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben dieAnsprüche seines Erbauers, so wie durch seine gegen-wärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umständedes jetzigen Besitzers bezeugte. Das frühere Geländerum Hof und Garten war einem vernachläßigten Zaunegewichen, das Dach schadhaft, fremdes Vieh weideteauf den Triften, fremdes Korn wuchs auf dem Ackerzunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer ein

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paar holzigten Rosenstöcken aus besserer Zeit, mehrUnkraut als Kraut. Freilich hatten Unglücksfällemanches hiervon herbeigeführt; doch war auch vielUnordnung und böse Wirthschaft im Spiel. FriedrichsVater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Jungge-sellenstande ein sogenannter ordentlicher Säufer, d. h.einer, der nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lagund die Woche hindurch so manierlich war wie einAnderer. So war denn auch seine Bewerbung um einrecht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm nichterschwert. Auf der Hochzeit ging’s lustig zu. Mergelwar gar nicht zu arg betrunken, und die Eltern derBraut gingen Abends vergnügt heim; aber am nächstenSonntage sah man die junge Frau schreiend undblutrünstig durch’s Dorf zu den Ihrigen rennen, alle ihreguten Kleider und neues Hausgeräth im Stich lassend.Das war freilich ein großer Skandal und Aerger fürMergel, der allerdings Trostes bedurfte. So war dennauch am Nachmittage keine Scheibe an seinem Hausemehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nachtvor der Thürschwelle liegen, einen abgebrochenenFlaschenhals von Zeit zu Zeit zum Munde führend undsich Gesicht und Hände jämmerlich zerschneidend. Diejunge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald verküm-merte und starb. Ob nun den Mergel Reue quälte oderScham, genug, er schien der Trostmittel immer bedürf-tiger und fing bald an, den gänzlich verkommenenSubjekten zugezählt zu werden.

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Die Wirthschaft verfiel; fremde Mägde brachtenSchimpf und Schaden; so verging Jahr auf Jahr. Mergelwar und blieb ein verlegener und zulezt ziemlich arm-seliger Wittwer, bis er mit einemmale wieder als Bräuti-gam auftrat. War die Sache an und für sich unerwartet,so trug die Persönlichkeit der Braut noch dazu bei, dieVerwunderung zu erhöhen. Margareth Semmler wareine brave, anständige Person, so in den Vierzigen, inihrer Jugend eine Dorfschönheit und noch jezt als sehrklug und wirthlich geachtet, dabei nicht unvermögend;und so mußte es Jedem unbegreiflich seyn, was sie zudiesem Schritte getrieben. Wir glauben den Grundeben in dieser ihrer selbstbewußten Vollkommenheitzu finden. Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagthaben: „Eine Frau, die von ihrem Manne übel behan-delt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenn’s mirschlecht geht, so sagt, es liege an mir.“ Der Erfolg zeigteleider, daß sie ihre Kräfte überschäzt hatte. Anfangsimponirte sie ihrem Manne; er kam nicht nach Hausoder kroch in die Scheune, wenn er sich übernommenhatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getra-gen zu werden, und bald sah man ihn oft genug querüber die Gasse in’s Haus taumeln, hörte drinnen seinwüstes Lärmen und sah Margreth eilends Thür und

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Fenster schließen. An einem solchen Tage – keinemSonntage mehr – sah man sie Abends aus dem Hausestürzen, ohne Haube und Halstuch, das Haar wild umden Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeetniederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen,dann ängstlich um sich schauen, rasch ein BündelKräuter brechen und damit langsam wieder dem Hausezugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Eshieß, an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an siegelegt, obwohl das Bekenntniß nie über ihre Lippenkam.

Das zweite Jahr dieser unglücklichen Ehe ward miteinem Sohne, man kann nicht sagen erfreut, dennMargreth soll sehr geweint haben, als man ihr das Kindreichte. Dennoch, obwohl unter einem Herzen vollGram getragen, war Friedrich ein gesundes, hübschesKind, das in der frischen Luft kräftig gedieh. Der Vaterhatte ihn sehr lieb, kam nie nach Hause, ohne ihm einStückchen Wecken oder dergleichen mitzubringen,und man meinte sogar, er sey seit der Geburt desKnaben ordentlicher geworden; wenigstens ward derLärmen im Hause geringer.

Friedrich stand in seinem neunten Jahre. Es war umdas Fest der heiligen drei Könige, eine harte, stürmischeWinternacht. Hermann war zu einer Hochzeit gegan-gen und hatte sich schon bei Zeiten auf den Weggemacht, da das Brauthaus Dreiviertelmeilen entferntlag. Obgleich er versprochen hatte, Abends wiederzu-

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kommen, rechnete Frau Mergel doch um so wenigerdarauf, da sich nach Sonnenuntergang dichtes Schnee-gestöber eingestellt hatte. Gegen zehn Uhr schürte siedie Asche am Herde zusammen und machte sich zumSchlafengehen bereit. Friedrich stand neben ihr, schonhalb entkleidet und horchte auf das Geheul des Windesund das Klappen der Bodenfenster.

„Mutter, kommt der Vater heute nicht?“ fragte er. –„Nein, Kind, morgen.“ – „Aber warum nicht, Mutter?er hat’s doch versprochen.“ – „Ach Gott, wenn der Alleshielte, was er verspricht! Mach, mach voran, daß dufertig wirst.“

Sie hatten sich kaum niedergelegt, so erhob sich eineWindsbraut, als ob sie das Haus mitnehmen wollte. DieBettstatt bebte und im Schornstein rasselte es wie |387|ein Kobold. – „Mutter – es pocht draußen!“ – „Still,Fritzchen, das ist das lockere Brett im Giebel, das derWind jagt.“ – „Nein, Mutter, an der Thür!“ – „Sieschließt nicht; die Klinke ist zerbrochen. Gott, schlafdoch! bring mich nicht um das armselige BischenNachtruhe.“ – „Aber wenn nun der Vater kommt?“ –Die Mutter drehte sich heftig im Bett um. – „Den hältder Teufel fest genug!“ – „Wo ist der Teufel, Mutter?“– „Wart du Unrast! er steht vor der Thür und will dichholen, wenn du nicht ruhig bist!“

Friedrich ward still; er horchte noch ein Weilchen undschlief dann ein. Nach einigen Stunden erwachte er. DerWind hatte sich gewendet und zischte jezt wie eine

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Schlange durch die Fensterritze an seinem Ohr. SeineSchulter war erstarrt; er kroch tief unter’s Deckbett undlag aus Furcht ganz still. Nach einer Weile bemerkte er,daß die Mutter auch nicht schlief. Er hörte sie weinenund mitunter: „Gegrüßt seyst du, Maria!“ und: „bitte füruns arme Sünder!“ Die Kügelchen des Rosenkranzesglitten an seinem Gesicht hin. – Ein unwillkührlicherSeufzer entfuhr ihm. – „Friedrich, bist du wach?“ – „Ja,Mutter.“ – „Kind, bete ein wenig – du kannst ja schondas halbe Vaterunser – daß Gott uns bewahre vorWasser- und Feuersnoth.“

Friedrich dachte an den Teufel, wie der wohl ausse-hen möge. Das mannigfache Geräusch und Getöse imHause kam ihm wunderlich vor. Er meinte, es müsseetwas Lebendiges drinnen seyn und draußen auch.„Hör’, Mutter, gewiß, da sind Leute, die pochen.“ –„Ach nein, Kind; aber es ist kein altes Brett im Hause,das nicht klappert.“ – „Hör’! hörst du nicht? es ruft! hör’doch!“

Die Mutter richtete sich auf; das Toben des Sturmsließ einen Augenblick nach. Man hörte deutlich an denFensterladen pochen und mehrere Stimmen: „Mar-greth! Frau Margreth, heda, aufgemacht!“ – Margrethstieß einen heftigen Laut aus: „Da bringen sie mir dasSchwein wieder!“

Der Rosenkranz flog klappernd auf den Brettstuhl,die Kleider wurden herbeigerissen. Sie fuhr zum Herdeund bald darauf hörte Friedrich sie mit trotzigen Schrit-

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ten über die Tenne gehen. Margreth kam gar nichtwieder; aber in der Küche war viel Gemurmel undfremde Stimmen. Zweimal kam ein fremder Mann indie Kammer und schien ängstlich etwas zu suchen. Miteinemmale ward eine Lampe hereingebracht. ZweiMänner führten die Mutter. Sie war weiß wie Kreideund hatte die Augen geschlossen. Friedrich meinte, siesey todt; er erhob ein fürchterliches Geschrei, woraufihm Jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhebrachte, und nun begriff er nach und nach aus den Re-den der Umstehenden, daß der Vater vom Ohm FranzSemmler und dem Hülsmeyer todt im Holze gefundensey und jezt in der Küche liege.

Sobald Margreth wieder zur Besinnung kam, suchtesie die fremden Leute los zu werden. Der Bruder bliebbei ihr und Friedrich, dem bei strenger Strafe im Bettzu bleiben geboten war, hörte die ganze Nacht hin-durch das Feuer in der Küche knistern und einGeräusch wie von Hin- und Herrutschen und Bürsten.Gesprochen ward wenig und leise, aber zuweilendrangen Seufzer herüber, die dem Knaben, so jung erwar, durch Mark und Bein gingen. Einmal verstand er,daß der Oheim sagte: „Margreth, zieh dir das nicht zuGemüth; wir wollen Jeder drei Messen lesen lassen, undum Ostern gehen wir zusammen eine Bittfahrt zurMuttergottes von Werl.“

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Als nach zwei Tagen die Leiche fortgetragen wurde,saß Margreth am Herde, das Gesicht mit der Schürzeverhüllend. Nach einigen Minuten, als alles still gewor-den war, sagte sie in sich hinein: „Zehn Jahre, zehnKreuze. Wir haben sie doch zusammen getragen, undjezt bin ich allein!“ dann lauter: „Fritzchen, komm her!“– Friedrich kam scheu heran; die Mutter war ihm ganzunheimlich geworden mit den schwarzen Bändern undden verstörten Zügen. „Fritzchen,“ sagte sie, „willst dujezt auch fromm seyn, daß ich Freude an dir habe, oderwillst du unartig seyn und lügen, oder saufen undstehlen?“ – „Mutter, Hülsmeyer stiehlt.“ – „Hülsmey-er? Gott bewahre! Soll ich dir auf den Rücken kom-men? wer sagt dir so schlechtes Zeug?“ – „Er hatneulich den Aaron geprügelt und ihm sechs Groschengenommen.“ – „Hat er dem Aaron Geld genommen,so hat ihn der verfluchte Jude gewiß zuvor darumbetrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher, angesessenerMann, und die Juden sind alle Schelme.“ – „Aber,Mutter, Brandes [Brandis] sagt auch, daß er Holz undRehe stiehlt.“ – „Kind, Brandes [Brandis] ist einFörster.“ – „Mutter, lügen die Förster?“

Margreth schwieg eine Weile; dann sagte sie: „Höre,Fritz, das Holz läßt unser Herrgott frei wachsen und das

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Wild wechselt aus eines Herren Lande in das andere;die können Niemand angehören. Doch das verstehst dunoch nicht; jezt geh in den Schoppen und hole mirReisig.“

Friedrich hatte seinen Vater auf dem Stroh gesehen,wo er, wie man sagt, blau und fürchterlich ausgesehenhaben soll. Aber davon erzählte er nie und schien un-gern daran zu denken. Ueberhaupt hatte die Erinne-rung an seinen Vater eine mit Grausen gemischteZärtlichkeit in ihm zurückgelassen, wie denn nichts sofesselt, wie die Liebe und Sorgfalt eines Wesens, dasgegen alles Uebrige verhärtet scheint, und bei Fried-rich wuchs dieses Gefühl mit den Jahren, durch dasGefühl mancher Zurücksetzung von Seiten Anderer.Es war ihm äußerst empfindlich, wenn, so lange erKind war, Jemand des Verstorbenen nicht allzu löblichgedachte; ein Kummer, den ihm das Zartgefühl derNachbarn nicht ersparte. Es ist gewöhnlich in jenenGegenden, den Verunglückten die Ruhe im Grabe ab-zusprechen. Der alte Mergel war das Gespenst desBrederholzes geworden; einen Betrunkenen führte erals Irrlicht bei einem Haar in den Zellerkolk (Teich);die Hirtenknaben, wenn sie Nachts bei ihren Feuernkauerten und die Eulen in den Gründen schrieen,hörten zuweilen in abgebrochenen Tönen ganzdeutlich dazwischen sein: „Hör mal an, fein’s Liese-ken,“ und ein unprivilegirter Holzhauer, der unter derbreiten Eiche eingeschlafen und dem es darüber Nacht

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geworden war, hatte beim Erwachen sein geschwolle-nes blaues Gesicht durch die Zweige lauschen sehen.Friedrich mußte von andern Knaben Vieles darüberhören; dann heulte er, schlug um sich, stach aucheinmal mit seinem Messerchen und wurde bei dieserGelegenheit jämmerlich geprügelt. Seitdem trieb erseiner Mutter Kühe allein an das andere Ende desThales, wo man ihn oft Stunden lang in derselbenStellung im Grase liegen und den Thymian aus demBoden rupfen sah.

Er war zwölf Jahre alt, als seine Mutter einen Besuchvon ihrem jüngern Bruder erhielt, der in Brede wohnteund seit der thörichten Heirath seiner Schwester ihreSchwelle nicht betreten hatte. Simon Semmler war einkleiner, unruhiger, magerer Mann mit vor dem Kopfliegenden Fischaugen und überhaupt einem Gesichtwie ein Hecht, ein unheimlicher Geselle, bei dem dick-thuende Verschlossenheit oft mit ebenso gesuchterTreuherzigkeit wechselte, der gern einen aufgeklärtenKopf vorgestellt hätte und statt dessen für einen fatalen,Händel suchenden Kerl galt, dem Jeder um so lieber ausdem Wege ging, je mehr er in das Alter trat, wo ohne-hin beschränkte Menschen leicht an Ansprüchengewinnen, was sie an Brauchbarkeit verlieren. Dennochfreute sich die arme Margreth, die sonst keinen derIhrigen mehr am Leben hatte.

„Simon, bist du da?“ sagte sie, und zitterte, daß siesich am Stuhle halten mußte. „Willst du sehen, wie es

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mir geht und meinem schmutzigen Jungen?“ – Simonbetrachtete sie ernst und reichte ihr die Hand: „Du bistalt geworden, Margreth!“ – Margreth seufzte: „Es ist mirderweil oft bitterlich gegangen mit allerlei Schicksalen.“– „Ja, Mädchen, zu spät gefreit, hat immer gereut! Jeztbist du alt und das Kind ist klein. Jedes Ding hat seineZeit. Aber wenn ein altes Haus brennt, dann hilft keinLöschen.“ – Ueber Margreths vergrämtes Gesicht flogeine Flamme so roth wie Blut.

„Aber ich höre, dein Junge ist schlau und gewichst,“fuhr Simon fort. – „Ei nun so ziemlich, und dabeifromm.“ – „Hum, ’s hat mal Einer eine Kuh gestohlen,der hieß auch Fromm. Aber er ist still und nachdenk-lich, nicht wahr? er läuft nicht mit den andern Buben?“– „Er ist ein eigenes Kind,“ sagte Margreth wie für sich;„es ist nicht gut.“ – Simon lachte hell auf: „Dein Jungeist scheu, weil ihn die andern ein paarmal gut durch-gedroschen haben. Das wird ihnen der Bursche schonwieder bezahlen. Hülsmeyer war neulich bei mir; dersagte, es ist ein Junge wie ’n Reh.“

Welcher Mutter geht das Herz nicht auf, wenn sieihr Kind loben hört? Der armen Margreth ward seltenso wohl, Jedermann nannte ihren Jungen tückisch undverschlossen. Die Thränen traten ihr in die Augen. „Ja,|392| Gottlob, er hat gerade Glieder.“ – „Wie sieht eraus?“ fuhr Simon fort. – „Er hat viel von dir, Simon,viel.“

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