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Thomas Vesting, Hamburg Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus: Hermann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre I. Einleitung Immer wieder hat sich Hermann Heller mit dem Werk des Wiener Rationalisten und Positivisten Hans Kelsen auseinandergesetzt. Das Ergebnis dieser Aus- einandersetzung war, so hat es sich im wissenschaftlichen Bewußtsein bis heute erhalten, eine schonungslose Kritik an den inhaltsleeren Stereotypen eines positi- vistischen Formalismus. Begleitet von einer mitunter scharfen, zum Teil bissig ironischen Abfertigung Kelsens’, schien diese Auseinandersetzung grundsätzlich und rigoros; zumindest aber schien sie auf Seiten Hellers von dem Willen bestimmt gewesen zu sein, jeden Vorstoß zurückzuweisen, den Kelsen unternahm, um zwi- schen beiden Positionen zu vermitteln. Im Rahmen der Staatsrechtslehrertagung von 1928 hielt er Kelsen immerhin mit allem Nachdruck entgegen, zwischen der Reinen Rechtslehre und seinen eigenen Überlegungen Konvergenzen zu konstru- ieren, wo keine sind. Auf eine Diskussionsbemerkung von Kelsen, in der dieser den Ergebnissen in allen wesentlichen Punkten zustimmte, die der junge Privatdozent gegen die herrschende Zweiteilung des Gesetzesbegriffs vorgetragen hatte, rea- gierte Heller mit Unverständnis und Zurechtweisungen: Nichts liege ihm ferner, als Kelsens ,,formalistischer Apriorismus“; nichts sei abwegiger als der Versuch, von hier aus Übereinstimmungen zur Wirklichkeitswissenschaft herzustellen, der es doch gerade darum gehe, gesellschaftliche, ökonomische und politische Bedingun- gen in die juristische Arbeit einzubeziehen; und nichts sei deshalb absurder als die These, er, Heller, hätte von den Lehren der Wiener Schule einen größeren Gebrauch gemacht, als er selbst anerkannt habe.2 Diese eigene Positionsbestimmung hinterläßt zunächst ein klares Bild. Für Heller war Kelsen ganz offensichtlich der Testamentsvollstrecker des staatsrechtli- chen Positivismus, der Repräsentant eines Denkens, das sein reales Substrat imPo- sitivismus und Rationalismus des 19. Jahrhundert hatte. Während für die Wirklich- keitswissenschaft die Grundannahmen von Liberalismus und Aufklärung zumin- dest insoweit erschüttert waren, als es für sie selbstverständlich war, daß die Antworten auf die Herausforderungen, denen Staat und Gesellschaft in Weimar ausgesetzt waren, nicht länger in den Methoden vergangener Epochen gefunden werden konnten, erschienen Kelsens Bemühungen als der Versuch, die Staats- und 1 Vgl. nur H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: Gesammelte Schrifften Bd.11, hrsg. von M. Drath, G. Niemeyer, 0. Stammer, F. Borinsky, Leiden 1971 (im folgenden zitiert als GS 1,II, 111), S.16, S.20; ders., Die Souver&Ctit, GS 11, S.116, S.44, S.157. 2 H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, GS 11, S.246 f.

Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus · Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S.29 ff. H. Kelsen, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle

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Thomas Vesting, Hamburg

Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus: Hermann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre

I. Einleitung

Immer wieder hat sich Hermann Heller mit dem Werk des Wiener Rationalisten und Positivisten Hans Kelsen auseinandergesetzt. Das Ergebnis dieser Aus- einandersetzung war, so hat es sich im wissenschaftlichen Bewußtsein bis heute erhalten, eine schonungslose Kritik an den inhaltsleeren Stereotypen eines positi- vistischen Formalismus. Begleitet von einer mitunter scharfen, zum Teil bissig ironischen Abfertigung Kelsens’, schien diese Auseinandersetzung grundsätzlich und rigoros; zumindest aber schien sie auf Seiten Hellers von dem Willen bestimmt gewesen zu sein, jeden Vorstoß zurückzuweisen, den Kelsen unternahm, um zwi- schen beiden Positionen zu vermitteln. Im Rahmen der Staatsrechtslehrertagung von 1928 hielt er Kelsen immerhin mit allem Nachdruck entgegen, zwischen der Reinen Rechtslehre und seinen eigenen Überlegungen Konvergenzen zu konstru- ieren, wo keine sind. Auf eine Diskussionsbemerkung von Kelsen, in der dieser den Ergebnissen in allen wesentlichen Punkten zustimmte, die der junge Privatdozent gegen die herrschende Zweiteilung des Gesetzesbegriffs vorgetragen hatte, rea- gierte Heller mit Unverständnis und Zurechtweisungen: Nichts liege ihm ferner, als Kelsens ,,formalistischer Apriorismus“; nichts sei abwegiger als der Versuch, von hier aus Übereinstimmungen zur Wirklichkeitswissenschaft herzustellen, der es doch gerade darum gehe, gesellschaftliche, ökonomische und politische Bedingun- gen in die juristische Arbeit einzubeziehen; und nichts sei deshalb absurder als die These, er, Heller, hätte von den Lehren der Wiener Schule einen größeren Gebrauch gemacht, als er selbst anerkannt habe.2

Diese eigene Positionsbestimmung hinterläßt zunächst ein klares Bild. Für Heller war Kelsen ganz offensichtlich der Testamentsvollstrecker des staatsrechtli- chen Positivismus, der Repräsentant eines Denkens, das sein reales Substrat imPo- sitivismus und Rationalismus des 19. Jahrhundert hatte. Während für die Wirklich- keitswissenschaft die Grundannahmen von Liberalismus und Aufklärung zumin- dest insoweit erschüttert waren, als es für sie selbstverständlich war, daß die Antworten auf die Herausforderungen, denen Staat und Gesellschaft in Weimar ausgesetzt waren, nicht länger in den Methoden vergangener Epochen gefunden werden konnten, erschienen Kelsens Bemühungen als der Versuch, die Staats- und

1 Vgl. nur H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: Gesammelte Schrifften Bd.11, hrsg. von M. Drath, G. Niemeyer, 0. Stammer, F. Borinsky, Leiden 1971 (im folgenden zitiert als GS 1, II, 111), S.16, S.20; ders., Die Souver&Ctit, GS 11, S.116, S.44, S.157.

2 H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, GS 11, S.246 f.

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Verfassungslehre als eine streng wissenschaftliche, der Mathematik vergleichbare Disziplin zu begründen. Ging es der Wirklichkeitswissenschaft darum, Abstand von jeder Form von,Wissenschaftsgläubigkeit zu gewinnen, bemühte sich Kelsen, noch einmal an das Methodenideal des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen; suchte Heller nach der Wirklichkeit des staatlichen Lebens, wurden von Kelsen alle Herrschaftsverhältnisse kurzerhand in logische Beziehungen umgedeutet. Die Wirklichkeitswissenschaft, so jedenfalls hat Heller es selbst gesehen, stand also von Anfang an konträr zur Reinen Rechtslehre, war der Versuch eines theoreti- schen Weges, der vom Formalismus wegführen sollte.3 Andere namhafte Autoren wie Gerhard Niemeyer, Horst Ehmke und Wolfgang Schluchter sind Heller in dieser Selbsteinschätzung gefolgt,4 und für die meisten ist Heller noch heute ein Repräsentant genereller Positivismuskritik.’

Trotz dieses zunächst eindeutigen Befundes sind in den letzten Jahren Stimmen laut geworden, die diese Einschätzung für korrekturbedürftig halten. Schon In- geborg Maus wußte im Grunde mehr Übereinstimmendes als Trennendes vor allem über die Konsequenzen beider Konzepte zu berichten.61n einigen jüngeren Mono- graphien ist mehrfach auf die Nähe der demokratietheoretischen Grundannahmen beider Juristen hingewiesen worden7, und anläßlich des 50. Todestages von Her- mann_ Heller hat insbesondere Christoph Müller die These einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Wirklichkeitswissenschaft und Reiner Rechtslehre in- fragegestellt: Eine genauere Analyse zeige, daß Heller und Kelsen nicht nur in der Forderung nach einer ,,offenen Verfassung“ übereinstimmten, auch in der Beurtei- lung der Gesetzesfunktion und selbst bei der sozialwissenschaftlichen Grundle- gung beider Konzepte seien weitaus mehr Annäherungen vorhanden, als man bisher angenommen habe.* Wie ist diese neuere Diskussion über das Verhältnisses von Heller und Kelsen zu bewerten? Handelt es sich dabei um haltbare Korrekturen

H. Heller, Staatslehre, GS 111, S.287 ff., S.300, S.361 ff., S.373, S.392 f. Hellers Werk und insbesondere die Staatslehre wurde von diesen Autoren regelmäßig als ein zwischen Formalismus und Dezisionismus vermittelnder Weg klassifiziert. Vgl. G. Niemeyer, Einleitung, GS 111, S.83; H. Ehmke, Grenzendet Verfassungsänderung, Berlin 1953, S. 17; W. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheore- tische Diskussion in der Weimarer Republik, 2. Aufl. 1983, S.278. Vgl. aus der Fülle der Literatur: M. Friedrich, Die Grundlagendiskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: PVS, Jahrgang 1972, SS82ff.; ders., Der Methoden- und Richtungs- streit. Zur Grundlagendiskusion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AÖR 1977, S.161 ff.; H.J. Koch, Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, Frankfurt 1977, S.76 ff., S.78 ff.; W. Heun, Der staatsrechtliche Positivis- mus in der Weimarer Republik, in: Der Staat 1989, S.377ff. 1. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, 2. erweiterte Aufl., München 1980, S.64 ff., S.111 f. W. Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, Opladen 1986, S.6ff.,S.29 ff., S.41 ff.; H. Dreier,Rechtslehre, Staatssoziologie undDemokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986, S.249 ff., S.285 (Fn.147) C. Müller, Kritische Bemerkungen zur Auseinandersetzung Hermann Hellers mit Hans Kelsen, in: C. Müller/I. Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, Frankfurt 1985, S.128 ff., S.149 ff., S.144 ff., S.135 ff. Über die m. E. nicht überzeugende These einer Entwicklung Kelsens hin zum Neukantianismus kommt zu ähnlichen Relativierungen: S. Paulson, Zu Her- mann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre, in: C. Müller/I. Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrififür Hermann Heller 1891-1933, Baden-Baden 1984, S.679 ff. Daran anschließend: 1. Staff, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, in: ZRP 1986, S.22 ff., S.23.

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eines bislang falschen Bildes? Oder ist diese Diskussion doch allzusehr von dem Wunsch überfrachtet, diesen beiden über punktuelle Übereinstimmungen hinaus- gehend gemeinsame theoretische Grundannahmen zu unterstellen, die schlichtweg nicht vorhanden sind? - Ich möchte diesen Fragen im folgenden nachgehen, und werde dazu zunächst das Konzept der Reinen Rechtslehre in groben Strichen vor- stellen (11); sodann werde ich die Hauptargumente anführen und prüfen, die Heller gegen die Reine Rechtslehre ins Feld führte (111); schließlich werde ich die Konvergenzen der beiden Konzepte herausarbeiten, wie sie sich aus meiner Sicht darstellen (IV). Den Abschluß bilden einige Reflexionen über die gegenwärtige Bedeutung der beiden Verfassungskonzepte (V).

II. Das Konzept der Reinen Rechtslehre

Die Grundgedanken, die in die inneren Gesetze der Reinen Rechtslehre führen und die für das Verständnis ihrer Architektonik unerläßlich sind, sind rasch aufgeführt. Die Reine Rechtslehre ist ein geistesgeschichtliches Produkt des (südwestdeut- schen) Neukantianismus und steht in der direkten Nachfolge der deutschen ideali- stischen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Ihre methodische Anlage ist das Ergebnis einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung, in der das klassische Denken aus Christentum und Aristotelismus zerfiel und der moderne subjektzen- trierte Rationalismus an seine Stelle trat. Diese Entwicklung, die schließlich zur neuen Erfahrungswissenschaft führte, hatte einen fundamentalen Wandel in der Grunderfahrung von Wirklichkeit zur Folge, denn die Welt wurde nun mit einer neuen Idee von Wissen konfrontiert, einer am Vermögen der Quantifizierung ausgerichteten formalen Rationalität, die dazu neigt, alle Qualitäten auszuschalten und ,,in meßbare Bestimmungen zu verwandelnY9 In Deutschland erfuhr diese neue Gesetzeswissenschaft bekanntlich in der Philosophie Kants ihre Vollendung und führte hier zu der grundlegenden Unterscheidung von theoretischer undpraktischer Vernunft, zu der Differenz von ,,Naturbegriffen“ und ,,Freiheitsbegriffen”. Zwar konnte sich der Kantische Rationalismus gegen die Kritik der Romantik und die Systeme des absoluten Idealismus erst nach dem Untergang der idealistischen Philosophie seit 183 1 endgültig durchsetzenlO, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mündete diese Bewegung schließlich in der wissenschaftstheoretischen Konsequenz eines strikten Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaft. Dieser Dualismus hatte zur Folge, den Kategoriengebrauch - und damit vor allem die Kategorie der Kausalität - auf alle in der Erfahrung begegnenden Erscheinungen auszudehnen. Im Gefolge der neukantischen Wende der Philosophie wurde auch die Soziologie wissenschaftlich im Sinne einer Naturwissenschaft, und die gesell- schaftlichen Lebensprozesse verschwanden im Korsett eines streng deterministischen Systems, dessen natürliche Erscheinungen nun in Form eines gleichförmigen Zeit- flusses fortlaufender Abhängigkeit des Späteren vom Früheren gedacht wurde, als unendliche und gleichmäßige Kausalreihe, in der jedes Stadium des Prozesses Wirkung früherer Ursache und zugleich Ursache späterer Wirkung war. Indem man

9 Th. W. Adomo, Negative Dialektik, Gesammelte Schtiften Bd.6, Frankfurt 1984, SS3 10 Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983, S.15 f.,

S.88 ff., s.131 ff.

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einen naturwissenschaftlichen Begriff von Wissenschaft auf die Geisteswissen- schaften übertrug, wurde die Gesellschaft wie einedurchgängig vorhersehbare und kalkulierbare Ordnung gedacht, und genau in diesem Sinn unterscheidet sich die Soziologie auch für Kelsen, soweit sie menschliches Verhalten kausal zu erklären sucht , ,,nicht wesentlich von Naturwissenschaften, wie Physik, Biologie oder Physiologie“.”

Damit knüpft Kelsen an ein Programm an, in dem das strenge Denken sich nicht mehr darauf beschränkt, die sinnliche Mannigfaltigkeit der natürlichen Erschei- nungen in den sicheren Gang der Wissenschaft zu bringen, wie dies bei Kant noch der Fall war. Die kausale Methode weist jetzt weit über die theoretische Na- turerkenntnis hinaus, so wie es später auch für den sozialwissenschaftlichen Positivismus typisch werden sollte. l2 Ein solches Verfahren hat notwendig einen naturalistisch verengten Begriff von Soziologie zur Folge und impliziert, daß neben die Naturgesetzlichkeit eine spezifisch soziale Gesetzlichkeit treten muß, damit Gesellschaft als etwas von der Natur verschiedenes überhaupt noch gedacht werden kann. Ganz so wie Kant den Determinismus aller Naturerscheinungen um des allgemeinen moralischen Bewußtseins willens aufheben mußte, kennt auch die Reine Rechtslehre eine Seinsschicht, die dem Kausalitätsprinzip nicht unterworfen ist; und diese ist für sie die Sphäre des Geistes, die zu dem Raum erklärt wird, in dem sich die Eigengesetzlichkeit des Sozialen manifestiert. So wie mit dem Neukantianismus die Wertphilosophie zur Grundlage’der praktischen Philosophie überhaupt wurde - nach Schnädelbach fiel sie praktisch mit ihr zusammerQ3 -, wird auch bei Kelsen die Sphäre der Wertgesetzlichkeit, das Sollende zum Grundbegriff des juristischen Denkens. Kelsen setzt die Cartesianische Tradition damit un- mittelbar fort, denn auch für ihn bleibt die Kluft von Natur und Geist im Sinn eines Gegensatzes von physischer oder psychologischer (Natur-)Wirklichkeit und Wert unüberbrückbar, auch für Kelsen ist die Differenz von mechanischen, nach den Ge- setzen der Natur sich abspielenden Kausalverläufen einerseits und Normen- oder Wertgesetzen andererseits konstitutiv.14

Die spezifische, von der Natur verschiedene Sphäre, in der sich das Soziale entfaltet, ist für Kelsen also die Sph%re des Geistes als Differenz zur Welt der natürlichen Erscheinungen. Danach ist die Welt der natürlichen Erscheinungen durch die Kategorie der Kausalität, die Welt des Sozialen durch das Prinzip der Zu- rechnung bestimmt. Kelsen behauptet mit anderen Worten erstens, daß der in Zeit und Raum sich abspielende Ablauf eines menschlichen Verhaltens nur als ,,Kausal- nexus und somit als ein Stück Natur“ zu begreifen ist. l5 Gesellschaftslehre, die auf

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H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2., vollst&dig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Wien 1960, S.89. Zum Zusammenhang von Neukantianismus und rationalistischer Methode vgl. auch: E.W. Böckenförde, Kritik der Wertbegrtindung des Rechts. Überlegungen zu einem Kapitel der Rechtsphilosophie“ in: Einwohnung. Festschriji für Robert Spaemann. Hrsg. von R. Löw, Weinheim 1987, S. 1 ff., S.3-ff. Zur Aufarbeitung dieser Zusammenhange: J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaft, 5. erw. Aufl., Frankfurt 1989, S.89 ff., S.92 ff. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S.200 Gut herausgearbeitet wird dieser Dualismus bei: R. Dreier, Sein und Sollen, in: ders., Recht- Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt 1981, S.217 ff., S.218 ff.; H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S.29 ff. H. Kelsen, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930, S. 18

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die Wirklichkeit im Sinne einer Summe von lebenden Menschen zielt, kann daher immer nur meinen, eine spezifische Einheit kausalgesetzlich zu erklären, ein System zu beschreiben, das nach dem Kausalprinzip organisiert ist und dessen Elemente durch Ketten fortlaufender Ursache-Wirkungs-Beziehungen miteinander vermittelt sind. Diesen Gegensatz von Geist und Natur legt die Reine Rechtslehre ihrer auf Staat und Recht gerichteten Erkenntnis zugrunde, und so geht es von ihrem Standpunkt zweitens darum, den Staat als geistige Lebenswirklichkeit zu erfassen, eine Staatslehre zu schaffen, die ,,als normative Staatslehre auch die Soziologie des Staates ist“.16 Kelsen bleibt an diesem Punkt zwar recht vage und erwägt zunächst eine ausschließlich normative Betrachtung von Staat und Gesellschaft, wie in seiner Kritik an der Zwei-Seiten-Theorie von Georg Jellinek”, an Max Weber”, und an der Organismuslehre Gierkes oder Bluntschlis überaus deutlich wird.19 Wiederholt nämlich argumentiert Kelsen hier streng kantisch und weist darauf hin, daß der Staat wissenschaftlich überhaupt nur als Sinngehalt existiere, daß seine Existenz eben seine Geltung sei und daß er als Einheit und System ausschließlich auf einer normativ juristischen Ebene gedacht werden könne. Kelsen bezweifelt an dieser Stelle also gerade, daß der Staat über die normative Analyse hinaus als soziologische Einheit beschrieben werden kann. Aber wie immer man das Ver- hältnis von Soziologie und normativer Staatslehre nun zu bestimmen hat,2O klar ist, daß für Kelsen Staatslehre per definitionem Normwissenschaft ist, die sich darum bemüht, das Wesen staatlicher Ordnung als das einer Rechtsordnung zu erfassen. Die spezifische Gesetzlichkeit, der Staat und Recht unterworfen sind, muß als ob- jektive Norm und Wertgesetzlichkeit erkannt werden. Der Grundbegriff der nor- mativen Staats und Verfassungslehre ist daher der Rechtssatz, das hypothetische Urteil oder ideelle Deutungsschema, das Zwei Tatbestände als Bedingung und Folge in der spezifischen Weise des Sollens miteinander verknüpft. Wenn Kelsen gewisse Interdependenzen von Sein und Sollen auch einräumt, wenn Kelsen auch weiß, daß die normative Zwangsordnung des Rechts auf einer Fülle von sozialen Voraussetzungen beruht und die Idee des Deutungsschemas nur dann einen Sinn hat, wenn die sozialen Gebote, die sie beschreibt, wenigstens durchschnittlich be- folgt werden - und wenn Kelsen insbesondere seit der mit der General Theory of Law and State eingeführten strengen begrifflichen Unterscheidung von vor-

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H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 16 H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Kritische Untersuchung des VerhältnissesvonStaatundRecht,2. Neudruckder 2. Aufl. Tübingen 1928,Aalen 1981,S.114 ff. AaO., S. 156 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre, S.20 Mit diesen beiden Vertretern der Organismusmustheorie hat sich Kelsen mehrfach auseinan- dergesetzt, um zu zeigen, daß der Staat kein vor dem Recht existierender Makroanthropos ist. Vgl. nur: H. Kelsen, ober Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode. Vortrag, gehalten in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien, Neudruck der Ausgabe Tübingen 1911, Aalen 1970, S.24 ff., S.26 ff.; ders.,Allgemeine Staatslehre, S.10 ff., S.95 f., S.376 ff.; ders., Reine Rechtslehre, S.288 f. Daß es nach Kelsens eigenen Voraussetzungen neben der normativen Staatslehre noch eine über das Naturwissenschaftliche hinausgehende Soziologie geben kann, versucht schon sehr friih zu zeigen: M. Kraft-Fuchs, Kelsens Staatstheorie und die Soziologie des Staates, in: ZöR 193 1, S.402 ff., S.413. Im Ergebnis unklar bleiben hier die Ausführungen von: H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 136 ff. (Fn.272), s.205 ff.

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schreibender Rechtsnorm und beschreibendem Rechtssatz eine gewisse Akzent- Verschiebung zu seiner frühen Grundauffassung vomimmt,2l so interessiert er sich doch Zeit seines Lebens nicht für die kausalwissenschaftliche Analyse von Rechts- normen, sondern für Rechtssätze, die nach seinen Voraussetzungen eben strikt von den Vorstellungen geschieden werden müsseni die reale physisch-psychische Phänomene sind. Für Kelsen kommt es für eine auf das Wesen des Staates ge- richtete Betrachtung deshalb nicht auf die in der Welt des natürlichen Seins ablau- fenden materiellen Prozesse an, sondern auf den ideellen Gehalt, ,,den diese Pro- zesse ,tragen‘ . . . . So ist der Staat als Gegenstand einer spezifischen, von der Psy- chologie verschiedenen Betrachtung, ein spezifischer geistiger Gehalt, nicht aber das Faktum des Denkens und Wollens solchen Inhalts, ist er eine ideelle Ordnung, ein spezifisches Normensystem, nicht aber das Denken und Wollen dieser Nor- men“.22

Der Staat steht somit im Reiche des Geistes, und Kelsen klassifiziert seine eigene Theorie sogar als ,,Geisteswissenschaft”.u Allerdings darf man diese Be- zugnahme auf das Geistige nicht überbewerten. Denn zum einen nimmt die Reine Rechtslehre in der Welt der Werte von vornherein eine Reduktion auf rechtsnor- mative Zusammenhänge vor, und zum anderen steht hinter Kelsens Konzeption einer ,,Geisteswissenschaft“ durchaus ein Begriff von Rechtslehre, der sich an der exakten Naturwissenschaft orientiert. Auch wenn Kelsen sein gesamtes System von kausalexplikativen Elementen freihält und sich gegen die naturwissenschaftliche Soziologie an den verschiedensten Stellen abgrenzt, übernimmt er noch in seiner normativen Wissenschaft das Methodenideal des 19. Jahrhunderts, die Idee von der Rechtswissenschaft als der ,,Mathematik der Geisteswissenschaften“ (Cohen). Wenn Kelsen an diesem Ideal auch nicht immer festhält und keineswegs ein An- hänger der Begriffsjurisprudenz ist, so bildet das Exaktheitsideal der Mathematik für ihn doch zweifellos den Maßstab aller Wissenschaft, stellt auch für Kelsen erst jene strenge Wissenschaft des neuzeitlichen Rationalismus das Werkzeug zur Verfügung, mit dessen Hilfe die innere Ordnung und Gliederung der normativen Welt systematisch dargestellt werden kann. Überdies sind die reinen Denkformen für Kelsen, wie der häufige Rückgriff auf die Regeln der allgemeinen Logik belegt, ein Beweis allgemeingültiger Objektivität der reinen Rechtswissenschaft,24 und

21 Wenn Kelsen es zunächst auch rundweg abiehnte, die Rechtsnorm als Willensakt zu charakte- risieren, so spreche ich hier doch bewußt von Akzentverschiebung, denn man darf Kelsens spä- tere Modifikation mancher frühen Postulate nicht überbewerten. Die Konzentration auf Rechtssatze im Sinne geistiger Sachgehalte (und nicht auf Willensakte) ist bereits der tragende Gedanke der Habilitationsschrift und bleibt bis in das Spatwerk hinein erhalten. Die eigentliche Intention, durch die strikte Trennung von Rechtsgeltung und Rechtsgenese den Vorgang der Rechtssetzung aus der wissenschaftlichen Analyse auszuschließen, ist der durchgehaltene Grundgedanke des Gesamtwerks, wie in einer jüngeren Kelsen-Monographie noch einmal zutreffend herausgearbeitet worden ist. Vgl. H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie beiHansKelsen,S.115,S.l96ff. m.w.N;R. Dreier,Sein undSollen,S.221.

22 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 14 23 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.111 24 Das methodische Ideal einer exakten positivistischen Wissenschaft ist bei Kelsen jedenfalls

ungebrochen. Vgl. H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S.27 f., S.104 ff., S.112; ders., Hans Kelsen und Niklas Luhmann: Positivität des Rechts aus rechtswissenschaftlicher und systemtheoretischer Perspektive, in: Rechtstheorie 1983, S.419 ff., S.429 j.m.w.N.; R. Dreier, Sein und Sollen, S.229 f.

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dieses mathematische Verständnis von Geisteswissenschaft unterscheidet sich immerhin grundlegend von dem Selbstverständnis beispielsweise der verstehenden Soziologie Max Webers, der Hermeneutik, der Phänomenologie oder der Integra- tionslehre Smends.

Kelsen will so ein System schaffen, das in der Lage ist, die Möglichkeit einer objektiven Geltung des Rechts plausibel darzustellen. Deshalb richtet er sein AU- genmerk von Anbeginn auf die Analyse von Rechtssätzen im Sinne einer normativ geschlossen Ordnung. Denn für Kelsen fügen sich diese Rechtssätze, eine transzen- dentallogische Grundnorm einmal vorausgesetzt, bruchlos zu einem System und können unter dieser Voraussetzung auch objektive Geltung und Verbindlichkeit beanspruchenden. Allerdings: Auch nur unter dieser Voraussetzung, da eine noch so große empirische Wirksamkeit der Normen, wie Kelsen in Anlehnung an Kants Widerlegung des Induktionismus zu betonen nicht müde wird, wohl soziale Wirk- samkeit, niemals aber absolute und objektive Verbindlichkeit zu begründen ver- mag. Auch an dieser Stelle ergibt sich wieder eine deutliche Parallele zur Wertphi- losophie des Neukantianismus. Denn in der gleichen Weise, in der dort das Sollen, die Geltung der Werte, in der Regel als objektive Geltung gefaßt wurde,%tellt sich die Existenz des Staates für die Reine Rechtslehre als eine objektive Geltung eines Normensystems dar, das von subjektiven Elementen unabhängig ist.% Der Staat ist kein Komplex von Machtbeziehungen im Sinne kausal zu bestimmender Kräf- teverhältnisse, sondern ein System von Rechtssätzen, ja ist mit dieser Rechtsord- nung, daran hat Kelsen bis in sein Spätwerk hinein festgehalten, identisch. Nicht die Macht einzelner Individuen oder gesellschaftlicher Gruppen, nicht der Herr- schaftsanspruch staatlicher Institutionen ist für die Reine Rechtslehre das Erste und Höchste, sondern die Allmacht des Rechts, gedacht als ein dynamisches Modell ständiger Rechtserzeugung, das sich mit zunehmender Arbeitsteilung mehr und mehr verselbständigt und sich so zu einem eigenständigen System entwickelt. Der demokratische Verfassungsstaat fußt nicht auf mystischen Kräften und Instanzen, die hinter den rechtlichen Vermittlungen des politischen Sysetms verborgen waren, vielmehr geht jeder Herrschaftsordnung ab einem bestimmten Grad gesellschaft- licher Entwicklung eine rechtliche Ordnung notwendigerweise voran.

Die staats- und verfassungstheoretischen Folgen, die sich aus dieser Theo- riebautechnik ergeben, sind weitreichend. Bildete bis in das 20. Jahrhundert hinein die Auffassung, daß der Staat ein mit Rechten und Pflichten ausgestattetes Subjekt und als solches Träger eines wirklichen Willens sei, den Grund- und Eckstein aller staatsrechtlichen Konstruktionen, verläßt Kelsen diesen Standpunkt. Er bestreitet nun vehement, daß dem als Staatspersönlichkeit oder juristischer Person gedachten Staat ein realer Wille zugrundeliegen würde, der die materielle Substanz für einen einheitlichen Staatswillen abgeben könnte. Der Begriff des Staatswillens der herr- schenden Lehre ist für Kelsen nicht mehr als eine methodisch unzulässige Hyposta- sierung einer Einheitsbeziehung, die es ,,angesichts der tiefen Klassengegensätze, die das . . . Staatsvolk Zerklüften“ in der Realität nicht gibt;27 und insbesondere die Organismuslehre ist für Kelsen eine Theorie, die fälschlicherweise meint, im

25 H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 199 26 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 14 27 H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S.29

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Staatswillen eine Realität, eine wirkliche psychische Tatsache erblicken zu kön- nen. Der Staat kann aber weder Träger eines dem Recht vorgeordneten Willens sein, noch kann dessen Substrat nach Art einer raumerfüllenden, seelisch körperli- chen Substanz gedacht werden, noch kann er Rechtsordnung und Ge- bietsherrschaftsverband zugleich sein,28 jedenfalls liefert das Willensmoment für Kelsen kein hinreichendes Kriterium, um zu der Vorstellung eines einheitlichen staatlichen Willens gelangen zu können. Diese Vorstellung kann wissenschaftlich nur auf der rechtsnormativen Ebene hergestellt werden. Hier aber zeigt sich dann ganz deutlich, daß der Staat ,,als Ordnung die Rechtsordnung, als überindividueller Wille die Personifikation dieser Rechtsordnung ist“.29

Diese Rechtsordnung ist von anderen Normen- und Wertordnungen strikt ge- schieden. So wie Kelsen die Unterscheidung von Politik und Wissenschaft schon sehr früh zur unerläßlichen Voraussetzung einer wissenschaftlichen Jurisprudenz erklärt, so insistiert er auch auf einer strikten Trennung von Recht und Moral und unterscheidet Fragen der politischen Wahrheit von Fragen der juristischen Geltung einer Verfassung. Er feiert die Überwindung des Naturrechts und die daraus resultierende ethische Indifferenz als das stärkste Verdienst des Rechtspositi- vismus, eine Auffassung, die später in solch berühmten Formeln wie derjenigen gipfelt, daß jeder beliebige Inhalt Recht sein könne und es kein menschliches Verhalten gebe, ,,das als solches, kraft seines Gehalts ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein“.3o Diese Ansicht hat Kelsen dann mit aller Konsequenz durchgehalten, als er selbst den Maßnahmen eines Regimes, das ihn seiner ma- teriellen Existenzgrundlage beraubte und ihn zur Auswanderung zwang, den Rechtscharakter nicht absprach. Ermächtigungen einer Regierung, die vorschrieben, Personen unerwünschter Gesinnung und Religion in industriell betriebene Massen- vernichtungslager zu deportieren und sie dort zu töten, heißt es zur Frage des Charakters nationalsozialistischer Gesetze in der Reinen Rechtslehre nüchtern, könne ihre Rechtssatzeigenschaft nicht abgesprochen werden.3* Sicher darf man solche und andere einschlägige Passagen der Reinen Rechtslehre nicht isoliert vom Gesamtwerk sehen, denn auch für Kelsen gibt es Moralität, und auch für ihn erfüllt die Idee der Gerechtigkeit eine soziale Funktion. Daß Kelsen zwischen Recht und Moral scharf trennt, bedeutet deshalb nicht, daß es für ihn keine moralischen Werte und keine Gerechtigkeit gäbe, auch nicht, daß dem demokratischen Verfassungs- staat naturrechtliche Prinzipien, wie sie im Grundgesetz beispielsweise in den Grundrechten und dem Demokratieprinzip zum Ausdruck kommen, gänzlich fremd wären. Aber der Relativismus besagt, daß alles Naturrecht seinen Charakter wech- selt, wenn es in positives Recht transformiert wird und daß es in einer Welt, in der die Schranken der Religion gefallen sind, keinen Maßstab mehr geben kann, von dem aus sich über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der geltenden Rechts- ordnung im Ganzen noch urteilen ließe .32 Die wissenschaftliche Letztbegründung

28 Vgl. zur Kritik an der ,,anorganischen“ Staatstheorie: H. Kelsen, Hauptprobleme der Staats- rechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1. Aufl. Tübingen 1911, S.179 ff.

29 H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S.V; ders., Allgemeine Staats- lehre, S. 16

30 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.201 31 AaO., S.42 32 Vgl. insbesondere: H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.69

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einer bestimmten Moralvorstellung, und sei sie noch so universalistisch, hat für das juristische Denken jede Bedeutung verloren; sie ist für Kelsen SO Substanz- und kraftlos wie die alteuropäische Idee des richtigen Lebens, die in einer entzauberten Welt nicht mehr die Bindungskraft besitzt, um einem politischen System, das in ein loses Gegeneinander von widerstreitenden Interessen und Meinungen zerfallen ist, einen Wertekosmos von allgemeiner Verbindlichkeit entgegenhalten zu können.

Wenn ich zu Beginn davon gesprochen habe, daß die Reine Rechtslehre ein geistesgeschichtliches Produkt des Neukantianismus ist, so gilt das also nur unter der zentralen Einschränkung, daß die Kantische Vernunftkritik in der Reinen Rechtslehre als reine Erkenntnistheorie gelesen wird und Kelsen in völligem Gegensatz zu Kant eine normative Begründung unwandelbarer Rechtsprinzipien generell ausschließt. 33 Die Reine Rechtslehre bemüht sich nur noch darum, das Recht in seiner Einheit und Einmaligkeit zu erfassen, dessen Geltung sie durch den Stufenbau der Rechtsordnung und die Lehre von der Grundnorm gewahrt sieht. Und weil die Grundnorm keine von dem positiven Recht verschiedene Norm ist, sondern ausschließlich als der formelle Geltungsgrund des Rechtssystems gefaßt wird, unterscheidet sich die Reine Rechtslehre von allen anderen Theorieentwürfen des Neukantianismus grundlegend dadurch, daß sie keine inhaltliche Vorgabe mehr kennt, an der sie sich noch ausrichten könnte. Bei der Grundnorm handelt es sich nicht mehr um eine kategoriale Norm im eigentlichen Sinn, die Grundnorm wird von Kelsen allein als Arbeitshypothese gedacht, die auf die beliebige Änder- barkeit des positiven Rechts reagieren soll; sie fungiert nur noch, wie es Horst Dreier ausgedruckt hat, ,,als Platzhalter der Idee der Normativität“.34 - Obgleich das eigentliche Verdienst der Reinen Rechtslehre wohl in der Verarbeitung des Rela- tivismus seit Marx und Nietzsche gesehen werden muß, bildete diese strikte Tren- nung von Recht und Moral doch einen der Angriffspunkte der Wirk- lichkeitswissenschaft. Wie viele seiner Zeitgenossen attackierte Heller die Reine Rechtslehre mit dem Argument, daß sie vor einer ungerechten Macht kapitulieren müsse, sah auch Heller in ihrem ,,Agnostizismus und absoluten Relativismus“ eine sittliche Gefahr; undinsbesondere in dem nur noch ,,wertökonomisch” verstandenem Postulat staatlicher Einheit manifestierte sich für Heller ein völlig a-politisches Verständnis der Staats- und Verfassungslehre.35 Doch prüfen wir zunächst, ob Hellerden Voraussetzungen dieses System hinreichend Rechnung getragen hat und ob er das Neue, mit dem Kelsen über den klassischen Positivismus hinausging, überhaupt erkannt hat.

III. Hellen Kritik

Während Kelsen das Faktum der Wissenschaft mit der Reinen Rechtslehre noch

33 Zu dieser Differenz von Reiner Rechtslehre und Kant vgl. nur: R. Dreier, Sein und Sollen, S.225 ff., S.227 ff.; H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S.39 ff., SS6 ff.; 0. Hoffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt 1987, S.118 ff., S.150 ff.

34 H. Dreier, aaO., S.88 35 H. Heller, Staatslehre, S.331; ders., Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen F%oble-

matik der Gegenwart, GS 11, S.276; ders., Die Souveränität, S.118

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eimal zur Leitdifferenz einer formalistischen Methode erhebt, steht das geistige Leben im Deutschland der zwanziger Jahre ganz im Zeichen einer philosophischen Wende: im Zeichen einer Abkehr von den ,,Errungenschaften“ des Rationalismus, die sich in einer breitgefächerten philosophischen und. literarischen Kritik des kausalen Denkens niederschlägt. Im Zuge der als traumatisch erfahrenen Material- schlachten des ersten Weltkrieges, die ein Großteil der bürgerlichen Intellektuellen als vollkommenen Zusammenbruch der aufklärerischen Fortschrittsidee erlebt, vollzieht sich ein Bruch mit dem Weltbild des Neukantianismus, der alsbald in einer massiven Modernitäts- und Kulturkritik mündet, die solche Begriffe wie ,,Leben“ , ,,Zufall“, ,,Ereignis“, ,,Ausnahme“ , ,,Entscheidung“ usw. an die Stelle der alten Gewißheiten setzt; Nietzsche und Kierkegaard entfalten jetzt eine bislang ungekannte Wirkung, und viele Autoren beschwören nun, wie man etwa an Husserl oder Heidegger studieren kann, den Vorrang der ,,Lebenswelt“ und des ,,Seins“ vor jener Vorherrschaft der zweiten Natur, die Adorno später die ,,Ontologie des falschen Zustandes“ nennen sollte.36 Die Vernunft der modernen Naturwissenschaft wird im Zuge dieser Gedankenbewegung immer nachhaltiger hinterfragt, und die rationalistische Theorie der Erkenntnis, die stets nur über die Möglichkeit der Darstellung der Wirklichkeit und deren Bedingungen reflektiert, wird jetzt durch ein wissenschaftliches Programm abgelöst, das den direkten Zugriff auf die Sachen selbst fordert.

Diese tiefgreifende Relativierung von Positivismus und Rationalismus hinter- läßt auch im staatstheoretischen Denken seine Spuren. Sie manifestiert sich bereits augenfällig in Erich Kaufmanns Kritik der neukantischen Staatslehre, und bei fast allen bedeutenderen Sozialtheoretikern der Weimarer Zeit steht dabei sehr schnell die Kritik der naturwissenschaftlichen Psychologie sowie die Lehre von der In- tentionalität des Bewußtseins im Vordergrund. Allerdings vollzieht sich jene Wendung nicht nur in der Phänomenologie und Existenzialontologie, die soziale Verschränkung des Ichs gilt auch bei denjenigen Autoren, die wie Theodor Litt aus einer stärker hegelianischen Perspektive argumentieren, als gelungene Widerle- gung aller Grundannahmen des Neukantianismus. Auch Hermann Heller bildet da keine Ausnahme. Heller macht sich diese Kritik alsbald zu eigen und opponiert mit den neuen Strömungen der Philosophie gegen die abstrakte Begriffswelt der Neukantianer. Jedenfalls findet sich jener Generaleinwand gegen den Carte- sianismus auch bei ihm, wenn er Kelsen vorwirft, mit dem strikten Dualismus von Sein und Sollen Dinge zu trennen, die zusammengehörten, und so schon vom An- satz her die eigentliche Aufgabe der Staats- und Verfassungslehre zu verfehlen. Für Heller bildet diese strikte Unterscheidung vor allem in den methodologischen Schlußfolgerungen, die Kelsen aus ihnen zog, den Hauptpunkt einer Kritik, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk hindurch verfolgen läßt. Daß das juristische Denken daran gebunden sein soll, ,,ein Reich des Seins“ und der kausalen Natur einerseits und ein ,,Reich des reinen Sollens“, der normativen Geltung, andererseits voraussetzen zu müssen, das jedenfalls kommt Heller einer vollständigen Kapitulation vor dem eigentlichen Gegenstand gleich. Bedeutet eine solche Methode doch genau den Fragen auszuweichen, die die Analyse der Kul- turphänomene aufwirft, und diese sind für Heller nur als sinnhafte zu verstehen,

36 Th. W. Adomo, Negative Dialektik, S.22 .

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daher in einer ihrem Wesen angemessenen Weise zu interpretieren: ,,Daß die Staatslehre des 19. Jahrhunderts in diesen Denkformen [den Denkformen Kelsens, T.V.] arbeitete, war für ihre Zeit verständlich. Inzwischen sind aber sowohl Psychologie wie Soziologie längst andere Wege gegangen, und in der Philosophie treffen sich Forscher von so verschiedener Richtung wie Husserl, Rickert, Simmel mit den Diltheyschülern Spranger, Litt und Freyer in der Anerkennung einer Sphäre des Sinnes‘, der Bedeutungen, die jenen schroffen Dualismus durchaus zu über- winden geeignet ist. Nun ist es unentschuldbar, wenn ein juristischer Forscher lediglich eine mit der Rechtswissenschaft allerdings unvereinbare, rein natur- wissenschaftliche Psychologie und Soziologie zur Kenntnis nimmt . . . “.37

Hellers Denken steht also von Anfang an quer zu Kelsens neukantischer Trennung von normativen und explikativen Wissenschaften. Er argumentiert von einer völlig anderen Grundposition aus. Wohl akzeptiert Heller die Kritik der Reinen Rechtslehre an allen naiven Substanzialisierungen der Gesellschaft, aber er weigert sich entschieden, die naturalistische Verengung dieser Soziologie zu übernehmen. So plädiert Heller zunächst für eine stark an die Integrationslehre erinnernde geisteswissenschaftliche Psychologie, ,,die nicht von einem trans- zendentalen, sondern von einem Ich ausgeht, das immer schon perspektivisch mit andern Ichs verschränkt ist.“38 Später nennt er seine zugleich verstehend und er- klärend verfahrende Methode ,,Wirklichkeitswissenschaft“, in der zwischen Sinn- und Sozialgebilden zwar grundsätzlich unterschieden wird, die Soziologie aber insofern das übergreifende Moment bildet, als die Beschäftigung mit normativen Regeln sich nicht auf Rechtserkenntnistheorie oder Rechtsdogmatik, d.h. in Hellers Worten, auf die Arbeit von Sinneswissenschaft, beschränkt. Wenngleich die Dif- ferenz von Sein und Sollen auch nach Hellers Voraussetzungen nicht auf eine gemeinsame logische Wurzel zurückgeführt werden kann,39 ist das wirk- lichkeitswissenschaftliche Denken, das diese normativen Regeln beschreibt und ihre Funktion in der Gesellschaft erklärt, nicht Kausalwissenschaft im Sinne Kelsens. Das, was für Kelsen gerade nicht Gegenstand der Soziologie von Staat und Recht ist, nämlich die Sphäre der vorgefundenen, wirklichen Welt im Sinne eines Sinnhaft strukturierten Wirkungszusammenhangs, genau das ist für Heller der Ge- genstand der Staats- und Verfassungslehre; und was bei Kelsen als die Verquik- kung von normativer und explikativer Betrachtungsweise ausgegeben wird, wird von Heller als der entscheidende Schritt gedeutet, um den Naturalismus der Reinen Rechtslehre zu überwinden. Die Wirklichkeitswissenschaft kann ihr Objekt des- halb nur methodensynkretistisch erfassen, ein Postulat, das bei Heller im Ergebnis darauf hinausläuft, die Orientierung von Menschen an Normen im Rahmen einer kausalen Analyse sozialer Beziehungen zu erfassen. Kelsens Grundfehler, so hat Heller seine Kritik an der neukantischen Methodologie schließlich zusammengefaßt, sei es, dem Juristen das zwischen Natur und Wert liegende Reich der ,,kausalen Motivation“ und der ,,psychologischen Zurechnung“ mit einem ,,inadäquaten mathematischen Wirklichkeitsbegriff’ als Forschungsgegenstand zu entziehen.*

37 H. Heller, Die Souveränität, S.100; vgl. auch ders., Staatslehre, S.121, S.180, S.290, S.304 38 H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, S.28 (Fn.81 unter ausdrücklicher Berufung auf Litt) 39 H. Heller, Staatslehre, S.290 f. Das rechtliche Sollen ist für Heller also eine Kategorie, die sich

nicht aus seinsmäßigen Gegebenheiten ableiten laßt. 40 H. Heller, Die Souveränität, S. 102

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Infolgedessen richtet Heller sein gesamtes Augenmerk darauf, jene ,,verdrängte Kulturrealität“ wiederzugewinnen und dem staatlichen Leben seinen legitimen Platz in einem positivistisch entleerten Wissenschaftsbetrieb zurückzugeben.

Man muß sich die Konsequenzen dieser Annahme ganz deutlich machen, weil in jüngster Zeit unrichtigerweise behauptet worden ist, daß sich in der Staatslehre Annäherungen an eine kausalexplikative Soziologie nachweisen ließen.4l Denn diese Position verkennt, wie sehr sich die Wirklichkeitswissenschaft auf einer grundbegrifflichen Ebene tatsächlich von der Reinen Rechtslehre unterscheidet, was gerade die jeweiligen Konzeptionen des juristischen Willensbegriffs deutlich machen. Für Kelsen ist der Wille einer Person und vor allem der Wille des Staates ein Gebilde spezifisch juristischen Denkens, eine juristische Konstruktion, der nicht notwendigerweise ein Ereignis oder eine Struktur in der Wirklichkeit ent- spricht. Seiner Auffassung nach ist die Norm der spezifische Sinn eines Willensak- tes, nicht der Willensakt selbst, und diese Form des reinen Sollens darf man nach den Voraussetzungen der Reinen Rechtslehre gerade nicht als einen realphysischen Vorgang gelten lassen oder mit einem irgendwie gearteten Inhalt identifizieren.42 Für Heller dagegen ist der Wille exakt das, was Kelsen ihm abspricht: nämlich ein physisch-psychisches, intentional auf ein Anderes gerichtetes Etwas zu sein. ,,Nur ein Wille im Sinne von gesellschaftlich bezogenem, d.h. durch Zeichen kundge- gebenem Verhalten und nur ein sinnhafter Wille, d.h. ein Verhalten, das ,etwas‘ bedeutet, kommt für jede Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft in Be- tracht“.43 Auch für Heller hat es die Staats- und Verfassungslehre selbstverständ- lich nicht mit natürlichen Erscheinungen im Sinne von natürlichem Sein zu tun, sondern mit Seiendem, mit Bedeutungen und Sollendem, und als Interpret der Verfassung ist auch Hellers Jurist als solcher auf den Regelkanon der juristischen Methode angewiesen. All das entledigt ihn aber nicht der soziologischen Reflexion und der soziologischen Spezifikation seiner Grundbegriffe. Denn während das reine Sollen in der philosophischen. Tradition des deutschen Idealismus nor- malerweise -einer absoluten Werthaftigkeit entsprang, für die es keine empirische Autorität gab, so lautet der Kardinaleinwand gegen Kelsen, ist im demokratischen Verfassungsstaat alle positive Rechtsgeltung auf menschliche Wirksamkeit zu- rückzuführen, 44 findet seit dem Siegeszug der Demokratie alles Sollen sein Grund ,,in positiver Anordnung durch den Gemeinschaftswillen“.45

Es ist an diesem Punkt nicht mehr schwierig, die staats- und verfassungstheo- retischen Schlußfolgerungen dieser Kritik nachzuzeichnen. Die Kritik am Willens- begriff fundiert die Kritik an Kelsens juristischem Staatsbegriff, an seinem Ver- ständnis von Souveränität und strukturiert zugleich die Auseinandersetzung mit der Theorie der Grundnorm. Der Grundgedanke der Kritik lautet, daß Kelsen auf

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C. MUller, Kritische Bemerkungen zur Auseinandersetzung Hermann Hellers mit Hans Kelsen, aaO., S.135 ff., S.139, sieht zwar zutreffend, daß sich Heller in der Sraatslehre deutlicher als bisher von Historismus, Hermeneutik und Phänomenologie absetzt, ohne aber nun, wie Müller meint, auf eine kausal-explikative Methode im Sinne Kelsens einzuschwenken. H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 10; vgl. auch die fast wortgleichen Formulierungen in: ders., Reine Rechtslehre, SS H. Heller, Die SouverMtät, S.101 (Herv0rh.v. mir) H. Heller, Staatslehre, S.383, S.135, S.290, S.379 H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, S.19

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eine reine Begriffsebene abschieben wolle, was ein wirkliches Substrat habe, was, auch wenn es nicht mit dem Begriff ineinsgesetzt werden könne, wirklich sei. Um beim Begriff des Staates und seiner Eigenschaft der Souveränität anzufangen: Was eine reale Herrschaftseinheit sei, ein ,,lebendiges Wollen“, ,,eine lebendige Wil- lenseinheit“,& werde von Kelsen als bloß sprachliches Produkt und Vorstellung des Juristen hingestellt. Während der Staat sowohl juristisch wie soziologisch nur als eine kausal in die Gesellschaft wirkende Einheit verstanden werden könne, so führt Heller dann im weiteren aus, sei diese Einheit in der Reinen Rechtslehre nur ideell vorhanden, sei für Kelsen ,,Organisation . . . nur das Fremdwort für 0rdnung“P7 der Staat als Einheit nur ,,durch die Rechtswissenschaft gegeben“.48 Kelsens Prämisse, .

daß die Existenz der staatlichen Einheit erkenntnistheoretisch bestritten werden kann, erscheint Heller jedenfalls unhaltbar, denn nur dadurch, daß der Staat als psy- chologische Willenstatsache tatsächlich vorhanden sei und solange das reale Substrat der Rechtspersönlichkeit bilde, wie die widerstreitenden Mächte der Demokratie in der Lage seien, durch offene Verfahren einen einheitlichen Volks- willen zu bilden, hat der Gedanke einer Einheit der Rechtsordnung für ihn über- haupt einen Sinn. Bestreitet man diese Voraussetzung hat die Staats- und Verfas- sungslehre zwar einen Bezugs- und Orientierungspunkt, mit dessen Hilfe sie den Staat unabhängig von den gesellschaftlichen Gruppen und politischen Verbänden als Einheit denken kann, jedoch um den hohen Preis, diese zu einer sich selbst setzenden Normordnung spiritualisieren zu müssen. Am prägnantesten hat Heller seine Kritik an Kelsen in einem Lexikonartikel von 193 1 zusammenfaßt, in dem es heißt: ,,Es ist deshalb eine groteske Verwechslung von logisch-ideellen und so- ziologischen Realzusammenhängen, wenn man die Einheit der Rechtsordnung des Staates, ,,nur das Produkt der das Material der Rechtsnormen bearbeitenden Er- kenntnis“ sein läßt. Eine Einheit der staatlichen Rechtsordnung gibt es nur, weil und soweit es eine reale staatliche Herrschaftseinheit gibt, ein Normensystem des Rechts gibt es nur, weil und soweit es ein wirkliches Herrschaftssystem des Staates gibt, eine Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung gibt es nur, weil und soweit Widersprüche der Rechtsordnung eine die Herrschaftseinheit bedrohende tatsäch- liche Unordnung bedeuten würden, und eine ,spezifisch-normative Einheit‘ des Staates gibt es nur, weil es eine wirkliche soziologische Staatseinheit gibt“.49

Heller erklärt das Wesen von Staat und Recht also richtigerweise aus einer so- ziologischen Perspektive, die deutliche Anklänge zur modernen funktionalisti- schen Rechtstheorie aufweist. Während Kelsen die Frage der Rechtsgeltung als die einer apriorischen Setzung behandelt, interpretiert Heller das Recht zuerst von seiner sozialen Ordnungsfunktion her und beschreibt die Gesellschaft auch in ihren höherstufigen Aggregationen als etwas Reales und Wirkliches. Er stellt den Staat als tätige Handlungseinheit dar, da für ihn der einheitliche Staatswille auch in einer zersplitterten Gesellschaft nicht ernsthaft betritten werden kann, solange Partei- und Klassenkämpfe ihn nicht tatsächlich zerreißen. Der Staat ist über rechtliche Verweisungszusammenhänge unmittelbar an den Volkswillen und seine Parteiurigen

46 H. Heller, Die Souveränität, S.115, S.122 47 H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, S.16; ders., Staatslehre, S.184 48 H. Heller, Die Souveränität, S.78; ders., Staatslehre, S.346 49 H. Heller, Lexikonartikel ,,Staat“, in: CS 111, S.20

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rückgebunden, wird somit als ,,Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ der Ge- sellschaft begriffen, und diese Perspektive erlaubt Heller sogar, Kelsen ein Stück weit entgegenzukommen und das politische Anliegen der Reinen Rechtslehre gewissermaßen in sein Konzept aufnehmen zu können, um ihm auf einer Ebene höherer Allgemeinheit seine relative Berechtigung zu bescheinigen. Der Reinen Rechtslehre gebührt für Heller der Verdienst gegen die aus dem Gedankenkreis der Monarchie stammende Auffassung von der Unableitbarkeit der staatlichen Gewalt gezeigt zu haben, ,,daß die Rechtsgeltung nicht auf die Setzung durch eine normlose Willensmacht begründet werden kann“.50 Aber Heller bestreitet, daß es unter den Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts irgendeinen Sinn macht, den Geltungsgrund des positiven Rechts in einer wie immer auch konzipierten Grundnorm zu fundieren und diese nicht mit den realen gesellschaftlichen Bedingungen des politischen und rechtlichen Systems zu vermitteln. Für Heller muß Kelsen, ob er will oder nicht, den einheitlichen Staatswillen als einen realen Akt voraussetzen, und deshalb ist Kelsens Grundnorm für Heller letzlich nichts anderes als der ,,umbenannte Staats- wille“, der exakt die Souvernität einer Willenseinheit umschreibe, was Kelsen auch selbst einräume, wenn er von einem ,,eigentümlichen Parallelismus von Seinstatbe- stand und Norm“ spreche?

Im großen und ganzen vermögen diese Einwllnde noch immer zu überzeugen. Wohl liegt auf der Hand, da8 Kelsen diese Kritik nur schwerlich treffen konnte, da Heller mit seiner Organisationslehre, die die Allgemeinheit von Staat und Recht letzten Endes aus empirischen Generalisierungen abzuleiten versuchte, hinter Kelsens Kritizismus zurückfiel. Wer wie Heller im Duktus der lebensphilosophisch-romantischen Grundstimmung der zwanziger Jahre auf das ,,Lebendige“ und ,,Wirkliche”einer in unterschiedlichste Parteiungen aufgelösten Gesellschaft aus war und deren politische Ordnung zugleich als personenunabhängiges Handlungssystem erfassen wollte, der mußte sich wohl unweigerlich in nicht auflösbare Widersprüche ver- wickeln. Lebendig und wirklich kann ja immer nur die Natur sein, und als Teil der belebten Natur bilden die konkret existierenden Menschen als Letztelemente der sozialen Ordnung dann einen gesellschaftlichen und staatlichen Verband, wenn man diese als nicht weiter dekompo- nierbare Einheiten begreift und die Gesellschaft vom Menschen und ihren kollektiven Aktio- nen her denkt. Diesen Weg beschritt Heller bisweilen, etwa wenn er versuchte, die sinnhafte Einheit dieses Verbandes mittels der Figur der simultanen und sukzessiven Verschränkung des sozialen Ichs, das auf den Anderen immer schon bezogen sei, zu erklären und so die empirische Kategorie der Intersubjektivitit an die Stelle transzendentaler Begründungsfiguren setzte;s2 oder, wenn er die Handlungsfähigkeit des Staates auf der Grundlage einer empirischen Theorie der Organisation entwickelte, die beschreibt, wie sich gemeinsame Handlungsprozesse zu Organisationszusammenhängen verfestigen und ein bewußt produziertes Handlungszentrum hervorzubringen vermögen .53 Mochte und mag die erste Figur für eine kleine Gemeinde noch Plausibilitit beanspruchen (jeder kennt jeden), und mag Hellers Organisationslehre ein durch- aus fruchtbarer Beitrag zur Erklanmg kollektiver Handlungsprozesse sein, so ist die Genese und Funktionsweise des westeuropäischen Territorialstaates mit beiden Theorieansätzen doch schlechterdings nicht zu erfassen. Als territorialer Herrschaftsverband ist der Staat eben keine Einheit in Aktion, keine ,,Form aus Leben“, wie Heller meinte, sondern ein bloß Gedachtes, wenngleich nichtsdestoweniger Wirkliches. Der moderne neuzeitliche Staat ging aus der

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H. Heller, Staatslehre, S.296 H. Heller, Die Souveränität, S.77 (Fn.155), S.116, S.86 Vgl. H. Heller, Staatslehre, S.162 ff., S.174 ff. AaO., S.182 f., S.339 ff. Zur Organisationslehre bei Heller vgl.: E. W. Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts. Festschrifjik Hans J. Wal’, München 1973, S.269 ff., S.287 ff.

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Realisierung eines überempirischen Prinzips hervor, und diese, sowohl den Menschen als auch ihren Parteiurigen und Verbanden vorgeordnete, außer und neben ihnen existierende Einheit ist weder aus der Perspektive der Einzelnen und Gruppen zu erschließen noch auf die Macht ei- nes wie immer gearteten Subjekts zurückzuführen, weil der.modeme Staat selbst Ausdruck ei- ner abstrakten Vergesellschaftung ist, von Anfang an in Strukturen eingebettet war, die der ,,Mensch“ nicht gemacht hatte.

In logischer Hinsicht hiitte Kelsen deshalb sicher auch gegen Heller recht behalten, wenn er gegen alle empiristisch argumentierenden Theorien einwandte, daß auch ,,durch noch so eine intensive Verbindung von subjektiven Elementen ein . . . objektives nicht entstehen kann“.54 Insoweit war Kelsen eine deutliche Konsistenz zu bescheinigen, da er die Frage nach der Einheit des Staates in einer atomisierten, in eine Fülle von Gliederungen zerfallenen Gesell- schaft radikal stellte und die Einheitsbeziehung auf einer Ebene zu retten versuchte, wo sie in Weimar allein noch zu retten war: auf der Ebene desjuristischen Verweisungszusammenhangs. Was Kelsen allerdings verkannte, ist, da6 diese Verbegriffbchung der Welt, die bereits in der Entstehung des westeuropgischen Patrimonialstaates zum Ausdruck kam, sich aber vor allem im Formabsolutismus des kontinentalen bilrgerlichen Rechtsdenkens manifestierte, auf der Vernichtung der raumzeitlichen Welt des empirischen Individuums beruhte und seiner Er- Setzung durch eine Welt, die von übersinnlichen Vermittlungen dominiert wird. Abstraktionen wie der Begriff des Staates kennen deshalb genauso wenig als Manifestationen eines autono- men menschlichen Geistes angesehen werden, wie die reine Rechtsform, weil sie selbst gesell- schaftlich bestimmte Erscheinungsformen sind, und das hat Heller zu Recht als das ent- scheidende Defizit der Reinen Rechtlehre herausgestellt, wie wenig er selbst die Genese reiner Formen auch nur erfaßt haben mag. Die eigentliche Aufgabe einer kritisch-dialektischen Theorie bestünde also darin, schlirfer noch als Heller die historischen Prozesse nachzuzeichnen, die den Rechtsstaat als relativ eigenständiges System mUglich werden ließen, insbesondere die gesellschaftlichen Bedingungen für diese Autonomisierung zu klaren und dabei nicht zu vor- schnell über die relative Wahrheit solch idealistischer Konstruktionen wie derjenigen Kelsens in einer Wirklichkeit hinwegzugehen, die gesellschaftliche Synthesis nur als abstrakte zuläßt.

Letztlich aber beruhte Kelsens gesamte Konstruktion auf einer unhaltbaren Annahme, wie Heller treffend erkannte. Er deduzierte die Möglichkeit eines hochgradig verrechtlichten Sozialzusammenhangs aus der reinen VerstandestUtigkeit, löste die Existenz des Staates und seiner Rechtsordnung damit von allen gesellschaftlichen Voraussetzungen, und diese Annah- me ist inzwischen, nachdem das politische und rechtliche System in Weimar unwiderruflich für die Gesellschaft der Gruppen geöffnet wurde, noch unhaltbarer geworden. Denn durch diese Öffnung wurde - von scharfsinnigen Beobachtern wie Max Weber früh bemerkt - die objektive Jurisprudenz mehr und mehr in die Gesellschaft zurückgeholt, indem nun Normen von anderer qualitativer DignitUt als die reine Verallgemeinerung abstrakter Sinndeutungen auf die Ent- scheidung von Rechtsproblemen Einfluß gewannen, das rein logische und unhistorische Kon- struieren in den Hintergrund gedrangt wurde. So führte die fortschreitende Arbeitsteilung zu einer Partikularisierung und Segmentierung der Rechtswelt, deren Mitglieder nun immer hliufiger auf soziologische, ökonomische und ethische Wertungen zurückgreifen mußten, um die Einheit des Rechtssystems wenigstens Äußerlich noch gewährleisten zu können. Mit der Öffnung des politischen undrechtlichen Systems fUr die breiten Kreise der Bevölkerung wurde so ein Prozeß eingeleitet, der das Recht immer nachhaltiger von den wechselnden Interessen- und Expertenkoalitionen der bürgerlichen Gesellschaft abhängig machte, wie es sich nach Weber alsbald in der zunehmenden Bedeutung von Generalklauseln und unbestimmten Rechts- begriffen niederschlug.ss Heller schenkte dieser Entwicklung zwar ebensowenig Aufmerksamkeit

54 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 14 55 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Sotillogie, 5. Aufl.,

TUbingen 1980, S.496 ff., S.502, S.504, S.397; vgl. auch S. Breuer, Aspekte totaler Vergesell- schaftung, Freiburg 1985, S.143 ff., S.150 ff. Unter dem Blickwinkel der Entwicklung des Privatrechts finden sich %nliche Beobachtungen bei F. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: ders.,Industriegesellschaft undPrivatrechtsordnung,Frankfurt 1974, S.9 ff., S.24 f. Vgl. dazu

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wie Kelsen, doch seine dialektische Theorie, so sehr sie auch von verktlrzten idealistischen Denkfiguren durchzogen gewesen sein mag, läßt immerhin den Raum, das Recht als gesell- schaftliches Phänomen funktional zu beschreiben und darüber nachzudenken, wie diese Rema- terialisierung des Rechts zu deuten w&e, die heute, erweitert um Beobachtungen der Flexibi- lisierung un&Prozeduralisierung des Formalrechts in nahezu allen Rechtsgebieten, nicht um- sonst im Mittelpunkt der rechtstheoretischen Forschung steht.

Dagegen ist die Kritik an dem angeblichen Logismus der Reinen Rechtslehre kor- rekturbedürftig, und insoweit hat Heller das Neue der Reinen Rechtslehre tatsäch- lich verkannt. 56 Heller übersieht, daß die Reine Rechtslehre zwar eine Rechtser- kenntnislehre sein will, Kelsen zwischen der - unter dem Obergriff der Erkenntnis arbeitenden - Aufgabe des Wissenschaftlers und der authentischen Interpretation des praktischen Rechtsanwenders aber streng unterscheidet. Im Vorwurf des Logismus steckt ein unzutreffendes Moment, weil Kelsen keineswegs, wie Heller noch in der Staatslehre unterstellt,57 ein Anhänger der Begriffsjurisprudenz war. Die Reine Rechtslehre ist trotz der Grundnormlehre, die als identitätsstiftendes Apriori des Rechtssystems eine radikale Verzeitlichung des Elementbegriffs ja nicht zuläßt, als dynamische Rechtslehre konzipiert, die dem ständigen Wandel der modernen Gesellschaft in ihren grundbegrifflichen Dispositionen durchaus Rech- nung zu tragen versucht. Richterliche und exekutivische Einzelfall-Entscheidun- gen gehen für die Reine Rechtslehre jedenfalls nicht aus der logischen Ableitung von Obersätzen hervor, und die Anwendung abstrakter und genereller Normen auf den Einzelfall erfolgt hier nicht im Wege eines syllogistischen Schlusses, der von außerrechtlichen Wertungen frei wäre. Für Kelsen ist dogmatische Bearbeitung des Rechtstoffes keineswegs bloße Auslegung und Subsumtion nach Labandschem Vorbild. Dogmatische Bearbeitung des Rechtsstoffes heißt in der Terminologie der Reinen Rechtslehre immer: Individualisierung und Konkretisierung des generellen oder abstrakten Rechts durch die normanwendenden Instanzen und schließt somit ein dezisionistisches Element ein.58

Das Rechtssystem ist für Kelsen also kein vollständig kognitiv determiniertes System, vielmehr ist die Rechtsordnung eine von ,,Unschärferelationen“ geprägte Ordnung, in die immer auch ein Moment von Unvorhersehbarkeit und Willkür ein- geht.59 Recht ist ein ständiger Prozeß, der auf allen Ebenen der Rechtsanwendung ein selbständig determinierendes Moment der Rechtserzeugung enthält, so daß Kelsen in klarer Übereinstimmung mit Heller einen Wesensunterschied zwischen Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetzgebung auch bestreiten kann. Zwar spricht

zusammenfassend: K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, Heidelberg 1988, S.16 ff., S.33 f. m.w.N.

56 C. Müller, Kritische Bemerkungen zurAuseinandersetzung Hermann Hellers mit Hans Kelsen, s.131 ff.

57 H. Heller, Staatslehre, S.381 58 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S.229 ff., S.233, S.236 (in bezug auf die Verwaltung); ders.,

Reine Rechtslehre, S.242 ff., S.346 ff.; vgl. zu Kelsens Interpretationslehre ausführlich: H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S.145 ff.

59 Womit Kelsen die These verbindet, Jaß nur ihr kognitiver, nicht aber ihr volitiver Gehalt rationaler oder wissenschaftlicher Disziplinierung zugänglich sei“. So R. Dreier, Reine Rechtslehre und marxistischeRechtstheorie. Aspekte eines Theorievergleichs, in: ders.,Recht- Moral-Ideologie, S.241 ff., S.252

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Heller nicht wie Kelsen von einer Individualisierung von Normen, sondern von der Rechtssetzung unter der Herrschaft objektiver, logischer und sittlicher Rechts- grundsätze und betont dabei vielleicht stärker als Kelsen die erhöhte materielle Geltungskraft des demokratischen Gesetzes. 6o Vielleicht auch unterzieht Heller die Fragen, die diese ,,Unsch&ferelationen“ für die Theorie des demokratischen Verfassungsstaates mit sich bringen, einer genaueren Prüfung als Kelsen, der den in Weimar sich bereits abzeichnenden Verfall eines homogenen Rechtshorizonts und seine Öffnung für außerrechtliche Verweisungen lediglich formal verarbeiten kann, indem er Interpretation zu einem gegenüber allen Inhalten indifferenten Prozeß tautologisiert, ,, in dem das Recht sich gleichsam selbst immer wieder von neuem erzeugt“? Aber im Ergebnis stimmen doch beide darin überein, das Parlament zu stärken, indem sie den Grundsatz der Gesetzesallgemeinheit aus seinem Zusammenhang mit den Aufgaben parlamentarischer Normsetzung ent- wickeln. Nicht grundlegend verschieden von Hellers Ausführungen zum Gesetzes- begriff ist das Gesetz für Kelsen von einer Verwaltungsvorschrift oder einem Richterspruch jedenfalls nicht durch seine Rechtssatzeigenschaft unterschieden, da auch für ihn alle drei Gewalten Instanzen eines einzigen Rechtserzeugungspro- zesses sind.

IV. Konvergenzen von Wirklichkeitswissenschaft und Reiner Rechtslehre

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, wie mit den Werken von Heller und Kelsen zwei grundverschiedene Entwürfe staats- und verfassungstheoretischen Denkens aufeinandertrafen. Wirklichkeitswissenschaft und Reine Rechtslehre waren Erben jeweils unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Traditionen, die philoso- phiehistorisch gesehen in Kants subjektivem Kritizismus einerseits und Hegels objektivem Idealismus anderseits ihren Ursprung haben. Insoweit waren die Unter- schiede, die in Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre zum Vorschein kamen, durchaus essentiell, und diese Unterschiede lassen es nicht ratsam erscheinen, die Berührungspunkte beider Theorien auf einer grundbegrifflichen Ebene zu suchen. Doch bei allen Unterschieden im Grundsätzlichen springt eine Konvergenz deut- lich ins Auge. Wenn Heller es auch rundweg ablehnte, vom staatlichen Leben nur eine gedankliche Gegenständlichkeit übrigzulassen, so sah er doch wie Kelsen im Parlament den höchsten Ort des politischen und rechtlichen Systems. Kelsen entzog der traditionellen deutschen Staatslehre ihre begrifflichen Grundlagen schließlich dadurch, daß er den Staat als rechtliche Kompetenzordnung konzipierte und ihn auf die Allmacht des Rechts verpflichtete, ganz ähnlich wie auch die Organisationslehre auf das Ziel hin angelegt war, die Überordnung der Legislative über alle anderen staatlichen Gewalten zu sichern. Insofern stimmten Wirklich- keitswissenschaft und Reine Rechtslehre gerade darin’ überein, die in Weimar erstmals durchgesetzte Öffnung des politischen und rechtlichen Systems über die bürgerlichen Schichten hinaus zu akzeptierten und diese Demokratisierung nicht von vornherein durch eine wie immer auch begründete Abspaltung von Exekutive und dritter Gewalt zu unterlaufen.

* 60 Ch. Müller, Kritische Bemerkungen, S. 144 ff. 61 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.242

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Dennoch ist Kelsen auch in dieser Hinsicht Kritik widerfahren. Kelsen, so hat Heller es einige Male formuliert, sei ein Anhänger ,,der Staatslehre der liberalen Formalnomokratie“ und ein Vertreter der liberalen Ideologie der Gesetzesherrschaft, die jedes Moment der Herrschaft leugne und das Prinzip der ,,Führerlosigkeit“ zum tragenden Grundgedanken der Demokratie erkläre.62 Darin .folgte Kelsen nach Hel- lers Dafürhalten einer allzu aufklärerischen Vorstellung von Demokratie, die dem in Weimar erreichten Grad der sozialen und funktionalen Differenzierung nicht mehr angemessen war, die die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidung, poli- tischer Repräsentation und parteiförmiger Vermittlung des Volkswillens nicht hinreichend erfaßte und die, wie Heller vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Übergangs in die Notverordnungskabinette Brünings kritisierte, die Notwen- digkeit einer starken, handlungsfähigen Regierung verkannte.‘j3

Exakt diese These aber läßt sich nicht halten, wie in den eingangs erwähnten neueren Arbeiten zur Weimarer Staats- und Verfassungslehre auch richtig erkannt worden ist. Für dieses Mißverständnis auf Seiten Hellers dürfte insbesondere der Umstand verantwortlich gewesen sein, daß der übliche Gegensatz, der schon in Weimar zwischen Positivismus und Antipositivismus aufgebaut wurde, sich in vielerlei Hinsicht als zu undifferenziert erweist, Heller und Kelsen gleichwohl in ihm verfangen waren. Sicher war Heller im Gegensatz zu Kelsen ein Gegner der positivistischen Methode des Neukantianismus, aber er war wie Kelsen ein Vertre- ter des juristischen Positivismus, wenn man unter juristischem Positivismus ein Konzept versteht, für das der demokratische Verfassungsstaat zuerst ein Gesetzge- bungsstaat ist. QJ In der Bestimmung der Funktionsweise der Demokratie gab es zwischen beiden keine grundlegenden Divergenzen. Beide waren, wenngleich sie die Akzente sicherlich unterschiedlich gewichteten, Kritiker der Marxschen Uto- pie der Herrschaftsfreiheit, weil sie in der freien Assoziation emanzipierter Indi- viduen einen politischen Entwurf erkannten, der sich bei einer einmal erreichten hohen Arbeitsteilung nicht mehr erfüllen ließ. Zugleich aber waren beide Kritiker des Liberalismus und seiner Grundannahme, daß das vernünftige Ganze des gesell- schaftlichen Lebens aus spontaner Selbstregulierung hervorgehen könnte. Ge- meinsam waren sie deshalb davon überzeugt, daß die moderne kapitalistische Gesellschaft verlangte, den Ausgleich heterogener Mächte und Interessen in offenen politischen Formen zu verarbeiten. Sie waren, mit anderen Worten, ent- schiedene Kritiker der Auffassung, die im demokratischen Verfassungsstaat nur einen Ausbeuterstaat zur Unterdrückung einer Klasse sehen wollte, befürworteten den demokratischen Verfassungsstaat und die Steuerung der Gesellschaft um einer gerechten Verteilung des volkswirtschaftlichen Vermögens willens, die nach ihrer gemeinsamen Vorstellung von einer übergeordneten Instanz bewußt angestrebt und durch Planung verwirklicht werden sollte - letzten Endes, weil sie beide daran glaubten, daß der demokratische Verfassungsstaat mit seinen Grundrechten und

62 H. Heller, Europa und der Faschismus, GS 11, S.529; ders., Rechtsstaat oder Diktatur, GS 11, s.451

63 H. Heller, Genie und Funktional in der Politik, GS 11, S.613 ff., S.618 64 Das gilt trotz der Theorie der Rechtsgrundsätze, wie _ich an anderer Stelle, T. Vesting,

Politische Einheitsbildung und technische Realisation. Uber die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie, Baden-Baden 1990, S. 193 ff., S.211 m.w.N., zu zeigen versucht habe.

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seinen Verfahren kollektiver Willensbildung der kapitalistischen Gesellschaft eine Instanz zur Verfügung gestellt hatte, durch die diese Gesellschaft ohne weiteres in eine sozialistische transformiert werden konnte.

In seiner reifsten Fassung erklärte Heller die Notwendigkeit der repräsentativen Demokratie aus organisationstheoretischen Überlegungen, die unmittelbar an die Untersuchungen von Robert Michels und Max Weber anknüpften. Bekanntermaßen hatte Michels bei seinen Untersuchungen über den inneren Aufbau der Sozialde- mokratischen Partei die Bürokratisierung eines vormals vitalen Parteilebens als zentrales Merkmal herausgestellt, die seiner Ansicht nach vor allem in einer Verselbständigung der Führungsspitze zum Ausdruck kam und diese mehr oder weniger unauswechselbar machte.6s Wohl sah Michels in dieser Entwicklung noch das Kernproblem der sozialistischen Idee, doch schon Max Weber sprach bei seinen Analysen über Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland entschieden nüchterner von einem generell unausrottbaren cäsaristischen Ein- schlag im parlamentarischen Massenstaat und ersetzte die naturrechtliche Idee der Volkssouveränität durch das Prinzip der Auslese charismatischer politischer Füh- rer, deren Aufgabe es war, die Eigendynamik der Bürokratie zu kompensieren.66 Wenn Heller im Unterschied zu Weber die Lehre der Volksouveränität auch stärker gewichtete und an ihr als regulativer Idee festhielt, so wandte er Michels’ und We- bers Thesen doch gleichfalls auf Parlament und Parteien an. Die freie Selbstbestim- mung des Volkes unterlag auch für Heller den Beschränkungen dauerhafter und systematischer Organisationsbildung:’ auch wenn er betonte, daß die rechtliche Bindung der Parlamentsmitglieder an den Volkswillen und die Bindung der Richter, Verwaltungsbeamten und aller politisch Verantwortlichen an das Gesetz in der Demokratie unverzichtbar sei.

Der demokratische Verfassungsstaat war damit gleichsam von Natur aus auf ein Moment ungebundenen schöpferischen Handelns angewiesen. Wenn die Idee des revolutionären Naturrechts ihre Plausibilität damit weitgehendst eingebüßt hatte, so war die repräsentative Demokratie für Heller dennoch die legitime Form, um die Widersprüche, die eine hocharbeitsteilige Gesellschaft tagtäglich produ- zierte, nicht zu unterdrücken, sondern durch Rückkoppelungen zu verarbeiten. Weil die politische Situation in Weimar für ihn maßgeblich ,,durch ein labiles Gleichgewicht“ der entscheidenden sozialen Machtgruppen geprägt war:* war der demokratische Verfasungsstaat die historisch notwendige, ,,offene politische Form“, um ,,den geschichtlichen Kampf in kulturermöglichende Formen“ zu bringen.69 Nur so konnte die staatliche Einheit bewahrt werden, die durch den Klassengegen- satz beständig gefährdet schien. Und ohne Zweifel sah Heller in der Demokratie die geeignete Form, um den liberalen Rechtsstaat mit Hilfe parlamentarischer Mehr- heiten in die Form des sozialen Rechtsstaates zu überführen. Er hegte, sieht man von der bisweilen durchschimmernden lebensphilosophischen Rationalismuskri-

65 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 2. Aufl., Stuttgart 1957

66 M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in:‘ders., Politische Schriften, 4. Aufl., Tilbingen 1980, S.320 ff., S.348

67 Vgl. nur H. Heller, Staatslehre, S.359; ders., Political Power, GS 111, S.43 68 Vgl. nur H. Heller, Genie und Funktionär in der Politik, GS 11, S.613 69 H. Heller, Freiheit und Form in der Reichsverfassung, GS 11, S.374, S.377.

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titk einmal ab, wie Kelsen nicht dengeringsten Zweifel daran, daß der Sozialismus ohne weiteres an die bisherigen Resultate der Rationalisierung anknüpfen konnte und die Bildung der Welt nach einem einheitlichen Plane lediglich fortzuführen hatte. Und das hieß für Heller zuallererst, den souveränen Willen des Volkes auch auf das Gebiet der Wirtschaft auszudehnen. Damit trug die sozialistische Ver- fassungstheorie der Einsicht Rechnung, daß die ,,rechtsstaatliche Vergesetzlichung der Wirtschaft nichts andres als die Unterordnung der Lebensmittel unter die Le- benszwecke und damit die Voraussetzung bedeutet für eine Erneuerung unserer Kultur“.‘O

Nicht anders argumentierte Kelsen. Zwar entwickelte Kelsen sein Verständnis von Demokratie stets auf eine recht abstrakte Weise, indem er die Gedankenbewegung mit dem Allerabstraktesten beginnen ließ: mit dem Begriff der Freiheit, dem Postulat der praktischen Vernunft, das nach Auffassung des Positivisten und Empirikers Kelsen seit jeher ,,als Urinstinkt des geselligen Lebewesens nach Befriedigung“ drängte und sich dann im Laufe der Menschheitsgeschichte als Ausdruck individueller Freiheit in das allgemeine Bewußtsein einschrieb.‘l Wenn- gleich eine solche Erklärung des bürgerlichen Freiheitsgedankens heute sicher nur noch eingefleischte Kantianer zu befriedigen vermag, so stand für Kelsen doch ebenfalls außer Frage, daß die Demokratie unbegriffen bleiben mußte, solange man ihr Wesen allein aus dem Blickwinkel der Geistesgeschichte zu erschließen versuchte - gerade weil in der bürgerlichen Welt die ,,Metamorphose des Frei- heitsgedankens . . . von der Idee zur Wirklichkeit der Demokratie“ führt.72 Kelsen war bei allem, was man gegen sein a-politisches Wissenschaftsethos vorbringen kann, Realist genug, um zu sehen, daß mit dem Übergang vom Konstitutionalismus zur repräsentativen Demokratie auch eine Anpassung der politischen Verkehrsformen an den erreichten Grad der sozialen Differenzierung vorgenommen wurde. Daß die Weimarer Gesellschaft sich von den noch weitgehend altständischen Ordnungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ganz wesentlich durch ein hohes Maß an Ar- beitsteilung unterschied, wußte er, und daß so tiefgreifende Gegensätze, wie sie aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit hervorgehen konnten, nur durch politisch lernfähige, offene Formen zu vereinheitlichen waren, war für Kelsen eine Selbst- verständlichkeit. Indem er das Recht als Zwangsordnung menschlichen Verhaltens klassifizierte, setzte er auch voraus, daß die staatlichen Organisationen wesentlich durch ihren Herrschaftscharakter geprägt waren, und konsequenterweise betonte er des öfteren, daß die moderne Demokratie aufgrund der weitgehenden Ausdifferen- zierung des politischen und rechtlichen System nicht mehr herrschaftsfrei organi- siert werden könne.73

Der Parlamentarismus mit all seiner Leistungskraft und mit all seinen Schwä- chen stellte somit auch für Kelsen die notwendige politische Erscheinungsform ei- ner hochdifferenzierten Gesellschaft dar, das notwendige ,,sozial-technische Mit- tel zur Erzeugung staatlicher Ordnung“.74 Kelsen folgte im übrigen wie Heller Otto

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H. Heller, Parlamentarismus oder Diktatur, GS 11, S.461 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Neudruck der 2. Aufl. Tübingen 1929, Aalen 1981, S.3 AaO., S.14 Vgl. nur: H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S.79 f. H. Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien und Leipzig 1925, S.10, S.7

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Bauers Theorie vom ,,Gleichgewicht der KlasSenkräfte“, sprach häufig von der Weimarer Gesellschaft als einer im wesentlichen in zwei Klassen gespaltenen Gesellschaft,76 die im Parlamentarismus das notwendige Element besaß, ,,in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden“ konnte 77 Ferner lehnte auch Kelsen es ab, die parlamentarische Demokratie mit .

einem Klassenstaat zu identifizieren und verwarf eine solche Auffassung mit dem auch Heller bekannten Argument, daß der Klassengegensatz der Weimarer Gesell- schaft zwar nicht bestritten werden könne, dieser Gegensatz aber nicht auf dem Wege revolutionärer Gewaltanwendung, sondern nur durch einen friedlichen Aus- gleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen sei.78 Und wie Heller trug Kel- sen schließlich den Gedanken vor, daß es der Arbeiterbewegung über parla- mentarische Mehrheiten jederzeit möglich sein würde, die Aufhebung des Klassen- gegensatzes herbeizuführen, und: ,,daß es nur auf den Inhalt der staatlichen Zwangsordnung ankommt, bis zu welchem Grade die kapitalistische Wirt- schaftsordnung - die ihrem Wesen nach außerstaatlicher Herkunft ist - verdrängt und durch eine andere ersetzt werden kann“.79

Diese wenigen Belege sollen an dieser Stelle genügen, auch wenn sich die Liste der Gemeinsamkeiten noch weiter fortsetzen ließe. Es dürfte deutlich geworden sein, daß es trotz der grundlegenden Differenzen in der Methode eine deutliche Konvergenz zwischen Reiner Rechtslehre und Wirklichkeitswissenschaft gibt, die mehr anzeigt als nur eine punktuelle Übereinstimmung. Sie besteht in der theorie- bautechnisch freilich unterschiedlich durchgeführten Intention, das staats- und verfassungstheoretische Denken nicht an der Exekutive zu orientierten, wie es für die antiformalistisch denkenden Juristen der Weimarer Zeit üblich war, sondern am Parlament. So gelangten beide zu einem primär verfahrensorientierten Verfas- sungskonzept, akzeptierten den auf einer Fülle von Gliederungen aufbauenden Parteienstaat und sprachen sich für eine politische Form aus, die, durch eine Vielzahl von Parteien, Verbänden und Organisationen aller Art vermittelt, in friedlicher Weise auf sich selbst einwirkt. Beide hielten eine Verfassung für lebensfähig und wohl auch für wünschenswert, die über die Sozialtechniken der parlamentarischen Repräsentation und des Mehrheitsprinzips die soziale Homo- genität durch ihre Einrichtungen und Verfahren eher zu erzeugen vermochte, als sie voraussetzen zu müssen; und beide glaubten schließlich daran, daß Theorie und Praxis des demokratischen Verfassungstaates mit der Übertragung des mechani- schen Weltbildes auf das gesamte Leben dem Sozialismus Schritt für Schritt näher kommen würden.

75 Vgl. H. Kelsen, Marx oder Lasalle. Wandlungen in der politischen Theorie des Marxismus, Unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Leizig 1924, Darmstadt 1967, S.273 ff.; ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, S.67 f.

76 Vgl. nur H. Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, S.27 77 AaO., SS 78 H. Kelsen, Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus,

Leipzig 1927, S.6 f. 79 H. Kelsen, Sozialismus und Staat, S.7 (Hervorh. von mir)

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V. Aktuelle Bedeutung

Wenn die Entwürfe, mit denenHeller und Kelsen gegen den etatistischen Konsti- tutionalismus des 19. Jahrhunderts antraten, für eine demokratische Verfassungs- lehre auch gegenwärtig noch nicht ausgeschöpft sein’dürften, so haben beide ihre Gedankenbewegung doch stets zu früh sistiert. Letzten Endes blieben sie gemein- sam einem alteuropäischen Verfassungsverständnis verhaftet, welches bei Heller in einem demokratischen Absolutismus endete und bei Kelsen zu einem absoluten Normativismus führte; heute prallen beide Konzepte an der Realität einer Gesell- schaft ab, die nichts Festes mehr kennt außer der beständigen Verflüssigung und Umwälzung aller Gegebenheiten. Heller und Kelsen - sie beide reflektierten noch, wie die bürgerliche Gesellschaft begann, traditionale gesellschaftliche Formen zu sprengen, indem sie die Konkurrenz universalisierte; wie sie die lebendige Arbeit in Ware, alles Kapital in industrielles Kapital und die handwerkliche Fertigung in standardisierte Massenproduktion verwandelte, den Weltmarkt und die moderne Weltgesellschaft schuf. Wenn diesem Prozeß auch von Anfang an ein gesamtge- sellschaftlicher Mechanismus zugrundelag, so sahen Heller und Kelsen doch zutreffend, daß dieser Prozeß der Rationalisierung zunächst mit der Trennung von Politik und Ökonomie einherging, mit der Ausbildung von relativ autonomen ökonomischen, politischen und rechtlichen Systemen, die, indem sie als Systeme der bürgerlichen Gesellschaft aufeinander bezogen waren, sich auch voneinander schieden. Nationale Staatenbildung und demokratische Revolution hatten gesell- schaftliche Gefüge zur Grundlage, deren Rechtsordnungen die jeweiligen nationa- len Unterschiede noch erkennen ließen, die in ihrer relativen Autonomie immer auch regelnde Funktionen ausübten und die vermochten, weite Bereiche der Gesell- schaft nach den Gesetzen der Vernunft zu integrieren. Auf diesen historischen Befund konnten beide sich berufen, wenn sie alle Aufmerksamkeit auf das recht- liche und politische System der modernen Gesellschaft lenkten, und ihre Thesen stützen, daß der nach allen Richtungen seines seelischen und körperlichen Lebens funktionalisierte Mensch auch in der bürgerlichen Gesellschaft am stärksten vom Staat ergriffen würde.*’

Wenn beide auch insoweit moderne Theoretiker waren, als sie den Staat nicht mehr substanziell, sondern funktional konzipierten und Heller seinen Funktiona- lismus sogar in einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft fundierte, so haben sie die gesellschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik doch in einer Weise gedeutet, die mir nicht mehr haltbar erscheint. Mit der vollständigen Verwissen- schaftlichung der Produktion , ,,der Expansion des Tauschverhältnisses über das gesamte Leben“,*l wurde nicht der Staat als höchstes Funktionsorgan der Gesell- schaft reinthronisiert, die Anarchie des Kapitals durch einen ,,organisierten Ka- pitalismus“ abgelöst und der Übergang zum Sozialismus unmittelbar vorbereitet, wie Heller und Kelsen glaubten. Diese Bewegung führte allein dazu, den Staat unter dem Druck wirtschaftlicher Zwänge und politischer Pressionen zum Plan-

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H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S.15 f.; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 148 ff.; H. Heller, Staatslehre, S.348 Th. W. Adomo, Kultur und Verwaltung, in: ders., Soziologische Schrijen Bd. 1, 2. Aufl. Frankfurt 1980, S. 125

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und Interventionsstaat auszubauen. Die Zusatzprogramme gesellschaftlicher Pla- nung, wie sie die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland seit Bismarcks Sozialgesetzgebung begleiteten, waren also nicht Vorboten einer neu- en, politischen Globalsteuerung der Gesellschaft, sondern Ausdruck eines rein reaktiven Verhaltens der politischen Institutionen, die, einmal für direkte Einflüsse und Ansprüche der Parteien und Verbände geöffnet, gleichsam dazu gezwungen wurden, sich zu einer ,,Selbstorganisation der Gesellschaft“ zu erweitern.

Was Heller und Kelsen letztlich verkannten, war, daß die gesellschaftlichen Bedingungen, die die moderne Wissenschaft und mit ihr: die Vorherrschaft der formalen Rationalität möglich werden ließen, eine sich zunehmend totalisierende Gesellschaft hervorbrachten, die es diesem System ermöglichen sollte, über die innere und äußere Natur in einem Maße zu verfügen, welches noch vor einem Jahrhundert unvorstellbar schien. Dieser Prozeß war und ist nicht nur dafür verant- wortlich, daß vorkapitalistische Traditionen und Lebenszusammenhänge aufge- zehrt wurden und daß gegenwärtig in einem tiefgreifenden Wandel noch existie- rende Reste herkömmlicher Klassenbindungen aufgelöst, Lebenslagen indi- vidualisiert und Existenzformen unter dem übermächtigen Druck einer abstrakten Vergesellschaftung weiterhin in einem Maße nivelliert werden, das in der Ge- schichte Alteuropas ihresgleichen sucht. 82 Dieser Prozeß ist auch für einen nach- haltigen Funktionsverlust des politischen und rechtlichen Systems verantwortlich, so daß die Vollendung der Rationalisierung keineswegs zur Ablösung der Eigenge- setzlichkeiten und Sachzwänge der bürgerlichen Gesellschaft führt. Indem der Klassenkonflikt in einem System von Verbänden und Parteien, einem Gefüge von kooperativistischen Absprachen und staatlicher Planung institutionalisiert wurde, verschmolzen Staat und bürgerliche Gesellschaft vielmehr miteinander mit der Folge, daß die politischen Institutionen mehr und mehr an Gewicht verlieren und die gesamte Gesellschaft nurmehr der Rapidität des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts verpflichtet ist. ,,Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Be- stätigung der Produktionsverhältnisse hinaus . . . . Die Verselbständigung des Sy- stems gegenüber allen, auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht“.83

Die gegenwärtige Gesellschaft scheint also durch eine Form der Integration ge- kennzeichnet zu sein, die sich den Kategorien des Politischen nicht mehr fügt. Und daß die Einbußen an Souveränität und Rationalität letztlich aus dem gestiegenen Einfluß der gesellschaftlichen Organisationen, Gruppen und Verbände auf Politik und Bürokratie zurückzuführen sind, diese These findet heute in vielen Bereichen der neueren rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Diskussion ihre Bestäti- gung? SO hat etwa Ulrich Beck in einer neueren Veröffentlichung noch einmal nachdrücklichdarauf hingewiesen, wie sehr Recht und Politik vor allem durch das Konzept der technischen Generalklauseln ihre Kompetenz und Zuständigkeit bereits dem wissenschaftlichen Fachwissen überantwortet haben. Im Anschluß an

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U. Beck, Risikugesellschaf. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 121 ff., s.205 ff. Th. W. Adorno, Sparkapitalismus oder Industriegesellschaft, in: ders., Soziologische Schriften, S.369 Vgl. den Diskussionsstand zusammenfassend: S. Breuer, Rationale Herrschaft. Zu einer Kategorie Max Webers, in: PVS 1990, S.4 ff., S.21 ff. m.w.N.

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die Forschungen von Rainer Wolfs5 konnten die Gegengifte zeigen, wie über die Rezeption von technischen Regeln die politischen und juristischen Entscheidungen inzwischen weitgehend einem Wissen überantwortet sind, das überwiegend von privatrechtlichen Organisationen unter maßgeblicher Mitwirkung von Experten aus Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt wird! So zeigt sich im Recht der Technik ganz deutlich, wie der Verfassungsstaat in Fragen technischer Sicherheit einer systematischen Überforderung ausgesetzt ist, die bislang dazu führt, daß Politiker, Richter und Verwaltungsbeamte, deren herkömmliches Instrumentarium der Gefahrenabwehr vor den sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren Risiken der tech- nischen Zivilisation versagt, sich vollends in die Abhängigkeit von Technikern und Ingenieuren begeben, die sich ihrerseits durch den Rückzug auf rein quantitative Risikoanalysen der Verantwortung entziehen. Eine Entwicklung erweist sich immer nachhaltiger als unumkehrbar, in der das politische System die technisch- wissenschaftliche Vernetzung aller gesellschaftlichen Bereiche nurmehr unter Zuhilfenahme von Technik und Wissenschaft selbst zu verarbeiten vermag und ,,die Dynamik der Komplexitätssteigerung technischer Systeme“ und damit in das Recht selbst einschleust.*7

Heller und Kelsen haben diesem Umschlag von Naturbeherrschung in Formen gesellschaftlicher Irrationalität nur wenig, an manchen Stellen gar keine Aufmerk- samkeit geschenkt. Das war durchaus konsequent, denn beide hielten eine solche Verselbständigung des Systems nicht zuletzt deshalb für ausgeschlossen, weil sie davon überzeugt waren, daß Rationalisierung immer auch Fortschritt bedeuten müsse. Glaubte der eine, das Primat der Verfassung durch eine Grundnorm gesichert zu wissen, die nach seinen Voraussetzungen.die Identität des Systems bis in seine entlegensten Winkel hinein stiften sollte und somit das Recht als Recht zu generieren vermochte, so meinte der andere, Volkswille und Gesetz als Produkt eines verallgemeinerungsfähigen sittlichen Willens hinstellen zu können, der die Rechtsfindung auch dort im Sinne eines übergreifenden Allgemeinen korrigierte, wo die Generalklauseln schon andeuteten, daß der Zerfall eines homogenen Rechtshorizonts längst eingeleitet war - und die Beschwörung einer vermeintlichen volonte gCnerale nicht mehr bedeutete, ** als die eigentlichen Probleme zu verdek- ken. Daß beide an der Stelle, wo der Stoff der alltäglichen Konflikte die so fein gesponnenen Ableitungszusammenhänge mit der Wirklichkeit konfrontierte, so gut wie nichts zu sagen wußten, kann deshalb nicht verwundern. In ihren Augen sorgten Grundnorm und die Evolution der Rechtsgrundsätze gleichermaßen dafür, daß die Vorherrschaft einer begründenden Subjektivität nicht infragegestellt wer- den mußte. Es lag außerhalb der Möglichkeiten, die Wirklichkeitswissenschaft und Reine Rechtslehre gemeinsam vorsahen, daß die beständige Verflüssigung aller

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R. Wolf, Der Stand der Technik. Geschichte, Strukturelemente und Funktion der Verrechtli- chung technischerRisikenamBeispie1 desImmissionsschutzgesetzes, Opladen 1986; ders.,Zur Antiquiertheit desRechts in der Risikogesellschaft, in: Leviathan 1987, S.357 ff.; ders., Jet-r- Schaft kraft Wissens“ in der Risikogesellschaft, in: Soziale Welt 1988, S. 164 ff. U. Beck, Gegengifre. Die organisierte UnverantwortZichkeit,Frankfurt 1988, S.191 f., S.188 ff., S.269, S.284 U.K. Preuß, Sicherheit durch Recht - Rationalitätsgrenzen eines Konzepts, in: KritV 1989, S.3 ff., S.24 H. Heller, Die Souveränität, S.98 (Volksrepräsentanten), S. 107 (unbestimmte Rechtsbegriffe), S. 117 (Gesetzeswille)

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Gegebenheiten in vielen zentralen gesellschaftlichen Feldern einmal dazu führen könnte, daß sich das Rechtssystem in einer Geschwindigkeit den beständigen Umwälzungen der Gesellschaft anpassen muß, in dem die für jede Normativität er- forderlichen Verhaltenserwartungen nicht mehr schnell genug generalisiert wer- den können; einen Zustand hätten Heller und Kelsen für undenkbar gehalten, in dem Rechtsprechung und Verwaltungspraxis die notwendige Systematisierung der Auslegungsgrundsätze und die dogmatische Verfestigung von Argumenten immer häufiger erst zu einem Zeitpunkt bewerkstelligen können, zu dem das Alte schon wieder dem Neuen weichen muß und niemand dem ganzen Prozeß intellektuell noch zu folgen vermag. Was beide nicht ahnen konnten, so muß man mit Blick auf die technischen Generalklauseln zudem feststellen, ist die Heraufkunft einer juristischen Welt, in der der Rechtstext keine autonome Referenz mehr kennt, weil die Basis, auf die er verweist, die Gesellschaft und ihre wissenschaftlich techni- schen Einrichtungen selbst sind.

Heller und Kelsen, so wäre abschließend zu urteilen, inaugurierten eine Selbst- beschreibung des politischen Systems, die dem erreichten Grad der gesellschaftlichen Differenzierung endlich angemessen war. Darin konvergierten ihre staats- und verfassungstheoretischen Konzepte, und dieses Verdienst kann auch gegenwärtig nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zum ersten Mal nahmen zwei Juristen entschieden von einer Staats- und Verfassungslehre Abstand, die den politischen Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft selten mehr als Unverständnis, ja bisweilen zynische Verachtung entgegenbrachte. Aber die Vorstellung, daß an die Stelle des Vernunftrechts der Bürger und der Idee, die gesellschaftlichen Prozesse durch die politische Macht zu lenken, einmal eine Konfiguration beliebig auswech- selbarer Rechtsnormen treten könnte und ein politisches System, dem die Be- dingungen seiner Möglichkeiten von einer entlaufenen technischen Apparatur vorgegeben werden, haben Heller und Kelsen sich nicht mehr ausmalen können. In- dem beide zu sehr auf das politische System fixiert waren, konnten sie die innersten Gesetze einer Gesellschaft nicht wirklich durchschauen, in der Recht und Politik nicht mehr länger als Risikoträger der gesellschaftlichen Evolution angesehen werden können; und in der, nach einem anderen Wort von Niklas Luhmann, Entscheidungen nicht weiter mehr bedeuten als andere Entscheidungen in einem prinzipiell auf Kontingenz angelegten Syswm.89

Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß punktuelle Eingriffe in das System der Weltgesellschaft nicht mehr möglich sind. Daraus folgt auch nicht, daß es etwa gleichgültig wäre, welche Entscheidungen in diesem System heute und morgen getroffen werden und alle politische Auseinandersetzung bedeutungslos würde. Ganz im Gegenteil wird es für eine zeitgemäße Verfassungslehre gerade darauf ankommen, Überlegungen zu entwickeln und zu unterstützen, die dazu beitragen, die Umweltperzeption und Selbstreflexion des politischen und rechtlichen Systems ZU erhöhen, um den Erhalt seiner natürlichen Existenzgrundlage zu sichern. Aber daraus folgt, daß eine Staats- und Verfassungstheorie, die ihren Gegenstand einmaI

89 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 2.erw. Aufl., Opladen 1983, S.333 ff., S.338; ders., Wi- derstandsrecht und politische Gewalt, in: ZFRS 1984, S.36 ff., S.43; vgl. auch die bei N. Luhmann, Theorie der politischen Opposition, in: Zfl 1989, S.13 ff., S.20, (bisweilen sarka- stisch) vorgetragenen Ausführungen zur binären Codierung Regierung/Opposition und der daraus resultierenden Kontingenzreflexion.

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darin fand, daß sie durch engagierte Arbeit ein Bild des gesellschaftlichen Lebens- prozesses entwerfen konnte, in dem sich die Konturen für eine Geschichte jenseits der bürgerlichen Gesellschaft deutlich abzeichneten, damit überholt ist. Das aller- dings bedeutet für alle Traditionen sozialistischer Verfassungstheorie unweiger- lich, Abschied von der Utopie zu nehmen. Sicherlich ist dieser Verlust der Utopie mit dem bitteren Preis der Melancholie zu bezahlen, und es mag sein, daß manchem diese Diagnose zu vorschnell erscheint, weil eine Theorie, die keine Utopie mehr kennt, dazu tendieren wird, daß Leben zu sehr Grau in Grau zu malen. Aber alle Versuche, den Verlust der praktischen Relevanz des Menschen in einer Ge- sellschaft zu kompensieren, die ein politisches Zentrum nicht mehr kennt und die immer weniger als ,,commerce, als Tausch, als Tanz, als Vertrag, als Kette, als Theater, als Diskurs“ zu begreifen ist, 9o haben bislang immer noch bei Aristoteles geendet, und derartige Revitalisierungen klassischer Konzepte der Politik müssen sich entgegenhalten lassen, daß die traurige Wissenschaft ihnen gegenüber im- merhin den Vorzug hat, über die Gesellschaft nachzudenken, in der wir leben. So könnte die traurige Wissenschaft auch für die Staats- und Verfassungslehre einen Weg eröffnen, auf dem erneut möglich würde, das, was ist, zu erfassen: eine nachgeschichtliche Weltzivilisation zu begreifen, in der sich Recht und Politik nur noch an einem auszurichten scheinen: an dem, was sie ohnehin nicht mehr zu ändern vermögen.

Anschrift des Autors: Dr. Thomas Vesting, Detlev-Bremer-Straße 2, D-2000 Hamburg 36.

90 N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1987, SS84

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Thomas VestingAporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus:Hermann Hellers Kritik an der Reinen RechtslehreARSP 77 (1991), S. 348-373