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Anti-Homunk

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 622

Anti-Homunk von Hubert Haensel

Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besor-gen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Inzwischen schreibt man an Bord des Generationenschiffs das Ende des Jahres 3807 Ter-razeit. Der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C, das die SOL in die Ver-nichtung zu führen drohte, ist siegreich beendet – dank den Informationen vom Atlan-Team, das der gefährlichen Zentrumszone von Xiinx-Markant bereits einen Besuch abges-tattet hat. Die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Atlan und den Solanern auf der einen und Anti-ES und Anti-Homunk auf der anderen Seite geht jedoch unvermindert weiter. Wie ge-fährlich die Gegner wirklich sind, das zeigt sich für Atlan bei einem erneuten »temporären Reinkarnationseffekt«. Der Arkonide bekommt es speziell zu tun mit ANTI-HOMUNK ...

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide durchlebt eine ent-scheidende Phase des »temporären Re-inkarnationseffekts«. Anti-ES – Die Superintelligenz hat neue Pläne mit Atlan. Anti-Homunk – Ein Diener wird perfektio-niert. Der Namenlose – Ein Helfer von ARCHI-TEKT. Pit und Rico – Roboter auf der Basis des Ersten Zählers.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Mit abgeschalteten Triebwerken und nur

geringer Restfahrt glitt die Space-Jet BLIN-DER VOGEL durch den Raum. Ziel war nach wie vor das Leuchtende Auge im Zentrum der Galaxis Xiinx-Markant, doch nachdem Wöb-beking-Nar’Bon sich überraschend gemeldet hatte, sollte Atlan endlich erfahren, wer oder was sein Gegner wirklich war.

Der Arkonide entspannte sich, als er die gedankliche Stimme Wöbbekings erneut ver-nahm. Er wußte, was ihn erwartete, weil er den »temporären Reinkarnationseffekt« in-zwischen mehrfach erfahren hatte. Gleich würde die Zentrale der Space-Jet vor seinen Augen verschwinden, würde er sich in einer gänzlich veränderten Umgebung wiederfin-den, die für ihn Realität war. Eine Wirklich-keit zwar, die länger als zwei Jahrhunderte zurücklag, die er aber dennoch, wie es schien, zum erstenmal erlebte.

Atlan fühlte, wie etwas von ihm Besitz er-griff. Er wehrte sich nicht dagegen, sondern ließ sich treiben. Er fiel – in ein endloses Loch im Strom der Zeit, der ihn rasch mit sich wirbelte ...

1.

»Wach auf, Atlan, es ist an der Zeit, deine

Körperfunktionen durch Nahrungsaufnahme konstant zu erhalten.«

»Hä?« Ich war zu benommen, um den Sinn dieser Worte sofort zu verstehen. Zudem hatte ich geträumt und stand noch unter dem Ein-druck dieser Träume, die mich einmal mehr aus der Einsamkeit der Namenlosen Zone entführt hatten. Trotz meines photographi-schen Gedächtnisses fiel es mir schwer, mich zu erinnern; die Gedankenfetzen wirbelten wirr durcheinander. Da war die heimatliche Milchstraße, die Dunkelwolke Provcon-Faust, Perry Rhodan und schließlich der einäugige Roboter Laire, der mich zu den Kosmokraten geleiten sollte. Ich stöhnte leise und vergrub den Kopf in meinen Handflächen.

»Ist dir nicht gut?« erkundigte sich eine be-sorgte Stimme.

Zwischen den gespreizten Fingern hindurch warf ich einen flüchtigen Blick auf das metal-lisch glänzende Geschöpf, das mich aus sei-nen leuchtenden Linsen unverwandt anstarrte.

Pit hatte eine erwartungsvolle Haltung einge-nommen. Geschickt balancierte er ein kleines Tablett – was sich darauf befand, konnte ich nicht erkennen.

»Das sind deine Betriebsstoffe, Atlan«, er-klärte er. »Vitamine, Kohlehydrate, Minera-lien.«

Ich befahl ihm, das Tablett abzustellen und erkundigte mich zugleich nach eventuellen Zwischenfällen.

»Du hast nur knapp vier Stunden geschla-fen«, antwortete Pit. »Schon eine einfache Wahrscheinlichkeitsberechnung beweist, daß diese Zeitspanne viel zu gering ist, um in der Namenlosen Zone auf eine Begegnung hoffen zu lassen.«

Womit er recht hat, bestätigte der Extra-sinn.

Willst du erneut behaupten, dieser Raum-sektor sei unendlich?

Das Gegenteil läßt sich ohne konkrete An-haltspunkte nicht beweisen: Daher erscheint es nur logisch ...

Das ist es eben nicht, widersprach ich und richtete mich halb auf. Pit wollte mir behilf-lich sein, doch ich wehrte entschieden ab. In letzter Zeit ging mir seine übertriebene Für-sorge häufig auf die Nerven.

Du bist verbittert, bemerkte der Extrasinn. Ich wollte lachen, aber nur ein Seufzen

rang sich über meine Lippen. Vielleicht verschloß ich mich tatsächlich vor der Wirk-lichkeit. Allein wenn ich an die 13 verlorenen Jahre dachte ...

Zählt die Zeit für einen relativ Unsterbli-chen?

Die Frage des Logiksektors warf mich aus dem Konzept. War es Absicht, daß er damit einen wunden Punkt berührte? Die Erinne-rung schmerzte.

Oh ja, gab ich lautlos zurück. Sie zählt. Was mag inzwischen in der Milchstraße ge-schehen sein? Hat ein anderer an meiner Stel-le den Weg zu den Kosmokraten angetreten, oder warten jene unbegreiflichen Wesen jen-seits der Materiequelle noch immer darauf, daß eines Tages ein Arkonide namens Atlan bei ihnen erscheint? Auch ich bin zu ersetzen. Perry Rhodan, Reginald Bull, Julian Tifflor, die Reihe der Namen ließe sich um etliche erweitern ... Und genau deshalb muß mein

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ganzes Bemühen in erster Linie dem Ziel gel-ten, entweder zurück in den Normalraum zu gelangen oder aber einen »Übergang« in den Existenzraum der Kosmokraten zu finden.

Mit Hilfe der Roboter hatte ich inzwischen die Basis des Ersten Zählers unter meiner Kontrolle, auch wenn längst nicht alles so war, wie es sein sollte. Immerhin verhielt sich die Quelle der Jenseitsmaterie, die so etwas wie ein eigenes Leben oder ein eigenes Be-wußtsein besaß, weiterhin absolut passiv. Den Grund dafür kannte ich, ohne das geringste daran ändern zu können. Zum einen war es das Verschwinden von Janv-Zount, dem Ers-ten Zähler, zum andern die Sehnsucht der Lichtquelle nach den Vulnurern, die früher mit ihr zusammen eine »Geistige Einheit«, oder etwas Ähnliches gebildet haben moch-ten.

Pit, der Roboter, stand noch immer unbe-wegt da und ließ mich nicht aus den Augen. »Danke«, sagte ich zu ihm. »Du kannst ge-hen.« Ich wollte allein sein.

»Fehlt dir wirklich nichts?« erkundigte Pit sich besorgt.

»Nein, zum Kuckuck«, erwiderte ich heftig. Als das Schott hinter dem Roboter zuglitt, tat es mir fast schon wieder leid. Immerhin war ich auf ihn und seine Blechkameraden ange-wiesen.

*

Die absolute Leere hätte vollkommener

nicht sein können. Oft, wenn ich auf die akti-vierten Bildschirme in der Hauptzentrale blickte, fragte ich mich unwillkürlich, ob die Namenlose Zone das Nichts darstellte. Einen anderen, treffenderen Begriff dafür zu finden, fiel schwer. Immerhin besaß dieser Raumsek-tor weder eine erkennbare Begrenzung (von den Grenzwächtern und ihren Zweigen einmal abgesehen) noch Sonnen oder gar Planeten.

Kann im Nichts etwas existieren? Philoso-phen hatten sich darüber schon die Köpfe zerbrochen, ich sah nicht ein, daß ich es eben-falls tun sollte.

Mit annähernd Lichtgeschwindigkeit, aller-dings noch unterhalb des Bereichs, in dem nennenswerte Dilatationseffekte auftreten konnten, raste die Basis des Ersten Zählers

durch die Namenlose Zone. Nie zuvor hatte mich ein Raumflug dermaßen angeödet. Aber allein sein, das bedeutet zugleich, die Ein-samkeit spüren. Die Roboter, die es auf der Basis zur Genüge gab, waren kein Ersatz für ein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut, nach dem man sich irgendwann zu sehnen beginnt. Jede Unterhaltung mit ihnen blieb von Logik und mechanischen Gesichtspunk-ten bestimmt, nicht aber von Gefühlen und den mitunter typischen Schwächen biologi-schen Lebens. Kik, der liebenswerte kleine Seestern fehlte mir, ebenso der Haluter Beyl Transot, der allein durch seine Anwesenheit eine Verbindung zu meiner Vergangenheit gewesen war. Selbst Wöbbeking konnte ich nicht zurückrufen. Der positive Teil von Anti-ES hatte mich nur wissen lassen, daß er sich an seinen neuen, eiförmigen Körper aus Jen-seitsmaterie gewöhnen und zugleich Chybrain finden müsse. Wann und ob unsere Wege sich wieder kreuzten, lag hinter dem Schleier der Zukunft verborgen.

»Sorgen, Atlan, nicht wahr?« wurde ich unvermittelt angesprochen. Im ersten Moment freudiger Überraschung wirbelte ich herum, aber da war nur der Roboter Rico, der sein mechanisches Gesicht zu einem Lächeln ver-zog. Seine Haltung veränderte sich schlagar-tig, als ich ihn wütend anfunkelte.

»Ich wollte dir eine Freude bereiten«, sagte er zögernd.

»Laß das.« Barsch winkte ich ab. »Kik, o-der das, was noch von ihm übrig war, ist mit Sanny verschwunden. Niemand weiß, wohin. Du solltest ihn nicht nachahmen.« Einer va-gen Hoffnung nachgebend, fügte ich rasch hinzu: »Existiert sonst organisches Leben auf der Basis?«

Rico, neben Pit mein häufigster Ansprech-partner, schüttelte den Kopf.

»Soviel ich weiß, nein.« »Bist du sicher?« »Ich habe mit den anderen darüber gespro-

chen. Kein noch so kleines Tier kann ihren Sensoren entgangen sein.«

Es war zwar verwunderlich, daß die Robo-ter von sich aus Initiative zeigten, aber wenn Rico sagte, daß ich das einzige Lebewesen auf der Basis war, mußte ich ihm glauben.

»Wohin fliegen wir?«

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Er zuckte mit seinen stählernen Schultern. »Gibt es eine Möglichkeit, unseren Kurs zu

bestimmen?« »Sobald wir auf einen Grenzwächter oder

dessen Zweige treffen, können wir uns orien-tieren.«

Darauf legte ich allerdings keinen Wert, denn inzwischen wußte ich, daß es an jenen Stellen kein Durchkommen gab.

Rico schien meine Gedankengänge zu erra-ten.

»Du bist fest entschlossen, entweder in dein Universum zurückzukehren oder den Weg zu einer Materiequelle zu finden.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage, immerhin hatte ich mit den Robotern während der letz-ten Tage wiederholt darüber diskutiert. »Nimmst du uns mit, wenn du Erfolg hast?«

Überrascht sah ich ihn an. Sie fürchten die Einsamkeit nicht weniger

als du, wisperte mein Extrasinn. Rico legte mir eine Hand auf die Schulter. »Atlan«, sagte er. »Wir haben beschlossen,

an deiner Seite zu bleiben. Egal, was ge-schieht, nachdem der Erste Zähler uns verlas-sen hat, gehören wir dir.«

Womit ich also eine Heerschar neurotischer Roboter mein eigen nennen durfte.

Tu nicht so, als käme dir das Angebot unge-legen, wurde ich vom Logiksektor zurecht-gewiesen. Im Grunde hast du doch nach einer Bestätigung gesucht, daß die Roboter wirklich zu dir halten.

*

Die Basis des Ersten Zählers raste weiter

durch die endlose, lichtlose Finsternis. Langsam vergingen die Tage, einer so er-

eignislos wie der andere. Oft stieg ich an die Oberfläche empor, um

wenigstens den künstlichen, energetischen Himmel zu sehen. Es gab keine Sterne, nicht eine einzige Sonne, deren wärmende, bele-bende Strahlen meine Unsicherheit und Zwei-fel hätten vertreiben können.

Die Quelle der Jenseitsmaterie blieb stumm. Nur ihre Eruptionen, mitunter ein Feuerwerk von Farben, kamen nie zum Still-stand.

Wöbbeking war und blieb in den Weiten

der Namenlosen Zone verschwunden. Und Anti-ES? Die Superintelligenz schien

jegliches Interesse an meiner Person verloren zu haben. Angespannt wartete ich auf einen neuen Angriff. Doch nichts geschah. Nur manchmal war es, als würden Raum und Zeit miteinander verschmelzen. Hätte ich es nicht gewußt, jetzt spürte ich es überdeutlich: Die Namenlose Zone war nichts anderes als ein gigantisches Gefängnis – für Wesenheiten wie Anti-ES.

Das Warten wurde zur Qual; das Warten auf etwas, was vielleicht nie eintreten würde.

Der Extrasinn lachte spöttisch. Du hast dein Leben lang gewartet, Arkoni-

de. Aber nie war ich so zur Hilflosigkeit verur-

teilt, gab ich in Gedanken zurück.

* Ein rhythmisches Pochen schreckte mich

aus tiefem Schlaf auf. »Ja«, rief ich halblaut und verärgert über diese Störung. Von einer unerklärlichen inneren Unruhe erfüllt, war ich froh gewesen, endlich einschlafen zu können.

Rico stapfte durch das sich öffnende Schott herein. Meine Nacktheit, als ich aufsprang und nach meiner Kleidung griff, nahm er ent-gegen früherer Gepflogenheiten kommentar-los zur Kenntnis.

»Komm mit, Atlan«, sagte er nur, und jeg-licher Unmut fiel in dem Moment von mir ab. Das konnte nur bedeuten, daß wir uns irgend-einem Objekt näherten.

Auf den Bildschirmen der Zentrale sah ich wenige Minuten später einen hellen, verwa-schen wirkenden Fleck, der trotz höchstmög-licher Vergrößerung nur wenige Zentimeter durchmaß.

»Wir wissen noch nicht, was es ist«, ge-stand Rico. »Aber wir bewegen uns annä-hernd darauf zu.«

Für eine Sonne war die Erscheinung zu un-regelmäßig. Ein wenig erinnerte sie mich an die Übergangsstelle, durch welche die Arltra-Ranger in die Namenlose Zone gekommen waren.

Gib dich keinen verfrühten Hoffnungen hin, warnte der Logiksektor. Du weißt, daß hier vieles anders ist als gewohnt.

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»Entfernung?« »Nicht zu definieren«, antwortete Rico.

»Die Ortungen können das Objekt nur schwer erfassen.«

»Ist die Basis Ähnlichem früher schon be-gegnet?«

Der Roboter schüttelte den Kopf. »Sämtliche zur Verfügung stehenden Daten

wurden bereits abgerufen und auf Identität überprüft. Nichts Vergleichbares.«

Im Hologramm erinnerte die Erscheinung an einen knapp faustgroßen Ball, dessen O-berfläche in brodelnder und wallender Bewe-gung befindlich war. Aber das waren nicht die Protuberanzen eines Sterns, die weit ins All hinausgeschleudert wurden.

»Kursberichtigung!« befahl ich. »Wir flie-gen das Objekt an.«

Die Bildwiedergabe verbreitete einen war-men, wohligen Schein. Trotzdem war die Hel-ligkeit zu gering, um die Beleuchtung der Zentrale entbehrlich zu machen. Sobald ich näher an das Hologramm herantrat, glaubte ich, unzählige winzige Lichtpunkte auszuma-chen, die den weiter anwachsenden Ball auf den unterschiedlichsten Bahnen umkreisten.

Eine Reihe flackernder Kontrollanzeigen lenkte meine Aufmerksamkeit ab. Ich wußte nur, daß sie das Antriebssystem der Basis betrafen. Tatsächlich schienen Komplikatio-nen aufzutreten; ein halbes Dutzend Roboter entwickelte plötzlich hektische Aktivitäten. Da nicht einmal Rico auf meine Fragen ant-wortete, kam ich mir mehr oder weniger über-flüssig vor. Die Vermutung, daß das entste-hende Durcheinander mit dem neuen Flugziel der Basis in Verbindung stand, drängte sich geradezu auf.

Endlich bekam ich einen der aufgeregt wir-kenden Roboter am Arm zu fassen.

»Ich will wissen, was los ist!« »Wir verlieren an Geschwindigkeit. Bis

jetzt genau 12,3789 Prozent.« »Maschinenschaden?« fragte ich. Der Roboter schüttelte den Kopf. »Da draußen ist etwas, was die Verzöge-

rung bewirkt.« Er meinte das wabernde Leuchten, dessen

Anblick meinen Puls schneller schlagen ließ. Viele der winzigen Lichtpunkte veränderten ständig ihre Bahn und vergingen, während an

anderer Stelle neue geboren wurden. »Alle herhören!« rief ich ins Rund der

Zentrale. Einige der Maschinen hielten sofort inne, die restlichen wandten sich mir Sekun-den später zu.

»Du unterbrichst die Auswertungen«, tadel-te Rico.

»Ich will keine komplett detaillierte Analy-se, sondern die Teilergebnisse vorweg erfah-ren.«

»Es ist nicht deine Aufgabe, dich mit Un-vollständigem zu befassen, Atlan. Wozu hast du schließlich uns ...?«

»Rico«, stoppte ich seinen Redeschwall. Er legte den Kopf schräg und sah mich von der Seite her an. Die anderen nahmen ihre Tätig-keiten wieder auf, ohne daß ich den Befehl dazu gegeben hätte. Ich hegte den Verdacht, daß er dahintersteckte.

Ein Ächzen durchlief die Basis des Ersten Zählers, gefolgt von einer heftigen Erschütte-rung. Haltlos taumelte ich gegen das nächste Schaltpult, ehe die Neutralisatoren einsetzten.

Der Ausfall des gesamten Antriebssystems im Unterlichtbereich war unschwer zu erken-nen.

Das Hologramm hatte sich ausgeweitet. Es zeigte nicht mehr nur das helle Wallen, son-dern auch eine undefinierbare Aura, die sich gleichmäßig nach allen Seiten hin ausbreitete. Lediglich die leuchtenden Punkte waren bis auf wenige verschwunden.

Sie sind ein Produkt deiner überreizten Sehnerven, behauptete der Extrasinn.

Vermutlich waren wir in die Ausläufer ei-ner energetischen Störfront geraten, die vorü-bergehend unsere gesamte Positronik beeinflußte. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zwischenfalls lag bei eins zu einer Million, doch was wußte ich schon von den Gegebenheiten innerhalb der Namenlosen Zone.

»Die Distanz wächst. Dieses Etwas stößt uns regelrecht ab.«

Einer der Roboter reichte mir eine Bildauf-nahme. Die am unteren Rand eingeblendeten Zahlenkolonnen verrieten, daß sie unter Vor-schaltung mehrerer Filter entstanden war. Im ersten Moment wußte ich herzlich wenig da-mit anzufangen, dann allerdings erkannte ich in dem grobgezackten Fleck das Gebilde vor

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der Basis, wenngleich seine Umrisse im Spektrallicht gänzlich verändert erschienen.

Der Roboter tippte mit seinen dünnen Me-tallfingern auf das Bild.

»Das hier«, erklärte er, »ist die sich wellen-förmig ausbreitende Strömung, die uns mit sich treibt.«

»Materie?« fragte ich unwillkürlich. Im-merhin zeigte die Aufnahme nicht viel mehr als einen verwaschenen Kreis.

»Partikel«, antwortete der Roboter. »Und Strahlung.«

Ein seltsamer Schauder erfaßte mich. Ich fröstelte.

Du ziehst voreilige Schlüsse, warnte der Logiksektor. Ein solcher Zufall ist nahezu ausgeschlossen.

... aber nicht unmöglich. Nein, kam es zögernd. Nicht unmöglich. Ich starrte das Hologramm an, als könnte

ich es auf diese Weise beschwören. Eigentlich hatte ich mir eine Materiequelle immer anders vorgestellt. Wie? Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen; gleich flüchtigem Nebel zerrannen sie unter meinem Zugriff. In dieser Situation mußte ich zugeben, daß ich absolut nichts wußte.

Das Objekt begann zu verblassen. »Rico«, rief ich. »Unternimm etwas!« »Wir verlieren den Kontakt.« »Entfernung?« »Unbestimmt.« »Beschleunige mit Höchstwerten!« Erst als der Roboter in typisch menschli-

cher Manier abwinkte, fiel mir auf, daß die Triebwerke der Basis längst im kritischen Bereich arbeiteten. Wahrscheinlich schon seit mehreren Minuten. Dennoch kamen wir nicht vorwärts. Im Gegenteil. Ich brauchte mich nicht anzustrengen, um für dieses Wallen und die sich davon gleichmäßig nach allen Seiten ausbreitende Partikelströmung einen Ver-gleich zu finden. Die Überzeugung, auf eine Materiequelle gestoßen zu sein, erhärtete sich. Aber zugleich war ich auch ein wenig ent-täuscht. Wie groß mochte das Objekt sein? Drei Kilometer im Durchmesser, allerhöchs-tens vier? Das war alles andere als imposant.

Es wird bald völlig verschwunden sein, er-innerte der Extrasinn.

Ich ordnete den Einsatz des Überlichtan-

triebs an.

* Ein Wimmern hallte durch die Basis des

Ersten Zählers. Zugleich hatte ich das Gefühl, vorwärtsgerissen zu werden. Der Roboter sagte etwas. Seine Worte klangen dumpf und verzerrt; ich verstand nicht, was er mir mit-teilte.

Das Wallen vor uns schien sich aufzublä-hen. Die Wiedergabe sprengte in Sekunden-schnelle die Begrenzungsfelder des Holo-gramms, blieb aber dennoch erhalten, anstatt sofort in sich zusammenzufallen. Gut vier Meter durchmaß die Kugel, die auf mich zu-kam. Abwehrend streckte ich die Arme aus – die selbständig gewordene Projektion ließ sich nicht hindern, sie hüllte mich ein, schwebte weiter und berührte schließlich das nächste Aggregat, durch dessen nicht leitende Abdeckung sie zum Teil eindrang.

Das Wimmern erstarb fast schlagartig. »Geschwindigkeit fällt«, plärrte eine Robo-

terstimme. »Wir nähern uns erneut dem Un-terlichtbereich.«

Dann war brodelnde Helligkeit um uns her. Meine innere Anspannung wich mit einem erleichterten Seufzer; zumindest hatten wir die Randzone der vermeintlichen Materie-quelle erreicht. Die Basis des Ersten Zählers befand sich in rasend schneller, wirbelnder Bewegung.

»Steuertriebwerke drei und vier ausgefal-len«, meldete Rico.

Selbsttätig aktivierten sich die Schutz-schirme, und fast augenblicklich verstummte jegliches von außen kommende Geräusch. Dafür wurde die Basis von verglühenden Par-tikeln eingehüllt. Die Materiedichte innerhalb dieser Zone mochte der intergalaktischer Wasserstoffwolken nahekommen, wie sie schon 30 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild des Löwen existierte. Jene Ballung atomaren Wasserstoffs ent-sprach einer Milliarde Sonnenmassen, und die selbst in unserem Jahrhundert noch uner-forschte Besonderheit war, daß diese Wolke trotz ihrer Rotationsgeschwindigkeit von über 80 Kilometer pro Sekunde an den Rändern nicht ausfranste. Der Grund dafür schien in

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ungeheuren Kräften in ihrem Innern zu liegen. Letzte Berechnungen und Messungen des Phänomens hatten für die unsichtbare »Klammer« den Gegenwert von annähernd 100 Milliarden Sonnenmassen ergeben. Es war bedauerlich, daß die Menschheit selbst im 36. Jahrhundert solche Phänomene noch nicht hatte untersuchen können, obwohl durchaus von kosmischer Nachbarschaft zu sprechen war. Interessant war vor allem, daß die un-sichtbare Masse nicht nur die Wolke neutra-len Wasserstoffs zusammenhielt, sondern möglicherweise auch die sie umgebenden 20 bis 30 Galaxien. Natürlich existierten unter-schiedliche wissenschaftliche Lesarten, von denen jede mehr oder minder logisch unter-mauert war. Überwiegend wurde die rotieren-de Gaswolke für eine Proto-Galaxis gehalten – eine Galaxis, die zwar schon eine kleine Ewigkeit bestand, aber dennoch keine leuch-tenden Sterne hervorgebracht hatte.

Du meinst, daß dies alles deine Vermutung bestätigt, wir könnten es tatsächlich mit einer Materiequelle zu tun haben, wisperte der Ext-rasinn.

»Warum nicht?« gab ich zur Antwort. Das Hologramm stabilisierte sich wieder.

Im gleichen Maß, wie die Bewegung der Ba-sis gebremst wurde, schwächte sich das Glü-hen der Schutzschirme ab.

»Dieses Ding will uns nicht haben«, ließ Rico verlauten. »Wir werden erneut abgesto-ßen.«

»Glaubst du, es könnte sich um eine Mate-riequelle handeln?«

»Nach allem, was du mir über dein Ziel er-zählt hast, kann ich es zumindest nicht gänz-lich ausschließen.«

»Egal wie, es muß einen Weg geben, das Wallen zu durchdringen.« Als Rico zögerte, fügte ich rasch hinzu: »Belaste die Antriebs-systeme notfalls bis zur Überpulsion, sie wer-den es einige Minuten lang überstehen. Viel-leicht haben wir nur diese Chance.«

Rico schwieg für etliche Sekunden. Ich er-kannte, daß er mit den anderen Robotern kommunizierte.

»Wir sollten unsere Waffensysteme aktivie-ren«, schlug er dann vor. »Vor allem durch den Einsatz der Jenseitsenergieschleuder könnte kurzfristig eine neutrale Zone geschaf-

fen werden, die uns ein müheloses Manövrie-ren ermöglicht.«

»Nein.« Ich wehrte entschieden ab. Ver-mutlich verstanden die Roboter meine Gründe nicht, aber ich war überzeugt davon, daß die Kosmokraten jeglichen Einsatz von Waffen verurteilen würden.

»Sämtliche Energien auf Überlichtantrieb!« befahl ich. »Schutzschirme in Flugrichtung staffeln, ansonsten abbauen!«

Angespannt beobachtete ich die Kontrollen, die rasch in den Warnbereich hochschnellten. Meine Finger verkrampften sich um die Leh-ne meines Sessels. Wir mußten es einfach schaffen. Daran, daß ich die Basis unbekann-ten Gefahren aussetzte, dachte ich in diesem Moment nicht. Das dumpfe Dröhnen überlas-teter Aggregate schwoll an. Ich spürte stärker werdende Vibrationen, die das Schiff bis in seine Grundfesten erschütterten. Rico blickte kurz zu mir herüber.

»Weitermachen!« bedeutete ich ihm. Ich konnte und wollte nicht zurück; vor allem jetzt nicht, da mein Ziel so nahe schien.

Ein gleißendes Leuchten brach über uns herein. Geblendet nahm ich nur noch Schatten wahr, die sich träge bewegten.

»Gib Feuererlaubnis.« Das war Ricos Stimme. »Wenn wir gegen die Hülle der Na-menlosen Zone prallen, sind wir verloren.«

Jeden Augenblick mochten wir in die Mate-riequelle vordringen. Ich zögerte.

»Entscheide dich«, drängte der Roboter. »Die Basis wird zerstört ...« Er brach über-rascht ab.

Schlagartig herrschte Stille. Auch die brodelnde Helligkeit war ver-

schwunden. Erstaunt blickte ich auf das Hologramm,

das nur noch die Schwärze des uns umgeben-den Weltraums zeigte.

»Wir haben die Position nicht verändert«, bemerkte Rico.

Ich nickte zögernd. Hatte ich mit meiner Entscheidung zu lange gewartet? Oder hatte Anti-ES eingegriffen? Ich verlangte eine Auswertung des Vorgefallenen.

»Bis wann?« fragte der Roboter. »Am liebsten vorgestern.« Natürlich verstand er nicht, wie ich das

meinte.

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*

Etliche Stunden kreuzten wir in diesem Ab-

schnitt der Namenlosen Zone. Meine Hoff-nung, die seltsame Erscheinung möge sich wieder zeigen, erfüllte sich nicht. Allerdings war unklar, ob wir uns nicht längst Millionen von Kilometern entfernt hatten.

Ein mir namentlich nicht bekannter Roboter überbrachte schließlich das Auswertungser-gebnis. Sein Gesicht wirkte unsagbar traurig.

»Wieso kommt Rico nicht?« wollte ich wissen.

Der Roboter, er war gut einen Kopf kleiner als ich, blickte mich von unten herauf an.

»Er hegt Befürchtungen ...« »Was für Befürchtungen?« »Du könntest mit ihm unzufrieden sein.« Ich hatte weiß Gott in meinem Leben schon

seltsame Roboter kennengelernt, doch diese hier übertrafen alles.

»Wir hatten es mit einer normalen Auf-rißfront in der Hülle der Namenlosen Zone zu tun«, fuhr mein Gegenüber fort. »Diese vorü-bergehend instabile Erscheinung kann mit einer der von dir erwähnten Materiequellen nichts gemein haben.«

»Bedeutet der Begriff ›Aufrißfront‹, daß hier ein Übergang zu einer anderen Dimensi-on existierte?« Überraschend schnell fand ich mich mit den Tatsachen ab. Allerdings hatte ich mir inzwischen auch die Argumentation des Extrasinns zu eigen gemacht, derzufolge in diesem Abschnitt der Namenlosen Zone keine Materiequelle existierte. Das wäre un-logisch gewesen.

»Die Erscheinung entstand durch eine Be-rührung zweier Kontinua, die lediglich ener-getische Wechselwirkungen hervorrief«, ant-wortete der Roboter.

»Trotzdem muß ein Durchdringen der Hül-le möglich sein.«

Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir leid. Darüber liegen keinerlei

Daten vor.« »Dann sammelt welche.« Ungehalten

schlug ich meine Fäuste gegeneinander. »Und noch etwas: Stellt fest, ob eine solche Auf-rißfront mit Hilfe von Jenseitsmaterie künst-lich erzeugt werden kann.«

2. Mir blieb nichts anderes zu tun, als zu hof-

fen. Während die Roboter nach und nach ei-nen geradezu erschreckenden Eifer entwickel-ten, stieg ich an die Oberfläche der Basis em-por. Die Zusammensetzung der Atmosphäre war hier zwar nicht anders als im Innern des knapp 1500 Meter langen und 610 Meter brei-ten Raumschiffs, dennoch glaubte ich, die Würze frischer Waldluft wahrzunehmen. Die künstliche Landschaft war so natürlich, daß man wirklich glauben konnte, auf einem Pla-neten zu weilen. Die fehlende Krümmung des Horizonts wurde durch die weitgespannten Hügelketten geschickt überspielt.

Ziellos wanderte ich dahin. Blüten ver-strömten einen betäubend süßen Duft. Hoch über mir zog ein robotisches Vogelpärchen seine Kreise; ihr Gesang erinnerte mich an irdische Nachtigallen.

Du solltest dir eine sinnvolle Beschäftigung suchen. Mein Extrasinn besaß ein mitunter unübertreffliches Talent, im falschen Moment auch noch das Falsche von sich zu geben.

Sein spöttisches Lachen unterbrach meine Überlegungen.

Du darfst nicht so von mir denken. Habe ich dir nicht immer zur Seite gestanden, wenn du mich brauchtest?

Ich schwieg und starrte zum wolkenlosen Himmel hinauf. Irgendwo in der unbekannten endlosen Weite, die daran anschloß, mochte mein Ziel liegen.

Atlan, du veränderst dich. Ich horchte auf. Schwang nicht ein deutli-

cher Vorwurf in diesen Worten mit? »Das bildest du dir ein«, antwortete ich. Früher warst du nicht so dickköpfig. »Dann heraus mit der Sprache. Wie habe

ich mich verändert?« Zu deinen Ungunsten, Arkonide. Du ver-

beißt dich in etwas, was auch du nicht ändern kannst.

»Natürlich«, nickte ich ironisch. »Es ist ja so einfach, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, daß die Dinge ihren Lauf nehmen. Die Kosmokraten haben mich bestimmt nicht deshalb durch Laire holen lassen, weil ich das Warten gelernt habe.«

Du mißverstehst ihre Absichten.

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»Weißt du, was sie denken, wie sie fühlen

und handeln?« Nein. »Dann mach mir keine Vorwürfe. Die

Kosmokraten hatten dreizehn lange Jahre Zeit, mich aus der Gefangenschaft von Anti-ES und aus der Namenlosen Zone zu befrei-en.«

Vielleicht denken sie gar nicht daran ... »Davon bin ich inzwischen überzeugt.« Der Extrasinn schwieg. »Was ist?« fragte ich nach einer Weile. Es ist sinnlos, in deiner augenblicklichen

Verfassung mit dir ernsthaft diskutieren zu wollen.

Schulterzuckend nahm ich zur Kenntnis, daß mein zweites Ich eingeschnappt war.

Ein Geräusch ließ mich aufhorchen, ein dumpfes Grollen, das aus dem Innern der Ba-sis kam. Sekunden später durchliefen leichte Erschütterungen den Boden. Unwillkürlich verkrampfte ich mich – mir war klar, daß dicht unter der Oberfläche eine unkontrollier-te Energieentladung erfolgt sein mußte.

Die anschließende Stille erschien mir um so drohender.

»Was hältst du davon?« wandte ich mich an meinen Extrasinn, erntete aber weiterhin be-drückendes Schweigen.

Ich mußte in die Zentrale zurück. Hoffent-lich war es den Robotern gelungen, das Aus-maß eventueller Schäden gering zu halten. Was ich jetzt keinesfalls brauchen konnte, war eine auch nur teilweise manövrierunfähi-ge Basis.

Sieh dich vor! Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich

eine flüchtige Bewegung wahr und warf mich instinktiv zur Seite. Keine Sekunde zu früh, denn krachend und splitternd stürzte ein mächtiger Baum. Einer seiner weit ausladen-den Äste streifte meine Beine. Stechende Schmerzen durchfluteten mich. Mir wurde schwarz vor Augen; nicht einmal der Zellak-tivator vermochte die aufkommende Übelkeit sofort einzudämmen.

Das rechte Bein war bis zur Hüfte hinauf taub. Auf dem Rücken liegend, versuchte ich freizukommen. Es gelang mir nicht. Ich muß-te mich halb aufrichten, um mit aller Kraft den armdicken Ast wenigstens einige Zenti-

meter in die Höhe zu stemmen. Das Pulsieren des Zellaktivators ging mir durch und durch. Irgendwie gelang es mir, mich bis zu den Knien unter dem Ast hervorzuarbeiten, dann jedoch konnte ich nicht mehr richtig zupa-cken.

Ich hätte abwarten können, bis die Roboter nach mir suchten, aber es gefiel mir nicht, daß sie mich in einer solch mißlichen Lage finden sollten. Endlich ließen die Schmerzen nach. Mit bloßen Händen kratzte ich die Krume auf. Minuten später konnte ich mich wieder erhe-ben. Zum Glück war das Bein nicht gebro-chen.

Der Baum war regelrecht entwurzelt. Ich stellte fest, daß er ein tiefes Loch im Boden hinterlassen hatte. Ungefähr zehn Meter unter mir gab es einen kleinen, mit verschiedenen Aggregaten ausgestatteten Raum. Etliche wa-ren auseinandergebrochen, und Stichflammen hatten die Wände geschwärzt. Der Geruch von Ozon zog aus der Tiefe herauf.

Unvermittelt löste sich ein mehrere Quad-ratmeter großes Stück Erde, auf dem ich stand. Ich schwang mich zwar noch herum, warf die Arme nach oben und bekam mit den Fingerspitzen die Abbruchkante zu fassen, aber mein eigenes Gewicht zerrte mich hinab, ehe ich mit den Füßen Halt fand. Instinktiv rollte ich mich ab, als ich den Boden berührte. Mehr als Hautabschürfungen und Prellungen trug ich so nicht davon.

Der Raum, in den ich geraten war, maß höchstens sechs Meter im Quadrat. Er war vollgestopft mit Technik. Ein noch funktions-fähiges Hologramm zeigte einen Ausschnitt der Zentrale. Zufall? Ich war versucht, etwas anderes anzunehmen.

Eine Liege, die durchaus einem Humanoi-den hätte Schlafstelle sein können, schloß sich an die zerstörten Konsolen an. Ich strich mit der Hand darüber hinweg; das Material war weich und anschmiegsam.

War ich doch nicht das einzige intelligente Lebewesen, das derzeit auf der Basis des Ers-ten Zählers weilte? Die Fakten sprachen da-für.

Aus der Höhe brach weiteres Erdreich her-ab. Es existierte keine richtige Decke; ledig-lich ein gitterartiges Geflecht feiner Wurzel-stränge hielt den kuppelförmig aufgewölbten

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Lehmboden zusammen. Das Ganze erinnerte an die Form des Schutzschirms über der Ba-sis. Demnach waren die zum Teil arg defor-mierten Aggregate Transformatoren für einen verhältnismäßig kleinen Energieschirm gewe-sen, der diesen Raum abgesichert hatte.

Ohne eigentlich zu wissen, wonach ich suchte, sah ich mich weiter um. Aber nichts stellte meine erwachte Neugierde zufrieden.

Ein dumpfes Pochen ließ mich innehalten. Es kam von draußen, so als klopfe jemand die Wand ab.

Die Ränder eines Bildschirms bildeten zugleich eine umlaufende Trennfuge, die ein verborgenes Schott von der übrigen Wandflä-che abgrenzte. Ich muß gestehen, daß mich das nicht mehr sonderlich überraschte, denn mir wurde inzwischen klar, daß ich hier ei-nem Geheimnis der Basis auf der Spur war. Von der anderen Seite her erklangen Geräu-sche, als versuche jemand, die Wand aufzu-schweißen. Das konnten nur die Roboter sein, was bedeutete, daß sie den Zugang zu diesem Raum nicht kannten.

Nach einigem Suchen entdeckte ich eine winzige, kaum spürbare Erhebung. Als ich mit der Hand darüber hinwegstrich, löste sich der Bildschirm einfach auf, als hätte er nie existiert. Vor mir lag ein breiter, spärlich er-hellter Gang. Zwei Meter weiter war die Wand bereits rotglühend; ein Schwall erhitz-ter, stickiger Luft schlug mir entgegen. Die Roboter hielten erstaunt inne.

»Atlan«, machte Rico überrascht. »Woher kommst du?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zwängte er sich an mir vorbei und sah sich in dem klei-nen Raum um.

»Was ist das?« »Genau dasselbe wollte ich dich fragen«,

erwiderte ich. »Du hast wirklich keine Ah-nung, wer hier lebt?«

»Wie kommst du darauf? Die Existenz ei-nes weiteren Wesens müßte uns bekannt sein.«

Es war mehr ein Gefühl, für das ich keine Erklärung besaß: Immer öfter glaubte ich, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, aber die Roboter, die den Raum einer peinlich genauen Untersuchung unterzogen, nahmen von alldem nichts wahr.

Du Narr, meldete sich schließlich mein Extrasinn völlig überraschend. Du hast früher nie an Gespenster geglaubt.

*

Rico deutete auf die Trümmer eines der

zerstörten Aggregate. »Das ist das einzige Gerät, dessen ursprüngliche Verwendung wir herausfinden konnten.« Wie um meine Neu-gierde noch zu steigern, ließ er eine lange Pause folgen; als ich ihm allerdings nicht den Gefallen tat, ihn mit Fragen zu bedrängen, fuhr er fort: »Es diente einwandfrei dem Zweck, einen Übertritt der Basis in eine ande-re Raumebene zu verhindern. Und es bewirkte zugleich irgendeine Veränderung. Am ehesten ließe sich dieser Vorgang wohl mit dem Beg-riff ›Erweckungsimpuls‹ umschreiben.«

Ich zuckte unwillkürlich zusammen, behielt aber meine Vermutung für mich. Was half es, wenn ich die Roboter darauf hinwies? Nur dann konnte ich Gewißheit erlangen, wenn sie von sich aus dieselben Schlüsse zogen.

Nachdenklich beobachtete ich sie bei ihrer Arbeit, bis ich erneut das Gefühl empfand, beobachtet zu werden. Auf dem Absatz wir-belte ich herum – und sah gerade noch einen Schatten verschwinden oder sich auflösen, so genau vermochte ich das nicht zu sagen. Trotzdem war ich mir sicher, daß da ein Mensch gestanden hatte – langbeinig, mit bis zur Hüfte schmalem Körper, doch mit vorge-wölbtem, tonnenförmigem Brustkorb.

»He«, rief ich den Robotern zu, »hat je-mand von euch das auch gesehen?«

Aber sie vermochten nichts festzustellen. Nicht einmal die geringste Wärmestrahlung, wie jeder lebende Organismus sie für kurze Zeit hinterläßt.

»Du mußt dich getäuscht haben«, erklärte Rico schließlich.

Ich nickte. So war es wohl. Vermutlich hat-ten meine überreizten Nerven mir diesen Streich gespielt.

Trotzdem blieb die Unsicherheit.

* Die Basis des Ersten Zählers beschleunigte

wieder und raste mit Überlichtgeschwindig-

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

keit durch die Namenlose Zone. Ich hatte den Kurs willkürlich gewählt, wenn von einer Kursbestimmung überhaupt die Rede sein konnte. Es gab keine Orientierungshilfe.

Mein Ziel war unverändert. Ich wollte zu-rück ins Einstein-Universum oder eine Mate-riequelle erreichen. Etwas anderes kam für mich nicht in Frage.

Mittlerweile stand mit einiger Sicherheit fest, daß jenes wallende Leuchten, dem wir vor nunmehr zwei Tagen begegnet waren, tatsächlich den kurzzeitigen Übergang in eine andere Dimension gebildet hatte. Die Meßer-gebnisse sagten allerdings nicht aus, wie diese Erscheinung entstanden war. Am wahrschein-lichsten erschien eine Manipulation von der anderen Seite her.

Der Gedanke, die Terraner könnten eine Möglichkeit gefunden haben, zu mir vorzu-dringen, durchzuckte mich mit ungewohnter Stärke. Aber das entsprang wohl mehr meinen unbewußten Wünschen. Immerhin mußte ich annehmen, daß meine Freunde bis heute nicht wußten, daß ich nie zu den Kosmokraten ge-langt war, sondern daß Anti-ES mich irgend-wo auf dem Weg dorthin abgefangen hatte.

Die Stimme eines Roboters schreckte mich aus diesen Überlegungen auf.

»Die Ortungen zeigen Masse an. Zu weit entfernt allerdings, um Einzelheiten erkennen zu lassen.«

»Fliegen wir darauf zu?« Pit verneinte. »Das Objekt treibt parallel zu

unserem Kurs mit wesentlich geringerer Ge-schwindigkeit.«

»Ein Planetoid?« »Die Meßdaten sind bis jetzt zu ungenau.« Flüchtig dachte ich an den Löcherplanetoi-

den, auf dem Anti-ES zumindest zum Teil gefangen war. Doch in dem Fall hätte es uns schon längst entdeckt und angegriffen. Oder versuchte es mich in einen Hinterhalt zu lo-cken?

»Wir ändern die Flugrichtung«, entschied ich spontan. »Rico, Feuerbereitschaft herstel-len!«

Endlich erschien das geortete Gebilde auf den Schirmen. Da jegliche Eigenbeleuchtung fehlte, hob es sich kaum gegen den sternenlo-sen Hintergrund ab, und es bedurfte einer ge-hörigen Portion Vorstellungskraft, aus den

wenigen erkennbaren Umrissen ein geschlos-senes Ganzes herzustellen.

Es handelte sich um ein Raumschiff, ein Beiboot wohl, wie die geringe Masse und die beiden Achsdurchmesser von lediglich 150 und 100 Meter vermuten ließen. Von der Form eines plumpen Diskus, trug es auf einer Seite eine hoch aufgewölbte Transparentkup-pel.

Die Basis des Ersten Zählers verharrte bei einer Distanz von wenigen Kilometern in re-lativem Stillstand. Die Scheinwerferbatterien der Bugregion flammten auf und rissen das fremde Schiff aus der Finsternis.

Anzunehmen, dort drüben würde noch je-mand leben, erschien mir schlagartig mehr als nur vermessen. Ich konnte nicht einmal sicher sein, ob dieses Wrack nicht schon seit Jahr-tausenden durch die Namenlose Zone trieb. Schließlich gab es keine Sonnen, deren Gravi-tationsfelder den zerstörten Diskus früher oder später zu sich herabgezogen und inmit-ten von Protuberanzen hätten verglühen las-sen.

Wie unter enormem inneren Druck war die Hülle des Schiffes aufgeplatzt. Riesige Lecks ließen zersplitterte Verstrebungen und halb verglühte Wände erkennen. Ein Atombrand mußte entlang der Peripherie gewütet haben. Weshalb er erloschen war, ohne das Schiff gänzlich zu verzehren, blieb ein Rätsel. Ich glaubte nicht, daß Mannschaftsmitglieder in der Lage gewesen wären, den Brand einzu-dämmen.

»Da ist für uns nichts zu holen«, stellte Pit unumwunden fest. »Wir beschleunigen wie-der.«

»Nein!« In den Sehzellen des Roboters blitzte es

fragend auf. »Ich werde mir das Wrack aus der Nähe

ansehen«, sagte ich. »Mach bitte ein Beiboot startklar.«

Pit stapfte vor mir her, als ich die Zentrale in Richtung auf die Bughangars verließ.

*

Der Raumanzug, den ich aus Beständen der

Basis anlegte, war längst nicht so bequem wie einer terranischer Fertigung.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Wieder einmal ertappte ich mich bei dem

Gedanken an die Erde. War es Heimweh, was ich empfand? Für mich war Terra längst zur zweiten Heimat geworden, die ich nicht mehr missen mochte. Auch die einstigen Barbaren waren mir im Lauf vieler Jahrhunderte ans Herz gewachsen.

Ich wollte zurück! Mein Handeln entsprang nur diesem einen Wunsch.

Scharf abgegrenzt von der Schwärze des Raums lag das Wrack des fremden Schiffes vor uns. Weder Pit noch Rico konnten etwas von der Hoffnung wissen, die sein Anblick in mir ausgelöst hatte. Nach allem, was ich bis-her über die Namenlose Zone erfahren hatte, war ich überzeugt davon, daß dieses Schiff von außen kam. Wenn seine Speicher nicht zerstört waren, mußte es möglich sein, ent-sprechende Daten für den weiteren Flug mit der Basis ausfindig zu machen. Ich fieberte förmlich dem Augenblick entgegen, in dem ich das Wrack betreten konnte. Selbst meine zwölftausendjährige Erfahrung bewahrte mich nicht vor einer stärker werdenden Erregung.

Das Beiboot, von zwei Robotern gesteuert, legte an. Tim, eine Spezialkonstruktion, die außer den beiden normalen Armen zwei voll-bewegliche Tentakel besaß, begleitete mich. Ich verzichtete darauf, die Atmosphäre aus der Schleuse absaugen zu lassen, sondern öffnete sofort das Außenschott. Der Sog der ausströmenden Luft wirbelte uns mit sich.

Fast zum Greifen nahe hing das Wrack über mir. Mit Hilfe der Steuerdüsen des Rauman-zugs korrigierte ich meine Fluglage und lan-dete in unmittelbarer Nähe der zerstörten Pol-kuppel. Da waren die Überreste fremdartiger Schriftzeichen auf der zerfurchten, teils glut-flüssig verlaufenen und dann wieder erstarrten Oberfläche. Ich kannte sie nicht, hatte ähnli-ches nie zuvor gesehen. Auch der Schiffstyp war mir fremd.

»Das vor uns dürfte die Zentrale gewesen sein«, sagte ich über Helmfunk. »Am besten fangen wir dort mit unserer Suche an.«

Das gut zwanzig Zentimeter starke, trans-parente Material der Kuppel zerbrach unter meinen Fingern wie morsches Holz. Selbst Jahrzehntausende können Molekülstrukturen nicht derart ihrer Affinität berauben. Ich be-gann mich zu fragen, was dem Schiff zuge-

stoßen war. Konnte es sein, daß der Übergang in die Namenlose Zone diese Zerstörungen bewirkt hatte?

Das Rund der Zentrale, gut vierzig Meter durchmessend, erinnerte an ein Schlachtfeld. Aus ihren Verankerungen gerissene Kontu-rensessel hatten sich wie Geschosse in die Leitstände und Speicherbänke hineingebohrt. Es gab nicht eine einzige unbeschädigte Kon-sole. Bauteile aller Größenordnungen lagen verstreut herum, als wären manche Aggregate mit der Wucht von Bomben explodiert. Auch hier hatte Feuer gewütet. Der Metallplastik-boden war aufgerissen.

Nach einigem Suchen fand ich tatsächlich den etwa handflächengroßen Rest einer Spei-cherfolie, der deutlich erkennbar den Aus-schnitt eines kugelförmigen Sternenhaufens zeigte. Das war der Beweis, der mich endgül-tig davon überzeugte, daß dieses Schiff von außerhalb der Namenlosen Zone gekommen war.

»Atlan, hier ist etwas, was dich interessie-ren dürfte.« Tim hatte sich zwischen den Ü-berresten eines Aggregatblocks hindurchge-wühlt und stand nun unmittelbar vor einer halb geschmolzenen Trennwand. Er zeigte mir etliche gedruckte Mikroschalteinheiten und fügte sie anschließend zu einem würfel-förmigen Gebilde zusammen. »Das ist zwei-fellos ein Teil des zentralen Steuercomputers. Eine Verbindung führt tiefer ins Schiffsinne-re.«

Bedeutete dies, daß die unbekannten Raum-fahrer eine Speichereinheit in den Mittelpunkt des Diskus verlegt hatten, um so größtmögli-che Sicherheit selbst im Fall eines Angriffs zu erhalten? Auch unsere Kugelraumschiffe wurden meist nach diesem Prinzip gebaut, wobei eine zweite Schale die im Zentrum befindliche Zentrale schützte.

Der anschließende Korridor war durch her-abgestürzte Metallplatten versperrt. Selbst Tims Kräfte reichten nicht aus, um die inein-ander verkeilten Trümmer zu beseitigen.

»Es hilft nichts«, sagte er, »wir müssen es anderswo versuchen.«

In einem früheren Antigravschacht schweb-ten wir in die Tiefe und verließen diesen auf der Höhe eines halbwegs erhalten gebliebenen Ganges. Zu beiden Seiten lag eine Anzahl

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

beengter Räumlichkeiten, bei denen es sich vermutlich um Mannschaftsunterkünfte han-delte.

»Suche du nach den Datenspeichern«, for-derte ich Tim auf. »Ich werde mich einstwei-len hier umsehen.«

Ich stieß das nächstbeste Schott auf, das un-ter der Wucht meines Fußtritts aus den ohne-hin brüchigen Verankerungen gerissen wurde und erst an der gegenüberliegenden Wand seinen taumelnden Flug beendete.

Bis auf wenige, unentbehrliche Einrich-tungsgegenstände war der Raum leer. In einer Nische befand sich so etwas wie eine Hygie-nezelle, und in einem Wandschrank stieß ich schließlich auf einen unbeschädigten Raum-anzug. Das Unheil mochte so schnell herein-gebrochen sein, daß sein Besitzer keine Zeit mehr gefunden hatte, ihn anzulegen.

Der, dem dieser Anzug gehört hatte, war ungefähr 1,80 Meter groß gewesen. Er hatte über zwei Armpaare verfügt und im Vergleich zum Körper auffallend stämmige Beine. Auch befand sich in der Rumpfmitte eine Einschnü-rung, einer Wespentaille keineswegs unähn-lich. Nicht nur dadurch und durch die sechs Gliedmaßen entstand in mir der Eindruck, es mit Insektenabkömmlingen zu tun zu haben, sondern auch durch den zusammengeklappten Helm, der in funktionsfähigem Zustand eine hohe Wölbung besaß, wie um einem oder mehreren Fühlerpaaren ungehindert Platz zu bieten. Leise pfiff ich zwischen den Zähnen hindurch. Wenn ich alles erwartet hatte, das nicht.

»Was ist?« fragte Tim über Funk. »Hast du etwas Wichtiges gefunden?«

»Wie man’s nimmt«, antwortete ich. »Aber ich bin mir nicht völlig sicher. Was ist mit dir?«

»Ich muß den Zugang zur Datenzentrale erst freilegen. Von außen sieht es relativ schlimm aus. Ich werde dich auf dem laufen-den halten.«

»Tu das«, murmelte ich und klemmte mir den Raumanzug zusammengerollt unter den Arm. Auf der Basis würden wir ihn in aller Ruhe untersuchen können. Den handlichen Strahler, den ich in einer Außentasche gefun-den hatte, steckte ich in meinen Gürtel.

Zwei weitere Kabinen, die ich in der Hoff-

nung auf Hinweise öffnete, waren leer. In der Hygienezelle der zweiten machte ich aller-dings eine grausige Entdeckung. Ein Skelett starrte mich aus leeren Augen an. Den Mund scheinbar zum Schrei weit aufgerissen und die vier Arme hilfesuchend ausgebreitet, kau-erte es in einer Ecke, als hätte die Faust eines Riesen es dorthin geschleudert. Wie unter ungeheurer Druckeinwirkung waren Knochen und Chitinplatten zersplittert. Das konnte auf einen Ausfall der Absorber und einen Angriff hindeuten, dem das Schiff zum Opfer gefallen war, mußte es aber nicht. Die andere Mög-lichkeit war, daß beim Übertritt in die Na-menlose Zone enorme unbekannte Kräfte den Diskus zerstört hatten, und das gefiel mir noch weit weniger.

Aufgrund dieses Fundes sah ich meine Vermutungen bestätigt. Das Wrack war vul-nurischer Herkunft. Ziel der ameisenartigen Intelligenzen war zweifellos die Basis des Ersten Zählers gewesen.

Ironie des Schicksals, daß sie lange nach ihrer Vernichtung die Basis nun doch erreicht hatten?

*

»Atlan«, meldete Tim sich in dem Moment.

»Ich habe einen Datenspeicher gefunden, der Flugaufzeichnungen beinhaltet.«

»Ich komme«, rief ich. »Überprüfe in erster Linie, ob wir den Speicher an Bord der Basis abspielen können.«

Mit weiten Sprüngen hetzte ich den Gang entlang. Ich war es gewohnt, mich in völliger Schwerelosigkeit zu bewegen, so daß die vie-len scharfkantigen Trümmerstücke keine Ge-fahr darstellten.

Was Tim bereits aus einem demolierten Gehäuse ausgebaut hatte, war ein kopfgroßes, kristallines Gebilde, von dem etliche Steck-kontakte herabhingen.

»Es wird schwer sein, die Speicherungen über unsere vorhandenen Geräte wieder-zugeben«, sagte er. »Ich müßte mit der Basis in Verbindung treten, um ...«

»Laß dich nicht aufhalten«, unterbrach ich ihn. »Je eher, desto besser.«

Während ich auf Ergebnisse wartete, unter-zog ich die für Greifzangen gefertigte Waffe

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

einer näheren Betrachtung. Es handelte sich um eine einfach umzustellende Kombination von Impuls- und Lähmstrahler. Jedoch konnte ich nicht erkennen, welche der beiden Mög-lichkeiten gewählt war.

»Was ist ...?« Der erstaunte Ausruf des Ro-boters, sowie eine durch die Bodenplatten übertragene Erschütterung ließen mich he-rumfahren.

Im ersten Moment war ich viel zu über-rascht, um zielgerichtet zu handeln. Tim hatte den Kristall fallen gelassen, und der war in Dutzende von Bruchstücken zersprungen, die sicherlich keinerlei Informationswert mehr besaßen. Ich biß die Zähne zusammen; die Waffe in meiner Rechten beschrieb einen Halbkreis ...

Den Roboter traf keine Schuld an dem Vor-fall. Die menschliche Gestalt unmittelbar ne-ben ihm mußte ihm den Datenspeicher entris-sen haben. Ich fragte nicht, woher sie ge-kommen war, denn zweifellos war dies eine Projektion von Anti-ES. Meine Finger krümmten sich um den Auslöser des Strah-lers.

Eine gleißende Energiebahn stand im Raum. Der Angreifer verschwand, aber nur, um noch im selben Sekundenbruchteil vor der langsam glutflüssig werdenden gegenüberlie-genden Wand wieder zu materialisieren. Sein Lachen weckte alte Erinnerungen in mir. Ich wußte, daß dies nicht sein konnte, trotzdem ließ ich die Waffe sinken.

Wir starrten uns an wie zwei Fremde, die einander zum erstenmal begegnen, sich aber zu kennen glauben. Das war der Schatten, den ich schon auf der Basis sah, nur fielen mir erst jetzt seine hellgrüne Hautfarbe und die bürs-tenkurz geschnittenen, violett schimmernden Haare auf. Der Blick hellbrauner Augen ruhte auf mir.

»Bleib!« rief ich aus und machte einen ra-schen Schritt vorwärts. Die Gestalt ver-schwand, ehe ich sie erreichen konnte.

Ich fuhr herum, funkelte Tim wütend an: »Hattest du soeben Funkkontakt mit der

Basis?« Sein Nicken bestätigte meine Vermutun-

gen. Du hältst das Unmögliche für möglich, At-

lan? Der Extrasinn klang so leise, als hätte er

Mühe, sich mir verständlich zu machen. Natürlich, nach logischen Gesichtspunkten

durfte es das nicht geben. Trotzdem mußte ich so schnell wie möglich zur Basis zurückkeh-ren, um eine neue Begegnung zu suchen.

3.

Inmitten der Unendlichkeit gab es einen

diffusen Lichtschimmer – ein annähernd ku-gelförmiger, von Löchern und Kratern übersä-ter Planetoid zog seine einsame Bahn. Wöb-beking-Nar’Bon wußte, daß dort Anti-ES ge-fangen war, und daß es mehr als nur ein Risi-ko bedeutete, diesem Ort nahe zu kommen. Aber jetzt war auch die Zeit, da Anti-ES Zu-rückhaltung auferlegt war, da es in seinem unstillbaren Drang nach Macht und Freiheit äußeren Zwängen unterworfen wurde.

Wöbbeking-Nar’Bon, noch immer auf der Suche nach Chybrain, verharrte in sicherer Entfernung. Spielte Zeit eine so große Rolle, daß sie wichtiger war, als zu wissen, was der Gegner plante? Denn Wöbbeking kannte An-ti-ES, war ein Teil von ihm gewesen. Seine Sinne versuchten zu erfassen, was auf dem Planetoiden geschah ...

*

Zögernd richtete er sich auf. Seine Glieder

waren steif und gefühllos, als wäre er soeben aus hundertjährigem Schlaf erwacht. Eine Weile lauschte er dem rasselnden Geräusch seiner hastigen Atemzüge. Die Luft brannte wie Feuer in seinen Lungen und trieb ihm Tränen in die Augen.

Zögernd setzte die Erinnerung ein. »Iray«, murmelten seine blutleeren Lippen,

die nicht viel mehr waren als zwei schmale Striche inmitten eines unfertigen Gesichts.

Der Klang dieses Namens erschien ihm seltsam vertraut. Ohne daß er es bewußt woll-te, begannen seine Gliedmaßen zu zucken. Sein Mund öffnete sich zu einem erstickten Schrei. Er begann zu schwitzen, und der Schweiß rann ihm in die Augen und ließ alles um ihn her verschwimmen.

»Ruhig bleiben, Anti-Homunk«, forderte eine dröhnende Stimme. »Gleich ist es vor-über.«

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

»Iray!« krächzte er. »Was ist mit mir ge-

schehen? Wo bin ich?« Sein Brustkorb schien aus flüssigem Blei

zu bestehen. Obwohl er keine Schmerzen empfand, warf er sich auf seinem Lager hin und her. Plötzlich hielten unsichtbare Fesseln ihn fest. Er vermochte nicht einmal mehr den Kopf zu drehen, sondern war gezwungen, die Decke über sich anzustarren, von der herab ihn gleißende Helligkeit ansprang. Rotieren-de, nebelartige Schleier senkten sich auf ihn.

»Du gehörst mir, Anti-Homunk. Du wirst mir treuer dienen, als dies je ein Geschöpf getan hat.«

Mit den Nebeln wirbelten seine Sinne durcheinander. Er empfand, als läge die ge-samte Schöpfung vor ihm. Tausende winziger Punkte inmitten samtener Schwärze entpupp-ten sich als Galaxien, deren Geburt und Ver-gehen er miterleben durfte. Phantastische, atemberaubende Anblicke waren es, die zu beschreiben Worte niemals ausreichen wür-den.

Jäh schlug Kälte über ihm zusammen. Doch war der Schock des Erwachens diesmal nicht so intensiv wie kurz zuvor.

»Du hast es überstanden«, dröhnte die Stimme wieder auf. »Du hast einen weiteren Schritt zur Vervollkommnung hinter dir.«

Anti-Homunk richtete sich halb auf ließ die Beine über den Rand der Liege hinabhängen. In einer spiegelnden Wandfläche betrachtete er sich, seine etwas zu groß geratenen runden Augen, die nur andeutungsweise vorhandene Nase und den schmalen Mund, der als reines Sprechwerkzeug ausgebildet war. Er besaß zwei Arme mit fünffingrigen Händen und zwei Beine, wobei auf eine Zehenaufteilung bei den Füßen verzichtet worden war. Die Körperumrisse waren glatt – zu glatt, um für einen richtigen Menschen gehalten zu werden. Falten, Brustwarzen, Augenbrauen und Haare fehlten gänzlich. Auch trug er keine Kleidung über seiner grauen, lederartigen Haut.

Schwankend machte Anti-Homunk einige Schritte. Er erinnerte sich, daß er schon vor dieser letzten Konditionierung so ausgesehen hatte.

»Was sich verändert hat, ist dein Inneres«, sagte Anti-ES in dem Moment, als könne es seine geheimsten Gedanken lesen. »Du wur-

dest von mir geschaffen, um fortan meinen Zielen zu dienen. Aber du bist noch nicht fer-tig.«

Mit jeder Bewegung beherrschte Anti-Homunk seinen Körper besser. Ein Gefühl unbesiegbarer Stärke durchströmte ihn.

»Kennst du Benjamin Vouster?« fragte An-ti-ES.

Der 1,90 Meter große Androide lauschte in sich hinein.

»Es tut mir leid«, sagte er schließlich, und seine Stimme klang bedrückt. »Ich kann mich nicht entsinnen. Wer ...?«

»Es ist gut so. Aber noch bist du nicht voll-kommen. Du wirst mein verlängerter Arm sein, der unabhängig von meinem Aufent-haltsort wirkt. Gerade deshalb ist es notwen-dig, dich zu stärken und zu verbessern. Du darfst nicht nur das Gefühl empfinden, unbe-siegbar zu sein, du solltest es wirklich sein.«

Anti-Homunk verließ diesen Raum des Lö-cherplanetoiden und eilte durch einen engen Felskorridor, in dem eine ungewohnt hohe Schwerkraft herrschte. Trotzdem waren seine Bewegungen ein geschmeidiges Dahingleiten, das kaum Kräfte kostete. Er fühlte sich so stark wie nie zuvor und begann sich zu fra-gen, welche Aufgabe Anti-ES für ihn bereit-hielt. Die Luft wurde dünner. Das mochte ein Test sein, den die Superintelligenz an ihm durchführte. Der Androide glich den erhöhten Sauerstoffbedarf durch eine deutlich be-schleunigte Atemfrequenz aus. Er war selbst interessiert daran, festzustellen, wo die Leis-tungsgrenze seines Körpers lag. Sogar ein absolutes Vakuum konnte ihm auf bestimmte Zeit nichts anhaben.

Eine Reihe dumpfer Erschütterungen durchlief den Planetoiden. Anti-Homunk spürte, wie das taube Felsgestein um ihn her in Schwingungen versetzt wurde. Erste Risse bildeten sich, aus denen Staub rieselte. Er wollte sich noch herumwerfen, nur war es dafür bereits zu spät.

Mit Donnergetöse brachen schwere Fels-brocken aus der Decke herab. Risse durchzo-gen die Wände. Um Anti-Homunk her brach das Chaos los, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Staub legte sich erstickend auf seine Atemwege. Er hatte die Arme über dem Kopf verschränkt, um wenigstens seine Sin-

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nesorgane vor den geschoßgleich umher-schwirrenden Gesteinssplittern zu schützen.

Ein wuchtiger Schlag in den Rücken ließ ihn taumeln. Felsen stürzten auf ihn herab und begruben ihn unter sich.

Endlich war alles vorbei. Ein Knistern und Knacken ringsum verriet, daß unzählige Ton-nen Gestein in Bewegung geraten waren.

»Anti-ES«, rief der Androide. »Du mußt mich befreien.«

»Hilf dir selbst«, erklang es in vielfachem Echo. »Nur ein starker Diener ist für mich ein guter Diener, den ich an meiner Macht teilha-ben lasse.«

Anti-Homunk stemmte sich mit aller Kraft gegen eine mehrere Quadratmeter messende Platte, die quer über seinem Unterleib lag. Er schaffte es, sie wenigstens zentimeterweit anzuheben. Den rechten Fuß konnte er jetzt bewegen, doch der linke war wie abgestorben. Mühsam rutschte er Zentimeter um Zentime-ter zurück. Schwere Felsbrocken stürzten nach.

»Ich habe eine Aufgabe für dich, deren Er-füllung auch dir zugutekommen wird: Finde Atlan, bringe ihn in deine Gewalt und forme seine Zellmasse so um, daß er in deinen Kör-per integriert werden kann. Ich wollte den Arkoniden schonen, um ihn als Geisel gegen die Hohen Mächte jenseits der Materiequellen zu verwenden. Aber sein Schicksal scheint ihnen gleichgültig zu sein. Nun kann und will ich nicht länger warten ...«

Sein Bein war gebrochen. Anti-Homunk merkte es in dem Moment, als er gänzlich frei kam. Aber er war wandlungsfähig, Verletzun-gen wie diese konnten ihm nichts anhaben. An ihm selbst lag es, das Zellplasma, aus dem er geformt war, beliebig umzustrukturieren, innerhalb gewisser Grenzen zwar, doch zur Heilung von Brüchen jederzeit ausreichend. Rasch wurde aus einem nicht mehr funktions-tüchtigen Glied ein Plasmaklumpen, und e-benso schnell bildete dieser sich zurück.

*

Eine Stunde mochte vergangen sein, als

Anti-Homunk seinen Weg endlich fortsetzte. »Im Ernstfall hätte ein geschickter Gegner

dich töten können«, dröhnte die Stimme von

Anti-ES durch diesen Abschnitt des Asteroi-den. »Du mußt noch viel lernen – und du mußt schneller werden sowohl im Denken als auch im Handeln.«

»Ich werde mich bemühen, Herr.« »Das ist nicht genug. Je eher du die Sub-

stanz des Arkoniden in dich aufnimmst, desto besser. Ich weiß jetzt, daß es richtig ist, meine Pläne in dieser Hinsicht zu ändern. Als Geisel ist Atlan für mich wertlos, nicht aber als Hel-fer nach seinem Tod. Außerdem ist da der Namenlose, den ich verwendet sehen möch-te.«

Anti-Homunk hatte eine Höhle betreten. Hinter ihm schloß sich der Stollen, durch den er gekommen war, und es gab anscheinend keinen weiteren Ausgang. Mit bloßen Fäusten begann er, das Gestein abzuklopfen.

»Kennst du den Namenlosen?« Anti-ES zeigte sich ungehalten, weil es noch keine Antwort erhalten hatte.

»Du hast ihn einmal erwähnt«, erwiderte der Androide zögernd. »Er ist ein Geschöpf von ARCHITEKT.«

»Im Grunde könnten wir Verbündete sein, doch ARCHITEKT beginnt in der Namenlo-sen Zone zu forschen. Ich habe erfahren, daß der Namenlose in seinem Auftrag die Quelle der Jenseitsmaterie sucht. Soll ich mir das gefallen lassen?«

»Nein«, sagte Anti-Homunk, noch immer bemüht, einen Weg aus der verschlossenen Höhle zu finden. Seine Fingerkuppen waren wund von dem rauhen Gestein, und er wußte, daß er bei nächster Gelegenheit Nägel formen mußte, um sicherer greifen und tasten zu kön-nen.

»Du verstehst demnach, was ich von dir verlange.«

In dem Bewußtsein, daß Anti-ES ihn sehen konnte, wo immer er sich befand, nickte der Androide. »Wie Atlan werde ich auch den Namenlosen in meine Gewalt bringen und integrieren.«

Gelbliche Nebel senkten sich von der Höh-lendecke herab. Das Kunstwesen verstärkte seine Bemühungen, freizukommen. Der Dunst hüllte es ein, nahm ihm den Atem und entzog darüberhinaus seinem Körper jedes Atom Sauerstoff.

Wallende Schleier vor seinen Augen mach-

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ten Anti-Homunk eine Orientierung unmög-lich. Das Giftgas würde seine Lunge zerstö-ren. Schon verspürte er ein stärker werdendes Drücken und Brennen in seinem Brustkorb, das mit zunehmender körperlicher Schwäche einherging.

Ein richtiger Mensch mußte unter diesen Umständen den Tod finden. Der Androide aber verhärtete seine innere Zellstruktur; sein Herzschlag verlangsamte sich rapide. Durch seine noch blasser werdende lederartige graue Haut wirkte er nun wie ein steinernes Monu-ment. In diesem Zustand konnte er Stunden überdauern.

Und Anti-ES wartete viele Stunden, ehe es das Giftgas wieder abzog und den Zugang zur Höhle öffnete.

»Ich bin zufrieden mit dir und will dich be-lohnen. Du wirst unvorstellbare Entfernungen für mich zurücklegen, deshalb benötigst du etwas, was dich von verschleißanfälligen Transportmitteln auch unabhängig macht. Die ›Senke des verlorenen Raumes‹ ist dir be-kannt. Dort wirst du eine organische Masse finden, das Null-Gard, aus ihm sollst du ein Lebewesen formen, das dir allein hörig ist, um dich selbst in die Unendlichkeit zu beglei-ten.«

»Um in die Senke zu gelangen, muß ich mit der ÜBERZONE starten«, sagte Anti-Homunk.

»Das Schiff wurde von mir programmiert. Es wird hierher zurückkehren, sobald das Null-Gard seine Funktionen übernehmen kann.«

Der Androide wandte sich in Richtung des Hangars. Einen treueren Diener als ihn würde Anti-ES niemals finden. Nun, da alle Tests zufriedenstellend abgeschlossen waren, war er von seiner eigenen Stärke überzeugt. Anti-Homunk fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er endlich gegen Atlan antreten durfte. Er hatte nicht vergessen, wie der Arkonide, als er noch Gefangener des Herrn gewesen war, ihm die ÜBERZONE entwendet und damit das Schiff an sich gebracht hatte.

Anti-Homunk folgte einem Gewirr von Felsgängen, die schließlich vor einer glatten Wand endeten.

Selbst die Luft in diesem Abschnitt war heiß. Der Diener registrierte, daß die Tempe-

ratur stetig zunahm. Schon jetzt wäre jegliche Kleidung zu Asche zerfallen. Winzige Flam-men huschten über seine Haut und ließen Brandblasen entstehen, die zum Teil aufbra-chen und Wundsekret absonderten. Die Au-gen schützte er mit bloßen Händen.

Auch diesmal war Anti-ES mit seinem Ge-schöpf zufrieden. Andernfalls hätte die Fels-wand sich wohl nicht geöffnet und den Han-gar aus blankem Metall sichtbar werden las-sen.

Die ÜBERZONE wartete. Sie war eine Ku-gel von zehn Metern Durchmesser, die auf einem einfachen Gerüst ruhte. Ihr oberes, transparentes Drittel ließ Steuereinrichtungen und Monitoren erkennen. Der Rest bestand aus einer metallähnlichen Substanz.

Da Anti-ES sich nicht mehr meldete, betrat der Androide die geöffnete Schleuse. Er kann-te seine Aufgabe.

*

»Ich begrüße dich, Anti-Homunk«, sagte

die ÜBERZONE. »Dies wird unser letzter gemeinsamer Flug.«

Der äußerlich noch immer Unvollkommene nahm in der einzigen vorhandenen Sitzgele-genheit Platz.

»Anti-ES hat dich informiert?« »Ich kenne unser Ziel.« Während draußen eine Wand zur Seite glitt,

stellte der Androide fest, daß seine Haut sich großflächig vom Körper löste. Die obere Schicht war schwarz verbrannt, darunter al-lerdings schimmerte schon neues Grau.

Die ÜBERZONE startete. Innerhalb von Minuten war der Löcherplanetoid nicht ein-mal mehr mit Hilfe der Instrumente auszuma-chen. Das Raumschiff bewegte sich bereits durch den Odamon-Dimensions-Korrektor.

»Flugstufe 4!« befahl Anti-Homunk. Er blickte durch die transparente Kuppel hinaus in das Dunkel der Namenlosen Zone. Aber es gab nichts zu sehen, was für ihn von Interesse gewesen wäre.

»Wann werden wir die ›Senke des verlore-nen Raumes‹ erreichen?«

»In zwei Tagen, wenn keinerlei Zwischen-fälle uns aufhalten«, antwortete das Schiff.

Es wurde ein langer und vor allem eintöni-

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

ger Flug. Der Kunstmensch benötigte keinen Schlaf. Er nutzte die zur Verfügung stehende Zeit, um sich weiter zu vervollkommnen. Schon einmal hatte er Haarwurzeln gebildet und diese zum Wachstum angeregt. Nun ver-suchte er gezielt, den Vorgang zu beeinflus-sen. Aber er gefiel sich nicht, als sein Körper von einem dichten, hellen Pelz bedeckt wur-de.

Er rief sich Atlans Aussehen in Erinnerung, und dann sprossen nur noch auf seinem Schä-del lange Haare. Sein Gesicht, vor allem die Kinnpartie, wurde von starken Stoppeln ver-unstaltet. Auf seiner Brust, an Armen und Beinen und auf seinen Handrücken bildete sich Flaum.

»Du übertreibst«, bemerkte die ÜBERZO-NE. Anti-Homunk konnte nicht erkennen, ob das Schiff diese Feststellung von sich aus getroffen oder ob sein Herr sich gemeldet hatte. Auf jeden Fall konzentrierte er sich darauf, sein glattes, künstlich wirkendes Äu-ßeres durch Faltenbildung »ansehnlicher«, zu gestalten. Immer wieder betrachtete er sich in spiegelnden Metallflächen und war zufrieden mit dem, was er vollbrachte.

Hunderttausende von Lichtjahren legte das kleine Schiff schon während des ersten Tages zurück. Das Raumgebiet, das es durchquerte, war leer. Die Umgebungstaster zeigten kei-nerlei Besonderheiten.

Anti-Homunk war gerade im Begriff, ein-zelne Zehen auszubilden, als das Unverhoffte geschah: Er wurde quer durch die Zentrale geschleudert. Unter seinem Aufprall zerbarst ein Monitor, während zugleich eine meterlan-ge Flammenzunge aus dem Gehäuse hervor-brach und seine Haarpracht versengte. Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte er die schwelende Glut von sich ab.

»Was ist geschehen?« Die ÜBERZONE reagierte nicht auf die

Frage. Statt dessen leitete sie noch ein weite-res Flugmanöver ein, durch das ihr Passagier erneut zum Spielball geworden wäre, hätte er nicht rechtzeitig sicheren Halt gefunden.

Anti-Homunk glaubte, in weiter Entfernung einen Hauch von Helligkeit zu erkennen. Doch schon Sekundenbruchteile später war da nichts als undurchdringliche Schwärze.

Das Schiff mußte mit irrsinnigen Werten

vom bisherigen Kurs abgewichen sein, wenn trotz seiner perfekten Maschinerie die Behar-rungskräfte derart stark durchschlugen. Zu verwirrend war das Lichter- und Farbenspiel der Kontrollen, als daß der Androide die Ur-sache hätte erkennen können.

Ein Defekt im Egosektor des Schiffes? An-ti-Homunk wollte manuell in die Steuerung eingreifen, aber sämtliche Systeme waren blockiert.

Länger als eine halbe Stunde herrschte Schweigen. Dann endlich fand die ÜBER-ZONE sich bereit, wieder mit ihrem einzigen Passagier zu reden.

»Die Kursänderung war erforderlich«, sagte sie.

»Was soll das heißen? Künftig wünsche ich vor solchen Eigenmächtigkeiten informiert zu werden.«

»Mir blieb keine Wahl, als die Daten von Anti-ES ...«

»Der Herr hat dich umprogrammiert?« »Er hat mich vor den Schlafenden Mächten

gewarnt und den sofortigen Kurswechsel ver-langt.«

Anti-Homunk starrte erneut in den Raum hinaus, als könne er dort draußen irgend et-was erkennen.

»Wer oder was sind die Schlafenden Mäch-te?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte die ÜBER-ZONE.

»Hast du keine Ortungen vorgenommen?« »Sämtliche Apparaturen waren gestört und

sind es zum Teil noch immer.« »Dann erkundige dich beim Herrn. Sein

Eingreifen kann nur bedeuten, daß er in den Schlafenden Mächten eine Gefahr sieht.«

Allmählich normalisierten sich die Verhält-nisse an Bord wieder. Der Androide konnte sich davon überzeugen, daß die Namenlose Zone Dutzende von Lichtjahren im Umkreis leer war.

»Anti-ES meldet sich nicht«, erklärte das Schiff.

»Versuche es weiter. Aber zuvor bringe uns auf den alten Kurs.«

Wie sich später herausstellte, hatten sie in-zwischen ein Raumgebiet von beinahe tau-send Lichtjahren umflogen.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

*

Die folgenden beiden Tage verliefen ohne

Zwischenfälle. Hin und wieder trat Anti-ES mit der ÜBERZONE in Verbindung und er-teilte Anweisungen. Dann endlich näherten sie sich jenem Sektor, der »Senke des verlo-renen Raumes« genannt wurde. Der Androide kannte diese Bezeichnung, gleichwohl war er nie zuvor auch nur in die Nähe dieses Gebie-tes gelangt.

»Die Gravitationslinien verändern sich«, meldete das Schiff und stellte zudem den Vorgang in einem Hologramm dar.

Anti-Homunk erkannte, daß der Raum hier stärker gekrümmt war als anderswo, und daß mit zunehmender Schwerkrafteinwirkung die Krümmung deutlicher wurde. Noch bewegte sich die ÜBERZONE im äußeren Randgebiet dieser Erscheinung, trotzdem war eine Sog-wirkung unübersehbar. Der Diener von Anti-ES verlangte detaillierte Informationen.

»Die Senke besitzt die Form eines langge-zogenen Ovals und durchmißt an der Stelle ihrer größten Ausdehnung knapp zwei Licht-minuten. Zum Zentrum hin liegen die Gravi-tationsströmungen so dicht, daß sie zweifellos das gesamte Raumgefüge in seiner Struktur verändern können. Eine Auswertung des Phä-nomens ist nur schwer möglich, da selbst ü-berlichtschnelle Ortungsstrahlen zum Teil absorbiert werden.«

Ein Lichterschauer huschte an der ÜBER-ZONE vorbei und verlor sich in der Unend-lichkeit. Dennoch hatte Anti-Homunk die Linien erkennen können, denen die ionisierten Staubmoleküle folgten.

»Was erwartet uns im Mittelpunkt der Sen-ke?« wollte er wissen.

»Definition basiert auf rein spekulativem Charakter, da von unserem Herrn keine dies-bezüglichen Daten zur Verfügung gestellt wurden«, erwiderte das Schiff. »Anzunehmen ist jedoch eine derart starke Gravitation, daß der Raum an sich verändert wird, wobei ge-wisse Bezugspunkte ebenfalls ihre Gültigkeit verlieren.«

Der Kunstmensch nickte zögernd. Ein Meer von Pastellfarben hüllte die ÜBERZONE ein. Flüchtig glaubte er sogar, einen Schatten se-hen zu können, den das Schiff warf. Bei abge-

schalteten Antriebsaggregaten war die Flug-bahn mittlerweile zur Parabel geworden und veränderte sich noch immer.

Anti-Homunk wußte, daß ein richtiger Mensch an seiner Stelle zumindest Unbeha-gen empfunden hätte. Er aber lernte. Jedes noch so kleine Detail nahm er in sich auf, um es später zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus seinem Gedächtnis abrufen zu können. Er wußte, daß auch Atlan nichts vergaß – sein Herr hatte es ihm gesagt –, und er hoffte, schon bald an den Erinnerungen des Arkoni-den teilzuhaben.

Der Raum ringsum schien aufzuglühen – Folge einer Rotverschiebung, weil die Gravi-tationsströmung schneller war als das kleine kugelförmige Raumschiff. Die ÜBERZONE tauchte geradewegs hinein in ein Meer aus Feuer.

»Kurskorrektur!« befahl der Androide. »Wir fliegen das Zentrum der Senke direkt an.«

»Das käme einer Zerreißprobe gleich«, wandte das Schiff ein. »Der Weg des gerings-ten Widerstands ...«

»Ich wiederhole mich nur ungern.« Anti-Homunk spürte die Nähe von etwas, was ihm ähnlich war. Plötzlich lastete ein Vielfaches seines bisherigen Körpergewichts auf ihm, zugleich verblaßte die Färbung des Raumes. Die ÜBERZONE beschleunigte. Aber der Flug wurde ungleichmäßig.

Zwanzigfaches Eigengewicht ... Der Androide lachte schrill auf, als hinter-

einander mehrere Bildschirme implodierten. »Es wird gefährlich«, warnte das Schiff.

»Sicherer wäre es, sich den Gravitationsströ-mungen anzupassen.«

»Unsinn!« Ihm, Anti-Homunk, drohte kei-ne Gefahr, und wenn die ÜBERZONE verlo-renging, war dieser Verlust unbedeutend. Hat-te der Herr nicht zu verstehen gegeben, daß das Null-Gard ein perfektes Transportmittel sein würde?

»Ich wiederhole mich nur ungern.« Einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens in

seinen Zügen, wirbelte der Androide herum. Immerhin erinnerte er sich genau der Worte, die er eben erst gebraucht hatte, und nun wa-ren sie erneut gefallen, ohne daß er etwas gesagt hätte.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Er stand sich selbst gegenüber. Nur den Arm brauchte er auszustrecken,

um sein Ebenbild zu ergreifen, aus einer un-erklärlichen Scheu heraus tat er es nicht. Der andere sah ihn und schien doch gleichzeitig durch ihn hindurchzublicken.

Wie Schuppen fiel es Anti-Homunk von den Augen. Vorhin, als er das Gefühl gehabt hatte, etwas Fremdes zu spüren, war er der andere gewesen. Der Einfluß der zunehmen-den Raumkrümmung brachte die Kausalität des Zeitablaufs durcheinander. Sobald das Phänomen stärker wurde, bestand die Gefahr, daß er sich zwischen Vergangenheit und Ge-genwart verlor.

»ÜBERZONE«, sagte er. »Laß dich trei-ben.«

»Ich habe auf deinen Befehl gewartet«, er-widerte das Schiff.

Wieder sprang von den Bildschirmen ein düsteres Rot herab, doch verblaßte schon nach einiger Zeit dessen Intensität. Mit bloßem Auge waren nun die Gravitationslinien sicht-bar. Anti-Homunk hatte angenommen, daß sie sich in einem rotierenden Wirbel vereinen würden, nicht jedoch, daß sie unvermittelt verschwanden. In dem Nichts, das sie hinter-ließen, schwebte ein mächtiger Körper.

4.

Das Gebilde erinnerte am ehesten an einen

großen Würfel, obwohl seine Grundform we-gen der vielfältigen Aufbauten und Rundun-gen kaum mehr zu erkennen war. Die Kanten-länge betrug gut einen Kilometer.

Eine halbe Lichtsekunde entfernt hatte die ÜBERZONE am Rand der gravitationsfreien Senke gestoppt. Vor ihr drehte sich der Wür-fel langsam um eine fiktive Diagonalachse.

»Was ist das?« wollte Anti-Homunk wis-sen.

»Meine Gedächtnisspeicher beinhalten kei-ne diesbezüglichen Daten«, erwiderte das Schiff. »Vermutlich handelt es sich um das Gard.«

Der Androide nickte zögernd, bevor er ei-nige Schritte auf das Hologramm zu machte, das unmittelbar über einer Konsole schwebte, mit ausgestreckten Armen hineingriff und die Wiedergabe des zweifellos künstlich erschaf-

fenen Körpers näher zu sich heranzog. Der Würfel veränderte ständig seine Farbe. Fast wirkte er wie ein Leuchtfeuer in der Namen-losen Zone.

»Ich wünsche Detailvergrößerungen!« Das Schiff führte seinen Befehl sofort aus. Aber trotz perfekter Wiedergabe war es An-

ti-Homunk unmöglich, Sinn und Zweck des Würfels zu erkennen. Vermutlich handelte es sich um eine Raumstation, von ihren Erbauern dazu geschaffen, Messungen in der »Senke des verlorenen Raumes« durchzuführen. Der Kunstmensch hegte jedoch auch die Vermu-tung, daß gerade dieses Objekt die Senke in ihrem jetzigen Zustand erhielt.

Nirgendwo fanden sich Hinweise darauf, daß diese Station zugleich Aufenthalt intelli-genter Lebewesen war.

»Funkortung?« fragte Anti-Homunk. »Negativ.« »Energetische Emissionen?« »Im oberen Normbereich für Stationen die-

ser Größenordnung.« Der Androide nickte flüchtig. Wenn Anti-

ES ihn hierher geschickt hatte, um eine Zell-masse in Besitz zu nehmen, so existierte diese zweifellos. Dann gab es aber auch keinen An-laß, länger zu zögern.

»Andockmanöver!« befahl er. Das wechselnde Farbenspiel des Würfels

wurde intensiver, je näher das Kugelschiff ihm kam. Rasch stellte sich heraus, daß keine unterschiedlichen Energieschirme dafür ver-antwortlich waren, sondern daß die Station stetig ihre Struktur veränderte.

»Trotzdem besteht sie aus fester Materie«, behauptete die ÜBERZONE.

Von mehreren Seitenflächen ragten dünne, zerbrechlich wirkende Gerüste trichterförmig geöffnet auf. Das kleine Raumschiff flog ei-nes davon an. Völlig überraschend verengte das Gerüst seinen Querschnitt bis auf wenig mehr als zehn Meter. Anti-Homunk registrier-te den Vorgang mit äußerster Wachsamkeit.

»Es handelt sich um eine rein sensorisch gesteuerte Angleichung«, sagte die ÜBER-ZONE.

Augenblicke später setzte sie sanft auf. Der Androide ließ eine gewisse Zeit ver-

streichen. Aber nichts regte sich. »Öffne deine Schleuse«, verlangte er

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

schließlich. »Ich werde den Würfel betreten. Du wartest hier auf mich. Nur für den äußers-ten Notfall erteile ich dir Starterlaubnis.«

Anti-Homunk benötigte keinen Schutzan-zug, um im absoluten Vakuum zu überleben; seine verhärtete Haut bewahrte ihn vor der explosiven Dekompression. Die herrschende Schwerelosigkeit machte es schwer, sich zu orientieren. Fünfzig Meter weiter stieß er auf eine Mannschleuse, durch die er in die Peri-pherie des Gards gelangte.

Hier herrschte düsteres Zwielicht. Das Far-benspiel der Wände wirkte nun weit weniger imposant als aus einiger Entfernung.

Anti-Homunk hatte nicht erwartet, ein der-art hochtechnifiziertes Gebilde vorzufinden. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß er eigentlich so gut wie keine Vorstellung besessen hatte.

Räumlichkeiten verschiedener Größe und Nutzung säumten seinen Weg. Sie ließen kei-ne Rückschlüsse auf ihre Erbauer zu, dennoch war alles so, als würden jene Unbekannten schon im nächsten Moment zurückkehren.

Die Luft war nicht nur würzig, sondern auch reich an Sauerstoff. Ihr fehlte der schale Beigeschmack, der immer dann entsteht, wenn Räume über längere Zeit hinweg nicht benutzt werden. Anti-Homunk spürte einen leichten Hauch, der ihm verriet, daß die At-mosphäre ständig umgewälzt wurde.

Spiralförmig wand sich der Gang tiefer ins Gard hinein. Hallen mit skurril anmutenden Maschinen öffneten sich vor dem Androiden, aber er hielt sich nirgendwo auf.

Die Station war weitaus geräumiger, als es von außen den Anschein besessen hatte. Man mochte Stunden unterwegs sein, ohne auch nur einen einzigen Abschnitt des Würfels zweimal zu betreten. Anti-Homunk war über-zeugt davon, daß allein die Ortungsanlagen dieses Gebildes so weitreichend waren, daß er die Basis des Ersten Zählers mühelos aufspü-ren konnte. Vermutlich hatte Anti-ES dies gewußt und ihn deshalb zuerst in die »Senke des verlorenen Raumes« gesandt.

In einem Raum, der wohl eine Art Zentrale darstellte, versuchte er sich an den gar nicht so fremdartig anmutenden Schaltpulten. Nach und nach fand er verschiedene Funktionen heraus, und innerhalb kürzester Zeit war es

ihm möglich, Bilder aus dem Innern des Gards abzurufen. Es schien überall dasselbe: gähnende Leere, nur Technik, weder Roboter noch Lebewesen.

Mehr zufällig aktivierte Anti-Homunk ei-nen dreidimensionalen Grundriß des gesam-ten Würfels, den er zugleich in einzelnen E-benen projiziert abrufen konnte. Sternförmig liefen Korridore und Liftschächte von einem gemeinsamen Mittelpunkt auseinander. Und diesen Mittelpunkt bildete ein gut einhundert Meter durchmessender, kugelförmiger Raum, der durch die Besonderheit seiner Form von allen anderen abstach.

»Das ist es«, nickte Anti-Homunk. »Dort werde ich das Null-Gard finden.«

*

Er hatte etwa die Hälfte des Weges zurück-

gelegt, als sich mit schmatzendem Geräusch ein Teil der Decke vor ihm löste und als di-cker, zähflüssiger Tropfen zu Boden klatsch-te. Weitere, kleinere Tropfen folgten, und ehe Anti-Homunk sich’s versah, war der bislang blanke Metallboden von einer schleimigen Schicht überzogen, die mit wellenförmigen Bewegungen herankroch. Schon hatte die Masse seine Beine erreicht und leckte gierig daran in die Höhe.

Er zerbrach sich nicht den Kopf darüber, was dieser Schleim darstellte. Die Vermutung lag nahe, daß es sich um Ableger des gesuch-ten Organismus handelte. Das Null-Gard selbst mußte ein weitaus größeres Volumen besitzen.

Die Masse war zäh und widerstandsfähig und hätte jeden anderen als den Androiden zurückhalten können. Der Kunstmensch aber stapfte mitten hindurch und lachte, als blitz-schnell ausgebildete Pseudogliedmaßen zer-rissen.

Der Gang endete schließlich vor einem großen Tor. Anti-Homunk mußte nicht lange nach dem Öffnungsmechanismus suchen, der unter einem kaum zwanzig Zentimeter durchmessenden Energieschirm verborgen lag. Kurz entschlossen griff er zu. Seine Fin-ger durchdrangen das nur vage erkennbare Feld mühelos, doch zuckten plötzlich grelle Entladungen über den Arm und den Körper

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

des Androiden und schlugen krachend in den Metallplastikboden, wo sie einen rasch größer werdenden geschwärzten Kreis hinterließen.

Das Tor glitt zur Seite. Ohne zu zögern schritt Anti-Homunk durch die entstehende Öffnung. Es war, als gerate er in eine andere Welt. Von der Wucht mentaler Impulse ge-troffen, taumelte er vorwärts ...

*

Men-Gards Augenstiele zitterten vor hefti-

ger Erregung. Sein ovaler, zahnloser Mund öffnete und schloß sich wie bei einem Fisch, der auf dem Trockenen liegt, und seine drei Handlungsarme zuckten unkontrolliert durch die Luft.

Eben noch hatten die rundum aktivierten Bildschirme ein Meer von Sternen gezeigt, nun waren diese verschwunden, und an ihrer Stelle hatte sich Schwärze ausgebreitet.

»Bist du sicher?« Intensiv kamen die Ge-danken von Torrin-Gard, dem Obmann der Expedition.

Blitzschnell wickelten Men-Gards Augen-stiele sich umeinander – eine deutliche Geste der Verzweiflung.

»Wie kann ich aufgrund dieses Nichts zu-treffende Schlüsse ziehen?« gab er zurück. Die gesamte Mannschaft der Station vernahm seine Antwort.

Der Obmann ließ sich in seine Matte zu-rücksinken und vollführte eine umfassende Handbewegung.

»Das alles erweckt nicht den Anschein, als hätten wir es geschafft. Wo, so frage ich, ist die Quelle des Lebens, von der die alten Schriften sprechen?«

»Das Universum ist groß ...« »Nicht für uns, die wir Raum und Zeit be-

zwungen haben.« »... bezwungen zu haben glauben.« Für viele Zeiteinheiten herrschte nun Stille.

Die große, würfelförmige Station schwebte nahezu bewegungslos inmitten einer bedrü-ckenden Unendlichkeit.

Kaum einer war unter den fünfhundert Gardianern, der nicht mit Verbitterung des Kommenden harrte. Die Hoffnungen und Wünsche ihres Volkes begleiteten sie – eines zum Aussterben verurteilten Volkes, wenn

nicht ein Wunder geschah. Und genau dieses Wunder sollten sie vollbringen. Dafür hatten Wissenschaftler und Techniker in jahrzehn-telanger aufopfernder Arbeit das gewaltigste flugfähige Objekt geschaffen, das je den Heimatplaneten verlassen hatte. Sie nannten es Gard, nach der Sonne, um die ihre Heimat kreiste.

Sie waren aufgebrochen, um bei den Quel-len des Jenseits Hilfe zu holen, die vor Urzei-ten das Entstehen von Leben im Universum ermöglicht hatten. So jedenfalls sagten die Überlieferungen.

Tagelang suchten sie ihre neue Umgebung ab, ohne eine Spur von Materie zu entdecken. Dieser Raum war das absolute Nichts. Und sie waren allein. Der Funkempfang blieb stumm, die Ortungen schwiegen, die Observa-torien hatten keine Arbeit mehr ...

»Wir sind zwischen den Dimensionen ge-strandet«, dachte Torrin-Gard niedergeschla-gen. »Wenn es keine Möglichkeit gibt, zu-rückzukehren, sind wir verloren.«

Aber noch besaßen die Gardianer die Kraft, das Schicksal herauszufordern. Mit mehrfa-cher Überlichtgeschwindigkeit raste ihre Sta-tion durch das Nichts, für das sie keinen Na-men hatten. Zwei Versuche, mit den vorhan-denen Mitteln eine Rückkehr zu erzwingen, schlugen fehl. Es kam zu einzelnen Verzweif-lungstaten, die Lage spitzte sich zu.

Mitten in dieser ausweglosen Situation er-tönte die fremde, gedankliche Stimme. Sie war nicht eben dazu angetan, die Gardianer neue Hoffnung schöpfen zu lassen.

»Niemand, der in die Namenlose Zone ver-schlagen wurde, wird sie lebend wieder ver-lassen. Es gibt kein Zurück.«

»Wer bist du?« Die Gardianer waren gute Telepathen, doch

sie erfaßten so gut wie nichts von diesem fremden Wesen, das sich mit ihnen in Ver-bindung gesetzt hatte.

»Nennt mich Anti-ES. Diesen Namen be-sitze ich seit langer Zeit.«

»Wir sollten uns zusammentun, um ge-meinsam ...«

Anti-ES ließ ein amüsiertes Gelächter ver-nehmen.

»Für mich gibt es keine Verbündeten. Wenn ihr mir dienen wollt, dürft ihr weiterle-

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

ben, wenn nicht ...«

»Du drohst uns?« Für eine Weile herrschte Schweigen, und

die Gardianer glaubten schon, der Unbekannte habe sich von ihnen zurückgezogen, doch dann brachen seine mentalen Impulse mit verheerender Wucht über sie herein:

»Ich weiß, daß ihr in der Gemeinschaft ü-ber hypnotische Kräfte verfügt, aber hofft nicht, mich besiegen zu können. Selbst die Hohen Mächte, die mich in die Namenlose Zone verbannt haben, versagten. Eines nicht mehr fernen Tages werde ich meine Freiheit wiedergewinnen, und ihr werdet mir dabei behilflich sein.«

»Obmann«, rief Men-Gard aus. »Ich habe etwas in der Ortung, weiß aber nicht, was es ist.«

Die Entdeckung ließ alles andere verges-sen. Ein helles, wallendes Leuchten sprang von den Bildschirmen herab, als würde sich Lichtjahre weit entfernt die Struktur des Raumes verändern.

Das Gard beschleunigte. »Messungen ergeben einen veränderten

Kraftfeldverlauf. Der Energiehaushalt der Raumstruktur scheint gravierend gestört zu sein.«

Nur eine halbe Zeiteinheit benötigte der Obmann, um festzustellen, daß man sich einer Zone deutlich geschwächter Konsistenz nä-herte. Jeden Moment konnte der Raum auf-reißen und den Weg zurück freigeben.

»Die Raumkrümmung nimmt zu.« Torrin-Gard nickte. Er hatte nichts anderes

erwartet. Das Leuchten weitete sich aus. Seltsame

Farbreflexe huschten über die Außenhülle. Fast schien es, als versuche das Wallen, in die würfelförmige Station einzudringen.

»Schutzschirme aktivieren!« Kurz hintereinander durchliefen mehrere

heftige Erschütterungen das Gard. »Etliche Projektoren sind ausgefallen«, rief

Men-Gard entsetzt. »Wir geraten in eine Zone dichter Schwerkraftlinien.«

»Besteht akute Gefahr?« »Noch nicht.« »Gut. Dann setzen wir die Absorber ein,

um die auftreffende Gravitationsenergie um-zuwandeln und den Speicherbänken zuzufüh-

ren. Der Rücksturz wird ohnehin unsere ge-samte Kapazität aufbrauchen.«

»Du glaubst immer noch daran, Gardia-ner?« Da war wieder diese fremde, gedankli-che Stimme. Diesmal troff sie vor Hohn.

»Die Schwerkraft nimmt rapide zu«, mel-dete Men-Gard. »Im Zentrum des Wirbels kann jederzeit die erwartete Aufrißfront ent-stehen.«

»Keiner von euch wird die Namenlose Zo-ne verlassen, wenn ich es nicht will!«

Torrin-Gard reagierte ungehalten. »Laß uns in Ruhe, Anti-ES! Wir haben dich

nicht gerufen.« Unmittelbar neben ihm brach Men-Gard in

die Knie. Seine eben noch schwarze Haut begann sich zu verfärben, nahm einen fast durchsichtigen Schimmer an. Krampfhaft zuckten die Arme des Wissenschaftlers in die Höhe und umklammerten die Stiele seiner Augen.

»Was sagst du dazu?« höhnte der Unsicht-bare. »Ich kann euch alle töten, wenn ich es will.«

»Bestie!« zischte Torrin-Gard, und seine Gedanken riefen die anderen Besatzungsmit-glieder zusammen. Im Zentrum der Station gab es einen Raum, von dem sie ihre geball-ten geistigen Kräfte aussenden konnten, der wie ein Brennglas alle psionischen Energien auffing und verstärkte.

Während der Obmann in Begleitung ande-rer Gardianer die Zentrale verließ, erstarrten Men-Gards verzweifelte Bewegungen. Jeder an Bord vernahm seinen mentalen Todes-schrei.

Und Anti-ES schlug wieder zu. Neben Tor-rin-Gard stürzte eine Frau.

»Ungehorsam wird bestraft«, spottete das Unbekannte.

Viele Gardianer versammelten sich den-noch in dem kugelförmigen Raum im Mittel-punkt der Station. Hier waren sie von äußeren Einflüssen abgeschirmt. Schwerelos schweb-ten sie über dem Boden, reichten einander die Hände ...

Die Wände begannen bereits in sämtlichen Farben des Spektrums aufzuleuchten. Ein deutliches Zeichen, daß die infolge der zu-nehmenden Raumkrümmung stärker werden-de Gravitation alles durchdrang.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Torrin-Gard streckte seine drei Arme aus,

um sich dem Verbund einzugliedern. Eine seltsame Schwäche sprang auf ihn über, als würde ihm jegliche Kraft entzogen.

Anti-ES’ dröhnendes Gelächter beherrschte seine Gedanken. Vergeblich kämpfte er dage-gen an. Er wußte, daß er diesen stummen Zweikampf verlieren würde – und mit ihm alle Gardianer. Es gab nur eine einzige Mög-lichkeit ... Doch nie zuvor war sein Volk die-sen Weg gegangen, den Weg der Gewalt, der anderen den Tod brachte. Es fiel Torrin-Gard schwer, eine Entscheidung zu treffen. Das Schicksal aller stand gegen die Existenz eines fremden, erbarmungslosen Geschöpfs.

»Vernichtet Anti-ES!« Jeder stand in dieser Sekunde hinter ihm.

Der Obmann spürte die ungeheure psionische Vernichtungswelle, die sich aufbaute.

Aber das Unbekannte lachte noch immer. »Glaubt ihr Wesen aus Fleisch und Blut

wirklich, ihr könntet mir schaden?« Vereinzelt wurden Schreie laut. Sie ver-

mischten sich zu einem schrillen Stakkato des Entsetzens, als die Gardianer erkannten, daß eine unsichtbare Aura sie einhüllte. Ihre ver-nichtende Kraft, die sie Anti-ES entgegen-schleuderten, schlug auf sie zurück. Ihre Ge-danken verstummten unter dem Ansturm der entfesselten Energien, ihre Körper wanden sich in wilden Zuckungen, begannen sich auf-zulösen.

»Noch brauche ich euch nicht. Aber eines Tages werdet ihr meine Diener sein.« Anti-ES triumphierte über die Gardianer, deren Exis-tenz er auslöschte, wie ein Meteor in der Flut-hülle einer Sonne vergeht.

Nur Torrin-Gard lebte Bruchteile eines Au-genblicks länger als die anderen. Aufbranden-de Geräusche verrieten ihm, daß der Mittel-punkt der Raumkrümmung erreicht war. Das Gard würde ohne seine Besatzung in das hei-matliche Universum zurückkehren.

»Du irrst dich«, ließ Anti-ES ihn wissen. »Das Gard befindet sich inmitten einer neut-ralen Zone und wird selbst in Jahrtausenden seine Position nicht verändern. Es sei denn, ich will es so.«

Übergangslos wurde es finster um Torrin-Gard. Eine Macht, gegen die es keinen Wi-derstand gab, zwang seinen Geist aus dem

ihm angestammten Körper. Er wußte, daß dieser Zustand kein Sterben war, aber auch kein Leben. Ein großer Plasmaklumpen, mehr blieb nicht von seinem Dasein.

Er begann Anti-ES zu hassen. Aber er war machtlos. Er und alle anderen,

die bei ihm waren. Die Verzweiflung der Gardianer drohte An-

ti-Homunk zu übermannen. Mit aller Kraft setzte er sich gegen die Beeinflussung zur Wehr, doch nur zögernd wichen die Bilder der Vergangenheit der Wirklichkeit. Der Helfer von Anti-ES erkannte, daß er es mit einem Kollektivbewußtsein zu tun hatte, das aus den früheren Besatzungsmitgliedern des Gards hervorgegangen war.

Es fiel ihm nicht leicht, seinen Geist abzu-kapseln. Die Gardianer bedrängten ihn mit unzähligen Fragen. Sie, die sich seit Jahrzehn-ten in diesem körperlosen Zustand befanden, wollten wissen, was außerhalb ihrer Station geschah. Es mußte schrecklich für sie sein, hilflos und von der Außenwelt abgeschnitten ohne ihre gewohnten Körper zu existieren.

Vorübergehend fühlte Anti-Homunk so et-was wie Verständnis. Aber das war nur eine flüchtige Regung, die er rasch in den hinters-ten Winkel seines Bewußtseins verdrängte. War da nicht das Wissen, daß auch sein Kör-per anders war als früher, daß er sich eben-falls verändert hatte?

Zu spät erinnerte der Androide sich daran, daß die Gardianer seine Gedanken lesen konnten.

Du bist ein Geschöpf von Anti-ES? erklang es lautlos von allen Seiten. Wogen des Hasses schlugen ihm entgegen. »Endlich können wir Rache nehmen für das, was unserem Volk angetan wurde.«

Eine rasend schnelle, wirbelnde Bewegung erfaßte den Kunstmenschen. Unsichtbare Kräfte zerrten ihn zum Mittelpunkt des kugel-förmigen Raumes. Hilflos ruderte er mit den Armen, ohne das geringste dagegen tun zu können.

Die Wände ringsum, eben noch bleich und fast durchsichtig schimmernd, begannen auf-zuwallen. Rhythmisch pulsierend zogen sie sich zusammen.

Im Nu war Anti-Homunk von einer zu-ckenden, zähen Masse eingeschlossen. Das

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mußte das Null-Gard sein, von dem sein Herr gesprochen hatte.

Haß schlug ihm entgegen ... Abscheu ... Und Verzweiflung. Das sollte sein Helfer werden? Die Zweifel

waren schlimmer als jeder körperliche Schmerz. Anti-Homunk schlug um sich, seine Finger gruben sich in das Zellplasma, das erstickend auf ihm lag. Jedes andere Wesen hätte atmen müssen, um zu überleben.

Du nicht? Die lautlose Stimme der Gardia-ner klang keineswegs überrascht.

Nicht denken! durchzuckte es Anti-Homunk. Er war seinem Gegner unterlegen, wenn dieser alles stets im voraus wußte.

Anti-ES mußte zumindest geahnt haben, was seinen Diener im Gard erwartete. Wes-halb hatte er nicht davor gewarnt? Oder war dies ein neuer Test?

Es fiel ihm schwer, Unverfängliches in den Vordergrund seiner Überlegungen zu schie-ben. Der Androide dachte an die lichtlose Weite der Namenlosen Zone, aber tief im Hintergrund seines Ichs keimten andere Ge-danken. Sobald diese intensiver wurden, muß-te er handeln.

Seine Hände verformten sich. Aus den Fin-gern wurden messerscharfe Klauen, die ganze Stücke aus dem Zellplasma herausrissen. Ein Loch entstand, gerade groß genug, daß Anti-Homunk sich hindurchzwängen konnte. Hef-tig stieß er sich ab und schwebte zum Schott hinunter, durch das er diesen Raum betreten hatte.

Erstmals sah er die zuckende Zellmasse in ihrer vollen Ausdehnung. Tentakel formten sich, um ihn an der Flucht zu hindern. Aber er war schneller.

Bleib! erreichten ihn hypnotische Impulse. Es fiel schwer, sich dagegen zur Wehr zu set-zen. Im Schott blieb er stehen.

Komm zurück! Du wirst uns allen sagen, was du über Anti-ES weißt!

Der Kunstmensch focht einen stummen Kampf mit sich selbst aus.

Der Ruf der Gardianer klang drängender. Zögernd setzte Anti-Homunk einen Fuß vor. Er wollte es nicht, aber die Muskeln gehorch-ten ihm plötzlich nicht mehr. Erschreckend war die Erkenntnis, daß er längst nicht unbe-

siegbar und vollkommen war. Er würde alles tun, um diesen Zustand bald zu ändern.

Du wirst keine Gelegenheit dazu bekom-men.

»Ihr könnt nicht gewinnen«, stieß er hervor. »Niemals.«

Der zweite Schritt, den er tat, nicht minder zaghaft zwar als der erste, war ein sichtbarer Erfolg der Körperlosen.

Jetzt! durchzuckte es Anti-Homunk, gleich-zeitig warf er sich zur Seite. Seine geballte Rechte schlug auf den Steuermechanismus des Schottes.

Der gedankliche Befehl der Gardianer kam zu spät und konnte das Geschehene nicht mehr rückgängig machen. Deutlich spürte der Androide ihre Wut und Enttäuschung, die in grenzenlosen Haß umschlug. Das Schott glitt zu. Damit waren sie erneut isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten, denn die be-sondere Struktur der Wände absorbierte alle psionischen Energien und setzte sie erst au-ßerhalb der Station wieder frei.

Anti-Homunk fühlte keine Erleichterung, er gewann nur seine fast schon verlorene Selbst-sicherheit zurück. Nun galt es einen Weg zu finden, das Null-Gard, die Zellmasse der eins-tigen Gardianer, nach seinem Willen zu for-men. Er glaubte nicht, daß sein Herr ihn ohne eine Aussicht auf Erfolg ausgesandt hatte.

Der Androide war unschlüssig über sein weiteres Vorgehen. Im Moment konnten die Gardianer ihn zwar nicht angreifen, ihm wa-ren aber gleichfalls die Hände gebunden, weil er keine Möglichkeit besaß, sich gegen sie durchzusetzen.

Vorerst blieb er in der Nähe des zentralen Raumes und spielte sogar mit dem Gedanken, dem Zellplasma über die Lufterneuerungsan-lage Giftstoffe zuzuführen. Doch hätte er sich damit vermutlich selbst um den Erfolg betro-gen. Er wußte nicht, wie anfällig das Null-Gard in seinem jetzigen Zustand reagierte.

Die Plasmaklumpen kamen ihm in den Sinn, die er an verschiedenen Stellen der Sta-tion vorgefunden hatte. Nach allem, was er inzwischen wußte, waren diese die Überreste der von Anti-ES getöteten Besatzungsmit-glieder.

Ein Lächeln huschte über sein von zentime-terlangen Bartstoppeln bedecktes, ansonsten

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

aber nach wie vor unfertig wirkendes Gesicht. Nur in ihrer Gesamtheit entwickelten die Gardianer hypnotische Kräfte, obwohl jedes Einzelwesen die Anlage dazu besaß. Sie mochten also zugleich immun gegen diese Art von Beeinflussung sein.

Plötzlich war ihm klar, was Anti-ES von ihm erwartete.

Vermutlich hatten die fladenförmig verlau-fenen Gebilde mitbekommen, was geschehen war. Sie versuchten zu fliehen, als er in ihre Nähe kam. Aber Anti-Homunk ließ die Plas-maten nicht entkommen. Im Verlauf der nächsten Stunden integrierte er mehrere von ihnen.

*

Allmählich sah er das Gard mit anderen

Augen. Mit der neuen Substanz hatte er auch zusätzliches Wissen in sich aufgenommen. Er wußte jetzt, wohin er sich wenden mußte, wenn er nach bestimmten Dingen suchte, und er kannte die Funktionen, die er durch belie-bige Schaltungen hervorrief. Der Würfel stell-te eine vollkommene Maschinerie dar, die ein einzelner beherrschen konnte.

Anti-Homunk wußte nun auch, wie das Null-Gard nach seinem Willen zu formen war. Die Wirkungsweise der vorhandenen Mentalprojektoren ließ sich umkehren. Das bedeutete nicht nur, daß die körperlos gegen-wärtigen Gardianer endgültig von ihrem Zell-plasma getrennt würden, sondern daß es sogar möglich war, sie beliebig weit in die Namen-lose Zone abzustrahlen.

Im Bewußtsein seiner neu gewonnenen Macht suchte er die Zentrale auf. Es fiel ihm leicht, die fremdartigen Funkgeräte zu bedie-nen und die ÜBERZONE anzurufen.

»Unterrichte unseren Herrn, daß alles nach seinem Willen verläuft.«

»Dann werde ich zum Löcherplanetoiden zurückkehren.«

»Noch kann ich dich nicht entbehren.« Hin und wieder mußte Anti-Homunk an die

»Schlafenden Mächte« denken. Konnten sie ihm ernsthaft gefährlich werden?

Er machte sich mit der Zentrale vertraut und den Ortungen, deren Energieverbrauch zwar enorm war, dafür aber eine nahezu un-

begrenzte Reichweite ermöglichte. In einem Hologramm zeigten sich dünne, netzähnliche Fäden. Er erkannte sofort, daß es sich um das Gespinst eines Grenzwächters oder eines sei-ner Zweige handelte. Wie groß mochte die Entfernung zwischen ihm und dem Gard sein? Die ÜBERZONE hatte in dieser Richtung nichts als vollkommene Leere angemessen.

Plötzlich zuckte er zusammen. Da war ein Reflex, der ihm bekannt vorkam. Er justierte die Feineinstellung und schaltete die Energie-taster hinzu.

Einige tausend Lichtjahre entfernt schwebte ein Raumschiff durch die Namenlose Zone.

Als endlich die Auswertungsdaten vorla-gen, nickte der Androide zufrieden. Es war die Basis des Ersten Zählers, auf der Atlan sich noch immer aufhielt. Dieser Teil seines Auftrags wurde ihm also leicht gemacht, denn weshalb sollte er der Basis folgen, wenn er sie ebensogut zu sich holen konnte? Er mußte dem Arkoniden nur eine Falle stellen, in die dieser in seinem Übereifer hineintappte.

Anti-Homunk triumphierte. Sein Herr wür-de mit ihm zufrieden sein, wenn er so schnell schon eine Reihe von Erfolgen vorweisen konnte.

Im Lauf der nächsten Stunden führte er un-zählige Schaltungen durch, die alle nur einem einzigen Zweck dienten. Das Gard strahlte die gespeicherten Gravitationsenergien ab und regte damit die »Senke des verlorenen Rau-mes«, sowie das umgebende Gebiet bis zu mehreren Lichtsekunden im Umkreis zu einer noch stärkeren Kontraktion an. Zugleich wur-den hyperenergetische Stoßwellen freigesetzt.

Anti-Homunk war sicher, daß man auf der Basis des Ersten Zählers diese Vorgänge an-messen, aber nicht verstehen würde.

Und er war zugleich überzeugt davon, daß Atlan nach der Ursache forschen würde.

5.

An Bord des Beiboots, dessen Äußeres eine

geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit einer überdimensionierten Stubenfliege besaß, war ich zusammen mit dem Roboter Tim zur Ba-sis zurückgekehrt. Eine erste flüchtige Unter-suchung des mitgebrachten Raumanzugs hatte tatsächlich erwiesen, daß dieser vulnurischer

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Herkunft war.

»Was wirst du jetzt tun?« wollte Rico von mir wissen.

»Das, was ich schon lange beabsichtige.« Ich hielt den Raumanzug hoch, der sämtliche Prozeduren unbeschadet überstanden hatte. »Vielleicht läßt die Lichtquelle wieder mit sich reden, wenn ich ihr das hier bringe.«

»Du willst nach oben gehen? Dann begleite ich dich.« Das kam so spontan, daß ich nicht anders konnte, als zustimmend zu nicken. »Schön«, sagte Rico daraufhin. »Bringen wir also die Quelle der Jenseitsmaterie zur Ver-nunft.«

Ein Laufband trug uns von der Hauptzent-rale aus durch das Innere der Basis. Ich muß gestehen, daß ich dabei weit weniger an die Lichtquelle dachte als an die menschliche Erscheinung, die mir mittlerweile zweimal begegnet war. Unbewußt hoffte ich, hier wie-der mit ihr konfrontiert zu werden.

Trotzdem empfand ich Zweifel. Zum Teil rührten sie davon her, daß mein Extrasinn weiterhin mit einer Beharrlichkeit schwieg, die mich irgendwie beängstigte.

Ich rief mir das Bild des Mannes ins Ge-dächtnis. An Bord des Wracks hatte ich ihn deutlich erkannt. Das heißt, ich vermochte nicht zu sagen, ob es sich um Rakal oder Tro-nar Woolver handelte. Die beiden über eine phänomenale Veranlagung verfügenden einei-igen Zwillinge waren rein äußerlich überhaupt nicht zu unterscheiden gewesen.

Während der »Second-Genesis-Krise« im Jahre 2909 hatten beide bei einem Einsatz den Tod gefunden. Daß einer von ihnen mir aus-gerechnet in der Namenlosen Zone begegnete, war also mehr als unwahrscheinlich. Anderer-seits sollte man von vornherein nichts als un-möglich ausschließen. Ich brauchte nur an Ernst Ellert zu denken, dessen Geist Raum und Zeit zu durchstreifen vermochte.

Was vor allem für meine Annahme sprach, war die Art und Weise, wie der Mann er-schienen und wieder verschwunden war. Auch daß ihm die Thermoenergie des Strahl-schusses nichts hatte anhaben können, schien ein weiterer Beweis. Als »Wellensprinter« waren die Woolver-Zwillinge in der Lage gewesen, jede nur denkbare Energieeinheit als Transportmedium zu benutzen, indem sie

nach dem sogenannten »Impulsecho« suchten und sich nach dessen Auffinden in den Ener-giefluß »einfädelten«. Stets eine Sache von Sekundenbruchteilen, hatte es nie eine Rolle gespielt, ob es sich um einen elektrischen Stromfluß, ultrakurze Funkwellen oder hyper-energetische Impulsstrahlen handelte.

Bei unserer nächsten Begegnung, das nahm ich mir vor, würde ich Tronar oder Rakal Woolver, egal welcher von beiden auf der Basis weilte, nicht mehr entkommen lassen. Schließlich gab es Mittel und Wege, selbst einen Wellensprinter festzuhalten.

Die Einsamkeit läßt dich jede Verbindung zur Realität verlieren.

Zynischer hätte die noch dazu unverhoffte Bemerkung des Extrasinns kaum sein können. Ich war allerdings überrascht, daß er sich ü-berhaupt wieder meldete.

Du läßt dich beeinflussen. Und du merkst nicht einmal, was mit dir geschieht.

Dann hilf mir. Wie soll ich das, wenn du meinen Ratschlag

nicht annimmst? Ich konnte mich beim besten Willen nicht

entsinnen, worauf mein Extrahirn damit an-spielte. Mittlerweile hatten wir ohne Zwi-schenfall die Wartungshallen erreicht, von denen aus ein Antigravschacht bis in unmit-telbare Nähe der Jenseitsquelle führte. Rico ließ sich vor mir an die Oberfläche tragen. Längst hatten die Roboter alle Spuren der Arltra-Ranger beseitigt, die mit ihren Ener-giespaten tiefe Narben in das Erdreich rings um den Dom gerissen hatten.

Kam es mir nur so vor, oder waren die E-ruptionen der Jenseitsmaterie schwächer ge-worden?

»Sie ist bedrückt«, behauptete der Roboter an meiner Seite.

Ich trat nahe an den Rand der Quelle heran. »Hier«, sagte ich und hielt den fremden

Raumanzug hoch. »Die Vulnurer suchen nach dir. Das fand ich im Wrack eines diskusför-migen Raumschiffs. Wenn du ihnen helfen willst, mußt du dein Schweigen endlich bre-chen.«

Nichts. Nur rote und grüne Lichtreflexe umflossen mich. Ich versuchte, einen Sinn in das Farbenspiel zu bringen – es gelang mir nicht.

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»Du kannst dich kaum für immer abkap-

seln. Wir sind aufeinander angewiesen, wenn wir bestehen wollen. Wer weiß, womöglich war der Überfall der Arltra-Ranger erst der Anfang. Wer immer dich in seinen Besitz bringen will, er wird so schnell nicht aufge-ben. Und er verfügt allem Anschein nach über die Machtmittel, uns gefährlich zu werden.«

Ich erhielt keine Antwort, besaß aber zwei-fellos mehr Ausdauer als Rico, der ungedul-dig von einem Fuß auf den anderen trat.

»Atlan«, stieß er hervor, während ich mich erneut an die Lichtquelle wandte. »Wir haben ...« Er schwieg, als ich kurzerhand abwinkte.

Selbst mein Versuch, mit Argumenten zu überzeugen, blieb erfolglos. Also schleuderte ich den Raumanzug zwischen die Eruptionen aus Jenseitsmaterie. Er wurde meterweit mit in die Höhe gerissen und verglühte unter grel-len Lichterscheinungen.

»Atlan«, begann Rico erneut und berührte mich am Arm. »Wir müssen zurück.«

»Noch nicht.« »Aber wir haben etwas geortet. Es könnte

eine Materiequelle sein.« Ich wußte, daß er ständig mit den Robotern

in der Zentrale in Verbindung stand. Wenn sie dort eine Feststellung getroffen hatten, war diese hieb- und stichfest.

»Sie haben das Objekt schon seit Minuten auf den Schirmen.«

»Warum sagst du das erst jetzt?« fuhr ich Rico an. Er hatte Mühe, mir auf dem Weg zurück zu folgen.

*

Die überaus starke Raumkrümmung wäre

noch zu erklären gewesen, keinesfalls aber die Energieausstrahlung, die dieses Objekt von mehreren Lichtsekunden Durchmesser cha-rakterisierte. Ich ließ mir die von den Robo-tern gefertigten Radioaufnahmen verschiede-ner Wellenbereiche vorlegen und verglich sie mit den Daten der Hyperortung. Was immer wir angemessen hatten, es war kein Schwar-zes Loch, wie ich anfangs noch vermutete. Ich konnte es aber ebensowenig mit einer der bekannten astronomischen Klassifikationen erklären.

»Du willst, daß wir die Koordinaten anflie-

gen«, vermutete Rico. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Traurigkeit mit. Fürchtete er, daß wir uns trennen mußten?

Die Basis des Ersten Zählers beschleunigte und erreichte schon kurz darauf Überlichtge-schwindigkeit. Der Flug würde nur wenige Stunden in Anspruch nehmen.

Optisch war nichts auszumachen. Aber auf den Schirmen der Hyperortung wurde das Objekt größer.

Unvermittelt erstarb die Beleuchtung in-nerhalb der Hauptzentrale. Einige Hologram-me fielen in sich zusammen. Doch nur für Sekundenbruchteile, dann war alles wieder beim alten. Vermutlich, wenn auch unwahr-scheinlich, ein kurzfristiger Spannungsabfall infolge Überlastung des Energienetzes.

Nach einer Weile hallte ein lauter werden-des Wimmern durch die Basis. Es war schwer festzustellen, woher die Geräusche kamen; ihr Ausgangspunkt mochte in der Peripherie des Schiffes liegen.

Dutzende von Kontrollanzeigen leuchteten jäh auf.

»Überlichtantrieb abschalten!« ertönte Ri-cos Stimme. »Sofort!«

Ausgerechnet. Zu keinem anderen Zeit-punkt wäre ein Defekt unpassender gewesen als gerade jetzt. Ich starrte auf die nunmehr konstant bleibenden Ortungsanzeigen und murmelte eine Reihe von Verwünschungen.

»Willst du den Reparaturtrupp begleiten, Atlan?« fragte Rico.

Ich weiß nicht, weshalb ich mitging. Ver-mutlich weil ich mir davon mehr Ablenkung versprach.

Den Robotern gelang es nicht, das Schott zur Maschinenhalle zu öffnen. Entweder war ein Vakuumeinbruch erfolgt oder der gesamte Mechanismus in Mitleidenschaft gezogen.

Es kostete uns eine halbe Stunde Zeit, transportable Schutzschirmprojektoren her-beizuschaffen und so zu justieren, daß wir selbst im schlimmsten Fall nur wenige Ku-bikmeter Atemluft verlieren würden. Dann machte sich eine der Maschinen mit einem Schweißgerät daran, den Zugang zu öffnen.

Nichts geschah, als der gebündelte Ther-mostrahl das Schott durchschlug. Auch auf der anderen Seite herrschten demnach noch normale Druckverhältnisse. Es stellte sich

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

aber heraus, daß der Öffnungsmechanismus von innen blockiert worden war. Ein Phäno-men, dem die Roboter ratlos gegenüberstan-den.

Daß auch der Defekt im Antriebssystem keinesfalls auf normalen Verschleiß zurück-zuführen war, hatte ich nach dieser Feststel-lung schon erwartet. Ein halber Tag verging, bis die Reparaturarbeiten so weit vorange-schritten waren, daß wir wieder daran denken konnten, wenigstens mit zweifacher Lichtge-schwindigkeit durch die Namenlose Zone zu fliegen. Ich nahm mir einen der Roboter bei-seite.

»Kann ich dir vertrauen?« Ich kam mir dumm vor, die Maschine so etwas überhaupt zu fragen, andererseits mußte ich vorsichtig sein. Ich ahnte, daß der Saboteur erneut zu-schlagen würde, wußte aber nicht, welche Informationsquellen er besaß. Vielleicht hörte er den Funkverkehr zwischen den Robotern ab.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte mein Gegenüber.

»Gut. Ich verlange, daß du keinerlei Aus-künfte über das weitergibst, was ich nun mit dir besprechen werde ...« Er unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Als er schließlich da-vonstapfte, um zu tun, was ich ihm aufgetra-gen hatte, wußte ich genau, daß er zwar nicht verstanden hatte, was ich beabsichtigte, daß er aber alles daransetzen würde, meine Wünsche zu erfüllen.

Der Überlichtantrieb war nahezu wieder voll funktionsfähig, als der Roboter endlich mit einer kleinen Antigravplattform zurück-kehrte, auf der er vor allem empfindliche po-sitronische Gerätschaften gestapelt hatte. Nach meinen Anweisungen begann er umge-hend mit ihrem Aufbau.

Rico kam interessiert näher. »Was hast du vor, Atlan?«

»Laß dich überraschen.« Er schüttelte den Kopf. »Sieht aus, als woll-

test du die Antriebsaggregate mit einem Schirmfeld umgeben.«

Ich mußte unwillkürlich lachen. »Gib dir keine Mühe, Rico, ich kann es dir

noch nicht erklären.« Was erwartete ich eigentlich? Wenn tat-

sächlich einer der Woolver-Zwillinge auf der

Basis weilte, mußte er ohnehin auf meiner Seite stehen. Und falls Anti-ES dahintersteck-te, erschien es fraglich, ob ich sein Geschöpf mit den vorhandenen Mitteln stellen konnte.

Mir wurde bewußt, daß ich schon lange ge-zögert hatte. Die Zeit brannte mir unter den Nägeln. Was würde geschehen, wenn der Er-wartete kam, bevor ich meine Vorbereitungen zum Abschluß gebracht hatte? Würde er den Überlichtantrieb vollends zerstören?

Die Roboter hatten ihre Arbeiten abge-schlossen und zogen sich zurück.

»Soll ich dir helfen, Atlan?« erkundigte Ri-co sich besorgt. »Du weißt, ich bin immer für dich da.« Interessiert schaute er mir über die Schulter, wie ich Überlastungssicherungen in eine Reihe von Schaltkreisen einfügte. »Wozu das alles? Es ist unnötig, weil wir ...«

Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich einen Schatten wahr, der sofort hinter dem Kühlmittelbehälter des Überlichtaggregats verschwand. In einer ersten instinktiven Re-aktion wollte ich nach dem Kombistrahler greifen, aber über mich selbst verärgert, zog ich die Hand wieder zurück.

Eindeutige Geräusche verrieten, daß je-mand die Verkleidungen der empfindlichen Schalteinheiten abnahm.

»Tronar!« rief ich. »Rakal!« Keine Antwort. Statt dessen schien der An-

gesprochene schneller zu arbeiten. Ich mußte verhindern, daß er nicht mehr wiedergutzu-machende Schäden anrichtete.

»Du gehst da entlang!« befahl ich Rico und beschrieb mit der Rechten einen Halbkreis. »Und du«, wandte ich mich an den zweiten Roboter, »gehst auf die andere Seite. Nehmt ihn in die Zange.«

»Aber ... wir verfügen über keine Waffen«, wandte Rico ein.

»Unser Freund ebenfalls nicht«, erwiderte ich schroff. »Behauptet bloß nicht, ihr fürch-tet euch vor einem einzelnen Mann.«

Warum nur schwieg mein Extrasinn noch immer? Dabei wäre ich ihm für jeden Hinweis dankbar gewesen. Irritiert zog ich nun doch den Kombistrahler, den ich auf Lähmung um-gestellt hatte.

»Rakal, wir sollten miteinander reden.« Ich hastete an Rico vorbei, der zögernd in

eine schnellere Gangart verfiel. Gut fünf Me-

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ter durchmessend, erhob sich das mächtige Kühlaggregat vor mir. Plötzlich stand ich dem Fremden gegenüber. Es gab keine Zweifel mehr, es war Rakal Woolver. Erstaunen spie-gelte sich in seinen Zügen – gerade so, wie ich es erwartet hatte. Er ließ die Arme sinken und starrte mich entgeistert an. Dann wander-te sein Blick zu meiner Waffe weiter. Der stumme Vorwurf traf mich hart.

»Ich glaube, wir haben viel miteinander zu reden«, sagte ich.

Er schwieg noch immer. Und schon im nächsten Moment verschwand er vor meinen Augen, fädelte sich in einen Energiefluß ein, der ihn zu irgendeinem anderen Punkt der Basis tragen konnte.

Wenn meine provisorische Vorrichtung versagte, würde die Jagd von neuem begin-nen. Weshalb floh Rakal überhaupt vor mir?

Ich zog einen kleinen Impulsgeber aus meiner Tasche und unterbrach die Induktions-ströme rund um das Antriebsaggregat.

Der Wellensprinter materialisierte wieder. Also hatte ich richtig vermutet.

»Warum bleibst du nicht?« fragte ich. Irgend etwas an seinem Blick verunsicherte

mich. Ich wußte nicht, was es war, aber ich fühlte ein unangenehmes Prickeln in meinen Schläfen. Sag wenigstens du ein Wort! forder-te ich meinen Extrasinn auf. Vergebens, wie schon wiederholte Male zuvor.

Rakal Woolver wich vor mir zurück. Das Kombiwerkzeug in seinen Händen zuckte hoch. Wenn er es mit Wucht zwischen die bloßliegenden Energiezellen des Antriebsteils schleuderte, würden die dadurch hervorgeru-fenen Entladungen große Zerstörungen an-richten.

Ich schoß, ohne zu überlegen. Rakal wurde von einer irrlichternden Aura eingehüllt und war im nächsten Moment verschwunden.

Lautlos vergingen die von mir installierten Projektoren in einer Serie greller Lichtblitze. Ein grauenhafter Schmerz durchzuckte mei-nen Schädel. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich taumelte und sah noch, wie Rico helfend die Arme nach mir ausstreckte, dann war nichts mehr ...

*

Wie ein großes Stück Sandpapier klebte meine Zunge ausgetrocknet am Gaumen. Selbst das Schlucken bereitete mir Unbeha-gen. Grelles Licht blendete mich, als ich die Augen aufschlug. Ich konnte nicht erkennen, wo ich mich befand.

Du bist in der Hauptzentrale. Die Roboter haben dich hierhergebracht.

Dumpf dröhnte die Stimme des Extrasinns in mir. Aber in das Erschrecken darüber mischte sich die Freude, daß er sich nicht län-ger abkapselte.

Die Terraner kennen eine schöne Rede-wendung: Du solltest dich zuerst an die eige-ne Nase fassen.

»Was ist geschehen?« ächzte ich. Ich erin-nerte mich nur daran, geschossen zu haben. Daß ich unwillkürlich laut sprach, wurde mir erst klar, als Rico sich über mich beugte.

»Du mußt dich schonen, Atlan. Dein Kör-perbau ist anders als der unsere, empfindli-cher für äußere Einflüsse.«

»Unsinn.« Ich wälzte mich auf die Seite und richtete mich mühsam auf. Der Zellakti-vator auf meiner Brust sorgte dafür, daß das Gefühl, innerlich ausgetrocknet zu sein, rasch verschwand. »Ich will wissen, was geschehen ist.«

»Die Sicherung, die die Basis des Ersten Zählers daran hindern sollte, die Namenlose Zone zu verlassen, ist zerstört.«

»Sicherung?« fragte ich ungläubig. »Wie kann ich es dir erklären?« Rico zuck-

te mit den metallenen Schultern. »Es ist schwierig.«

»Fang einfach irgendwo an.« Ich ahnte be-reits, daß vieles anders war, als von mir ange-nommen. Allerdings reichten meine Mutma-ßungen nicht annähernd an das heran, was der Roboter zu berichten wußte.

»Erst aufgrund der letzten Vorfälle erhiel-ten wir Zugang zu einem bislang blockierten Speicher der Bordpositronik. Er beinhaltet das Programm, das ein Ausbrechen der Basis aus der Namenlosen Zone verhindern sollte. Son-derbarerweise ist es ausschließlich auf das Vorhandensein organischen intelligenten Le-bens abgestellt. Eine Aktivierung wäre zum Beispiel dann nicht erfolgt, wenn lediglich wir Roboter versucht hätten, ein anderes Kon-tinuum zu erreichen.«

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So überrascht wie Rico war ich nicht. Im-

merhin konnte ich eins und eins zusammen-zählen und besaß zudem den nicht zu unter-schätzenden Vorteil spontaner Intuition. Die-ses Programm, von dem die Rede war, war vermutlich ausschließlich für mich gemacht worden.

Eine gewagte Spekulation, wandte mein Extrasinn ein.

Aber keineswegs unwahrscheinlich, wie du sicher eingestehen wirst, gab ich in Gedanken zurück.

»Eine Art mechanisch-telepathischer Rück-kopplung erzeugte aus einer präparierten Menge Jenseitsmaterie ein Wesen nach dei-nen Vorstellungen, das zumindest äußerlich alle Eigenschaften materieller Existenz auf-wies.«

Der verschlossene Raum im Innern der Ba-sis kam mir in den Sinn. Waren die dort be-findlichen Aggregate zerstört worden, um Spuren zu verwischen? Es gab einen zeitli-chen Bezug zu unserem mißglückten Ver-such, in die wallende, brodelnde Helligkeit einzufliegen, und zu dem Ausfall der Steuer-triebwerke. Hatte ich zu jenem Zeitpunkt un-bewußt an die Woolver-Zwillinge gedacht und damit das Programm entscheidend beeinflußt? Unnötig, darüber nachzugrübeln, was geschehen wäre, hätte meine Erinnerung an einen Haluter dem Programm die entschei-denden Grunddaten geliefert.

Das macht es nicht leichter. »Du kannst dir deinen Kommentar erspa-

ren«, erwiderte ich heftig. »Wo warst du, als ich dich brauchte?«

Du wolltest meine Warnungen nicht hören, Atlan.

Ich hatte schon eine entsprechende Erwide-rung auf der Zunge, schwieg dann aber doch. Der Extrasinn gelangte gleichzeitig zu dersel-ben Erkenntnis wie ich und behauptete, ge-wisse Einflüsse hätten mich gegen ihn abge-schirmt.

Die Kosmokraten? Eine andere Frage zu stellen, wäre mir noch widersprüchlicher er-schienen.

Dreizehn Jahre hatten sie sich nicht um mich gekümmert. Dabei mußte ihnen mein Verschwinden schon vom ersten Tag an be-wußt gewesen sein. Und nun wurde offen-

sichtlich versucht, mich in der Namenlosen Zone festzuhalten. Zufall oder Absicht? Ich war geneigt, letzteres anzunehmen. Was er-wartete man von mir? Hatte ich eine Aufgabe zu erfüllen, ohne daß ich selbst davon wußte?

Du solltest dich lieber fragen, weshalb der Überlichtantrieb beschädigt wurde.

Um meine Flucht zu verhindern ... Natür-lich! Daß ich nicht sofort daran gedacht hat-te. Ich schlug mit der flachen Hand an meine Stirn. Das geortete Objekt vor uns stellte zweifellos eine Verbindung nach außen dar.

Jetzt erst recht! sagte ich mir. Falls mich jemand zurückhalten wollte, mußte er es nun offen zeigen.

*

Einen weiteren halben Tag benötigten wir

für den Flug bis in die unmittelbare Nähe des Ausgangspunkts der hyperenergetischen Stoß-fronten. Was die Bildschirme zeigten, war nur schwer zu definieren. Ein nahezu kreisförmi-ges Raumgebiet schien seine Struktur zu ver-ändern.

»Im Zentrum der zusammenlaufenden Gra-vitationsfelder befindet sich eine größere An-sammlung von Materie«, behauptete Rico.

»Wie weit können wir uns gefahrlos nä-hern?«

»Bis auf höchstens zwei Lichtsekunden Distanz. Darüber hinaus würden wir Gefahr laufen, daß die Basis von Schwerkraftfeldern schwankender Intensität zerrissen wird.«

»Aber nur wegen ihrer Größe.« Rico nickte, ohne zu erkennen, worauf ich

anspielte. »Ein kleineres Objekt, ein Beiboot viel-

leicht, könnte unbeschadet hindurchgelan-gen?«

»Ein guter Pilot wäre zweifellos in der La-ge ... Nein!« Abwehrend riß er die Arme hoch. »Das darfst du nicht riskieren, Atlan.«

»Wieso nicht? Ich bilde mir ein, zumindest ein leidlich guter Pilot zu sein.«

»Es wäre zu gefährlich.« »Eben sagtest du, es sei zu schaffen.« »Da wußte ich noch nicht, daß du ...« Rico wand sich förmlich vor Unbehagen.

»Ich fliege mit dir«, ließ er mich wissen. »Du bleibst. Schließlich brauche ich einen

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zuverlässigen Partner, der die Basis in Sicher-heit bringt, falls mir etwas zustößt. Wir dürfen die Lichtquelle nicht gefährden.«

Er ließ sich erst von einer Reihe von Ar-gumenten überzeugen, daß es besser war, so und nicht anders zu handeln. »Lebe wohl, Atlan«, sagte er. »Ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen.«

»Du urteilst vorschnell, Rico. Noch ist nichts geschehen, was uns trennen könnte.«

»Aber du sehnst ein solches Ereignis her-bei. Sei gewiß, ich werde die Basis des Ersten Zählers hüten wie meine Schaltkreise.« Damit wandte er sich um und ließ mich einfach ste-hen. Flüchtig spielte ich mit dem Gedanken, ihn doch mit mir zu nehmen. Aber sollte ich ihn wirklich aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen?

Von einem Transportband ließ ich mich zum Hangar tragen. Das Beiboot, das für mein Vorhaben am geeignetsten erschien, maß nicht einmal zehn Meter in der Länge. Es war leicht zu manövrieren und besaß darüber hinaus starke Schutzschirme.

Minuten später startete ich, und rasch blieb die Basis hinter mir zurück. Dann erfaßten verschieden starke Schwerkraftfelder das Boot, rissen es mit sich. Ich hatte Mühe, eine einigermaßen stabile Fluglage beizubehalten. Die Belastung der aktivierten Schirmfelder kletterte bis nahe an die Grenze des Tragba-ren.

Endlich ortete ich in der stärker werdenden Raumkrümmung ein materielles Gebilde. Zwei Stunden vergingen, bis ich es auch op-tisch ausmachen konnte.

Der Flug entwickelte sich zum Alptraum. Das Beiboot, kaum noch manövrierfähig, wurde zum Spielball unsichtbarer Kräfte. Mit Gegenschub hätte ich riskiert, die Kontrolle über die Triebwerke zu verlieren.

Schlagartig trat Ruhe ein, die mich an das Auge eines Wirbelsturms erinnerte.

Nur wenige hundert Kilometer vor mir schwebte eine große, würfelförmige Station im Raum. Ich konnte nichts Außergewöhnli-ches entdecken. Trotzdem leitete ich mehrere Umkreisungen ein. Mir war klar, daß ich auf einer der großen Außenflächen landen würde.

Den zwischen Aufbauten versteckten ku-gelförmigen Körper hätte ich fast übersehen.

Nur ein flüchtiges Ortungsecho machte mich darauf aufmerksam.

Die ÜBERZONE! Obwohl ich rein instinktiv reagierte und

noch versuchte, das Beiboot herumzuziehen, war es bereits zu spät. Starke Fesselfelder zerrten mich auf die Oberfläche der Station hinab.

6.

Anti-Homunk richtete sich schon darauf

ein, den Arkoniden gebührend in Empfang zu nehmen, als völlig unerwartet die Basis des Ersten Zählers, noch Hunderte von Lichtjah-ren entfernt, an Geschwindigkeit verlor und schließlich fast ganz stoppte.

Hatte Atlan die Falle erkannt? Das erschien unwahrscheinlich. Immerhin waren die Or-tungen der Basis nicht empfindlich genug, um die Ursache der Stoßfronten aufzudecken. Aber an einen Zufall mochte der Androide ebenso wenig glauben.

Er begann, sich wieder mit dem Null-Gard zu befassen. Ohne die Zentrale zu verlassen, leitete er den Umwandlungsprozeß ein. Das Zellplasma und die restliche geistige Substanz der Gardianer würden dabei innerhalb kürzes-ter Frist endgültig voneinander getrennt wer-den. Was keineswegs gleichbedeutend sein mußte mit dem Verlust jeglicher Intelligenz. Vielmehr verstand Anti-Homunk den Vor-gang so, daß die Plasmamasse zwar ihr Ego, nicht aber ihren eigenen Willen behalten konnte. In dem Sinne würden die Gardianer sowohl als Einzelwesen als auch als Kollektiv zu existieren aufhören.

Auf einem kleinen Monitor verfolgte der Androide, wie das Null-Gard sich von den Wänden löste und, wenn auch widerstrebend, allmählich Kugelform annahm. Gut fünf Me-ter durchmaß dieses neue Gebilde. Und in seinem Innern entstand ein Hohlraum von drei Metern Durchmesser – groß genug, um dem Androiden einen bequemen Aufenthalt zu ermöglichen.

Asgard, diesen Namen gab Anti-Homunk der im Entstehen begriffenen Kugel, würde ein in jeder Hinsicht perfektes organisches Raumschiff werden. Wenn alles nach Plan verlief, mußte sein Beschleunigungsvermögen

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später bis zu 50m/sec2 betragen.

Der Diener von Anti-ES vernahm die laut-losen Schreie der Gardianer, die sich gegen die Trennung zur Wehr setzten. Schließlich verstummten sie. Es war nicht ihr Tod. Gleichwohl erschien ihnen die Verbannung in die Namenlose Zone schlimmer als jedes an-dere Schicksal. Wenn sie auch im Lauf der Zeit vergessen mochten, ihr Haß auf Anti-ES würde nie erlöschen.

*

Die Arltra-Ranger hatten versagt und waren

dafür bestraft worden. Aber ARCHITEKT gab sich damit nicht zufrieden. Er wollte die Quelle der Jenseitsmaterie besitzen. Sie zu bekommen, erschien ihm jedes Mittel recht. Auch die Verzögerung eines erst begonnenen großangelegten Versuchs innerhalb der Gala-xis Xiinx-Markant, in dem ein kampf- und überlebensfähiges Volk gefunden werden sollte.

Im Aulerbaul-System, in der Randzone der Galaxis gelegen, waren vier Kriegsschauplät-ze im Entstehen begriffen, auf denen die Waf-fen verschiedener Zeitalter zum Einsatz kommen sollten. In anderen Abschnitten be-gannen die Vertreter raumfahrender Rassen in fieberhafter Eile mit dem Ausbau von Stütz-punktwelten. Nicht mehr lange, dann würden ihre Kriegsflotten aufeinanderprallen und ers-te Entscheidungen herbeiführen. ARCHI-TEKT räumte dabei den Vereisern große Chancen ein, und sein Werkzeug, der Namen-lose, stellte ähnliche Prognosen auf.

Die Vorarbeiten waren langwierig gewesen und hätten sich ohne die Hilfe des Wissen-schaftlervolks der Vei-Munater wohl als nur schwer durchführbar erwiesen. Immerhin durfte die Aggression erzeugende Strahlung bei ihrer Umsetzung über die Mentalrelais nicht einmal Schwankungen unterworfen sein. Die Dunkelwolke in der Zentrumsregion von Xiinx-Markant war ebenfalls erst im Entste-hen begriffen.

Mit Bedauern dachte der Namenlose an all dies, während ein Teil von ihm sich anschick-te, die Hülle der Namenlosen Zone aufzubre-chen. Der andere Teil blieb bei der zukünfti-gen Kriegszelle zurück. Es würde sich heraus-

stellen, ob die reibungslose Fortsetzung des Experiments gewährleistet war.

Die energetische Spur der Molaaten war ausgelöscht. Der Namenlose wußte nicht, wo die Quelle der Jenseitsmaterie sich befand. Auf der Suche nach einem Anhaltspunkt tas-teten seine Fühler durch die endlose Schwärze des neuen Raumes. Er fand einen kleinen, ausgehöhlten Himmelskörper, den eine be-deutungsvolle Aura umgab. Ähnliches hatte er nur bei ARCHITEKT wahrgenommen. Aber noch ehe er weiter vordringen konnte, wurde er angegriffen. Das Fremde fügte ihm Schmerzen zu und stieß ihn weit von sich.

Plötzlich vernahm er verwehende Stimmen. Dort, von wo sie kamen, fand sich eine Spur. Er zögerte nicht, das materielle Objekt aufzu-suchen.

*

Wiederholt hatte Anti-Homunk einen Blick

auf die Ortungsergebnisse geworfen und da-bei festgestellt, daß die Basis des Ersten Zäh-lers ihre Position nicht mehr veränderte. Um so überraschter war er, sie plötzlich in unmit-telbarer Nähe des Gards zu sehen.

Die ÜBERZONE meldete sich über Funk und unterbrach damit die Überlegungen des Androiden.

»Seit Stunden versuche ich, dich zu errei-chen, Anti-Homunk. Was ist geschehen?«

»Nichts, worüber du dir Gedanken machen müßtest. Die eingeleitete Umformung des vorhandenen Zellmaterials beansprucht meine volle Aufmerksamkeit. Ein Fehler könnte unangenehme Folgen nach sich ziehen.«

Die ÜBERZONE ging nicht darauf ein. »Ein kleines Schiff umkreist das Gard in ge-ringem Abstand«, meldete sie. »Soll ich von den Waffen Gebrauch machen?«

»Auf keinen Fall. Das kann nur Atlan sein. Zwinge das Boot zur Landung, ich werde mich selbst um ihn kümmern.«

Ausgerechnet jetzt begann eine der kriti-schen Phasen in der Konditionierung des Null-Gards, die dessen Willensbildung betraf.

Mit einem raschen Blick überzeugte der Androide sich noch einmal davon, daß alles den vorausberechneten Ablauf nahm. Dann verließ er die Zentrale. Er fragte sich, ob At-

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

lan ihn wiedererkennen würde. Immerhin hat-te er sich in den letzten Tagen weitgehend verändert. In seinem Aussehen glich er jetzt einem Arkoniden, denn er hatte Atlan als Vorbild für seine Vervollkommnung gewählt.

*

Bevor ich den Helm meines Raumanzugs

schloß, überprüfte ich noch einmal die fremde Waffe. Im Grunde war ich froh, wenigstens etwas zu besitzen, mit dem ich mich wir-kungsvoll verteidigen konnte. Der Wählschal-ter stand auf Lähmung. Ich zögerte nur kurz und stellte dann auf Impulsstrahlen um. Wenn das kleine Kugelschiff, das ich flüchtig gese-hen hatte, wirklich die ÜBERZONE war, und daran bestanden eigentlich keine Zweifel, mußte ich gewiß sein, über kurz oder lang mit Anti-Homunk zusammenzustoßen. Der And-roide würde sich mir gegenüber kaum freund-lich verhalten.

Ich umgab das Beiboot mit einem Schutz-schirm, um Gewißheit zu haben, daß kein Unbefugter eindringen konnte und mir den Rückweg abschnitt.

Immer wieder kam es zwischen den deut-lich erkennbaren Gravitationslinien im All zu grellen Entladungen.

Mit weit ausgreifenden Sprüngen bewegte ich mich über die Oberfläche des Würfels, bis ich endlich eine Mannschleuse fand. Nach deren Ausmaßen zu urteilen, mußten die Er-bauer der Station an die drei Meter groß sein. Der daran anschließende Gang war ebenfalls gut dreieinhalb Meter hoch. In wechselnden Farben erstrahlten die Wände aus sich heraus, so daß jede Art von Beleuchtung überflüssig wurde. Allerdings machte das ungewohnte Licht es schwer, Entfernungen oder überhaupt Relationen abzuschätzen. Alles schien ir-gendwie in steter, fließender Bewegung beg-riffen zu sein.

Ich begann mich zu fragen, wie die Unbe-kannten aussehen mochten und vor allem, über welche Art von Sinnesorganen sie ver-fügten. Vermutlich war diese Umgebung von Facettenaugen am besten zu erfassen. Über-große, intelligente Insekten also? Ich war dar-auf gefaßt, ihnen jeden Augenblick zu begeg-nen. Außerdem hoffte ich nach wie vor, die

mehrere Lichtminuten durchmessende Raum-senke könnte eine der geheimnisumwitterten Materiequellen sein. Stellte dann der Würfel, in dessen Innerem ich mich befand, eine Schaltstation dar? Allerdings widersprach sich das alles irgendwie.

Je weiter ich vordrang, desto mehr gewöhn-te ich mich an die herrschenden Verhältnisse. Der in den Raumanzug integrierte Analysator zeigte eine für mich atembare Zusammenset-zung der Atmosphäre an. Sowohl der Sauer-stoffanteil als auch der Gehalt an Edelgasen waren um einige Prozent höher als gewohnt, dafür lag der Stickstoffwert unter der Norm. Und was die Untersuchung nicht erbracht hatte, das stellte ich fest, als ich den Helm zurückklappte. Die Luft roch angenehm frisch.

Da die Außenregion des Würfels allem An-schein nach nur leere Hangars und Lagerräu-me aufzuweisen hatte, hielt ich mich hier nicht lange auf. In einem großen runden Schacht, der vermutlich zur Aufnahme sperri-ger Lasten diente, ließ ich mich nach unten tragen, wobei ich als »unten« konsequenter Weise den Mittelpunkt der Station bezeichne-te.

Völlig unerwartet wurde ich sanft abge-bremst und auf eine Öffnung in der Schacht-wand gezogen. Das mich einhüllende Ener-giefeld widerstand allen Bemühungen, es zu durchbrechen. Aber es wich schlagartig, als ich wieder festen Boden unter den Füßen ver-spürte. Mein Extrasinn signalisierte Gefahr.

Die Rechte am Knauf des Strahlers, ging ich weiter in den Korridor hinein. Ich glaubte zu spüren, daß da etwas auf mich lauerte. Mehrere Abzweigungen blieben mir versperrt; die flimmernden Felder bauten sich immer erst dann auf, sobald ich meine Schritte in die betreffende Richtung lenkte. Jemand beo-bachtete mich demnach. Anti-Homunk? Dar-an glauben, daß diese Vorgänge positronisch gesteuert wurden, wollte ich nicht.

Die Funkverbindung zur Basis des Ersten Zählers war zusammengebrochen, kurz bevor ich die Station erreicht hatte. Ich konnte nur hoffen, daß die Roboter, auf sich allein ange-wiesen, keine Dummheiten begingen oder versuchten, mir zu folgen.

Aufpassen! warnte der Extrasinn.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Ein Mann stand unvermittelt vor mir, groß

und hager, und das blonde Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern. Ich vermochte nicht festzustellen, woher er gekommen war.

»Willkommen im Gard«, sagte er auf arko-nidisch.

Wie zum Beweis, daß er unbewaffnet war und keinerlei böse Absichten hegte, hob er die Arme, als er auf mich zueilte. Dicht vor mir blieb er stehen, in seinen roten Albinoaugen lag ein stilles Lächeln.

War das Anti-Homunk, der Helfer und Diener von Anti-ES? Zumindest Zweifel konnten daran aufkommen. Immerhin bedien-te er sich eines Idioms, wie es vor Jahrtausen-den auf den Planeten des Arkon-Systems ge-sprochen worden war.

Andererseits durfte es der Superintelligenz nicht schwerfallen, ihm umfassende Sprach-kenntnisse zu vermitteln.

Sieh dir seine Kleidung an! Wie einen weit fallenden Umhang trug

mein Gegenüber ineinander verschlungene Tücher. Verbarg er Waffen darunter?

»Benjamin Vouster«, sagte ich. »Der bist du doch, oder?«

Wenn es Anti-Homunk war, so hatte er sich mustergültig unter Kontrolle. Er hob nur kurz die Brauen, als meine Finger sich um den Griff des Strahlers schlossen.

»Hast du deine Herkunft wirklich verges-sen? Weißt du auch nichts mehr von deiner Schwester Iray?«

»Ich verstehe dich nicht.« »Lassen wir das Versteckspiel. Während

meines Anflugs auf diese Station habe ich die ÜBERZONE entdeckt.«

Seine Haltung veränderte sich schlagartig. »Es war dein Fehler, Arkonide, ohne aus-

reichende Rückendeckung in das Gard zu kommen. Oder verläßt du dich auf die Robo-ter der Basis des Ersten Zählers? Glaube mir, sie schlottern vor Furcht, sobald sie erfahren, wer sie erwartet.«

Also doch. Ich war dumm genug gewesen, Anti-ES und seinem Diener in die Falle zu gehen. In einem Gefühl sichtbarer Überlegen-heit blickte Anti-Homunk mich herablassend an.

»Das Blatt hat sich gewendet, Atlan. Dies-mal kann dir auch die Lichtquelle nicht mehr

beistehen. Du bist in meiner Gewalt.« »Will dein Herr mich erneut als Geisel

nehmen? Anti-ES sollte eingesehen haben, daß die Kosmokraten sich nicht erpressen lassen.«

Der Androide lachte. Es war dasselbe über-hebliche Lachen, wie Anti-ES es oft hatte hören lassen.

Wenn du vernünftig wärst, würdest du dich jetzt herumwerfen und fliehen, durchzuckte es mich. Aber zugleich wußte ich, daß ich nicht weit kommen würde. Der Androide hatte ge-wiß seine Vorkehrungen getroffen.

»Wer sagt dir, daß Anti-ES dich lebend will?«

Ich zuckte kurz zusammen, hatte jedoch keine Mühe, meine Erregung zu verbergen.

»Tot nütze ich ihm nichts.« »Aber mir, Atlan.« Wieder lachte der

Kunstmensch. »Du sollst ein Teil von mir werden, ohne eigenen Willen natürlich, doch mit deinem ganzen Wissen und Können. Wir beide werden unschlagbar sein.«

Ich erwiderte seinen spöttischen Blick. »Dazu müßtest du mich zwingen, Benjamin

Vouster.« »Nenne mich nicht immer mit diesem Na-

men. Ich kenne ihn nicht.« Da ist etwas, behauptete mein Extrasinn. Ich zog den Strahler und richtete die Ab-

strahlmündung auf Anti-Homunk, ohne der Bemerkung sonderlich Wert beizumessen.

»Wir werden jetzt beide gemeinsam zur ÜBERZONE zurückgehen.«

»Glaubst du wirklich, mich damit ein-schüchtern zu können?«

Wenn ich ehrlich sein sollte, ich glaubte es nicht. Aber irgend etwas mußte ich schließ-lich tun.

Das ist die Gewißheit, daß du nichts aus-richten kannst, bemerkte der Logiksektor.

Soll ich mich geschlagen geben? Zumindest abwarten, was der Gegner vor-

hat. Ich sagte doch eben, daß da etwas ist. Es versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen.

Die Rechte fordernd ausgestreckt, kam An-ti-Homunk auf mich zu.

»Bleib, wo du bist!« warnte ich ihn. Als er sich davon nicht aufhalten ließ, schoß ich. Der gleißende Impulsstrahl floß eine Handbreit vor dem Androiden auseinander und zeichne-

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

te die Umrisse eines bislang unsichtbaren Schutzschirms nach. Inmitten wabernder Glut schritt Anti-Homunk weiter. Ich wich zurück, obwohl mir mein Verstand sagte, daß der auf diese Weise erreichte Aufschub unerheblich war.

War das eigenartige Flimmern entlang der Gangwand schon vorhin dagewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, es wahrgenom-men zu haben. Die Bemerkung des Extrasinns gewann damit schlagartig an Bedeutung.

Du irrst dich, flüsterte es in mir. Ich spürte die Anwesenheit der eigentlichen Herren des Gards. Das hier ist etwas anderes, erschre-ckend Fremdartiges.

Auch Anti-Homunk hatte die Erscheinung bemerkt. Als könne er plötzlich nicht länger warten, sprang er mich an. Der Strahler wurde mir aus der Hand gerissen und rutschte über den Metallplastikboden. Die Finger des And-roiden umklammerten meinen Hals. Ich be-kam keine Luft mehr, sah Anti-Homunks grinsendes Gesicht dicht vor mir und setzte zu einem Dagor-Griff an, unter dem jeder andere schlagartig zusammengebrochen wäre. Er aber ließ nur ein leises Ächzen vernehmen. Sein Griff lockerte sich zwar, dennoch kam ich nicht frei.

Die Impulse des Zellaktivators auf meiner Brust wurden deutlich spürbar. Vielleicht hat-te ich es ihm zu verdanken, daß ich überhaupt noch bei Besinnung war. Indem ich Anti-Homunks Handgelenke umklammerte und mich fallen ließ, versuchte ich noch einmal, ihn abzuschütteln. Es gelang mir nicht, auch nicht, als ich ihm meine Knie in den Leib stieß.

Wir haben Verbündete, wisperte der Extra-sinn. Was er mir außerdem mitteilen wollte, ging im Meer des Vergessens unter, als die Bewußtlosigkeit sich wie ein schwarzes Tuch auf meine Gedanken legte.

*

Während der Auseinandersetzung mit Atlan

hatte er das Fremde zum erstenmal gespürt, und in den darauffolgenden Stunden wurde offenbar, daß ein ihm in mancher Hinsicht ähnliches Wesen an Bord des Gards sein Un-wesen trieb. Anti-Homunk fand Spuren, die

einwandfrei bewiesen, daß der andere seine Bemühungen zu unterlaufen versuchte.

Weder die ÜBERZONE noch die empfind-lichen Meßgeräte der Station hatten die An-kunft eines weiteren Raumschiffs registriert. Bestand die Möglichkeit, daß der Gegner gar nicht von außerhalb kam?

In Eile überprüfte der Androide sämtliche Auswirkungen des Umformvorgangs. Das Zellplasma der Gardianer hatte sich längst zu der gewünschten Kugelform zusammengezo-gen. Auch der Hohlraum in seinem Innern war vorhanden. Asgard würde darin aus sich heraus beliebige Atmosphären erzeugen und über längere Zeiträume hinweg erhalten kön-nen. Er würde auch eine eigene Intelligenz entwickeln, deren Sitz sich gleichmäßig auf die einen Meter dicke »Haut« verteilte. Eben-falls in der Anlage vorhanden waren bereits die Organe, deren wichtigstes die Erzeugung künstlicher Schwerkraft bis zu fünf Gravos in beliebigen Richtungen ermöglichte.

Selbstverständlich hatte Anti-Homunk ein-kalkuliert, daß Asgard bei allen Aktionen ständig geringe Mengen seiner Substanz verbrauchen mußte. Aus diesem Grund war die Aufnahme organischer Nahrung pro-grammiert, in der Regel pflanzlicher Natur. Die Kugel würde aber auch Kunststoffe und ähnliche auf Kohlenstoffbasis beruhende Dinge verdauen, das heißt in körpereigenes Plasma überführen können.

Sämtliche Vorgänge liefen fehlerfrei ab. Nur eine größer werdende Durchlässigkeit des zentralen Raums hinsichtlich psionischer Im-pulse irritierte Anti-Homunk. Allerdings brauchte er von daher keine Gefährdung zu befürchten, denn das Plasma besaß längst keinen eigenen Willen mehr.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Er war nicht eine Sekunde lang überrascht, als er sich einem fast drei Meter großen, hageren Ge-schöpf gegenübersah. Zwei facettenartige Stielaugen starrten ihn unbewegt an. Sie rag-ten aus einem glatten, ovalen Schädel hervor, der als einziges erkennbares Organ in seiner Mitte einen dünnen, zusammengerollten Saugrüssel trug.

Ein Gardianer ... Auf zwei Beinen, mit ei-nem dritten, verkümmerten Glied stetig sein Gleichgewicht ausbalancierend, näherte er

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sich Anti-Homunk.

Der Androide zögerte nicht. Er riß den Strahler hoch, den er Atlan abgenommen hat-te, und schoß.

Trotz der tödlichen Glut ließ sich der Gar-dianer nicht aufhalten. War sein Chitinpanzer derart widerstandsfähig?

Anti-Homunk spürte, daß dieses Geschöpf ihm glich.

»Du ... bist der Namenlose?« brach es aus ihm hervor.

Im selben Moment, als sein Finger vom Auslöser der Waffe glitt, verschwand der vermeintliche Gardianer vor seinen Augen.

*

Kurz darauf zeigten die Kontrollgeräte

kleinere Lecks in der Wandung des zentralen Raumes. Dem Androiden wurde sofort klar, wer dafür verantwortlich war.

Der Namenlose war gekommen, um die Quelle der Jenseitsmaterie in seinen Besitz zu bringen. Vermutlich hatte er die in unmittel-barer Nähe befindliche Basis des Ersten Zäh-lers geortet.

Mit einigen technischen Hilfsmitteln verse-hen, eilte Anti-Homunk den zum Mittelpunkt des Gards führenden Korridor entlang.

Der Namenlose erwartete ihn in anderer Gestalt als zuvor. Er hatte seine Masse dreige-teilt, und die jeweils knapp einen Meter gro-ßen menschenähnlichen Geschöpfe glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sofort grif-fen sie Anti-Homunk an, der Mühe hatte, sich ihrer zu erwehren. Dabei stellte er fest, daß die Körper nur zu einem Bruchteil wirklich aus Materie bestanden. Alles andere war nicht viel mehr als bloße Spiegelung.

»ARCHITEKT soll sich aus der Namenlo-sen Zone fernhalten«, rief er wütend. »Sag ihm das. Wir dulden nicht, daß jemand unge-fragt in unseren Bereich eindringt.«

»Wer ist wir?« erklang es in den Gedanken des Androiden. »Keiner ist ARCHITEKT und seinem Werkzeug überlegen. Noch weilt der Rest meiner Existenz in Xiinx-Markant, sonst hätte ich dich längst hinweggefegt.«

Zwischen den beiden entspann sich ein lautloser Zweikampf, ein Hin und Her geisti-ger Kräfte, das ihre Gleichartigkeit höchstens

noch unterstrich. In Anti-Homunk wuchs die Erkenntnis, daß er diesen Gegner schnell be-siegen mußte, wollte er nicht irgendwann der Unterlegene sein. Der Namenlose versuchte, ihn zu beeinflussen. Jetzt zeigte sich, daß die integrierten Plasmaten ihn tatsächlich davor schützten.

Anti-Homunk spürte, daß der andere die Macht besaß, ihn aus der Namenlosen Zone zu schleudern, mit sich zu reißen in jenes U-niversum, das Anti-ES für zehn Relativ-Einheiten versperrt war. Ein flüchtiger Au-genblick genügte, ihn erkennen zu lassen, welche Vielfalt von Leben zwischen den Sternen existierte. Den Hauch einer Ahnung, daß auch er einst auf einem Planeten zu Hause gewesen war, verdrängte er rasch.

Mit Genugtuung registrierte Anti-Homunk, daß der Namenlose schwächer wurde. Sofort setzte er nach, doch das Werkzeug von AR-CHITEKT floh im entscheidenden Moment; er spürte nur, daß sein Gegner sich nach wie vor im Gard aufhielt.

7.

Das Erwachen war von fürchterlichen

Kopfschmerzen begleitet. Um mich her lag jener Schimmer, der die Wände des Gards auszeichnete. Ich brauchte mich nur umzuse-hen, um festzustellen, daß der Raum, in dem ich mich befand, höchstens sechs Meter im Quadrat maß. Es gab keinerlei Einrichtungs-gegenstände, nicht einmal ein Schott schien vorhanden zu sein. Die Wände wirkten wie aus einem Guß.

Bedrückend wurde mir klar, was geschehen war. Ich hätte wohl besser auf Rico gehört und einige Roboter zu meinem Schutz mitge-nommen. Aber jetzt war es zu spät, um mir deswegen Vorwürfe zu machen. Nun galt es, aus einer verfahrenen Situation das Beste zu machen. Ich war selbst schuld. Hatte ich viel-leicht geglaubt, Anti-Homunk würde mich schonen, nur weil er aus der umgewandelten Zellmasse eines Terraners entstanden war?

Das hast du, stichelte der Extrasinn. Aber das Glück kann nicht immer auf deiner Seite sein.

Warum sollte ich mich geschlagen geben? erwiderte ich zornig.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Weil du keinen Ausweg siehst. Die Beto-

nung lag dabei so überdeutlich auf dem Wört-chen »du«, daß ich unwillkürlich stutzig wur-de.

Du verheimlichst mir etwas? Willst du mir wieder Vorwürfe machen,

Beuteterraner? Nein, gewiß nicht. Aber du hattest die An-

wesenheit von etwas Fremdem festgestellt. Wie lange ist das inzwischen her?

Einige Stunden, die du ohne Besinnung warst. Die Gardianer sind – oder vielleicht sollte ich besser sagen: waren ein friedlie-bendes Volk. Leider half ihnen das herzlich wenig gegen ein Überwesen wie Anti-ES. Bis auf einen Rest ihres Geistes, der untrennbar mit den Zellkernen ihrer einstigen Körper verbunden ist, wurden sie vernichtet oder in alle Winde verstreut. Anti-Homunk raubt ih-nen nun den letzten Rest ihrer Identität und formt sie nach seinem Willen um.

Dann sind sie nicht in der Lage, uns zu hel-fen, stellte ich unumwunden fest.

Die Gardianer verständigten sich nur tele-pathisch. Du kannst sie nicht mehr verstehen, aber ich bin sensibler für ihre Mitteilungen. Von ihnen weiß ich, welcher Apparaturen Anti-Homunk sich bedient. Wenn wir diese zerstören, könnten wir ihm und Anti-ES damit eine Niederlage zufügen.

Und wie, wenn ich fragen darf? Immerhin sitzen wir hier fest.

Abwarten. Anti-Homunk hat einen weiteren Gegner. Er nennt sich der Namenlose und ist ein Werkzeug von ARCHITEKT.

Die Überraschung war perfekt. Ich hatte die Bezeichnung ARCHITEKT für den Unbe-kannten im Hintergrund zum erstenmal wäh-rend des Überfalls der Arltra-Ranger auf die Basis gehört. Wenn sie nun wieder fiel, be-deutete das nichts anders, als daß der Namen-lose gekommen war, um die Quelle der Jen-seitsmaterie in seinen Besitz zu bringen.

Damit wird er zwar nicht automatisch zu deinem Verbündeten, bemerkte der Logiksek-tor, aber wenn es gelingt, ihn und Anti-Homunk gegeneinander auszuspielen, bist du ein gutes Stück weiter.

Bei alldem kam ich mir herzlich überflüssig vor. Wer spielte eigentlich für wen Schicksal? Hielt Anti-ES wirklich alle Fäden in der

Hand, wie es bislang noch schien, oder war die Superintelligenz durch die Kosmokraten längst zu einer Figur von vielen in einem un-durchschaubaren Spiel degradiert worden?

Und welche Rolle kam mir dabei zu? Ich war hilflos, aber mein Extrasinn dachte

für mich und leitete Winkelzüge ein, deren Ausmaß nicht überschaubar war. Ich mußte es mir allein schon deshalb gefallen lassen, weil mir keine andere Wahl blieb.

Du machst dir wieder einmal viel zu viele Gedanken, erklang es spöttisch.

Das jäh verblassende Farbenspiel der Wand vor mir lenkte meine Aufmerksamkeit ab. Das Metall wurde transparent.

Steckst du dahinter? fragte ich spontan. Nicht direkt. Der Namenlose ... Mein Extrasinn paktierte also mit einem

unserer Gegner. Ich wußte nicht, ob ich des-halb wütend sein sollte oder erleichtert. Im-merhin befürchtete ich, vom Regen in die Traufe zu geraten.

Mit einer unwilligen Handbewegung wischte ich sämtliche Bedenken beiseite. Es wurde Zeit, daß ich meine alte Entschlußkraft zurückgewann. Sollte ich mir am Ende Vor-haltungen machen müssen, daß ich mit mei-nen zwölftausend Jahren allmählich alt wur-de? Gerade die Erfahrung eines an Abenteuer reichen Lebens sagte mir, daß es immer einen Weg gibt. Ich mußte ihn nur finden.

Nächste Abzweigung links. Mach schon! drängte der Extrasinn. Das ist der Weg.

Unwillkürlich mußte ich lächeln. Die eine Wand meines Gefängnisses existierte nicht mehr. Ich rannte los. Wenn allerdings Anti-Homunk ...

Der Namenlose lenkt ihn ab – er will, daß wir die Umwandlung von Asgard stoppen.

Ein Antigravschacht ... Ich stieß mich ab und schwebte nach oben. Von irgendwoher erklangen seltsame Geräusche.

Wir müssen uns beeilen. Der Namenlose droht zu unterliegen. Anti-Homunk ist stärker geworden.

Endlich erreichte ich einen großen Raum, vermutlich die Zentrale. Der Extrasinn diri-gierte mich an eine Reihe von Schaltpulten, die sich kaum von den übrigen abhoben. Ich konnte nur annehmen, daß er sein Wissen von Asgard bezog. In diesen Minuten wurde ich

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

zum reinen Befehlsempfänger meines zweiten Ichs.

Damit machen wir Anti-Homunks Vorha-ben zunichte, dem im Entstehen begriffenen neuen Wesen seine eigene Geisteshaltung aufzuzwingen und es zu einem willigen Helfer von Anti-ES ... Jäh verstummte der Extrasinn. Zugleich verspürte ich ein schmerzhaftes Ste-chen in den Schläfen, das bis in den Nacken hinein ausstrahlte. Als es schwand, blieb ein Gefühl der Leere.

Was ist? fragte ich lautlos, ohne jedoch ei-ne Antwort zu erhalten.

Aus der Überraschung, die ich empfand, wurde Erschrecken. Mein Extrasinn war wie-der verschwunden.

Deutlicher als je zuvor wurde mir bewußt, wie sehr ich ihn brauchte.

*

Zwei Wesen, jedes dazu geschaffen, einem

weit mächtigeren zu dienen, bekämpften ein-ander. Sie waren nicht kleinlich in der Wahl ihrer Mittel, wußten sie doch, daß es zum ers-tenmal in ihrem Dasein wirklich um ihre E-xistenz ging. Dabei hätten sie gemeinsam mit ihren Herren das Universum erobern können.

Auf das Gard nahm keiner von ihnen Rück-sicht. Sie bedienten sich sogar dessen fortge-schrittener Technik, um jeweils die Oberhand zu erringen. Daß dabei ganze Sektionen der Station der Zerstörung anheim fielen, daß an vielen Stellen unlöschbare Brände aufloderten oder Vakuumeinbrüche erfolgten, war eine zwangsläufige Folge.

Sie waren wie aus Fleisch und Blut, aber in jedem von ihnen steckte viel mehr, als es den Anschein hatte. Zeitweise mußte Anti-Homunk gegen drei Gegner kämpfen, bis er endlich die Vorgehensweise des Namenlosen durchschaute. In einer überraschenden Akti-on, in der er den Strahlungsbereich eines kri-tisch werdenden Reaktors durchschritt, ohne Schaden zu nehmen, gelang es ihm, dem Werkzeug von ARCHITEKT einen Teil sei-ner Masse zu rauben. Augenblicke später exp-lodierte der Reaktor. Anti-Homunk wurde von glühenden Trümmern getroffen und schwer verletzt, er brachte es aber trotzdem fertig, den Namenlosen von sich fernzuhalten,

bis er sich wieder voll regeneriert hatte. Jetzt kam ihm das Plasma der Gardianer zugute, das ihn in die Lage versetzte, die Absichten seines Gegners zu durchschauen.

*

Mir war klar, daß Atlan nicht verstand, was

geschah, aber ich, sein Extrasinn, hatte nicht auf eine Entscheidung warten können. Er war keinesfalls so labil, daß ihn der Schock über mein neuerliches Verschwinden schwer tref-fen mußte, andererseits war ich aufgrund meines Wissens zum Handeln gezwungen worden. Jede Verzögerung hätte für ihn, und damit auch für mich, unangenehme Folgen haben können.

Von Asgard, dessen Gedanken allmählich verblaßten, wußte ich, was geschehen war. Ich fühlte mich verpflichtet zu helfen. Keines-falls durfte ich diesen Überrest eines friedlie-benden Volkes kampflos Anti-ES und seinem Androiden überlassen.

Die Maschine, die für Asgards Umwand-lung verantwortlich war, hatte mich von Atlan fortgerissen. Vorübergehend war ich in einem rasenden Wirbel von Empfindungen gefangen und verlor vollkommen die Orientierung. Furcht stieg in mir auf, ich könnte den Weg zurück nicht mehr finden, würde wie die See-len der Gardianer hinausgeschleudert in die ewige, endlose Schwärze der Namenlosen Zone.

Dann umfing mich etwas Warmes, Wei-ches, und ich fühlte mich wieder geborgen. Für kurze Zeit war ich Asgard. Meine Gefüh-le, Gedanken und Empfindungen wurden von ihm aufgesogen wie von einem trockenen Schwamm. Dieses neue Geschöpf wehrte sich gegen das Böse. Ich allein konnte ihm helfen und ihm das geben, was seine künftige Exis-tenz prägen würde.

Fast sträubte ich mich gegen den Einfluß der Maschine, der erneut übermächtig wurde und mich von Asgard trennte. Ich stürzte durch einen endlos langen, finsteren Korridor, und mir war, als verstreiche eine kleine E-wigkeit. Als dieser Sturz endlich endete, fand ich mich in Atlans Gegenwart wieder.

Hast du lange auf mich gewartet? Mehr brachte ich nicht hervor.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Einige Minuten, erwiderte er. Wo warst du?

* Schlagartig erloschen sämtliche Skalen und

Kontrollen. Das Licht innerhalb der Zentrale begann zu flackern.

Das ist völlig logisch, wisperte der Extra-sinn. Anti-Homunk und der Namenlose haben die Energiestation erreicht. Komm endlich.

Wohin? fragte ich verwundert. Wir treffen Asgard. Wenn hier bald alles

drunter und drüber geht, sind wir nur bei ihm sicher.

Er drängte mich einfach vorwärts. Wir betraten Gänge und Antigravschächte, die ich bislang noch nicht gesehen hatte. Rein ge-fühlsmäßig stellte ich fest, daß wir uns über Umwege dem Mittelpunkt des Gards näher-ten.

Plötzlich schwebte die Kugel vor uns. Sie durchmaß gut fünf Meter. Ihre Außenhülle war übersät von vielfältigen, fremdartigen Mustern und Zeichnungen, die sich stetig ver-änderten.

Das, ließ der Extrasinn mich wissen, ist As-gard.

Die Kugel kam langsam näher. So etwas wie Schriftzüge huschten über ihre Hülle. FREUND, konnte ich gleich darauf lesen, und zwar in Interkosmo.

Alles, was du siehst, ist Ausdruck von As-gards Gefühlsleben. Er versteht es, auf diese Weise gezielt Mitteilungen zu machen.

Wie zur Bestätigung veränderte sich die Oberfläche der Kugel erneut. Ich erschrak, denn was da in einer rasch ablaufenden Bild-folge entstand, war das Gard, das explodierte und verglühend in sich zusammenfiel.

Bis auf weniger als vier Meter war Asgard herangekommen, als ich eine leise wispernde Stimme in meinen Gedanken vernahm. Das heißt, sie sprach zu meinem Extrasinn, aber ich konnte verstehen, was sie sagte.

Die Vernichtung der Station ist nicht mehr aufzuhalten. Du mußt mit mir gehen.

»Das Beiboot, mit dem ich kam, wird mich zur Basis zurückbringen«, erwiderte ich.

Die Gravitationsströmung würde dich zer-malmen, sobald der stabilisierende Energie-ausgleich durch das Gard versiegt.

Asgard hat recht, bestätigte der Extrasinn. Dir bleibt keine andere Wahl, als dich ihm anzuvertrauen.

In der Kugelhülle entstand eine schmale Öffnung, gerade groß genug, daß ich gebückt hindurchschreiten konnte. Kurz entschlossen folgte ich dieser Einladung. Im Innern erwar-tete mich ein ebenfalls kugelförmiger, drei Meter durchmessender Hohlraum. Die Luft, die ich atmete, war rein und würzig. Der Ext-rasinn ließ mich wissen, daß die verbrauchte Atmosphäre von Asgard stetig erneuert wür-de. Über ihn erfuhr ich auch, welche Wahr-nehmungen die so fremdartig anmutende In-telligenz hatte. Ansonsten war ich von der Außenwelt abgeschnitten.

*

Asgard spürte die beiden Kämpfenden in

einem leerstehenden Hangar in unmittelbarer Nähe der Energiewandler auf. Anti-Homunk hatte sich mit einer Aura umgeben, die auf andere Lebewesen beruhigend und zugleich abschreckend wirken sollte.

Obwohl am Ende seiner Kräfte angelangt, versuchte der Namenlose verbittert, seinen Gegner zu überwältigen, der Stück für Stück neue Substanz in sich aufnahm und damit zusehends unüberwindlicher wurde.

Sobald Anti-Homunk gewinnt, wird er über uns herfallen, dachte ich. Nicht, daß ich diese Auseinandersetzung gefürchtet hätte, aber mir war klar, daß sie endgültig sein und so oder so eine Entscheidung herbeiführen mußte.

Asgard haßt den Androiden. Wenn über-haupt jemand Anti-Homunk entscheidend schwächen kann, dann er.

Ohne zu zögern, stürzte die Kugel sich auf den Kunstmenschen. Jeden anderen hätte der Aufprall von den Füßen gerissen, Anti-Homunk aber lachte nur, und seine Finger gruben sich tief in die Haut von Asgard. Die Kugel schrie, dennoch gelang es ihr, den And-roiden halb in sich aufzunehmen. Wie ein Spielball wurde ich zwischen den weichen Zellwänden hin und her geworfen, ohne auf das Geschehen in irgendeiner Weise Einfluß nehmen zu können. Gelegentlich vernahm ich über meinen Extrasinn vereinzelte Gedanken-fetzen. Sie genügten, mich vor allem die Ver-

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bitterung Asgards erkennen zu lassen.

Anti-Homunk wischte ihn schließlich wie ein lästiges Insekt beiseite. Das alles war viel zu schnell gegangen, um dem Namenlosen eine Möglichkeit zur Regeneration zu geben. Der Androide überwältigte ihn vollends.

Asgard beschleunigte jäh und verließ den Hangar.

Ein Maschinenraum, der an Größe durch-aus mit denen der SOL konkurrieren konnte ... Die Kugel verharrte dicht über einigen Ag-gregaten und bildete seltsam anmutende, kur-ze Auswüchse, die Werkzeug und Hände zugleich sein mochten. Sie begann damit, Kabelverbindungen zu unterbrechen und an-dere Kontakte neu zu schließen.

Nur so können wir Anti-Homunk vernich-ten. Durch Überlastung der Energiewandler wird deren neutralisierende Wirkung aufge-hoben, und ...

Ohrenbetäubender Lärm, der selbst die mich umgebende Hülle durchdrang, brandete auf. Nacheinander entstanden vier gleißende Energiesäulen, die sich langsam ausweiteten. Noch waren sie jeweils etliche Meter vonein-ander entfernt, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, was geschehen würde, sobald sie einander berührten.

Anti-Homunk stürmte heran. Selbst ein Schutzschirm vermochte ihn nicht aufzuhal-ten – er durchbrach ihn als flammender Schemen. Asgard erschrak; mit dieser Stärke des Gegners hatte er nicht gerechnet. Ihm blieb keine andere Wahl, als bis dicht unter die Decke aufzusteigen. Aber der Androide würde eine Möglichkeit finden, ihn zu errei-chen. Schon machte er sich an den Aggrega-ten zu schaffen.

Mein Extrasinn triumphierte: Er merkt nicht, daß die von ihm aufgenommene Zell-substanz einiger Gardianer durch Asgard beeinflußt wird. Wir haben es geschafft.

In dem Moment wirbelte Anti-Homunk herum. Sein Gesicht verzerrte sich zur Gri-masse, als er heraufstarrte.

Zwei der leuchtenden Säulen reiner Energie berührten sich. Grelle Entladungen sprangen von ihnen zu den anderen über und regten sie zu rascherer Ausdehnung an.

Das läuft schief. Wir müssen verschwinden, ehe uns die ganze Station um die Ohren fliegt.

Zwischen einem Gewirr von Rohren und mannsdicken Kabelsträngen raste Asgard dem Ausgang zu. Dabei wich er immer häufiger aufzuckenden Überschlagsblitzen aus.

Anti-Homunk war jetzt von einem hellen, flackernden Leuchten umgeben. Sein Körper schien durchsichtig zu werden, aber noch kämpfte er gegen die völlige Auflösung an. Und dann, von einer Sekunde zur anderen, verschwand er so spurlos, als hätte er nie exis-tiert. Unwillkürlich fühlte ich mich an die Entmaterialisation eines Teleporters erinnert. Die Befürchtung, der Androide könne Mutan-tenfähigkeiten entwickeln, erschreckte mich.

Hinter uns brach das Chaos aus. Von einer heftigen Druckwelle erfaßt, wurde Asgard gegen die nächste Wand geschleudert. Vorü-bergehend schien die Welt Kopf zu stehen, dann raste das Kugelwesen auch schon einen Korridor entlang, der bis unmittelbar zur nächsten Außenschleuse führte. Die Geräu-sche eines rasch um sich greifenden Atom-brands folgten uns.

»Wir müssen zur Basis des Ersten Zählers«, rief ich.

Das Außenschott glitt auf. Aber nicht Schwärze umfing uns, sondern ein düster glü-hendes Rot erfüllte das All. Ich sah die Ü-BERZONE zwischen den Überresten von Aufbauten eingekeilt und brennend.

Asgard raste in die Gravitationsfronten hin-ein; unwiderstehliche Andruckkräfte machten sich bemerkbar.

Die Basis ...! war das letzte, was ich noch dachte, bevor der ungeheure Druck mir die Besinnung raubte.

*

Als ich wieder zu mir kam, herrschte voll-

kommene Finsternis. Von irgendwoher glaub-te ich ein leises Flüstern zu vernehmen, bis mir bewußt wurde, daß Asgard und mein Ext-rasinn miteinander korrespondierten.

Vielleicht laßt ihr mich daran teilhaben, dachte ich verärgert.

Du bist in Sicherheit, erwiderte Asgard. Wo ist die Basis, die Quelle der Jenseitsma-

terie? Ich weiß es nicht, ich war gezwungen, den

Weg des geringsten Widerstands zu nehmen,

43

ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

der aus der zusammenbrechenden Senke führ-te. Die Basis des Ersten Zählers entfernte sich ebenfalls mit wachsender Geschwindigkeit.

Die Erleichterung darüber, daß Rico mei-nen Befehl befolgt und das Schiff in Sicher-heit gebracht hatte, hielt nicht lange an.

Wo befinden wir uns? wollte ich wissen. Irgendwo in der Namenlosen Zone. Mir

fehlt jeder Anhaltspunkt, um zu sagen, wie weit es uns verschlagen hat.

Das Gard ist vernichtet, die »Senke des verlorenen Raumes«, wie Anti-Homunk jenes Gebiet anormaler Raumkrümmung nannte, hat sich aufgelöst.

Ich ließ mir meine Niedergeschlagenheit nicht anmerken. Stand ich wieder einmal vor einem neuen Anfang? Zum Glück verlor mein Extrasinn kein Wort darüber.

Die Zeit würde erweisen, ob ich in Asgard wirklich einen Helfer gefunden hatte.

*

Schlagartig veränderte sich seine Umge-

bung. Im Augenblick größter Gefahr riß der Namenlose den Androiden mit sich – fort aus der Namenlosen Zone und in jenen Raum, aus dem er gekommen war. Zugleich sah Anti-Homunk sich mit dem anderen Teil des Na-menlosen konfrontiert, den diese Begegnung überraschte.

Kompromißlos schlug der Diener von Anti-ES zu. Er wußte nun, wie er seinen Gegner vollends besiegen konnte, und es war ein leichtes für ihn, dessen Zögern auszunutzen. ARCHITEKT bemerkte von alldem nichts, auch nicht, daß sein Werkzeug fortan einer anderen Macht hörig war.

Den Plänen von Anti-ES kam das zugute. Mit Hilfe der neuen Identität von Anti-Homunk konnte es gelingen, schon während seiner Verbannung eine Bastion im Normal-raum aufzubauen. Die Galaxis Xiinx-Markant mit ihren zum Krieg aufgestachelten Völkern erschien ihm dafür gerade recht. Folglich be-fahl es Anti-Homunk, bei ARCHITEKT zu bleiben, während es selbst seinen Plan auf eine vorzeitige Befreiung weiterverfolgte und sich noch stärker als zuvor auf die Wiederein-verleibung von Wöbbeking-Nar’Bon konzent-rierte. Anti-ES hatte nicht die Absicht, auch

nur für eine einzige Relativ-Einheit Gefange-ner der Namenlosen Zone zu bleiben.

Der Androide nahm also die Stelle des Na-menlosen ein, schließlich wurde er dadurch zum uneingeschränkten Herrscher über das Leuchtende Auge im Zentrum von Xiinx-Markant und zugleich unangreifbar. Wissen-schaftler aus dem Volk der Vei-Munater hat-ten den mehrere Kilometer durchmessenden eiförmigen Körper erbaut, von dem aus er das Geschehen innerhalb ihrer Galaxis lenkte.

Als der Namenlose führte Anti-Homunk dessen Pläne, die die Umwandlung von Xiinx-Markant und die Auswahl starker Hilfsvölker betrafen, unverändert fort. AR-CHITEKT, der viele Namen besaß und sich später nur noch Hidden-X nannte, war mit ihm zufrieden. Aber Anti-Homunk arbeitete vor allem für seinen Herrn – für Anti-ES.

8.

Diesmal fiel es dem Arkoniden nicht leicht,

nach Beendigung des temporären Reinkarna-tionseffekts in die Wirklichkeit des Dezember 3807 zurückzufinden. Über zweihundert Jahre waren seit jenen Ereignissen vergangen, doch ihr Bezug war aktueller als je zuvor. Viel Neues war auf Atlan eingestürzt, und er be-gann sich zu fragen, was außerdem in seiner Erinnerung verschüttet lag. Würde er je alles erfahren, was in dieser auch für einen relativ Unsterblichen langen Zeitspanne geschehen war?

Du weißt, was Wöbbeking beabsichtigt hat? wisperte der Extrasinn. Du sollst endlich er-kennen, wer und was dein Gegner hier in Xiinx-Markant wirklich ist. Eine eindeutigere Warnung hätte er nicht aussprechen können. Anti-Homunk ist für uns unangreifbar. Keh-ren wir um, solange noch Zeit dazu ist, su-chen wir nach neuen Wegen.

»Nein!« Mit der geballten Faust schlug At-lan auf die Lehne seines Sessels. »Ich gebe mich nicht geschlagen.«

Dein letzter Erfolg war ein Pyrrhus-Sieg, oder als was siehst du ihn heute an? Zudem hattest du in Asgard einen starken Helfer an deiner Seite.

Geflissentlich übersah Atlan die fragenden Mienen seiner Begleiter.

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ATLAN 123 – Die Abenteuer der SOL

Was an neuen Erkenntnissen vorlag, gerade

hinsichtlich der Entwicklung in Xiinx-Markant, wurde auf Band gespeichert und mit einem gerafften Hyperspruch zur SOL über-mittelt. Die Kriegszelle ging demnach auf Hidden-X zurück, war aber von Anti-ES ü-bernommen worden, weil sie in seine Pläne paßte. Im anderen Fall hätte die Superintelli-genz vermutlich sogar ihren Androiden be-denkenlos fallen lassen.

»Diesen Gegner können wir mit unseren Mitteln nicht überwältigen«, gab auch Hage Nockemann zu bedenken. »Du hast erlebt, wie er weder durch Waffengewalt noch durch Schutzschirme aufzuhalten war.«

»Ein Feind, dessen Kräfte ich kenne, wird

dadurch zwar nicht harmlos, aber ich kann mich auf ihn einstellen. Muß ich erst daran erinnern, daß ich einen Auftrag auszuführen habe? Dazu benötige ich die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst.«

»... die Anti-ES besitzt«, fügte Blödel hin-zu, »zu dem du über Anti-Homunk gelangen willst.«

Die Space-Jet BLINDER VOGEL setzte ih-ren Flug in Richtung auf den Materiewall, der das Leuchtende Auge umgab, fort. Die Stim-mung an Bord war gedrückt. Eine Frage be-wegte alle, doch niemand sprach sie aus:

War der Androide überhaupt zu besiegen?

ENDE

Weiter geht es in Band 124 der Abenteuer der SOL mit:

Verkleinerungsfaktor 10.000 von Falk-Ingo Klee

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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