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47 Ausgabe 14 | 2006 DDR im Recht Antifaschismus in der SBZ/DDR Wie Geschichte von Siegern geschrieben wird Die Auseinandersetzung mit dem „Antifaschismus als Staatslegitimation“ wird auch im Jahr 17 nach der „Wende“ einer wissenschaftlich neutralen Aufarbeitung dieses Themas nicht gerecht. Tinte und Tenor der Schriften sind unverkennbar politisch gefärbt. Stets geht es weniger darum, sich mit dem Kern des Themas auseinanderzusetzen, als den Faschismus mit dem real existierende Sozialismus gleichzusetzen. Treffend beschreibt Joachim Tornau, „dass der Vergleichswert bei der Betrachtung und Bewertung der DDR in allererster Linie die historisch parallele Entwicklung der BRD sein muss und eben nicht das Dritte Reich“ 2 . Seit den 90er Jahren schwappt der LeserInnenschaft ein ganzes schwarzes Meer an Texten, die sich mit dem „Gründungsmythos“ beschäftigen, entgegen. Doch war der DDR-Antifaschismus wirklich so schlecht wie sein Ruf? Antifaschismus als Staatsdoktrin Das Verständnis des Antifaschismus als allgemeines Staatsprinzip lässt sich aus der deutschen Geschichte, ab der Zeit der Weimarer Republik, begreifen. Es war ein Versuch mit al- ten deutschen Traditionen zu bre- chen. Die Erbauer dieses Staates waren zumeist Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur. Ob bereits 1923 Mitglieder des Rotkämpfer- bunds der KPD, der sich gewaltsam gegen die aufmarschierenden SA- Truppen zur Wehr setzte, oder auch KämpferInnen und HelferInnen der alliierten Truppen, sowie ehemalige Häftlinge und KZ-InsassInnen – sie waren es, die in Anbetracht der Er- eignisse während der Nazidiktatur, ein völlig neues und besseres Deutschland aufbauen wollten. Auch die Besorgnis über das rasche Wiedererstarken der „alten Eliten“ in den Westzonen forcierte diesen An- spruch. Aber wurde der Antifaschis- Ein Volk, das sein Gedächtnis verliert, verliert auch sein Gewissen. (Zbigniew Herbert) 1 mus in der DDR wirklich von oben „verordnet“? Was heutzutage auch kritisch denkenden Menschen be- reits als Selbstverständnis in den Köpfen festsitzt wurde aber erst 1987 vom Schriftsteller Ralph Giordano geprägt und fortan kritiklos übernom- men. Doch so widerspruchslos fol- gen nicht alle der Behauptung vom dekretierten Antifaschismus. Laut Detlef Joseph gründete sich der An- tifaschismus in der DDR vor allem „auf Kenntnis und Erkenntnis. Auf das Wissen um Ursachen des Fa- schismus, seine Wurzeln und sein Wesen, und um die Verbrechen des deutschen Faschismus“. 3 Der Faschismusstreit Der DDR-Antifaschismus knüpfte an die von Georgi Michajlow Dimitroff aufgestellte These, der Faschismus sei „die offene terroristische Dikta- tur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten impe- rialistischen Elemente des Finanz- kapitals“ an. 4 So geschickt es auch war, nicht lediglich die äußeren Merk- male zu beschreiben, sondern bereits die Ursachen des Faschismus zu ana- lysieren, so ungeschickt war es auch – und das ist ein berechtigter Kritik- punkt – einen kleinen, aber wesentli- chen Faktor auszublenden: die Arbei- terInnen. Was leider verkannt wur- de, ist die Tatsache, dass der Hitler- Faschismus nicht lediglich bei Kapi- talistInnen großen Anklang fand, sondern ein breites Netz quer durch alle Gesellschaftsschichten warf, welches eben auch den einfachen Arbeiter einfing. Er ermöglichte es dem „einfachen Mann“ von der Stra- ße, vom Nationalsozialismus zu pro- fitieren, von Karrieren zu träumen, die bis dahin vorwiegend dem immer noch einflussreichen preußischen Adel vorbehalten waren. Ungeach- tet der vom Nationalsozialismus zu- gedachten Mutterrolle, wurden aber auch Frauen neue Karrierechancen eröffnet. Es kam nicht mehr auf die

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Antifaschismus in der SBZ/DDRWie Geschichte von Siegern geschrieben wird

Die Auseinandersetzung mit dem „Antifaschismus als Staatslegitimation“ wird auch im Jahr 17 nachder „Wende“ einer wissenschaftlich neutralen Aufarbeitung dieses Themas nicht gerecht. Tinte undTenor der Schriften sind unverkennbar politisch gefärbt. Stets geht es weniger darum, sich mit demKern des Themas auseinanderzusetzen, als den Faschismus mit dem real existierende Sozialismusgleichzusetzen. Treffend beschreibt Joachim Tornau, „dass der Vergleichswert bei der Betrachtungund Bewertung der DDR in allererster Linie die historisch parallele Entwicklung der BRD sein mussund eben nicht das Dritte Reich“2. Seit den 90er Jahren schwappt der LeserInnenschaft ein ganzesschwarzes Meer an Texten, die sich mit dem „Gründungsmythos“ beschäftigen, entgegen. Doch warder DDR-Antifaschismus wirklich so schlecht wie sein Ruf?

Antifaschismusals Staatsdoktrin

Das Verständnis des Antifaschismusals allgemeines Staatsprinzip lässtsich aus der deutschen Geschichte,ab der Zeit der Weimarer Republik,begreifen. Es war ein Versuch mit al-ten deutschen Traditionen zu bre-chen. Die Erbauer dieses Staateswaren zumeist Widerstandskämpfergegen die Nazidiktatur. Ob bereits1923 Mitglieder des Rotkämpfer-bunds der KPD, der sich gewaltsamgegen die aufmarschierenden SA-Truppen zur Wehr setzte, oder auchKämpferInnen und HelferInnen deralliierten Truppen, sowie ehemaligeHäftlinge und KZ-InsassInnen – siewaren es, die in Anbetracht der Er-eignisse während der Nazidiktatur,ein völlig neues und besseresDeutschland aufbauen wollten.Auch die Besorgnis über das rascheWiedererstarken der „alten Eliten“ inden Westzonen forcierte diesen An-spruch. Aber wurde der Antifaschis-

Ein Volk, das sein Gedächtnis verliert, verliert auch sein Gewissen.

(Zbigniew Herbert)1

mus in der DDR wirklich von oben„verordnet“? Was heutzutage auchkritisch denkenden Menschen be-reits als Selbstverständnis in denKöpfen festsitzt wurde aber erst 1987vom Schriftsteller Ralph Giordanogeprägt und fortan kritiklos übernom-men. Doch so widerspruchslos fol-gen nicht alle der Behauptung vomdekretierten Antifaschismus. LautDetlef Joseph gründete sich der An-tifaschismus in der DDR vor allem„auf Kenntnis und Erkenntnis. Aufdas Wissen um Ursachen des Fa-schismus, seine Wurzeln und seinWesen, und um die Verbrechen desdeutschen Faschismus“.3

Der Faschismusstreit

Der DDR-Antifaschismus knüpfte andie von Georgi Michajlow Dimitroffaufgestellte These, der Faschismussei „die offene terroristische Dikta-tur der reaktionärsten, am meistenchauvinistischen, am meisten impe-rialistischen Elemente des Finanz-

kapitals“ an.4 So geschickt es auchwar, nicht lediglich die äußeren Merk-male zu beschreiben, sondern bereitsdie Ursachen des Faschismus zu ana-lysieren, so ungeschickt war es auch– und das ist ein berechtigter Kritik-punkt – einen kleinen, aber wesentli-chen Faktor auszublenden: die Arbei-terInnen. Was leider verkannt wur-de, ist die Tatsache, dass der Hitler-Faschismus nicht lediglich bei Kapi-talistInnen großen Anklang fand,sondern ein breites Netz quer durchalle Gesellschaftsschichten warf,welches eben auch den einfachenArbeiter einfing. Er ermöglichte esdem „einfachen Mann“ von der Stra-ße, vom Nationalsozialismus zu pro-fitieren, von Karrieren zu träumen, diebis dahin vorwiegend dem immernoch einflussreichen preußischenAdel vorbehalten waren. Ungeach-tet der vom Nationalsozialismus zu-gedachten Mutterrolle, wurden aberauch Frauen neue Karrierechanceneröffnet. Es kam nicht mehr auf die

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Bildung und soziale Herkunft, son-dern auf die Gesinnung an, die ent-schied welcher Posten an wen zuvergeben war. Und Weltanschau-ungstourismus ist bekanntlich ofteinfacher als eine Bildungsreise.

In der BRD hingegen wurde undwird der Begriff des Faschismus oftmit dem Begriff des Totalitarismusgleichgesetzt. Aber was genau istTotalitarismus? Darüber scheidensich auch heute noch die Geister. Feststeht, dass der Begriff des Totalita-rismus bereits Ende der 20er Jahredes letzten Jahrhunderts in den deut-schen Sprachgebrauch importiertwurde. Ernst Forsthoffs „Der totaleStaat“ von 1933 und der spätere Auf-satz von Carl Schmitt „Totaler Feind,totaler Krieg, totaler Staat“ aus demJahr 1937 geben erste Eindrücke vonder Vorstellung eines „sistema totali-tario“ (Mussolini), dem Totalitaris-mus und regten zur berühmten Sport-palastrede an. Die in den 50er Jahrenvon Carl Joachim Friedrich undZbigniew Brzezinski entwickeltenTotalitarismustheorie, welche spätervon Peter Graf Kielmannsegg, so-wie wie von Hannah Arendt modifi-ziert wurde, vermag ebenso wenigeine vollständige Umschreibung desFaschismus zu vollbringen. Zuschwammig, zu unterschiedlich undungenau sind ihre Kriterien. Zu Rechtkritisiert Daniela Dahn, die wissen-schaftlichen Ansätze im Umgang mitFaschismus. „Schlimm genug, dassnach 50 Jahren immer noch keineSynthese aus ökonomisierender Fa-schismus- und psychologisierenderTotalitarismustheorie gefunden wer-den konnte.“5 Ein weiterer heute weitverbreiteter Ansatz der Totalitaris-mustheoretiker ist es, die DDR als(strittig) deklarierten Unrechtsstaatmit dem Dritten Reich gleichzusetzen.Die antifaschistische DDR = faschi-stisches Drittes Reich? Bereits hiersollten Bedenken bei diesen offen-

sichtlichen Widersprüchlichkeitenins Auge stechen. Für den 1994 ver-öffentlichten Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundes-tags stand definitiv fest, dass dieDDR die gesamten 40 Jahre lang to-talitär war,6 obwohl selbst HannahArendt in ihrem Standardwerk „Ele-mente und Ursprünge totalitärer Herr-schaft“ deutlich macht, dass der To-talitarismus in der Sowjetunion mitStalins Tod im Jahr 1953 zu Ende ge-gangen sei. Dementsprechend alsoauch für die DDR. Aber können dievielen Morde der Nazis entspre-chend der Totalitarismustheorie wirk-lich mit den Taten des Ministeriumsfür Staatssicherheit (MfS) gleichge-setzt werden, ohne gleichzeitig Ge-schichtsrevisionismus zu betreiben?In den Ohren der Überlebenden desHolocausts muss dies wie blankerHohn klingen.

Entnazifizierung

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegswaren ca. 6,6 Mio. Deutsche Mitglie-der der NSDAP, zusätzlich weitereMillionen von Mitgliedern national-sozialistischer Massenorganisatio-nen.7 Nach der bereits auf der Pots-damer Konferenz beschlossenenEntnazifizierung, sah sich der Alliier-

te Kontrollrat gezwungen am 12. Ok-tober 1946 die Direktive 38 zu erlas-sen. Danach wurden die Verantwort-lichen in fünf Gruppen eingeteilt: „l.Hauptschuldige; 2. Belastete (Akti-visten, Militaristen und Nutznießer);3. Minderbelastete (Bewährungs-gruppe); 4. Mitläufer; 5. Entlastete(Personen der vorstehenden Grup-pen, welche vor einer Spruchkammernachweisen können, dass sie nichtschuldig sind)“.8 Verständlich, dassbei der Masse an TäterInnen undMitläuferInnen, nicht alle hätten zurVerantwortung gezogen werden kön-nen, denn schließlich würden sie jaspäter noch gebraucht werden.

Nach der Kapitulation Deutsch-lands am 8. Mai 1945 begannen inganz Deutschland zunächst die alli-ierten Truppen Personen zu inhaftie-ren, die verdächtigt waren, sich anNS-Verbrechen beteiligt zu haben.Diese wurden in unterschiedlichemUmfang vor den jeweiligen Militär-tribunalen abgeurteilt. So wurdenvon den USA 1.517, Großbritannien1.085, Frankreich 2.874 und der So-wjetunion 17.175 Personen abgeur-teilt.9 Die Verfolgung von NS-Verbre-chen war aber nicht einzig und alleinSache der alliierten Mächte. Bereitsin den ersten Monaten nach Kriegs-ende wurden bereits Prozesse der

Demonstration der „antifaschistischen Polizei“ in Leipzig – September 1945

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deutschen Gerichtsbarkeit übertra-gen. Vor allem hier wird bereits einegroße Diskrepanz sichtbar.

Während zwar in der BRD bis1990 gegen rund 105.000 PersonenErmittlungsverfahren eingeleitet wor-den waren, wurden lediglich 6.488Personen rechtskräftig verurteilt.10

Besonders brisant ist die Tatsache,dass davon lediglich 912 Verfahrengegen NS-Tötungsverbrechendurchgeführt wurden.11 Eine ver-schwindend geringe Zahl in Anbe-tracht der über sechs Millionen Op-fer des Holocausts und der unzähli-gen Millionen an Opfern unter derZivilbevölkerung in Europa. Aber dieKontinuität in der westdeutschenJustiz machte es auch einfach. Sokonnten viele NS-Richter, nicht we-gen (nur) Rechtsbeugung verurteiltwerden, da der BGH ihnen zwar„‚Rechtsblindheit‘ und ‚Verblen-dung‘“ vorwarf aber ihnen darin kei-nerlei Vorsatz bescheinigte.12 Diessah schon bei den Urteilen gegenehemalige DDR-Richter Mitte der90er Jahre anders aus: „Richter oderStaatsanwälte der DDR können inder Bundesrepublik Deutschlandwegen Rechtsbeugung verfolgt wer-den“.13 Erstaunlich dabei ist auch,dass in der ersten Phase fast aus-schließlich „Endphaseverbrechen“,dass heißt Verbrechen von Deut-schen gegen Deutsche, die in denletzten Monaten des Kriegs verübtworden waren, angeklagt wurden. Soz.B. ein Verfahren vor dem Landge-richt Gießen, das fünf Angeklagteverurteilte, da diese einen Zivilistenerschossen, aus Angst dieser könnesie bei den Alliierten anzeigen.14

Auch durch die Straffreiheitsgeset-ze aus den Jahren 1949 und 1954 konn-ten viele Verbrechen nicht mehr auf-geklärt werden.

Anders dagegen in der DDR. Biszum 2. Oktober 1990 wurden insge-samt 12.881 Personen rechtskräftig

verurteilt.15 Dies ist teilweise auchdamit zu begründen, dass in der SBZeine konsequente Verbannung ehe-maliger NSDAP-Mitglieder aus Ju-stiz, Verwaltung und Wirtschaft statt-fand. Zwar konnten ehemalige Mit-läuferInnen und so mancheR Mittä-terIn ab August 1947 – nach Ausga-be des SMAD16-Befehls 201 – wie-der Ämter ausüben, da nun zu unter-scheiden war „zwischen ehemaligenaktiven Faschisten, Militaristen undPersonen, die tatsächlich schuldigsind an den Kriegs- und Naziverbre-chen einerseits, und nominellen,nicht aktiven Faschisten anderer-seits, die wirklich mit ihrer Vergan-genheit brechen und zusammen mitden demokratischen Schichten desdeutschen Volkes an den gemeinsa-men Anstrengungen zum Aufbau ei-nes friedlichen, demokratischenDeutschlands teilnehmen wollen“.Diese konnten jedoch keine Füh-rungspositionen bekleiden. Zum Ver-gleich die BRD, wo Personen wieHans Globke (Staatssekretär imKanzleramt unter Adenauer – Kom-mentator der Nürnberger Rassegeset-ze), Kurt Georg Kiesinger (Bundes-kanzler – seit 1933 Mitglied derNSDAP und Mitarbeiter im Reichs-außenministerium), Karl Carstens(Bundespräsident – seit 1933 Mit-glied der SA), Hanns-Martin Schley-er (Arbeitgeberpräsident – seit 1933Mitglied der SS) und Hermann Höp-ker-Aschoff (Präsident des Bundes-verfassungsgerichts – Justitiar derHaupttreuhandstelle Ost) die Stütz-pfeiler einer Gesellschaft bildeten.

Nicht unerwähnt bleiben solltenauch die „Waldheimer Prozesse“ die1950 gegen ehemalige NS-Verbrecherdurchgeführt wurden und heute ger-ne als Beleg für den DDR-Unrechts-staat genommen werden. Dabei wur-den 3.424 Personen vom LandgerichtChemnitz teilweise in Schnellverfah-ren abgeurteilt, bei denen den Verur-

teilten kaum ein Mindeststandard anVerteidigungsrechten zustand – si-cherlich keine Glanzleistung derDDR-Justiz an Gewährung grundle-gender Prozessprinzipien. Aber wa-ren alle Ergebnisse, die dabei heraus-kamen so grundlegend falsch? Undwieso bezichtigt niemand in der Bun-desrepublik Frankreich als einen Un-rechtsstaat, obwohl in der franzö-sisch besetzten Zone 956 NS-Verbre-cher in Abwesenheit verurteilt wor-den waren?17 Auch Erinnerungen andie „épuration sauvage“ (wilde Säu-berung) in Frankreich nach dem Krieg,die für ca. 10.000 Menschen mit demTod endete, werden gerne kollektivverdrängt. War der Versuch die Mit-täter von NS-Verbrechen zur Verant-wortung zu ziehen nicht generell rich-tiger, als die Taten ungesühnt zu las-sen?

Solianzeigen:

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Vergangenheits-bewältigung

Die Fragen, die bei der heutigen Auf-arbeitung dieses Themas auftreten,deuten auf ein Problem gänzlich an-derer Größenordnung – den Umgangmit der eigenen Vergangenheit. Da dieDeutsche Demokratische Republiknicht mehr existiert und seit dem 3.Oktober 1990 ein Teil der Bundesre-publik Deutschland ist, muss dieseAufarbeitung zwangsweise aus „ge-samtdeutscher BRD-Sicht“ stattfin-den. Leider wird hier die Schieflagesichtbar. Die „Wiedervereinigung“wird zu Recht von vielen als ein gro-ßer Bluff empfunden. Lediglich einBeitritt der ehemaligen DDR-Bundes-länder zur Bundesrepublik wurdevollzogen. Somit wurde auch die po-litische Linie der BRD in Bezug aufden anderen deutschen Staat über-nommen. Bekanntlich war die Liniebeider Staaten die gegenseitige Dif-famierung. So verwundert es nicht,dass der letzte Streich der BRD, diekomplette Demontage der DDR bishin zum Antifaschismus ist. Dennschließlich lässt es sich ein Staatnicht gerne vorhalten, dass ein an-derer Staat in der Umsetzung be-stimmter Dinge konsequenter war.Erst recht nicht in der Bestrafung vonUnrecht. So räumt der BGH in einemRechtsbeugungsprozess gegen ei-nen DDR-Richter (diesmal keine‚Rechtsblindheit‘ und ‚Verblen-dung‘!) ein: „Der Senat verkenntnicht, dass Maßstäbe, wie sie in derBundesrepublik Deutschland beider Beurteilung von NS-Justizun-recht angewandt worden sind, weitweniger streng waren. Die Erkennt-nis, dass eine Todesstrafe nur dannals nicht rechtsbeugerisch anzuse-hen ist, wenn sie der Bestrafungschwersten Unrechts dienen sollte,hätte in einer Vielzahl von Fällenzur Verurteilung von Richtern und

Staatsanwälten des nationalsozia-listischen Gewaltregimes führenmüssen. Derartige Verurteilungengibt es trotz des tausendfachen Miss-brauchs der Todesstrafe, namentlichin den Jahren 1939-1945, nur insehr geringer Zahl.“18 Somit wurdenzwei Fliegen mit einer Klappe ge-schlagen: 1. Die „Wiedergutma-chung“ der versäumten Urteile ehe-maliger NS-Richter (bzw. BGH-Rich-ter) gegen NS-Richter; 2. Die Ahn-dung von „DDR-Unrecht“. Aber wardie gesamte Justiz in der DDR nurUnrecht, so wie die gesamte DDRUnrecht war? „Die Beurteilung dessozialistischen Rechts, insbesonde-re des sozialistischen Strafrechts, le-diglich aus dem Blickwinkel des west-lichen Betrachters muss daherzwangsläufig zu einem einseitigenErgebnis und damit zu einer Schief-lage führen. Die Einseitigkeit der Be-trachtung reduziert […] auf das poli-tische oder politisierte Strafrecht, umdie These von der DDR als Unrechts-staat illustrieren zu können. Zudemverhindert sie eine durchaus notwen-dige, konstruktive Auseinanderset-zung mit dem DDR-Recht, insbeson-dere mit dem Strafrecht.“19 Aber viel-leicht hätten die BGH-Richter da nochmal den ehemaligen Ministerpräsi-denten von Baden-WürttembergHans Karl Filbinger konsultierensollen. Der Jurist Filbinger leitete alsRichter noch im März 1945 die Voll-streckung von Todesurteilen gegen„Fahnenflüchtige“, somit ein Exper-te in dieser Frage. Seine eigenen Ex-kulpationsversuche mündeten in derFeststellung zum Sachverhalt: „Was

damals Recht war, kann heute keinUnrecht sein“20, die bis in die 90erJahre unter Richterkollegen noch aufVerständnis stieß.

Fazit

Fairerweise muss gesagt werden,dass auch in der DDR der Umgangmit der Vergangenheit, insbesonde-re mit der eigenen Schuld am Hitler-faschismus relativ lax gehandhabtwurde. Während in der Bundesrepu-blik die Historiker die alleinige Schulddem Demagogen Hitler in die Schu-he schoben und somit das Gewissender frischgebackenen Bundesbürge-rInnen beruhigten, entlastete sich dieDDR, indem sie die mittlerweile genwesten geflüchteten KapitalistInnenverantwortlich machte. Sie begriffsich als komplett neuer Staat, wäh-rend die BRD erst im Jahre 1987 zeig-te was sie in Wirklichkeit noch heuteist. „Die Bundesrepublik Deutschlandbetrachtete sich vielmehr von Beginnan als identisch mit dem Völkerrechts-subjekt Deutsches Reich.“21

Natürlich stellt sich auch die Fra-ge, wie es denn sein kann, dass derRechtsextremismus so großen Zulaufhat im Osten der Republik, obwohldie Leute dort durchweg Antifaschi-sten sein sollten? Ein oft verwende-tes Beispiel um zu zeigen, dass derAntifaschismus der DDR nur Fassa-de war ist dennoch ein weiteres In-strument der Diffamierung. Erstaun-lich ist, dass laut einer Emnid-Um-frage aus dem Jahr 1992 lediglich 4Prozent im Osten und 16 Prozent imWesten antisemitistische Tendenzen

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zeigten.22 Der Illusion, dass es in derDDR keinerlei überzeugte Nazis ge-geben hätte, sollte mensch sich aberauch nicht hingeben. Der Faschismuswar leider auch dort nicht überwun-den, aber zumindest ausgegrenzt.Vielleicht ist dies aber auch ein Be-weis für die Richtigkeit der ökonomi-schen Faschismustheorie, in der re-aktionäre Mächte des (westlichen)Finanzkapitals, wie der Medienunter-nehmer und Vorsitzende der DVUGerhard Frey, oder der Unternehmerund Vorsitzende der NPD Udo Voigtsihr Netz auswerfen. Wenn Geschich-te eines lehrt, dann ist es, dass siesich oft nach ähnlichen Mustern wie-derholt. Es ist bei weitem nicht ein-fach einen staatlich gelebten Antifa-schismus zu beurteilen. Bis heute istdies nur ansatzweise gelungen. Mög-licherweise gelingt es in Zukunft ei-ner neuen Generation von Historike-rInnen, PolitologInnen und anderenWissenschaflerInnen, die nie dieDDR erlebt hat eine neutralere Aus-

einandersetzung. Vielleicht wird auchdie Frage gestellt, was diesen Staatvon unserem heutigen unterschied,und dabei das Thema Antifaschis-mus neu entdeckt – vielleicht schonauf der ZweihundertjahrfeierDeutschlands im Jahr 2071.

Michael Lippa, Berlin

1 polnischer Lyriker, studierte u.a. Rechts-wissenschaft; geb. am 29.Oktober1924, gest. am 28 Juli 1998.

2 Joachim Tornau, „Nationale Traditio-nen unseres Volkes“, Calcül Nr.4 –1996.

3 Detlef Joseph, Nazis in der DDR, Berlin2002, S. 15.

4 in einer Rede auf dem VII. Kongress derKommunistischen Internationale imAugust 1935.

5 Daniela Dahn, Westwärts und nicht ver-gessen, Hamburg 1997, S. 69.

6 Vgl. Deutscher Bundestag, Bericht derEnquete-Kommission „Aufarbeitungvon Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Drucksache12/7820, Berlin 1994.

Anzeige:

7 Falko Werkentin, Forschungen zur DDR-Geschichte „Politische Strafjustiz in derÄra Ulbricht“, Berlin 1995, S. 170.

8 Kontrollratsdirektive Nr. 38, vom 12.Oktober 1946, Abschnitt II Art. 1.

9 Vgl. Günther Wieland, Naziverbrechenund deutsche Strafjustiz, Berlin 2004,S.108/109.

10 Vgl. Detlef Joseph, a.a.O. (Fn. 3), S.38.11 www1.jur.uva.nl/junsv/Strafverfolgung/

BRD.htm12 BGH – Urteil v. 30. April 1968, 5 StR

670/87; NJW 1968, S.1339 (1340).13 BGH – Urteil v. 15. September 1995, 5

StR 713/94; BGHSt 41 S.247.14 LG Gießen – Urteil vom 06.09.1945.15 Detlef Joseph, a.a.O. (Fn. 3), S. 38.16 Sowjetische Militäradministration in

Deutschland.17 Günther Wieland, a.a.O. (Fn. 9), S. 108.18 BGH – Urteil v. 16. November 1995, 5

StR 747/94, BGHSt 41, 317.19 Bettina Weinreich, Strafjustiz und ihre

Politisierung in SBZ und DDR bis 1961,Frankfurt a.M. 2005, S. 21.

20 Detlef Joseph, a.a.O. (Fn. 3), S.75.21 BVerfG – Urteil v. 21. Oktober 1987, 2

BvR 373/83, BVerfGE 77, 137.22 Emnid-Institut, Antisemitismus in

Deutschland, Bielefeld 1992.