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Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers Euripides und der Troische Epenkreis RICHARD KANNICHT Unter diesem Titel, lieber Joachim Latacz, habe ich auf dem Augster Symposion zu Ihrem 65. Geburtstag am 17. Mai 1999 den Versuch unternommen, zwischen unseren beiden Hauptarbeitsgebieten - Ihrem großen Gesamtkommentar zur Ilias Homers und meiner Bearbeitung des Euripides für den 5. Band der Tragi- kerfragmente - einmal eine Brücke zu schlagen, und da sich dieser Brücken- schlag als recht lehrreich erwiesen hat - mit Ihrer Erlaubnis habe ich erweiterte Fassungen inzwischen an einigen Universitäten vorgetragen -, freue ich mich Uber die Gelegenheit, Ihnen meinen Beitrag zum Augster Symposion in dieser Festschrift zu Ihrem 70. Geburtstag endlich auch gedruckt dedizieren zu können. Mein Versuch soll in drei Schritten erfolgen. Die beiden ersten Schritte wer- den die beiden Bestandteile meines Arbeitstitels zum Thema haben: der erste Schritt also das Zitat des Aischylos-Apophthegmas, seine Tragödien seien Scheiben von den großen δείπνα Homers (ich werde hier die Auffassung vertre- ten, daß in diesen Scheiben vor allem die Stoffe gemeint sind, die sich die Tra- giker aus Homers epischen δείπνα herausschneiden), und der zweite Schritt wird dann in einer statistischen Konkretisierung dieses Dictums in den bezeug- ten Oeuvres des Aischylos selbst, des Sophokles und des Euripides (mit Stich- proben bei den Tragici Minores) bestehen. Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich in meinem dritten Schritt einige Beispiele dafür präsentieren, wie Euripides in seinen verlorenen Dramen mit den Stoffen aus dem kyklischen Homer gearbeitet hat. I Das Apophthegma des Aischylos wird bei Athenaios von einem der δειπνοσο- φισταί (Kynoulkos) als το του καλοΰ καί λαμπρού Αισχύλου zitiert, δς τάς Brought to you by | University of Massachusetts - Amherst W.E.B. Du Bois Library Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 7/30/12 5:27 PM

Antike Literatur in neuer Deutung Volume 85 (Festschrift für Joachim Latacz anlässlich seines 70. Geburtstages) || Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers Euripides und der Troische

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Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers

Euripides und der Troische Epenkreis

RICHARD KANNICHT

Unter diesem Titel, lieber Joachim Latacz, habe ich auf dem Augster Symposion zu Ihrem 65. Geburtstag am 17. Mai 1999 den Versuch unternommen, zwischen unseren beiden Hauptarbeitsgebieten - Ihrem großen Gesamtkommentar zur Ilias Homers und meiner Bearbeitung des Euripides für den 5. Band der Tragi-kerfragmente - einmal eine Brücke zu schlagen, und da sich dieser Brücken-schlag als recht lehrreich erwiesen hat - mit Ihrer Erlaubnis habe ich erweiterte Fassungen inzwischen an einigen Universitäten vorgetragen - , freue ich mich Uber die Gelegenheit, Ihnen meinen Beitrag zum Augster Symposion in dieser Festschrift zu Ihrem 70. Geburtstag endlich auch gedruckt dedizieren zu können.

Mein Versuch soll in drei Schritten erfolgen. Die beiden ersten Schritte wer-den die beiden Bestandteile meines Arbeitstitels zum Thema haben: der erste Schritt also das Zitat des Aischylos-Apophthegmas, seine Tragödien seien Scheiben von den großen δείπνα Homers (ich werde hier die Auffassung vertre-ten, daß in diesen Scheiben vor allem die Stoffe gemeint sind, die sich die Tra-giker aus Homers epischen δείπνα herausschneiden), und der zweite Schritt wird dann in einer statistischen Konkretisierung dieses Dictums in den bezeug-ten Oeuvres des Aischylos selbst, des Sophokles und des Euripides (mit Stich-proben bei den Tragici Minores) bestehen. Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich in meinem dritten Schritt einige Beispiele dafür präsentieren, wie Euripides in seinen verlorenen Dramen mit den Stoffen aus dem kyklischen Homer gearbeitet hat.

I

Das Apophthegma des Aischylos wird bei Athenaios von einem der δειπνοσο-φισταί (Kynoulkos) als το του καλοΰ καί λαμπρού Αισχύλου zitiert, δς τάς

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αύτοΰ τραγωδίας τεμάχη είναι ελεγεν των Όμηρου μεγάλων δείπνων.1 Für dieses Dictum macht Athenaios leider keine Quellenangabe (für das gleich fol-gende Apophthegma zitiert er als Quelle Theophrast bzw. Chamaileon); aber schon Friedrich Wilhelm Schneidewin2 hat diese und einige weitere intelligent und originell gefaßte Aischylos-Dicta auf die Hypomnemata oder Epidemiai Ions von Chios zurückgeführt,3 'Erinnerungen' oder 'Denkwürdige Besuche': eine höchst seriöse Quelle des 5. Jahrhunderts also, deren einzigartige Qualität uns vor allem der wörtlich überlieferte Text über den Chios-Besuch des Sopho-kles im Jahr 441/440 bezeugt.4 Was unser Apophthegma betrifft, so rechnet nach anderen auch Martin West mit der Möglichkeit, daß es aus Ions 'Erinnerungen' stammt und daß es hier mit Ions Urteil über Sophokles' Verhältnis zu Homer verknüpft gewesen sein dürfte: die Vita Sophoclis faßt ihre Belege für die viel-seitige Homernachfolge des Sophokles apodiktisch in dem Urteil eines gewissen 'Ιωνικός zusammen,5 'allein Sophokles sei Homers Schüler' ('Sophokles sei der wahre Schüler Homers'), und es besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß in dem dubiosen Ίωνικόν τινα nur so etwas stecken kann wie "Ιωνα τον ποιητήν (so August Meineke), "Ιωνα τον τραγικόν oder τον Xîov (so Theodor Bergk). Wir dürfen also ensthaft mit der Möglichkeit rechnen, daß uns in dem τεμάχη-Dictum ein authentisch überliefertes Selbstzeugnis des Aischylos vorliegt. Und damit zu seiner Bedeutung.

Bei Athenaios taucht es nach rund 150 Teubnerseiten deipnosophistischer Causerien περί ιχθύων 'über Fische' auf: semantisch also in passendem Zusam-menhang; denn το οψον (das mehr oder weniger delikat zubereitete, aber immer gekochte oder gebratene 'Gericht') war in Athen ja in der Regel 'Fiscft-Gericht', und το τέμαχος (zu τέμνειν 'schneiden') ist im Attischen in der Regel eine F/jc/t-Delikatesse in Gestalt einer Scheibe oder 'Schnitte' von einem größeren Speisefisch wie einem Aal oder einem Thunfisch. Nach der alphabetischen Durchnahme von einigen Dutzend Speisefischarten mit aberdutzenden von lite-rarischen Belegen im 7. Buch reißt zu Beginn des 8. Buches (p. 33IC) schließ-lich der universal belesene Demokritos das Wort zu einem gewaltigen 'Nach-

1 Athen. VIII p. 347E = Aeschyl. test. 112a Radt. 2 Schneidewin (1853). 3 FGrH 392 F 4-7 (+ 9-17?, 22-23?) Jacoby. 4 Ion F 6 Jacoby = Soph. test. 75 Radt (Athen. XIII p. 603E-604D): Dihle (1970: 46-47); West

(1985: 75). 5 Vita Sophoclis test. 1 c. 20 Radt (= FGrH 392 F 23 Jacoby) de Sophocle Όμηρικω [...] οθεν

ειπείν f Ίωνικόν t i va t μόνον Σοφοκλεα τυγχάνειν 'Ομήρου μαθητήν.

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tisch* über seltenere Fische und über berühmte όψοφάγοι an sich, dessen Kli-max ein Problem (ein ζήτημα) im Geryones des Ephippos ist, eines Dichters der Mittleren attischen Komödie: wenn dem Geryones ein Fisch von der Größe Kretas bereitet wird (so das von Demokritos zitierte Textstück [fr. 5 Kassel-Austin]), so verfügt der auch gleich über eine entsprechend riesige Schüssel: ein Wald wird zum Feuern abgeholzt, ein See wird zum Kochen abgeleitet, hundert Fuhrwerke schaffen das Salz für die ίχλμη herbei (usw.) - : auf wen dies wohl gemünzt sei (dies das ζήτημα); das solle den Deipnosophisten nunmehr der gute Ulpianos erklären. Darauf Kynoulkos bissig: was der sich denn schon an großen - nein, nicht Fischen, sondern Fragen (Problemen) vornehme? Der wähle doch beim Mahl und im Diskurs immer nur Grätiges und Knorpliges von allerlei klei-nem Fischzeug (dürfiges οψον und kleinliche Fragen), während er die großen Scheiben vorbeigehen lasse (τα μεγάλα τεμάχη παραπεμπόμενος) - das Αρο-phthegma des Aischylos ist hierin bereits unüberhörbar angelegt - : nur auf Grä-tiges und Knorpliges erpicht, denke Ulpian doch gar nicht an das Wort des groß-artigen Aischylos, ος τάς έαυτοΰ τραγφδίας τεμάχη είναι ελεγεν των 'Ομήρου μεγάλων δείπνων. Und Aischylos sei schließlich ein philosophischer Kopf von Format (των πάνυ) gewesen:6 im Agon einmal zu Unrecht unterlegen, habe er gesagt - dies das aus Theophrast bzw. Chamaileon περί ηδονής zitierte Dictum - : er weihe seine Tragödien dem Χρόνος, denn er wisse, daß er die Ehre, die ihm zukomme, schon noch erlangen werde. (In der Tat hat Aischylos nach sei-nem ersten Sieg im Jahr 484 nur noch Siege errungen, wie uns Carl Werner Müller überzeugend vorgerechnet hat.)

Athenaios hat also das τέμαχος-Apophthegma des Aischylos deipnosophi-stisch-assoziativ buchstäblich an seinen Worten in die alberne Rahmenhandlung der Causerie περί ιχθύων hineingezogen, um mit ihm eine forciert witzige Schlußpointe zu setzen - Aischylos gegen Ulpianos sozusagen der wahre δειπνοσοφιστής - : aber es ist klar, daß dies nicht die ursprüngliche Pointe des Dictums gewesen sein kann. Ich denke, wir können hierzu die folgenden drei Feststellungen treffen:

Erstens. In den μεγάλα δείπνα 'Ομήρου muß gemeint sein, daß Homer mit seinen epischen Dichtungen sozusagen der Wirt und Gastgeber der Griechen gewesen ist. Die Belege für diesen Sachverhalt haben wir in der Wirkungsge-schichte Homers von den Selbstzeugnisssen der epischen άοιδή in der Odyssee

6 Athen. VIII p. 347EF = Aeschyl. test. 113a Radt φιλόσοφος δε ήν των πάνυ 6 Αισχύλος, ος και ηττηθείς αδίκως ποτέ, ώς Θεόφραστος ή Χαμαιλέων (fr. 7 Wehrli) έν τφ περί ηδονής εΐρηκεν, εφη χρόνφ τάς τραγωδίας άνατιθέναι, είδώς οτν κομιεϊται την προσηκοικαν τιμήν.

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über Xenophanes und Herodot bis zu Piaton und Aristoteles und darüber hinaus hundertfach vor uns: zentrale Wirkungskategorien immer wieder 'Ergötzung (oder Unterhaltung)' und 'Belehrung' (wer ihr Lied gehört habe, so versprechen die Sirenen Od. 12.188, der fahre τερψάμενος weiter καν πλείονα είδώς); und τέρπεσθαι ist ja auch das Wort für die genußvolle Freude am Essen und Trin-ken.

Zweitens. 'Homer' ist für die Griechen bis in das 4. Jh. herab der Dichter des gesamten Troischen Epenkreises von den Kyprien bis zu den Nosten und dazu der Thebais und der Epigonoi gewesen (die Zeugnisse jetzt bequem bei Ber-nabé:7 der klassisch grundlegende Text hierüber steht me iudice nach wie vor in Wilamowitz' Homerischen Untersuchungen). Wenn Herodot bezweifelt, daß Kyprien und Epigonoi von Homer stammen (Hdt. 2.117 und 4.32), so bezeugt er damit zugleich, daß sie der communis opinio als homerisch galten, und für die Kyprien wie für die Kleine Ilias hat diese communis opinio offenbar auch Pindar geteilt (fr. 265 Snell-Maehler, Isthm. 3/4.55-57). Der schlagendste Beleg war für mich immer der eristische Trugschluß, den Aristoteles in den Sophistici elenchi zitiert (10 p. 171al0): die ποίησις Homers sei κύκλος und mithin σχή-μα, da der κύκλος (als Kreis) σχήμα (Form) sei. Und in der Tat ist ja die Be-schränkung der Autorschaft Homers auf Ilias und Odyssee offenbar erst von Piaton und Aristoteles durchgesetzt worden: erst jetzt heißt es in seriösen Zitaten (so erstmals in der Poetik des Aristoteles selbst) ό τα Κύπρια ποιήσας oder ό την μικράν Ίλιάδα γράψας. Für Aischylos selbst und seine Zeitgenossen (auch für Ion von Chios) waren also die μεγάλα δείπνα Όμηρου konkret die damals erhaltenen Epen, vor allem - durch die starke Zugkraft von Ilias und Odyssee -der Troische Epenkreis.

Drittens, τεμάχη können schon etymologisch (durch die Ableitung von τέμνειν) nur quantitativ bestimmte Ab-'schnitte' dieser δείπνα sein, und das heißt konkret: dramaturgisch ergiebige Motive, Situationen und Episoden der epischen άοιδή. Das Wesentliche hierzu ist längst gesehen und gesagt: zur Erin-nerung hier nur noch einmal die Hauptstelle in der Poetik des Aristoteles: Ho-mer habe in Ilias und Odyssee jeweils eine in sich geschlossene Handlung episch ausgeformt (die μήνις des Achilleus und den νόστος des Odysseus), und dafür zeichnet ihn der nüchterne Aristoteles mit dem hohen Prädikat θεσπέσιος aus; 'die anderen Epiker dagegen8 dichten Uber eine bestimmte Person (περί

7 Bernabé (1987: 2-8); Wilamowitz (1884), Kap. II 4 'Der epische Cyclus' (hier S. 350-353). 8 Arist. Poet. c. 23 p. 1459a37 oi δ ' άλλοι περί ενα ποιοΰσι καί περί ενα χρόνον |καί μίαν non

habet Ar. ) πράξιν πολυμερή, οιον ό τά Κύπρια ποιήσας καί την μικράν Ίλιάδα. τοιγαροΰν

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ενα) oder über einen bestimmten Zeitraum (περί ενα χρόνον) eine vielteilige Handlung (πράξιν πολυμερή) wie die Dichter der Kyprien und der Kleinen Ilias (sie stehen für das ποιείν περί ενα χρόνον: die epische Historie vom Trojani-schen Krieg; für das ποιείν περί ενα seil, ανδρα nennt Aristoteles an anderer Stelle Herakles- und Theseus-Epen). Und deshalb (so schließt Aristoteles: τοι-γαροΰν) lassen sich aus Ilias und Odyssee jeweils nur eine oder zwei Tragödien dichten (wie aus der Ilias z.B. die Achilleis des Aischylos), aus den Kyprien aber und aus der Kleinen Ilias πολλαί' - im Prinzip in der Tat so viele, wie ihre Handlungen μέρη haben: Beispiele dafür sogleich.

Was die stoffliche 'Homerisierung' der Tragödie als solche betrifft, so scheint Aischylos im Sinne seines Apophthegmas maßgeblich daran beteiligt gewesen zu sein. Von den übrigen Tragikern seiner Generation, den teils etwas älteren, teils etwas jüngeren Zeitgenossen und Konkurrenten Choirilos und Phrynichos, Polyphrasmon, Pratinas und Aristias kennen wir durch Zeugnisse und Zitate 24 Dramen von Alpha (Aktaion, Alkestis, Alope) bis Tau (Tañíalos) und Phi (Phoinissai), doch nur eines von ihnen hat 'homerischen' Stoff: der Kyklops des Aristias. Gegenproben am Κατάλογος των Ακχύλου δραμάτων des Mediceus (test. 78 Radt) führen in 24 beliebig so oder so aus seinem Oeuvre ausgewählten Stücken immer wieder auf 6 bis 8 Stücke homerischen Stoffs, und diese Quote (ein Viertel bis ein Drittel) ist in der Folgezeit - bei allen Schwan-kungen im Einzelnen - die Regel geblieben. Damit aber war zugleich das Über-lieferungsschicksal der kyklischen Epen besiegelt. Ihr Untergang hat seinen Grund (so denke ich) nicht nur in den ästhetischen Verdikten des Aristoteles und des Kallimachos, sonden auch (wenn nicht vor allem) darin, daß ihre Stoffe seit Aischylos τέμαχος um τέμαχος immer wieder von den Tragikern durchgespielt worden und so am Ende in der Tragödie buchstäblich aufgegangen sind.

II

Mit einem zweiten Schritt wollen wir uns diesen Sachverhalt nun für die Trias statistisch vor Augen führen: zum Vergleich beziehe ich jetzt auch den Thebani-schen Sagenkreis mit ein.

έκ μέν Ίλιάδος καί 'Οδύσσειας μία τραγφδία ποιείται έκατέρας ή δύο μόναι, έκ δέ Κυπρίων πολλαί καί της μικράς Ίλιάδος.

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Tabelle 1: Die kommentierte Tragikerauswahl

Euripides Sophokles Aischylos

10 Stücke 7 Stücke 7 Stücke = 24 Stücke

Rhesos

Aias

Philoktetes

Hekabe

Troischer Andromache

Sagenkreis Troades

Orestes Elektro Oresteia

Agamemnon

Choephoroi

Eumenides

5 Stücke 3 Stücke 3 Stücke = 11 Stücke

Oidipus Tyr.

Thebanischer Phoinissai Antigone Siebeng. Theben

Sagenkreis Oidipus Kol.

1 Stück 3 Stücke 1 Stück = 5 Stücke

Alkestis Trachiniai Hiketides

Bakchai Persai

Sonstige Hippolytos

Medeia

Prometheus

4 Stücke 1 Stück 3 Stücke = 8 Stücke

In der kommentiert überlieferten Tragikerauswahl der 10 + 7 + 7 = 24 Dra-men der Trias (Tabelle 1) dominieren deutlich die Stoffe der beiden großen Sa-genkreise, und diese Dominanz ist offenbar von Bildungsinteressen der helleni-stischen und kaiserzeitlichen Gesellschaft mitbestimmt. In der Sektion 'Theba-nischer Sagenkreis' bilden die Phoinissai des Euripides, die Oidipus-Oramcn und die Antigone des Sophokles sowie die Sieben gegen Theben des Aischylos ersichtlich eine Gruppe für die vergleichende Lektüre, entsprechend am unteren Ende der Sektion 'Troischer Sagenkreis' die Sequenz Orestes - Elektro -Orestie,9 und in beiden Fällen dürfte die gruppenbildende Zugkraft von den bei-

' So zuerst, soweit ich sehe, Wilamowitz (1907: 196).

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den viel gespielten und viel gelesenen Stücken des Euripides, den Phoinissai also und dem Orestes ausgegangen sein.

Die übrigen Titel in der oberen Sektion sind Troja-Stücke im engeren Sinne und offenbar sämtlich als dramatische Supplemente zur homerischen Ilias aus-gewählt worden: Hekabe, Andromache und Troades bringen die großen Frauen-gestalten der Ilias auf die Bühne (die Troades neben den Troianerinnen auch Helena), der Aias den nach Achilleus Zweitbesten der Achäer, der Rhesos in einer Hauptrolle den homerischen Hektor.

1 1 + 5 = 16, das heißt zwei Drittel der 24 ausgewählten Dramen der Trias haben also diese beiden prominenten Sagenkreise zum Stoff. Nur ein Drittel erscheint in der Sektion 'Sonstige' (ich ignoriere hier, daß auch sie ihren Platz in bestimmten Stoffkomplexen und mythologischen Zusammenhängen haben konnten, wie die Medeia in den Argonautica). Warum aber gerade sie in diese Auswahl aufgenommen und alle übrigen (darunter wirkungsgeschichtlich so prominente Stücke wie Euripides' Andromeda, Antiope oder Telephos) ausge-schlossen worden sind, erraten wir nicht.

Der Befund ändert sich nun aber aufschlußreich, wenn wir die Textcorpora der Trias als ganze ins Auge fassen, d.h. wenn wir in unsere Betrachtung auch die verlorenen, nur noch in Titeln und Fragmenten bezeugten Dramen einbe-ziehen.

Den bei weitem höchsten Anteil an Dramen aus den beiden Sagenkreisen -namentlich aus dem Troischen - erreicht das riesige Oeuvre des Sophokles (Tabelle 2): 15 Dramen behandeln die Ante-Homerica (also Kyprien-Stoff) vom Kriegsplan des Zeus in Momos und Krisis und der Entführung Helenas durch Paris-Alexandros bis an die Schwelle der //l'aj-Handlung in Palamedes und Nauplios καταπλέων, 15 weitere behandeln die Post-Homerica von der Aithio-pis (im Memnon) über die Kleine Ilias (gesperrt die erhaltenen Stücke Aias und Philoktet) bis zur Iliupersis (Sinon bis Polyxene) und den Nostoi (Nauplios πυρκαεύς bis Hermione und Elektro), noch einmal 15 Stücke (10 von Nausikaa bis Phryges und 5 zweifelhafte) bilden den Rest. Allein diese Sektion bildet also mit 45 Stücken 37% des gesamten Oeuvres, und dieser Befund wird auch schon dem antiken Urteil zugrunde liegen,10 Sophokles habe den epischen Kyklos so gern gemocht, daß er ganze Dramen im Anschluß an dessen μυθοποιία

10 Athen. VII p. 277E = Soph. test. 136.8 Radt εχαιρε δε Σοφοκλής τ<ρ έπικφ κύκλω, ώς καί δλα δράματα ποιήσαι κατακολουθών τη έν τούτφ μυθοποιία.

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gedichtet habe. In der Tat liegen die Zahlen bei den beiden anderen Tragikern deutlich niedriger.

Tabelle 2: Sophokles

"Sicher Uberlieferte Titel" (Radt 1982: 194) 122 Stücke = 100%

Troischer Sagenkreis

A n t e - H o m e r i c a

Kypria Momos ¡phigeneia

ICrisis Syndeipnoi

Alexandres 'Ελένης άπαίτησις

'Ελένης αρπαγή Poimenes

'Ελένης γάμος

Odysseus Μαινόμενος Troilos

'Αχαιών σύλλογος Palamedes

Telephos Nauplios καταπλέων 15 Stücke

Homer , ¡lias 0 Stücke

P o s t - H o m e r i c a

Aithiopis Memnon

Kleine Ilias Aia s Philoctetes

Lakainai Skyrioi

lliupersis Sinon Philoktetes in Troia

Antenoridai Polyxene

Laokoon

Nostoi Nauplios πυρκαεύς Hermione

Teukros Elektro

Peleus 15 Stücke

Odyssee Nausikaa - Phaiakes? - Niptra

Telegonie Euryalos? - Odysseus άκανθοπλήξ

Incertae sedis Aias Lokros - Aichmalotides -

'Αχίλλειος έρασταί - Priamos - Phryges 10 Stücke

Troischer Sagenkreis einschließlich 5 unsicherer Titel zusammen 45 Stücke = 37%

Thebanischer Sagenkreis 7 Stücke = 6%

Beide Sagenkreise zusammen 52 Stücke = 43%

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Tabelle 3: Aischylos

Gesicherte Titel (nach Radt) 81 Stücke = 100%

Troischer Sagenkreis

A n t e - H o m e r i c a

Kypria Telephos

Iphigeneia

Palamedes 3 Stücke

Homer , llias Achilleis

Myrmidones

Nereides

Phryges = "Εκτορος λύτρα

Kares = Europa? 4 Stücke

P o s t - H o m e r i c a

Aithiopis Memnon

Ψυχοστασία

Kleine llias "Οπλων κρίσις

Thressai

Philoktetes

Nostoi Oresteia

Agamemnon

Choephoroi

Eumenides

Salaminiai 9 Stücke

Odyssee Proteus

Kirke

Penelope

Psychagogoi

Ostologoi 5 Stücke

Troischer Sagenkreis zusammen 21 Stücke = 26%

Thebanischer Sagenkreis zusammen 8 Stücke = 10%

Beide Sagenkreise zusammen 29 Stücke = 36%

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Tabelle 4: Euripides

Alexandrinische Ausgabe abzüglich [Peirith., Rhadam., Tennes] 75 Stücke = 100%

Troischer Sagenkreis

A n t e - H o m e r i c a

Kypria Alexandres

Skyrioi

Telephos

1PHIGENEIA IN AU LI S

Protesilaos

Palamedes 6 Stücke

Homer , llias Rhesos [ΛΛβίΟΐ] 1 Stück

P o s t - H o m e r i c a

Kleine Ilias Philoktetes

Iliupersis Hekabe

Andromache

Troades

Nostoi HELENA

ELEKTRA

Orestes

IPH1GENEIA BEI DEN TAURERN 8 Stücke

Odyssee KYKLOPS 1 Stück

Troischer Sagenkreis zusammen 16 Stücke = 21,3%

Thebanischer Sagenkreis

Chrysippos

Oidipus

Hypsipyle

Phoinissai

Antigone

HIKETIDES

Alkmaion in Psophis

Alkmaion in Korinth 8 Stucke

Thebanischer Sagenkreis zusammen 8 Stücke = 10,6%

Beide Sagenkreise zusammen 24 Stttcke = 32%

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Bei Aischylos (Tabelle 3) bilden die 21 Trojastücke von der Kyprien-Gruppe (Telephos, Iphigenie und Palamedes) bis zu den 5 Orfyssee-Stücken (Proteus usw.) nur 26% des Oeuvres, bleiben aber auch hier vor den 8 thebanischen Stücken (und 8-10 Dionysosdramen) die bei weitem stärkste Gruppe. Ihre Be-sonderheit liegt vor allem in dem hohen Anteil an Ilias- und Odyssee-Stoffen. In der Mehrzahl waren es Episoden (in den Karern z.B. die Sarpedonepisode des Π, im Proteus der Menelaosnostos des δ). Die Achilleis war jedoch mit Myrmi-donen, Nereiden und Phrygern oder Hektors Lösung die dramatische Version der Ilias (und der Beleg für den in Anm. 8 zitierten Satz des Aristoteles): ent-sprechend war die thebanische Tetralogie mit Laios, Oidipus, Sieben gegen The-ben und Sphinx offenbar die dramatische Version der epischen Thebais, und ent-sprechend dürfte die Orestie die dramatische Version der 'Ατρειδών κάθοδος gewesen sein, des Hauptstücks der Nosten: veritable τεμάχη in der Tat aus den μεγάλα δείπνα Homers.

Schließlich Euripides (Tabelle 4). Die Zahl für den Troischen Sagenkreis liegt hier mit 21,3% nur leicht unter der des Aischylos, und diese Quote scheint dem allgemeinen Durchschnitt zu entsprechen. Etwas darunter liegt z.B. Achaios (etwa zeitgleich mit Euripides): wir kennen von ihm quer durch das Alphabet von A bis Φ 20 Titel, von denen unseren beiden Sagenkreisen 2 + 3 = 5 zuzuordnen sind, zusammen also genau ein Viertel (die beiden troischen Titel sind Momos - wenn es der Momos der Kyprien ist - und Philoktet); sophokle-ische Höhe erreicht dagegen der jüngere Astydamas (einer der Klassiker des 4. Jh.): wir kennen von ihm, wiederum quer durch das Alphabet von A bis Φ, 17 Titel, von denen unseren beiden Sagenkreisen 6 + 4 = 10 zuzuordnen sind, zu-sammen also weit Uber die Hälfte (die troischen Titel: Aias und Achilleus, Hek-tor und Lykaon, Nauplios und Palamedes: für den Hektor sind die Papyrusfrag-mente inzwischen um ein großartiges apulisches Vasenbild vermehrt worden). Zur Kontrolle die Zahlen für die poetae tragici minores insgesamt: wir kennen rund 250 Dramentitel, davon entfallen 50 = 20% auf den troischen, 20 = 8% auf den thebanischen Sagenkreis, auf beide zusammen also 28%, und diese Zahl paßt recht gut zu den Zahlen für Euripides. Und damit zu ihm.

Eine Besonderheit in der Sektion Troischer Sagenkreis (Tabelle 4) liegt hier darin, daß der größere Teil der Stücke vollständig überliefert ist: es sind dies zum einen die 4 gesperrt gedruckten Trojastücke der kommentiert überlieferten Auswahl, also die Gruppe Hekabe - Andromache - Troades und der Orestes (ich ignoriere hier den Rhesos), und es sind zum anderen die 5 in Versalien ge-sperrt gedruckten Stücke aus dem E-H-I-K-Block der antiken Gesamtausgabe,

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der erst zur Zeit des Eustathios zufällig an's Licht kam (Helena also und Elek-tro, die beiden Iphigenien und der Kyklops): zum überlieferungsgeschichtlichen Zufall kommt hier der onomatologische, daß so viele prominente Namen des heroischen Personals mit Epsilon, Eta und Iota beginnen, und das Resultat dieser beiden Zufälle ist, daß bei Euripides nur 6 Stücke dieses Stoffkreises verloren sind: es sind in der Ante-Homerica-Sektion die 5 Stücke, die die Aulische Iphi-genie umgeben (also Alexandres, Skyrioi und Telephos, Protesilaos und Pala-medes), und aus der Post-Homerica-Sektion allein der Philoktet.

Und damit zu meinem dritten Schritt. Ich Ubergehe Philoktet und Telephos (sie sind inzwischen von Carl Werner Müller und Claudia Preiser in ihren kom-mentierten Ausgaben auf das Gründlichste behandelt worden) und beschränke mich auf einige Hinweise zu Alexandres und Palamedes, Protesilaos und Sky-

III

Zunächst zu Alexandres und Palamedes, den beiden ersten Stücken der Tro-ischen Trilogie (der einzigen sicher faßbaren Trilogie des Euripides im stofflich-inhaltlichen Sinne): der Alexandres (das erste Stück) ist die hochdramatische Gestaltung der αρχή κακών im menschlich-irdischen Aktionsraum. Für die Kyprien hält die Hypothesis des Proklos nur lapidar fest, daß Paris-Alexandros draußen auf dem Ida die κρΐσις zugunsten Aphrodites entscheidet und sodann auf Aphrodites Rat ναυπηγείται (die Unglücksschiffe, νήας [...] άρχεκάκους, bauen läßt, die ihm nach II. 5.62-64 Phereklos gezimmert hat) - der Schiffbau wird von Prophezeiungen des Helenos begleitet, die Abfahrt von Prophezeiun-gen Kassandras - : der Schauplatz hierfür ist ersichtlich die Stadt Ilion-Troja. Wir wissen nicht, wie die Kyprien den Wechsel des Schauplatzes vom Ida nach Ilion-Troja (und damit verknüpft den Wandel des Alexandras vom idäischen Rinderhirten zum trojanischen Prinzen) erzählerisch bewerkstelligt haben; eben dies ist jedenfalls der Stoff des euripideischen Alexandres: die so Uberaus fol-genreiche Rückkehr des verlorenen Sohnes in seine Stadt.

Aus dem alten Textbestand (Hygins 91. Fabel und etwa 20 Stobaios-Senten-zen) war an Themen des Stückes immer schon Hekabes anhaltende Trauer um das einst ausgesetzte Kind und eine dramatische Kontroverse um den Status des

11 Für Texte, Kontexte und Literatur verweise ich hier pauschal auf meine im Druck befindliche Ausgabe (Tragicorum Graecorum Fragmenta, Vol. 5 = Kannicht 2003/4).

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Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers 197

Rinderhirten vom Ida bekannt, und schon Friedrich Vater hat den Anlaß zu die-ser Kontroverse überzeugend in der Frage vermutet, ob ein δούλος wie dieser Hirte vom Ida zur Teilnahme an den άθλα zugelassen werden dürfe, die Troja dem Andenken des ausgesetzten Alexandras widmete.12 Bedeutenden Textzu-wachs haben dann (in den 20er/30er Jahren) die Straßburger Papyri gebracht: ein Gespräch mit Priamos Uber die Ausrichtung der Spiele für Alexandras -Botenbericht Uber den spektakulären Erfolg des Hirten vom Ida: πάν αστυ πληροί Τρωϊκόν γαυρούμενος 'die ganze Stadt erfüllt er jetzt mit seinem Tri-umphieren* - Empörung Hekabes und ihrer unterlegenen Söhne (namentlich des Deiphobos) über diesen Skandal - Planung eines Mordanschlags - : aber sichere Ordnung in das Ganze hat erst Revel Coles mit der Edition der Hypothesis aus den 'Tales from Euripides' (P. Oxy. 3650) und mit einer professionellen Revi-sion der Straßburger Papyri gebracht (BICS Suppl. 32, 1974): erst jetzt wurde klar, daß der Mordanschlag wirklich von Hekabe selbst ausgeführt werden sollte und daß er erst im allerletzten Augenblick durch die Anagnorisis von Mutter und Sohn verhindert wurde (mit der furchtbaren Pointe, daß Trojas Schicksal eben hiermit endgültig besiegelt war) - : aber für eine szenische Rekonstruktion dieser offenbar hoch dramatischen Schlußhandlung bleibt die Hypothesis leider zu lakonisch.

Zum zweiten Stück der Troischen Trilogie kann hier der Hinweis genügen, daß der Tod des Palamedes (die Rache für die Enttarnung des Odysseus μαινό-μενος) in den Kyprien ein gewöhnlicher Mord war: Pausanias hat den Fall έν επεσι τοις Κυπρίοις eigens nachgelesen und bezeugt uns, daß Palamedes hier auf dem Weg zum Fischfang von Odysseus und Diomedes erdrosselt worden ist (Paus. 10.31.2 = fr. 30 Bernabé = fr. 20 Davies). Das berühmt-berüchtigte στρα-τήγημα des Odysseus: die perfide Justizmordintrige gegen Palamedes ist erst die sozusagen moderne Version der Tragiker (Polyainos weist sie ausdrücklich der σκηνή των τραγφδών zu). In der Tat haben ja auch Aischylos und Sophokles Palamedai geschrieben, und auch bei ihnen wird Verteidigungsrede pro Pala-mede (und damit Anklage gegen ihn) kenntlich. Aber nur der euripideische Chor, so denke ich, konnte am Ende singen (Eur. fr. 588 Nauck2 = K.: Metrum ( ? u ù ) u u ù u wuu— D| —e—D—|):

12 Der Trimeter βοτηρα νικάν άνδρας άστίτας· τί γάρ; 'ein Hirte siege über Männer aus der Stadt - na und?' (Soph. fr. 93 Radt) scheint dieses Motiv auch für den Alexandras des Sophokles zu bezeugen.

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198 Richard Kannicht

( > έκάνετ' έκάνετε τάν πάνσοφον, ω Δαναοί,

τάν ούδέν ' άλγύνουσαν άηδόνα Μουσάν

< > getötet habt ihr getötet ihn, den allweisen, ihr Danaer,

ihn der niemandem etwas zu Leide tat: den Musensänger:

den Intellektuellen, dessen Sprache die der Musen war. Schon im 4. Jh. v. Chr. hat man dieses vielzitierte Lied anachronistisch (wie Philochoros gesehen hat) auf den Justizmord der Athener an Sokrates bezogen.

Schließlich Protesilaos und Skyrioi, zwei unerwartet instruktive Beispiele für euripideische Entheroisierung der epischen Stoffe, positiv gewendet: für ihre Öffnung in die οικεία πράγματα der Lebenswelt.

Protesilaos ist im Schiffskatalog und im Schiffskampf der Ilias (2.698-710, 15.704-706) als der bereits gefallene Führer des südthessalischen Kontingents ruhmvoll präsent: nach 2.700-701 hat er in Phylake (am Golf von Pagasai) eine klagende Frau und ein halbfertiges Haus hinterlassen. Die Kyprien haben seinen Tod näher behandelt (als erster Grieche in Ilion an Land gegangen, ist er bestim-mungsgemäß auch als erster gefallen): was seine Frau betrifft, so wissen wir nur, daß sie in den Kyprien noch nicht die Akastostochter Laodameia war, sondern die Meleagrostochter Polydora (Paus. 4.2.7 = fr. 26 Bernané = fr. 18 Davies). Das Drama des Euripides ist explicite nur durch 12 kleinere Fragmente (davon nur zwei dramatisch signifikant) und durch ein einziges testimonium argumenti bezeugt: ein Aristeides-Scholion, demzufolge Protesilaos im Drama des Euripi-des 'gerade verheiratet, und nur einen einzigen Tag mit seiner Frau vereinigt, gezwungen wurde, mit den Griechen gegen Troja zu ziehen, wo er dann sogleich als erster fiel. Er bat die Unterweltsgötter, und wurde für einen Tag (μίαν ήμέ-ραν) freigelassen, καί συνεγένετο τη γυναικί έαυτοΰ'. Soweit das Scholion.

Da diese Geschichte prominent nur von Euripides bearbeitet worden ist, zieht das Aristeides-Scholion auch die weiteren Text- und Bildzeugnisse nach sich ("Euripides traxit omnes, qui post eum Laodamiae res tetigerunt", Wilamowitz 1929: 91) - : deshalb fasse ich hier diese indirekten testimonia fabulae sogleich in der Betrachtung eines von zwei römischen Sarkophagen zusammen, die das Drama als solches am authentischsten zu bezeugen scheinen.13

13 Vatikan 2465, ca. 170 n. Chr.: LIMC VII (1994), "Protesilaos" (S. 558, Katal. Nr. 27); Schefold-Jung (1989: 157, Abb. 139) (hiernach meine Abb. 1).

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Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers 199

Die Bildgeschichte beginnt auf der (nicht abgebildeten) linken Schmalseite mit dem traurigen Abschied in Phylake und läuft dann auf der Schauseite in fünf gleitend ineinander übergehenden Szenen ab (Abb. 1: in meiner Beschreibung setze ich für die unbenannten Personen sogleich die Namen ein, die sich aus der Gesamtdeutung der Bildfolge zweifelsfrei ergeben):

1.Szene in zwei Teilen: (a) Protesilaos steigt in Troja an Land und trifft dort auf einen gegnerischen Hopliten (in den Kyprien Hektor); und (b) von dem nie-dergestreckt (der erste Gefallene), scheidet er in Gestalt seines verhüllten ψυχή-Schattens aus dem Leben, von Hermes Psychopompos bereits erwartet.

2. Szene: Hermes führt Protesilaos in die Welt zurück (Lukian bezeugt in den Totengesprächen, daß er ihn auf Anordnung Persephones zuvor in einen kraft-vollen jungen Mann zurückverwandelt hat): mit dieser Szene hat die Handlung des Stückes begonnen. Der Berliner Photios hat den Text dazu an's Licht ge-bracht (α 1251 Theodoridis):

άμπρεύοντι· Ευριπίδης Πρωτεσιλάφ < χ - ) επου δέ μοΰνον άμπρεύοντι μοι,

άντί του προηγουμένφ καί όδηγοΰντί σε καί οιον ελκοντι;

und als Sprecher dieser Worte wird durch das Relief Hermes gesichert. 3. Szene (und Zentrum der Komposition): die Begegnung des Paares vor

dem Portal des Hauses in Phylake, Laodameia mit der förmlich-intimen 'αΐδώς-Gebärde*.

4. Szene: der θάλαμος. Sie auf die Kline zurückgesunken, er todtraurig am Fußende hockend: rechts oberhalb beginnt sein ψυχή-Schatten sich schon wie-der von ihm zu lösen: der von den Göttern gewährte Tag geht zu Ende. Es fehlt hier merkwürdigerweise ein bildlicher Hinweis auf das in den übrigen Zeug-nissen sicher überlieferte Motiv des Eidolon, das sich Laodameia von Protesi-laos hatte anfertigen lassen, um in ihm problematischen Trost zu suchen und zu finden (in fr. 655 οΰκ αν προδοίην καίπερ αψυχον φίλον spricht sie Favorin zufolge selbst von diesem Eidolon): den Grund für diese Aussparung errate ich nicht.

5. Szene: Hermes führt Protesilaos nach rechts zu Charon und seinem Na-chen (die rechte Schmalseite zeigt die drei großen Büßer der Unterwelt): den mythographischen Quellen zufolge hat sich nach dieser zweiten Trennung auch Laodameia das Leben genommen.

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200 Richard Kannicht

Nur scheinbar weniger trist hat Euripides in den Skyrioi die Skyros-Episode im Leben des Achilleus dramatisiert. Die epischen Quellen bieten uns in Spuren nur eine 'heroische' Version: • in der Presbeia der Ilias (9.667-668) schläft Patroklos mit einem Beutemäd-

chen von Skyros; • an der Leiche des Patroklos (II. 19.326-337) denkt Achill wehmütig an 'sei-

nen lieben Sohn, der in Skyros ihm aufwächst' und den Patroklos nach dem Krieg in Skyros hätte abholen und heimbringen sollen nach Phthia;

• in den Kyprien wird Achill nach dem mysisch-teuthranischen Fehlschlag nach Skyros verschlagen (ein Reflex davon in einem wörtlichen Fragment der Kleinen Ilias: Πηλέίδην δ* Άχιλήα φέρε Σκΰρόνδε θύελλα [fr. 24 Ber-nabé = fr. 4 Davies]) und heiratet dort (γαμεί) die Lykomedestochter Deida-meia; und

• in der Kleinen Ilias schließlich 'holt Odysseus den Neoptolemos (das Resul-tat dieses γάμος) von Skyros nach Troja und übergibt ihm die Waffen seines Vaters: καί Άχιλλεύς αύτφ φαντάζεται', und damit übernimmt Neoptole-mos seine historische Heldenrolle.

Dies also die 'heroische' Version des Epos. Die 'idyllische' Version - Achill als Mädchen unter den Töchtern des Lykomedes aufwachsend und dort von Odys-seus schließlich entdeckt - ist in ersten Spuren erst im 5. Jh. bezeugt: zum einen in einem Gemälde Polygnots in Athen, das Achill όμοΰ τανς κόρανς έν Σκύρφ zeigte (so - leider allzu lakonisch - Pausanias 1.22.6), zum anderen in den Resten der euripideischen Skyrioi, und erst in dieser Version ist die Geschichte dann populär geworden.14 Die Wirkungsgeschichte anderer euripideischer Dra-men mußte die Annahme nahelegen, daß die populäre Vulgata auch hier ihren Ursprung bei Euripides hatte. Aber gerade für den festen Zug einer Mehrzahl von Lykomedestöchtern ist dies nicht der Fall. Die große Überraschung der Hypothesis aus den 'Tales from Euripides' (PSI 12.1286) bestand in der Tat darin, daß Euripides die Töchter auf eine Tochter reduziert und damit die idyl-lisch-spielerische Mädchengeselligkeit in ein problematisch intimes Verhältnis zu Zweit verwandelt hat. Nach dem Incipit - einer Anrufung Helenas als der άρχή κακών - lautet die ύπόθεσις: 'Da Thetis das Schicksal ihres Sohnes Achill kannte, wollte sie ihn von dem Feldzug gegen Ilion fernhalten, steckte ihn in Mädchenkleider und gab ihn Lykomedes in die Obhut, dem Herrn der Skyrier.

14 A. Kossatz-Deißmann in UMC I (1981), "Achilleus" (S. 55-69, Katal. Nr. 95-181: "Π. Aufent-halt auf Skyros").

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Scheiben von den großen Mahlzeiten Homers 201

Der zog eine mutterlos gewordene (verwaiste) Tochter mit Namen Deidameia auf, und mit der zusammen erzog er ihn als Mädchen (συνεπαρθένευεν), da man ja nicht wußte, wer er ist. Der aber verführte Deidameia heimlich und schwängerte sie.' Dies die eine Seite der Vorgeschichte. Die andere Seite erken-nen wir gerade noch in den letzten Zeilenfragmenten: die Orakelweisung an Agamemnon, 'den Feldzug nicht ohne Achill zu unternehmen', dann den Namen des Diomedes, der daraufhin mit Odysseus auf die Suche geschickt worden sein wird - : damit bricht der Text ab.

Wir können die Konsequenzen aus diesen Handlungsvorausetzungen hier nicht mehr durchspielen. Die Mutterlosigkeit Deidameias involviert jedenfalls eine gewichtige Ammenrolle. Zentrale Ereignisse der Handlung müssen (zum einen) die Geburt des Kindes gewesen sein (ein medizinischer Reflex davon ist in fr. 682 bei Erotian erhalten) und (zum anderen) die Ankunft des Odysseus; das stärkste Motiv aber muß wohl die zweifache Enttarnung des Achilleus 'unter einem Sonnenumlauf gewesen sein: gipfelnd (wie Alfred Körte vermutet hat) in einem komplizierten Konflikt zwischen dem persönlich-privaten Anspruch Dei-dameias auf den geliebten Mann und Vater ihres Kindes und dem öffentlich-patriotischen Anspruch Griechenlands auf seinen größten Helden (auch davon ist in zwei Versen [fr. 683a] ein schwacher Reflex erhalten). Aber das Stück hat in der Antike offenbar keine große Wirkung gehabt: 12 Trimeter und 2 Wörter in 7 Fragmenten, das ist (außer dem Hypothesisfragment) alles, was von ihm geblieben ist.

Soviel hier höchst fragmentarisch zu einigen Fragmenten euripideischer τεμάχη των 'Ομήρου μεγάλων δείπνων. Ihnen, lieber Joachim Latacz, alle guten Wün-sche für Sie persönlich und für den neuen Kommentar zu den μεγάλα δείπνα Homers selbst, und Ihnen, meine Damen und Herren, Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.

Bibliographie

Bernabé, Α. (1987). Poetarum epicorum Graecorum testimonia et fragmenta. Leipzig.

Dihle, A. (1970). Studien zur griechischen Biographie (2. Aufl.). Göttingen. Kannicht, R. (2003/4). Tragicorum Graecorum Fragmenta, Vol. 5: Euripides.

Göttingen.

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202 Richard Kannicht

Radt, S. (1982). "Sophokles in seinen Fragmenten", in O. Reverdin und B. Grange (Hrsg.), Sophocle (Entretiens Hardt, 29). Vandœuvres-Genève, 185-231.

Schefold, Κ., und Jung, F. (1989). Die Sagen von den Argonauten, von Theben und Troia in der klassischen und hellenistischen Kunst. München.

Schneidewin, F. W. (1853). "Zu den Βίοι Αισχύλου καί Σοφοκλέους". Philologus, 8: 732-738.

West, M. L. (1985). "Ion of Chios". BICS, 32: 71-78. Wilamowitz-Moellendorff, U. von (1884). Homerische Untersuchungen. Berlin. — (1907). Einleitung in die griechische Tragödie. Berlin. — (1929). "Sepulcri Portuensis imagines". SIFC, 7: 89-100 (wieder abgedruckt

in U. von Wilamowitz-Moellendorff, Kleine Schriften, V/l. Berlin, 1937, 523-532).

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