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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2010 · 27. September 2010 China Thomas Heberer Chinas zivilgesellschaftliche Entwicklung Tobias ten Brink Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende? Anja-Désirée Senz Nationale Minderheiten zwischen Anpassung und Autonomie Gerhard Paul Geschichte des Mao-Porträts und seiner globalen Rezeption Marcus Hernig Zur Aktualität chinesischer Mythen Heinrich Kreft Chinas Aufstieg – eine Herausforderung für den „Westen“ Jin Ling Chinesisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika?

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APuZAus Politik und Zeitgeschichte

39/2010 · 27. September 2010

ChinaThomas Heberer

Chinas zivilgesellschaft liche Entwicklung

Tobias ten BrinkChinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende?

Anja-Désirée SenzNationale Minderheiten zwischen Anpassung und Autonomie

Gerhard PaulGeschichte des Mao-Porträts und seiner globalen Rezeption

Marcus HernigZur Aktualität chinesischer Mythen

Heinrich KreftChinas Aufstieg – eine Herausforderung für den „Westen“

Jin LingChine sisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika?

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EditorialEs könnte auch „Incredible China“ heißen: China hat 2009

den langjährigen Exportweltmeister Deutschland auf den zwei-ten Platz verwiesen und Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft überholt. In diesem Jahr kann es mit einem Wirtschaftswachs-tum von etwa zehn Prozent rechnen. Eine immer stärkere Pro-fessionalisierung in Wirtschaft, Politik, Verwaltung und For-schung trägt dazu bei, die „enormen Potenziale“ des riesigen Landes besser zu nutzen. Der materielle Erfolg spiegelt sich im zunehmenden Selbstbewusstsein des „Drachen“ wider. Wäh-rend der internationale Einfluss des Landes zunimmt, emanzi-piert sich im Inneren die wachsende Mittelklasse: Mit der Zu-nahme der individuellen Autonomie in der Privatsphäre steigen auch ihre Ansprüche und Erwartungen.

Doch zeigen sich hier auch die Schattenseiten der raschen Mo-dernisierung. Individuelle Freiheiten und der Zugang zu staat-lichen Ressourcen sind bislang nur einer exklusiven Gruppe vorbehalten. Der Großteil der Gesellschaft, insbesondere die Landbevölkerung, lebt am Existenzminimum. Auch und gerade Stimmen aus China rufen nach einer Neudefinition des Verhält-nisses zwischen individuellen Freiheiten und kollektiver Stabili-tät und Wohlstand – zuletzt deutlich geworden bei den Arbeits-kämpfen von Beschäftigten in der Industrie im Sommer 2010. Die Öffnungs- und Reformpolitik im wirtschaftlichen Bereich stieß einen Wandel an, der auch Anpassungen im Politischen notwendig macht. Hier gibt es noch große Defizite: Presse-, Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit geraten angesichts staatlicher Restriktionen zur Farce. So ist China nach wie vor das Land mit den weltweit meisten Hinrichtungen.

Doch kann die Geschwindigkeit, in der eine so große Gesell-schaft wie die Chinas sich modernisiert und „zivilisiert“, nicht von außen vorgegeben werden. Erfahrungen aus der europäi-schen Geschichte können zwar als Orientierung, aber selten als Maßstab dienen.

Asiye Öztürk

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Thomas Heberer

Chinas zivilgesellschaft liche

Entwicklung: Von Massen zu Bürgern?

Die Frage, ob und wenn ja in welcher Weise sich in China Elemente einer Zivilgesell-

schaft entwickeln, bedarf zunächst der Klärung folgender Punkte: Wie ist der Begriff zu defi-nieren? Unter welchen Voraussetzungen kann sich eine solche Ge-sellschaft innerhalb ei-nes autoritären Staats-wesens herausbilden? In Europa wird „Zi-vilgesellschaft“ als die Entstehung einer vom Staat unabhängigen öf-fentlichen gesellschaft-lichen Sphäre begriffen.

Eine solche Begriffsbestimmung passt jedoch nicht auf das gegenwärtige China, wo es auf-grund der politischen Strukturen enge und viel-fältige Verflechtungen zwischen dem Parteistaat und zivilgesellschaftlichen Kräften gibt. Von daher erscheint eine Definition angebrachter, die „Zivilgesellschaft“ stärker an die Heraus-bildung von Bürgern und den Begriff der „Zi-vilisierung“ im Sinne von Norbert Elias (Wan-del der Persönlichkeitsstruktur) knüpft. ❙1 Was die Frage der Voraussetzungen für eine solche Gesellschaft innerhalb eines autoritären Sys-tems anbelangt, so argumentiert der US-ame-rikanische China-Historiker Thomas Metzger, das westliche Konzept von Zivilgesellschaft sei untrennbar verbunden mit einer Bewegung von „unten“ (das heißt ausgehend von Bürgern und ihren Interessenvereinigungen), mit dem Ent-stehen einer vom Staat unabhängigen Sphäre und einer nicht-utopischen Weltanschauung, so dass im Falle Chinas die Verwendung des Begriffs nicht angemessen sei. ❙2

Binden wir den Begriff der Zivilgesellschaft jedoch stärker an die Herausbildung von Bür-gern und Zivilisierungsprozesse, dann verlieren

Thomas Heberer Dr. rer. pol., geb. 1947; Professor

für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ostasien am Insti-tut für Ostasienwissenschaften

und am Institut für Politikwissen-schaft der Universität Duisburg-

Essen; Co-Direktor des Konfuzius Instituts Metropole Ruhr an der

Universität Duisburg-Essen, 47048 Duisburg.

[email protected]

die Faktoren der „Autonomie“ vom Staat und der Entwicklung „von unten“ an Bedeutung. Strukturen der Zivilgesellschaft können dann auch „von oben“ (durch den Staat) erzeugt wer-den und trotz enger Verflechtungen mit staat-lichen Strukturen können „Bürger“ entstehen. Denn Staat und Gesellschaft stellen grundsätz-lich keine voneinander getrennten Sphären dar, sondern sind über spezifische Netzwerke und Beziehungsgeflechte miteinander verbunden. ❙3

Bezogen auf China meint Zivilgesellschaft daher, inwiefern sich Strukturen herausbil-den, die zwar nicht autonom, aber auch nicht identisch mit dem Parteistaat sind, die staatli-che Dominanz eingrenzen und die Atomisie-rung der Gesellschaft aufbrechen. In diesem Sinne geht es weniger um Kontrolle des Staa-tes oder die Ausübung von Macht durch zi-vilgesellschaftliche Kräfte, sondern um Ein-flussnahme auf Politik und Gesellschaft.

Unter chinesischen Wissenschaftlern gibt es seit Ende der 1980er Jahre eine breite Diskus-sion über den Begriff „Zivilgesellschaft“ und seine Anwendbarkeit auf China. Ein kürzlich erschienener Sammelband fasst die wichtigs-ten Positionen zusammen: Die überwiegende Mehrheit der Diskutanten bindet den Begriff an die Entstehung von Vereinigungen und nichtstaatlichen Organisationen. Nur we-nige gehen darüber hinaus und knüpfen den Begriff auch an Bürgerrech te, Individualisie-rungsprozesse oder Bürger bewusstsein. ❙4

Der polnische Soziologe Piotr Sztompka hat im Hinblick auf die postsozialistische Ent-wicklung in Osteuropa die Herausbildung von vier „Kulturen“ benannt, derer es bedürfe, um „zivilgesellschaftliche Kompetenz“ und damit die Voraussetzungen für eine moderne Zivil-gesellschaft zu erlangen: Unternehmenskultur, Bürgerkultur, Diskurskultur und Alltagskul-tur. ❙5 Sztompka weist damit auf die Notwen-

1 ❙ Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisati-on, Frankfurt/M. 1989, S. 1 ff.2 ❙ Vgl. Thomas A. Metzger, The Western Concept of

the Civil Society in the Context of Chinese History, Stanford 1998.3 ❙ Vgl. Peter B. Evans, Embedded Autonomy: States

and Industrial Transformation, Princeton 1995.4 ❙ Vgl. Tang Jin (Hrsg.), Da guoce. Gongmin shehui

(Große Staatspolitik. Zivilgesellschaft), Peking 2009.5 ❙ Vgl. Piotr Sztompka, Civilizational Incompetence:

The Trap of Post-Communist Societies, in: Zeit-schrift für Soziologie, 22 (1993), S. 88 f.

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digkeit der Herausbildung von Bürgern und auf die Rolle des Verhaltens und der Einstel-lungen der Menschen hin. Zivilgesellschaft umfasst in diesem Sinne nicht nur ein Bündel von Strukturen, Organisationen und Rechten, sondern auch bewusstes Handeln gesellschaft-licher Kräfte. Im Wirtschaftsbereich lässt sich dies – idealtypisch – auf sozial und gesellschaft-lich verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln im Sinne von unternehmerischer So-zialverantwortung beziehen (corporate social responsibility). Bürgerkultur wiederum setzt die Existenz von Gesellschaftsmitgliedern mit Bürgersinn und staatsbürgerlicher Verantwor-tung voraus und Diskurskultur kritische In-tellektuelle, die verantwortlich und in zivilem Umgang miteinander kontroverse gesellschaft-liche Grundfragen debattieren. Alltagskul-tur erfordert schließlich den Einsatz für sozial Schwache und zivilen Umgang in der Ausein-andersetzung mit Andersdenkenden. All dies sind auch zentrale Faktoren des gegenwärtigen chinesischen Entwicklungsprozesses.

Zweifellos entwickeln sich in China die Vo-raussetzungen für Zivilgesellschaft und zivil-gesellschaftliche Strukturen: Ein Privatsektor und ein Unternehmertum sowie gesellschaft-liche Organisationen, Vereine und Nichtre-gierungsorganisationen (NRO) sind entstan-den. Offiziellen Statistiken des Ministeriums für Zivilverwaltung zufolge waren Ende des Jahres 2009 423 000 gesellschaftliche Vereini-gungen und Non-profit-Organisationen re-gistriert. ❙6 Diese sind indessen nicht einfach autonom, sondern über das Registrierungs-verfahren an eine staatliche Organisation an-gebunden, der auch die Aufsicht obliegt.

Ein „öffentlicher Raum“ hat sich auch über das Internet entwickelt. Internetnutzer pran-gern gesellschaftliche Missstände und Pro-bleme an, diskutieren sie und wirken dadurch als gesellschaftliches Korrektiv. Allerdings ist das Internet in China nicht primär ein In-strument der Systemkritik und -veränderung. Die Nutzer wollen damit vorrangig Regie-rungstätigkeit (governance) verbessern. Zu-gleich gibt es nicht nur im Internet, sondern auch in der akademischen Sphäre einen brei-ten Diskurs über Chinas soziale Probleme und politische Zukunft, der vom Staat nicht

6 ❙ Vgl. die Webseite des Ministeriums unter: http:// files.mca.gov.cn/cws/201001/20100128092527729.htm (2. 6. 2010).

unterbunden wird, solange die Parteiführung und ihr Handeln nicht direkt und offen an-gegriffen werden. ❙7 Da diese strukturelle Sei-te zivilgesellschaftlicher Entwicklung bereits an anderer Stelle dokumentiert wurde, ❙8 soll es im Folgenden um die Grundvoraussetzung für eine Zivil- oder Bürgergesellschaft gehen: die Herausbildung von Bürgern.

Bürger – Voraussetzung von Zivilgesellschaft

Dabei binde ich den Bürgerbegriff an vier Voraussetzungen: (a) die Existenz von Ge-sellschaftsmitgliedern mit Bürgersinn und -verantwortung; (b) die Existenz und Durch-setzbarkeit persönlicher Freiheitsrechte; (c) Gelegenheiten zur Mitwirkung an gesell-schaftlichen und politischen Entwicklungen (Partizipation) und (d) ein angemessener Le-bensstandard als materielle Voraussetzung für soziales Engagement.

Bürger- oder Gemeinsinn in Form des En-gagements von Individuen oder Gruppen für sozial Schwache oder ehrenamtliche Ar-beit ist in China bislang noch relativ schwach ausgeprägt, auch wenn das Engagement gro-ßer Bevölkerungsteile nach dem Erdbeben in Südwestchina im Mai 2008 Anlass zur Hoff-nung gegeben hat. Mit dem Anstieg des Le-bensstandards und der Herausbildung einer Mittelschicht entwickeln sich allmählich phi-lanthropische Vorstellungen, die der Staat durch Herausbildung von Bürgerverantwort-lichkeit und Bürgersinn zu fördern sucht.

Der gegenwärtig noch schwache Stand des Bürger- oder Gemeinsinns zeigt sich am Grad der freiwilligen Mitwirkung von Stadt- und Landbewohnern an sozialen oder gemein-schaftlichen Aufgaben. Der Prozentsatz an ehrenamtlich Tätigen ist in China noch im-mer gering. Während in europäischen Gesell-schaften 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung

7 ❙ Ein guter Überblick über die jüngere Diskussion findet sich in dem von der Heinrich-Böll-Stiftung he-rausgegebenen Band: Wie China debattiert. Neue Es-says und Bilder aus China, Berlin 2009.8 ❙ Vgl. Thomas Heberer, China – Entwicklung zur

Zivilgesellschaft?, in: APuZ, (2006) 49, S. 20–26; ders., China: Creating Civil-Society Structures Top-down?, in: Bruno Jobert/Beate Kohler-Koch (eds.), Changing Images of Civil Society. From Protest to Governance, London–New York 2008, S. 87–104.

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in freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten involviert sind, engagieren sich einem Bericht des chinesischen Staatsrates von 2007 zufolge nur rund 1,8 Prozent der Bevölkerung ehren-amtlich. Dafür lassen sich im Wesentlichen drei Gründe anführen:

Historische Gründe: Anders als in christ-lichen oder buddhistischen Gesellschaften, in denen der Gedanke der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit eine große Rolle spielte, war das Mitempfinden mit Personen außerhalb unmittelbarer Bezugsgruppen (wie Clan, Fa-milie, Dorf, Landsmannschaften etc.) in Chi-na eher gering. In den 1930er Jahren beklag-te der Philosoph Lin Yutang entsprechend das Fehlen einer sozialen Gesinnung. Familien-sinn sei für Chinesen zentral, nicht Gemein-sinn. Von daher sei dem chinesischen Den-ken das Konzept der Gesellschaft auch ganz fremd. ❙9 Aus diesem Grunde votierten füh-rende Denker Chinas zu Beginn des 20. Jahr-hunderts für die Abschaffung der Familie und damit des Familiensinns (Kang Youwei) be-ziehungsweise für eine „moralische Revoluti-on“ (daode geming, Liang Qichao).

Modernisierungsprozesse wie im derzeiti-gen China führten zum Zerfall traditionaler Gemeinschaften und Werte und zu einer Zu-nahme individualistischer und selbstbezoge-ner Faktoren und Verhaltensweisen.

Fehlende Institutionen: Bislang fehlen In-stitutionen, die einer ehrenamtlichen sozialen Betätigung förderlich sein könnten wie funk-tionierende Rechtsinstitutionen, ein korrup-tionsresistentes Beamtensystem und ein Wer-tesystem, in dem unentgeltlicher Einsatz für Mitmenschen ein hohes Gut darstellt; dies behindert die Ausbildung zivilisatorischer Kompetenzen im Sinne von Bürgerpflichten sowie die Herausbildung eines Bürger- und Gemeinsinns.

Gerade die sich differenzierende chinesi-sche Gesellschaft ist aufgrund wachsender so-zialer Probleme immer mehr auf freiwilliges soziales Engagement angewiesen. Da die Zahl derjenigen, die sich engagieren wollen, gering ist, versucht der Staat, „Freiwillige“ zu mobi-lisieren und „Freiwilligkeit“ von oben zu ini-tiieren. Wo Freiwillige fehlen, dort sollen zu-

9 ❙ Vgl. Lin Yutang, Mein Land und mein Volk, Stutt-gart (etwa 1947), S. 217.

nächst Parteimitglieder (die organisatorisch – von der Parteidisziplin – abhängig sind) und Sozialhilfeempfänger (die sozial – von staatli-cher Sozialhilfe – abhängig sind) ehrenamt-liche Aufgaben übernehmen. Chinesische Presseberichte verdeutlichen, dass die Mehr-heit der „Freiwilligen“ aus Parteimitgliedern besteht. Bereits 2005 hat ein chinesischer Un-tersuchungsbericht unterstrichen, dass es sich bei 80 Prozent der Freiwilligen in den städti-schen Nachbarschaftsvierteln um Mitglieder von Partei und Jugendverband oder öffentlich Bedienstete handelte. ❙10

Eines der Beispiele für Mobilisierung von oben ist die Freiwilligenvereinigung im Nach-barschaftsviertel Lugu-Shequ im Pekinger Shijingshan-Bezirk. Über die Hälfte der Mit-glieder besteht aus Parteimitgliedern. Rent-ner bilden die Mehrheit. Doch auch wenn der Verein „von oben“ gegründet wurde und überwiegend aus Parteimitgliedern besteht, so erfüllt er wichtige Aufgaben im Bereich sozialer Wohlfahrt, Umweltschutz, Gesund-heit, Verkehrs- und öffentlicher Sicherheit so-wie Fortbildung. Künftig soll die Arbeit von Freiwilligenverbänden auch durch Steuervor-teile gefördert werden. Dabei soll sich über die staatliche Mobilisierung und Erziehung Frei-willigkeit von „Mildtätigkeit“ hin zu „sozialer Verantwortung“ entwickeln. All dies ist Teil eines staatlichen Programms zur Erziehung und Heranbildung von Freiwilligen. Am Bei-spiel des Anreizsystems des genannten Lugu-Viertels wird dieser Erziehungsgedanke deut-lich: Wer jährlich mehr als 100 Stunden an freiwilligen Aktivitäten ableistet, erhält den Titel eines „Sternfreiwilligen“ (xingji yigong), wobei es für über 1000, 3000 und 5000 freiwil-lig geleistete Stunden Geldprämien und spezi-elle Titelauszeichnungen gibt.

Der staatliche Paternalismus und der Bezug der Einzelnen zu Primärgruppen erschweren die Herausbildung eines Bürgersinns. Die so-zialistische Erziehung lehrte die Menschen, dass derjenige ein guter Bürger ist, der sich ein- beziehungsweise unterordnet und sich loyal gegenüber Partei und Staat verhält – ganz so wie eine 47-jährige Arbeiterin in She-nyang in einem Interview im Rahmen eines Forschungsprojektes erklärte: „Ich bin eine sehr gute Bürgerin, ich mache anderen keine

10 ❙ Vgl. Shequ (Nachbarschaftsviertel), 11 (2005) 2, S. 15.

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Schwierigkeiten.“ Oder wie es eine 55-jährige Rentnerin ausdrückte: „Ich gehe mit der Par-tei. Was die Leitung anordnet, das tue ich (…) wenn die Leitung mich ruft, komme ich.“

Unter vielen Älteren wirkt hier im Denken und Handeln die Institutionalisierung der au-toritären Herrschaft fort. Macht wird über das Bewusstsein der Menschen in dem Sinne ausgeübt, dass die Menschen glauben, die Ar-rangements des Staates seien zu ihrem eigenen Besten. Solche Auffassungen, in denen sich die Macht des Systems niederschlägt, erschweren gleichsam eine Beteiligung der Menschen und damit die Herausbildung von Bürgern, weil der Staat alles zu richten scheint.

Individualisierung und individuelle Autonomie

Der Bürgerbegriff verlangt autonome Indivi-duen, die selbstständige Entscheidungen tref-fen können. Auch chinesische Wissenschaft-ler argumentieren bereits entsprechend. Jedes Individuum, schreiben Yang und Ma, sei Trä-ger von Selbstverwaltungsrechten. ❙11 Zu ei-nem solchen Individualisierungsschub trägt zunächst der Modernisierungsprozess bei. Er bewirkt, dass traditionelle Strukturen und Bindungen aufgebrochen werden (etwa durch Aufweichen von Verwandtschaftsbeziehun-gen, Wanderungsbewegungen, Ausweitung der Marktverhältnisse, Leistungsprinzipien und Konkurrenzdruck, Erosion des Netzes sozialer Sicherheit oder Arbeitslosigkeit). Sozi-ale Unsicherheit nimmt zu, der Einzelne wird stärker auf sich selbst zurückgeworfen, macht sich beruflich selbstständig und trägt selbst die Verantwortung für erhöhtes Risiko und sozi-ale Unwägbarkeiten. Traditionelle Werte und Glaubensvorstellungen werden hinterfragt und relativiert. Es tritt das ein, was Ulrich Beck in Anlehnung an Norbert Elias „gesellschaftli-chen Individualisierungsschub“ genannt hat. ❙12

Zwar finden wir auch in den städtischen Nachbarschaftsvierteln Chinas einen Indivi-dualisierungsschub, er unterscheidet sich al-

11 ❙ Vgl. Yang Zhangqiao/Ma Lihua, Chengshi shequ zizhi quanwei de minzhu jiangou (Demokratische Errichtung autonomer Rechte urbaner Nachbar-schaftsviertel), in: Shehuixue (Soziologie), (2004) 3, S. 21.12 ❙ Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in

eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 116.

lerdings von dem von Beck beschriebenen ge-sellschaftlichen. Er impliziert eher das, was unter anderem vom Sozialanthropologen Fei Xiaotong als „Selbstsucht“ oder „Egozent-rismus“ bezeichnet wurde, als Charakteris-tikum traditionalen sozialen Verhaltens in China. Damit meinte er die fehlende Verant-wortung für öffentliche Angelegenheiten. ❙13

Die gegenwärtige urbane Atomisierung be-wirkt einen Wandel vom Gruppen- (Fami-lie, Clan, Dorf, Danwei❙14) zum individuellen Egoismus, der durchaus als Vorstufe zu gesell-schaftsbezogenem Individualismus begriffen werden kann. Freiwilliges soziales Engage-ment wird daher eher abgelehnt, die Menschen konzentrieren sich auf ihre eigenen Lebensent-würfe. „Der beste Nachbar“, erklärte ein Ver-treter des gehobenen Mittelstandes in einem der gehobenen Wohnviertel in der südchinesi-schen Wirtschaftsmetropole Shenzhen, sei der, den man nie sieht. Mit anderen Bewohnern wolle man möglichst wenig zu tun haben.

Im Modernisierungsprozess kommt es zu einem dreifachen Individualisierungsprozess: zum Verlust der Einbindung in traditionelle Sozialstrukturen und damit zum Verlust so-zialer Absicherung und Bindungen, zur Auf-weichung traditioneller Werte, Normen und Glaubensmuster und zu neuen Formen sozia-ler Einbettung. Modernisierung bewirkt eine zunehmende Auseinanderentwicklung von öffentlichem und privatem Bereich – eben-falls ein Moment von Individualisierung. Vo-raussetzung für ein Mehr an Individualismus in der Gesellschaft ist ein Mehr an individu-eller Freiheit. Dabei darf individuelle Freiheit nicht mit dem demokratischen Freiheitsbe-griff als Freiheit der Partizipation verwechselt werden. Individuelle Freiheit nimmt in sozia-listischen Gesellschaften zu, so der Ökonom Janos Kornai, wenn (1) das Recht, bestimmte Arten von Entscheidungen zu treffen, von der Bürokratie auf das Individuum übergeht und wenn (2) bürokratische Zwänge gegenüber den Entscheidungen von Individuen nachlas-sen beziehungsweise aufgehoben werden. ❙15 Ein solches Anwachsen individueller Auto-

13 ❙ Vgl. Fei Xiaotong, From the Soil. The Founda-tions of Chinese Society, Berkeley et al. 1992.14 ❙ Dies sind Arbeits- und Wohneinheiten, die auch

als soziale Gemeinde dienen.15 ❙ Vgl. Janos Kornai, Individual Freedom and Re-

form of the Socialist Economy, in: European Econo-mic Review, (1988) 32, S. 236 f.

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nomie und Privatheit können wir im urbanen Raum Chinas gegenwärtig überall erkennen.

Autonomie beinhaltet unter anderem eine geringere Abhängigkeit der Menschen von der Bürokratie, größere Eigenentscheidungen hinsichtlich individueller Lebensentwürfe und die Akzeptanz von Nicht-Partizipation durch den Parteistaat, ein wichtiger Faktor für eine Zivilgesellschaft. In nahezu allen Gesell-schaften stellen partizipierende Bürger eine Minderheit dar. Denn Teil des Bürgerseins ist auch die Entscheidung, nicht aktiv zu partizi-pieren. Die Menschen im gegenwärtigen Chi-na können sich zwischen Abwanderung, Wi-derspruch und „politischem Epikureismus“ (Franz Neumann), das heißt einer bewussten Abstinenz von der Politik und Konzentration auf private Interessen, gekennzeichnet durch Passivität und Indifferenz, entscheiden.

Entsprechend lässt sich feststellen, dass vor allem in den gehobenen urbanen Wohnvier-teln Chinas „Autonomie“ in Form individu-eller Selbstbestimmung bereits vorhanden ist. Abgesehen von den sozial Abhängigen (Sozi-alhilfeempfängern) und den politisch Abhän-gigen (Mitgliedern der Kommunistischen Par-tei Chinas, KPCh) kann kein Individuum mehr verpflichtet werden, sich in seinem Wohnviertel politisch oder sozial zu engagieren. Vielmehr ist die Gestaltung der Lebensentwürfe heute An-gelegenheit jedes Einzelnen. Von daher trifft das Argument Amitai Etzionis, dass ein we-sentlicher Grund für den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme im fehlenden Raum für Autonomie, „sowohl in Bezug auf politi-sche Äußerungen als auch wirtschaftliche Ini-tiativen und Innovationen“ bestanden habe, ❙16 auf das gegenwärtige China nicht zu.

Individuelle (politische) Autonomie im Sin-ne von Freiheiten privater Bürger gegenüber dem Staatsapparat und seinen Untergliederun-gen besteht primär für jenen Personenkreis, der weder sozial noch politisch von den staatlichen Strukturen abhängig ist. Diese Personengrup-pe, bestehend aus Personen mit regelmäßigen und zum Teil hohen Einkommen, interessiert sich nur selten für die Belange der Nachbar-schaftsviertel und möchte ganz bewusst in kei-ne kollektiven Aktivitäten einbezogen werden.

16 ❙ Amitai Etzioni, From Empire to Community. A New Approach to International Relations, New York et al. 2004, S. 29.

Das Anwachsen individueller Autonomie lässt sich als Teil des Wandels der chinesischen Gesellschaft von einer geschlossenen zu einer offenen interpretieren. Geschlossene Gesell-schaften lassen sich als solche mit geringer so-zialer Mobilität, Einbindung der Menschen in festgefügte Gemeinschaften und individueller Abhängigkeit von kollektiven Zwängen defi-nieren, wobei private und öffentliche Sphären nicht getrennt sind. Dies entspricht den sozi-alen und politischen Verhältnissen Chinas bis in die 1980er Jahre hinein. Die offene Gesell-schaft ist charakterisiert durch sozialen Wan-del und verschiedene Formen räumlicher und gesellschaftlicher Mobilität. Traditionale Ge-meinschaften beginnen sich aufzulösen, Indi-vidualisierungsprozesse führen zu einer Erosi-on kollektiver Werte und Normen, persönliche Lebensentwürfe beginnen sich von kollekti-ven Zwängen zu lösen. Öffentliche und priva-te Räume bilden zunehmend getrennte Sphä-ren, kollektive Schicksale (von Dörfern, Clans, Dorfgemeinschaften, Danwei etc.) werden zu persönlichen. ❙17 Genau dieser Prozess individu-eller Autonomisierung hat sich seit den 1980er Jahren vor allem im urbanen Raum vollzogen.

In den boomenden Wirtschaftsmetropolen der chinesischen Ostküste wie in Shenzhen macht sich das relativ freie und offene politi-sche Klima am deutlichsten bemerkbar. Men-schen aus dem Landesinneren fühlen sich hier wesentlich freier als in ihrer Heimat. In Inter-views im Rahmen einer Feldstudie erklärte bei-spielsweise eine 35-jährige leitende Angestellte (Hochschulabsolventin, Parteimitglied, aus Si-chuan stammend): „Hier fühle ich mich sehr frei. Solange man nicht gegen Gesetze verstößt, kann man ungestört sein eigenes Leben führen. (…) In Shenzhen, wo die Wirtschaft relativ weit entwickelt ist, gibt es ein höheres Bewusstsein zur Einforderung demokratischer Rechte als im Landesinnern. (…) In Chengdu jedoch ist alles anders. Hier sagen die Leute, was sie den-ken. In Chengdu gehorchen sie. Ich denke an-ders seit und weil ich in Shenzhen lebe.“

Eine 30-jährige Kindergärtnerin aus Jiang-xi konstatierte: „Ich möchte nicht zurück nach Jiangxi, dort finde ich es zu traditionell. Hier haben die Kinder ein viel höheres Niveau. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass

17 ❙ Vgl. Michael Baurmann, Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine so-ziologische Untersuchung, Tübingen 1996, S. 502 ff.

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in Jiangxi die Kindergärten staatlich sind, hier sind sie privat. In Jiangxi ist die Autorität der Kindergärtnerinnen hoch, hier die der Eltern. In Jiangxi trauen sich die Eltern nicht, ihre Mei-nung zu äußern, weil das Prestige der Erziehe-rinnen so hoch ist. Hier nehmen die Eltern re-gen Anteil am Kindergartenleben und äußern häufig ihre Meinung. Auch üben sie oft Kritik an unserer Arbeit. Wenn man nicht gut arbei-tet, fliegt man raus. Mit den Eltern hier wird man nicht so leicht fertig. Selbst bei Kleinig-keiten regen sie sich auf und suchen ein Haar in der Suppe.“ In diesen Aussagen kommt das selbstbewusste Lebensgefühl der neuen Mit-telschichten signifikant zum Ausdruck.

Die gesellschaftliche Entwicklung verlangt jedoch längerfristig die Überführung von in-dividueller Autonomie in Bürgersinn und Bürgerengagement auf der Basis von Partizi-pationsmöglichkeiten, Freiwilligkeit und so-zialer Solidarität. Dies ist nötig, um den Grad an sozialer Stabilität erhöhen sowie zentrifu-galen Dynamiken einer Überindividualisie-rung und anderen sozial-zentrifugalen Ten-denzen entgegenwirken zu können.

Staat als Moralstaat

Gleichwohl rufen auch in China Intellektuel-le dazu auf, dem Verfall lokaler Gemeinschaf-ten Einhalt zu gebieten. Gemeinschaften (wie Nachbarschaftsgemeinschaften) müssten wie-dererrichtet und Bürger ermuntert werden, aktiver zu werden. Dabei solle der Staat eine wichtige Rolle spielen. Die Schaffung einer neuen Moral- und Werteordnung erscheint hier als ein zentraler Faktor der intendierten Gemeinschaftsbildung. Darauf weist unter anderem ein Programm zur Realisierung des Aufbaus einer neuen Bürgermoral (gongmin daode jianshe shishi gangyao) hin, welches die politische Führung im Jahr 2001 beschlossen hat und regelmäßig von den Medien propa-giert wird. 2003 veröffentlichte der Ausschuss für die Leitung des Aufbaus der geistigen Zi-vilisation des Zentralkomitees der KPCh ein neues Dokument, mit welchem das Pro-gramm von 2001 konkretisiert werden soll-te. Darin wurde der 20. September zum „Tag der Propagierung der Bürgermoral“ erklärt. ❙18 Regelmäßig berichtet die Parteizeitung Ren-min Ribao von der Beteiligung von Bürgern

18 ❙ Vgl. Renmin Ribao (Volkszeitung) vom 19. 9. 2003.

an der Schaffung einer neuen Moralordnung. 2008 wurde eine Zentrale Kommission für die Anleitung zum Aufbau einer geistigen Zivili-sation eingerichtet mit dem Ziel der Schaffung einer öffentlichen Meinung für freiwilliges soziales Engagement. ❙19 Das Ministerium für Zivilverwaltung hat bereits mehrfach betont, dass die urbanen Nachbarschaftsviertel als Instrument zum Erlernen „zivilisierten Ver-haltens“, zum „moralischen Aufbau“ der Ge-sellschaft sowie zur Hebung der „moralischen Qualität“ der Menschen fungieren sollen.

In vielen Nachbarschaftsvierteln findet sich der aus 20 Schriftzeichen bestehende Kurzmo-ralkodex als öffentlicher Aushang: das Vater-land lieben und sich an die Gesetze halten; höf-lich, ehrlich und glaubwürdig sein; solidarisch und freundschaftlich sein; fleißig, genügsam und voranschreitend sein; die Arbeit achten und Opfer bringen. Es sind primär Patriotis-mus, die Einübung von moralischen Werten durch Propagandaaktionen, soziale Kontrolle, selbstbewusstes Verfolgen der geforderten Standards und behördliche Anleitung, die zum Aufbau einer „Bürgermoral“ führen sol-len. Dabei geht es aber nicht mehr um die Mo-ral von neuen „sozialistischen Menschen“, son-dern um die neue Moral von „Bürgern“. Der Staat betätigt sich hier als Moralstaat, der von oben neue institutionelle Muster in Form von Moralstandards zu setzen versucht.

Schlussfolgerung

Wachsender Lebensstandard, größere indivi-duelle Freiheiten, zunehmende Partizipations-möglichkeiten und Verrechtlichung begünsti-gen die Herausbildung von Bürgern im urbanen Raum. Der Staat sucht von oben Strukturen zu schaffen und Werte zu propagieren, die dieser Herausbildung förderlich sind. In und über die urbanen Nachbarschaftsviertel sollen die Be-wohner an partizipative Mitwirkung heran-geführt werden und diese erlernen. Freiwil-lige soziale Tätigkeiten, Vereinsgründungen oder der Transfer staatlicher Dienstleistungen in die städtischen Wohnviertel hinein schaffen Strukturen, die der Entwicklung von Gemein-sinn und sozialem Engagement förderlich sein könnten. Mangelnde „bürgerliche“ Freiheits-rechte und fehlende Rechtssicherheit wirken hier allerdings beschränkend.

19 ❙ Vgl. Renmin Ribao vom 10. 10. 2008.

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Signifikant gestiegen ist das Maß an indi-vidueller Autonomie. Eine solche Autono-mie, verbunden mit größerer Individualisie-rung, lässt sich auch als mögliche Vorstufe zu größerer organisatorischer Autonomie oder Selbstverwaltung der Nachbarschaftsviertel begreifen. Nach den negativen Erfahrungen mit Planwirtschaft und sozialer Repression streben die meisten Menschen zunächst nach höherem Lebensstandard und individueller Unabhängigkeit. Der Staat versucht diese Ent-wicklung unter anderem mit Hilfe der Nach-barschaftsviertel in Richtung sozialen Enga-gements zu lenken. Dabei geht er davon aus, dass zivilisatorische Lernprozesse, Partizipa-tion und soziales engineering durch den Staat erst die Voraussetzungen für Bürger und Bür-gersinn erzeugen.

Zivilgesellschaft erfordert die Schaffung von zivilgesellschaftlichen Strukturen, ein un-abhängiges Rechtssystem und zivilisatorische Kompetenz. Mit dem Begriff „zivilisatorische Kompetenz“, der die kognitive Seite von Zi-vilgesellschaft umfasst, ist das Entstehen von Bürgern mit Bürgersinn gemeint, deren Den-ken und Handeln stärker auf die Gesellschaft gerichtet ist. Gesellschaftliches Engagement und Bürgersinn sind wichtige Elemente von Zivilgesellschaft. Teil der zivilisatorischen Kompetenz ist aber auch, dass Staat und In-dividuen lernen, andere Meinungen zu akzep-tieren, mit Andersdenkenden zivil umzuge-hen und Konflikte friedlich zu lösen.

Unter Bedingungen fehlender zivilisatori-scher Kompetenz wie in China kommt dem Staat die Aufgabe zu, die Voraussetzungen und Strukturen für zivilgesellschaftliche Prozesse (soziale Vereinigungen, Internetdiskussionen, soziales Engagement, Werte etc.) zu schaffen. Die staatlich induzierte Schaffung von Bürgern und Bürgerwerten ist der Versuch der Schaf-fung von Bürgern „von oben“. Es zeichnet sich daher ein neues „chinesisches“ Entwicklungs-modell ab: die Schaffung einer zunächst illi-bertären Zivilgesellschaft von oben durch den Staat. Auch ein solcher Prozess kann dazu bei-tragen, aus „Massen“ (ein politischer Begriff) „Bürger“ (ein rechtlicher Begriff) zu machen – Bürger, die zumindest partiell die Möglichkeit zu politischer Partizipation erhalten und diese im Sinne zivilisatorischer Entwicklung zu nut-zen beginnen.

Tobias ten Brink

Chinas neuer Kapitalismus Wachstum ohne Ende? :

Die Wirtschaftsentwicklung der Volks-republik China gilt als die erfolgreichs-

te auf der Welt. In absehbarer Zeit wird das Land zur zweitgröß-ten Volkswirtschaft der Erde aufrücken. Die chinesische Ent-wicklung überragt sta-tistisch betrachtet seit 1978, dem Beginn der Reformpolitik, jeden anderen langen Aufschwung in der Geschich-te der Moderne. Eine Steigerung des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens von etwa sechs Pro-zent konnte selbst in Japan nicht über einen derart langen Zeitraum erreicht werden, zu-mal er nicht annähernd so viele Menschen be-traf. China ist nicht mehr nur die „Werkstatt der Welt“, sondern wird selbst zum Innovati-onsmotor. Freilich verläuft das Wachstum ähn-lich wie in anderen Ökonomien zyklisch, wenn auch auf einem höheren Niveau. Phasen mit besonders hohen Wachstumsraten des Brutto-inlandsproduktes (BIP) von zehn Prozent und mehr wurden von schwächeren abgelöst. Und auch wenn sich tatsächlich massenhafte Wohl-standssteigerungen nachweisen lassen, fallen diese doch immer noch bescheiden aus. Um die Dynamik ebenso wie die Destabilisierungsge-fahren der chinesischen Wirtschaft zu verste-hen, lohnt sich ein Blick auf ihre Spezifika.

Neue Spielart des Kapitalismus

Mitte der 1970er Jahre – am Ende der soge-nannten „Kulturrevolution“ – befand sich die chinesische Gesellschaft in einer tiefen Krise. Mit dem Beginn des Reformprozesses 1978 begann die chinesische Machtelite unter Füh-rung des Reformflügels um Deng Xiaoping, das Land in einem Trial-and-Error-Verfah-ren zu restrukturieren. In mehreren Reform-phasen durchlebte es tief greifende Verände-rungen. Resultat ist eine bislang einmalige Transformation eines kommandowirtschaft-

Tobias ten Brink Dr. phil., geb. 1976; Postdocto-ral Fellow am Max-Planck-Insti-tut für Gesellschaftsforschung, Paulstraße 3, 50676 Köln. [email protected]

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lichen Systems in ein stärker über den Markt gesteuertes Entwicklungsmodell.

Wesentliche Merkmale des Wachstumser-folgs Chinas müssten eigentlich jeden Vertei-diger des freien Marktes verstummen lassen: Die Wirtschaft ist durch eine hohe staatli-che Interventionsdichte gekennzeichnet, im Unterschied zu den Transformationsländern des Ostblocks wurde auf vorschnelle Libera-lisierungen verzichtet und noch dazu regiert die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Das Erbe einer bürokratischen Kommando-wirtschaft, der herrschenden Partei und die Rolle eines industriellen Spätentwicklers ha-ben – unter den besonderen Bedingungen der ostasiatischen Wachstumsregion und ei-ner Phase fortgeschrittener Transnationa-lisierung der Weltwirtschaft – eine neuarti-ge Spielart des Kapitalismus hervorgebracht. Diese Variante kann als marktliberaler Staatskapitalismus bezeichnet werden: Ein marktliberaler, unternehmerischer Geist ist mit einem umfassenden Staatsinterventionis-mus verbunden, der sich an makroökonomi-schen Erfolgsparametern orientiert. ❙1

Ein Bezug auf die offizielle Losung der KPCh, die das Land zur „sozialistischen Marktwirtschaft“ erklärt hat, greift hier zu kurz. Die Staatsintervention sowie das Staats-eigen tum stellen keine Negation kapitalisti-scher Eigentumsverhältnisse dar, sondern fun-gieren als eine Form der partikularen Verfügung über ökonomische und politische Macht. Typi-sche Merkmale kapitalistischer Wirtschaften wie der Zwang zur Akkumulation des Kapitals, eine rücksichtslose Wachstumsorientierung (und damit das Fehlen qualitativer, sozial-öko-logischer Kriterien des Wachstums) sowie aus-geprägte soziale Gegensätze haben die chinesi-sche Ökonomie zu einem Mekka des globalen Kapitalismus gemacht, ohne dass diese jedoch ein und dieselben Charakteristika wie liberale Kapitalismen westlicher Prägung aufweist. Im Folgenden werden drei Dimensionen des neuen chinesischen Kapitalismus beschrieben.

1 ❙ Vgl. ausführlicher Tobias ten Brink, Strukturmerk-male des chinesischen Kapitalismus, Max-Planck-In-stitut für Gesellschaftsforschung, Discussion Pa-per, (2010) 1, online: www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp10-1.pdf (13. 5. 2010); Barry Naughton, The Chi-nese Economy: Transitions and Growth, Cambridge 2007; Christopher A. McNally (ed.), China’s Emer-gent Political Economy: Capitalism in the Dragons’s Lair, London 2007.

Glück und Gefährdung: Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft

Der Erfolg Chinas hängt zu einem großen Teil mit Faktoren zusammen, die nicht von der chinesischen Machtelite beeinflusst wur-den, sondern die vielmehr auf günstigen welt-wirtschaftlichen und ostasiatischen Konstel-lationen beruhten: Im Gegensatz zu anderen „staatssozialistischen“ Gesellschaften konnte die Nation von der in den 1970er Jahren ein-setzenden Globalisierungsphase profitieren.

Der Versuch, die Wirtschaft auf den Ex-port auszurichten, war auf ausländische Direktinvestitionen (ADI) und technisches Wissen angewiesen. Die Nähe zur ostasiati-schen Wachstumsregion diente diesem Inte-resse. Der ostasiatische Raum und die inner-asiatischen Handels- und Produktionsketten bildeten ein entscheidendes externes Moment in der weltwirtschaftlichen Einbindung Chi-nas. Die von vorübergehend oder dauerhaft im Ausland lebenden Überseechinesen gebil-deten Geschäftsnetzwerke in Ostasien spiel-ten dabei ab den 1980er Jahren eine besonders wichtige Rolle in der Industrialisierung Chi-nas. Sie ebneten den erst in den 1990er Jahren steigenden ausländischen Investitionen aus anderen Quellen den Weg.

Von diesem Zeitpunkt an gründete die be-deutende Zunahme der ADI auf einer speziel-len Situation, die nicht allein mit den niedrigen Arbeitskosten in China erklärt werden kann: eine in den 1990er Jahren mitunter als „Anlage-notstand“ deklarierte Überakkumulation von Kapital in den klassischen Produktionszentren. Zu viel Kapital stand gewissermaßen wenigen lohnenden Investitionen gegenüber, weshalb die Investitionsquote in Europa, Nordamerika und Japan entsprechend gering war.

Seit Mitte der 1990er Jahre konnten die USA und China ihr Wachstum auf zwei unterschied-lichen, jedoch voneinander abhängigen Wegen erzielen. Während in den USA große Anteile des BIP-Wachstums auf den schuldenfinan-zierten Konsum und weniger auf Investitionen zurückzuführen waren, verlief der chinesische Aufschwung spiegelverkehrt: Er beruhte auf einer beispiellos hohen Investitionsquote und einer vergleichsweise geringen internen Kon-sumquote. Die relative Bedeutung der Investi-tionen nahm noch zu, von etwa 30 Prozent des

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BIP zu Beginn der 1990er Jahre auf annähernd 40 Prozent nach 2000. Große Mengen an liqui-den Mitteln im „Norden“ (das heißt in den tra-ditionellen Industriestaaten) stellten die Ver-sorgung mit Geldanlagen sicher und heizten den Investitionsboom weiter an. Zudem fun-gierten die alten Zentren des globalen Kapita-lismus als Endabnehmer von Exportgütern. ❙2

Die Unternehmen der entwickelten Volks-wirtschaften (auch in Ostasien) schufen sich vor diesem Hintergrund neue Wettbewer-ber in dem Maße, wie sie selbst versuchten, von der chinesischen Dynamik zu profitieren. Das Ergebnis ist eine Restrukturierung der Wettbewerbsverhältnisse auf den internatio-nalen Märkten, da die chinesische Staatsfüh-rung nicht nur ADI begünstigte, sondern auch selbst beziehungsweise vermittelt durch chine-sische Konzerne zum Global Player aufstieg.

Bis heute erzielt die chinesische Volkswirt-schaft weltweit die höchsten BIP-Wachs-tumsraten, wenngleich auch auf Kosten ande-rer Exportwirtschaften. Allerdings bringt die extrem hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt erhebliche Gefährdungen mit sich. Die glo-bale Krise 2008/2009 und das Ende des Kon-sumbooms in den OECD-Ländern ❙3 zogen Kriseneffekte in den auf diese Verbraucher-märkte orientierten chinesischen Branchen nach sich. Die Ausfuhren verringerten sich im Jahr 2009 um ein Viertel. Bei der vorwiegend für den Weltmarkt produzierenden Elektro-nik- und Textilindustrie, aber auch in anderen Sektoren, ging die Zahl der Entlassungen in die Millionen. Dazu kam, dass durch die Kre-ditkrise die finanziellen Ressourcen für aus-ländische Investitionen geringer wurden.

Hinzu tritt ein weiterer Aspekt der tie-fen Einbettung in globale Produktions- und Konsumtionsketten. Viele Industriestätten des chinesischen Festlandes fungieren als Pro-duktionsplattformen für Endprodukte. Als Be-standteil globaler, meist von amerikanischen, europäischen oder ostasiatischen Markenfir-men dominierter Produktionsverbünde, die zum Beispiel das Apple iPhone in China zu-

2 ❙ Vgl. Hung Ho-fung, Rise of China and the global overaccumulation crisis, in: Review of International Political Economy, 15 (2008) 2, S. 149–179. 3 ❙ Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit

und Entwicklung; engl. Organisation for Economic Co-operation and Development.

sammenbauen lassen, ist die Volkswirtschaft daher den Rhythmen des globalen Kapitalis-mus direkt ausgesetzt. Viele der chinesischen Exporte sind gegenwärtig nur in dem Sinne „chinesisch“, dass sie in China zusammenge-fügt wurden. Dies bedeutet: Den Großteil der Profite erzielen die multinationalen Konzerne, nicht die lokalen Produzenten oder Zulieferer. Zusätzlich machen Erstere den einheimischen Herstellern auf dem chinesischen Binnenmarkt das Leben schwer – ein Sachverhalt, der in der Krise an Bedeutung gewonnen hat, wie bereits der chinesische Markenführer unter den Com-puterherstellern, Lenovo, feststellen musste.

Vorteile und Schwachstellen: Der fragmentierte Parteistaat

Das System der Volksrepublik zeichnet sich entgegen der hierzulande immer noch existie-renden Legende eines von der KPCh von oben nach unten totalitär beherrschten Einheits-staates durch eine bemerkenswerte Kombina-tion zentraler und dezentraler Macht aus. Ein durch kapitalistische Imperative wie Nütz-lichkeitserwägungen und Profitinteressen ge-prägtes Beziehungsgefüge verschiedener Ent-scheidungsstrukturen ist entstanden. Dieses Mehrebenensystem ist zugleich Ausdruck und Förderer einer regionalisierten Binnen-wirtschaft. Die hierdurch resultierende Kon-kurrenz der politischen Instanzen unterhalb der Zentralregierung, die sich gegenseitig bei der Einwerbung von Investitionen überbie-ten, fördert sowohl dynamische als auch pro-blematische Wirtschaftsentwicklungen.

Zwar besitzt der Zentralstaat weiterhin eine entscheidende Rolle. Er stellt grundle-gende Rahmenbedingungen der Kapitalak-kumulation bereit – über die Verwaltung und die Rechtsetzung über die Schaffung wirt-schaftlicher Infrastruktur im Transport-, Energie- und Kommunikationssektor bis zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Auch kontrolliert er wichtige Konzerne und, was noch wichtiger scheint, die größten Banken. Dies hat der Pekinger Regierung einen er-heblichen wirtschaftspolitischen Spielraum verschafft, was die gewaltigen Konjunktur-programme, die im Zuge der Weltwirtschafts-krise ab 2008 aufgelegt wurden, bezeugen.

Die Funktionen des Staates sind jedoch seit Ende der 1970er Jahre verstärkt auf den subna-

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tionalen politischen Ebenen konzentriert wor-den. Die Koexistenz von 22 Provinzen, fünf Autonomen Regionen, vier regierungsunmit-telbaren Städten mit dem Status einer Pro-vinz (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungszonen (Macao, Hongkong) stellt ohnehin ein disparates Ge-bilde dar. Darüber hinaus machen die fünf relevanten Regierungsebenen – Zentralre-gierung, Provinzen, Bezirke, Kreise und Ge-meinden – eine Detailsteuerung unmöglich. ❙4

Weil die lokalen Staatsapparate auf ihrem Hoheitsgebiet verstärkt wirtschaftliche Leis-tungen mittels Kontrolle von und direkter Intervention in Firmen anregen, interpretie-ren dies China-Forscher als einen wesentli-chen Rahmen der Wachstumsdynamik. Re-gierungsbeamte fördern nicht nur, sondern ersetzen gewissermaßen auch wirtschaftliche Aktivitäten. Dabei unterstützen enge Bezie-hungen (guanxi), aber auch Korruption und Bestechung die Allianzen zwischen (privaten, halbstaatlichen, staatlichen) Unternehmern, Partei und Staat. Etwa 90 Prozent der reichs-ten 20 000 Chinesen verfügen über sehr gute, häufig verwandtschaftliche Beziehungen zu hohen Regierungs- oder Parteifunktionären. ❙5

Doch der Wettbewerb zwischen den lokalen Staatsapparaten (auch und gerade innerhalb von Provinzen etwa zwischen Stadtregierun-gen), die massive Staatsintervention und die Regionalisierung der Wirtschaft ziehen auch negative Effekte nach sich. So sind Probleme der Überinvestition von Produktionskapazitä-ten und der Dopplung von Investitionen fest-zustellen, die aus der anarchischen Konkur-renz resultieren. Die Gefahr besteht, dass eine Stagnation der ADI und ein Nachlassen der Wirkung des großen Konjunkturprogramms zu einer Verschärfung etwa des Problems der

4 ❙ Vgl. Dali L. Yang, Remaking the Chinese Levia-than: Market Transition and the Politics of Gover-nance in China, Stanford 2004; Zheng Yongnian, De Facto Federalism in China: Reforms and Dynamics of Central-local Relations, Singapur 2007. 5 ❙ Auch die seit über einem Jahrzehnt wachsende Zahl

der Privatisierungen und Privatunternehmen setzt die engen Beziehungen zwischen Partei, Staat und Unter-nehmen nicht außer Kraft. Das Privateigentum bleibt eingebettet in das (lokale) politische Umfeld. Viele ehemalige politische Kader der KPCh gingen in den 1990er Jahren den Weg des red capitalist. Vgl. Bruce J. Dickson, Integrating Wealth and Power in China: The Communist Party’s Embrace of the Private Sector, in: The China Quarterly, (2007) 192, S. 827–854.

Überschusskapazitäten oder Büroleerstände führt, zumal die Konjunkturspritzen diese Tendenzen noch beschleunigen können. Fer-ner erschweren die beträchtlichen regionalen Unterschiede in den Entwicklungsniveaus des Landes eine stabile Entwicklung. Hoch entwi-ckelte städtische Zentren und große, agrarisch geprägte, rückständige Gebiete bilden ein re-gelrecht gespaltenes Akkumulationsmodell.

Dennoch wird das aktuelle Krisenmanage-ment „mit chinesischen Charakteristika“ als ein großer Erfolg gewertet. Mittels enormer fi-nanzieller Ressourcen leiteten der Zentralstaat (nicht zuletzt auf Grundlage der umfangrei-chen Währungsreserven) und die lokalen po-litischen Instanzen fiskal-, zins- und kredit-politische Maßnahmen ein, die bisher (August 2010) einen Einbruch der Wachstumsraten un-ter die kritische Rate von etwa sieben bis acht Prozent verhindern konnten. (Unterhalb die-ser Rate könnten mehrere Millionen zusätzli-cher Arbeitskräfte pro Jahr nicht mehr in die städtischen Arbeitsmärkte integriert werden.) Das im Gefolge der Krise aufgelegte und nur teilweise von der Zentrale finanzierte Kon-junkturpaket in Höhe von circa 4600 Milli-arden Yuan (etwa 460 Milliarden Euro) dient dem weiteren Aufbau wirtschaftlicher und so-zialpolitischer Infrastrukturen (Schienennetz, Autobahnen, Gesundheits- und Bildungs-wesen) und der technologischen Modernisie-rung. Neben die fiskalpolitischen Stimuli tra-ten geldpolitische Maßnahmen. Während in liberalen Volkswirtschaften die (private) Kre-ditvergabe einbrach, konnte die chinesische Regierung den großen Staatsbanken nicht nur vorgeben, dass, sondern auch in welcher Rich-tung sie Geld zu verleihen hatten.

Doch die mittelfristigen Folgen dieser Krisenlösungsstrategie erscheinen ungüns-tig. Der Staat setzt darauf, dass die weltwei-te Konjunktur wieder anzieht, doch bislang hat sich diese Erwartung nicht in erhofftem Maße erfüllt. Aktuelle Investitionen könn-ten sich also bald als Überinvestitionen, die Kredite sich als faule Kredite herausstellen. ❙6

6 ❙ Von einer Analyse der chinesischen Kapitalmärk-te muss an dieser Stelle abgesehen werden. Eine ri-gide staatliche Kontrolle des Kapitalverkehrs und der Wechselkurse verhindert bislang eine tief grei-fende Integration in die globalen Finanzmärkte. Der Shanghai Stock Exchange A Shares Index (Index in-ländisch handelbarer Aktien) hat in der ersten Jahres-hälfte 2010 deutlich an Wert eingebüßt.

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Auch der Immobilienmarkt gilt als Sorgen-kind. Der Staat versucht nun, die erheblich ausgeweitete Kredit ausgabe wieder zu dros-seln. Doch auch dies funktioniert nicht immer wie gewünscht. Bis zum Sommer 2010 wuchs sie immerhin noch einmal um 15 Prozent. Fol-ge werden (wieder einmal) notleidende Kredi-te sein, die das Finanzministerium und andere Staatsorgane wie der Staatsfonds Huijin bear-beiten müssen.

Ende des Niedriglohnmodells?

Eine schier endlose Zahl sehr niedrig ent-lohnter Menschen, die häufig als sozial de-klassierte Wanderarbeiter auf der Suche nach Arbeit umherziehen, war jahrzehntelang das Rückgrat der chinesischen Wirtschaftsent-wicklung. ❙7 Doch diese Konstellation kann nicht unbegrenzt andauern. Erst jüngst, im Juni 2010, kam in einer Reihe aufsehenerre-gender Arbeitskämpfe zum Ausdruck, dass diese Grundlage des chinesischen „Wirt-schaftswunders“ – hohe Ausbeutungsraten und eine extreme Ungleichheit – zur Dis-position steht. Neueren Schätzungen zufol-ge verfügen 0,4 Prozent der Haushalte über 70 Prozent des Reichtums. Der Lohnanteil am BIP ist von 53 Prozent im Jahr 1992 auf etwa 40 Prozent im Jahr 2006 gesunken. ❙8

Aufgrund der erheblichen Nachfrageaus-fälle im Exportsektor und der weltwirtschaft-lichen Ungleichgewichte verweist die Staats-führung seit einiger Zeit verstärkt auf die Notwendigkeit, den Binnenmarkt zu stär-ken. Um dies zu erreichen, müssten sowohl die Löhne erheblich angehoben wie auch die sozialen Sicherungssysteme massiv ausgebaut werden. Dadurch aber, so Kritiker, stünde ein zentraler Wettbewerbsvorteil Chinas, die niedrigen Arbeitskosten und Steuern, die den Export beflügeln und Investitionen anziehen, infrage.

7 ❙ Im Jahr 2006 wies die Statistik 764 Millionen be-rufstätige Menschen auf, darunter etwa 320 Millio-nen in der Landwirtschaft, 200 Millionen im sekun-dären und 250 Millionen im tertiären Sektor. In den beiden letzteren Sektoren arbeiten etwa 200 Millio-nen Wanderarbeiter.8 ❙ Vgl. He Jianwu/Louis Kuijs, Rebalancing China’s

economy – Modeling a policy package, in: World Bank China Research Paper, (2007) 7, online: www.world-bank.org.cn/english/content/working_paper7.pdf (2. 2. 2010).

Dem Vorschlag, die Unterkonsumtion zu bekämpfen, und dem Ziel, eine „harmonische Gesellschaft“ zu schaffen, also eine Art so-zialpartnerschaftlicher Interessenausgleich, stehen erhebliche Hindernisse im Weg. Zwar werden offiziellen Angaben zufolge etwa 20 Prozent des Konjunkturpaketes für Sozi-alausgaben verwendet, doch dies kann eine Umorientierung auf den Binnenmarkt al-lein kaum garantieren. Gleichzeitig verla-gern ausländische Großkonzerne Teile ihrer Produktion in die nördlichen, zentralen und westlichen Provinzen, um von den dortigen „Vorteilen“, das heißt im Klartext: niedrige-ren Arbeitskosten, zu profitieren. ❙9

Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob neue Bestimmungen etwa zur Heraufsetzung des Mindestlohns in den Provinzen auch wirklich implementiert werden. Einige Strömungen innerhalb der Machtelite (etwa in den Regie-rungen der reichen Ostprovinzen) sehen die Krise als „Chance“ zur Modernisierung der Wirtschaft. Ihre Politik läuft auf die Schlie-ßung kleinerer Firmen und die Konzentra-tion des Kapitals in größeren Unternehmens-konglomeraten hinaus, womit die Industrie modernisiert werden soll. Eine Eindämmung sozialer Ungleichheiten erscheint in diesem Szenario eher unwahrscheinlich.

Tatsächlich fehlt dem Versprechen, den Bin-nenkonsum zu stärken, in der Realität der chi-nesischen Arbeitsbeziehungen eine essenziel-le Voraussetzung: die Vertretungskompetenz und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerk-schaften. Im System der Arbeitsbeziehun-gen des „sozialistischen“ China besitzen die (von Marx und anderen) eigentlich vorgese-henen Träger einer nach-kapitalistischen Ge-sellschaft lediglich einen Platz als machtlose, ausführende Objekte. In vielen Industriesek-toren liegen die Basislöhne gegenwärtig nur bei etwa 50 Prozent des Gesamtlohns. Die Ableistung von Überstunden und Prämien als Lohnergänzung zeugt von der schwachen Verhandlungsposition der Lohnabhängigen. Damit einher geht eine heftige Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern, die Gewerk-

9 ❙ Freilich stellt die Lohnhöhe nur einen Teil der tat-sächlichen Kosten dar. Würden in den Metropolen Chongqing oder Wuhan keine niedrigen Steuern und durch moderne Infrastrukturen erzeugte sinkende Logistikkosten bestehen, würden große US-ame-rikanische oder taiwanesische Firmen wie HP oder Foxconn dort wohl kaum ansässig.

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schaften eigentlich zu überwinden trachten. Doch kollektive Verhandlungen über Löhne, Arbeitsrechte und Arbeitsbedingungen feh-len genauso wie branchenweite Tarifverträge: Die Regelung des Lohnverhältnisses ist auf der Ebene der einzelnen Unternehmen kon-zentriert. Bislang agieren die großen Staats-gewerkschaften (sofern sie überhaupt im Be-trieb präsent sind) bei der Regulierung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen vorwie-gend als Co-Manager und Organisatoren von Freizeitaktivitäten. Ihre enge Anbindung an den Parteistaat verhindert eine unabhängige Interessenvertretung der Beschäftigten.

Demgegenüber kontrollieren die Arbeit-geber die wichtigsten volkswirtschaftlichen Ressourcen und besitzen häufig – das betrifft nicht nur die Manager der Staatsunterneh-men – den Status eines politischen Kaders, was ihre Einflussmöglichkeiten erhöht. Ein Interesse an einer grundlegenden politischen Umwälzung haben sie nicht.

Der Parteistaat tritt diesem Ungleichge-wicht zwar rhetorisch entgegen. Doch sei-ne ausgleichende Stimme weist in diesem Zusammenhang eher auf eine grundlegende Aufgabe des Staates in kapitalistischen Syste-men gegenüber unternehmerischen Partiku-larinteressen hin. Das offensichtliche Ziel des Parteistaates besteht darin, rechtliche Nor-men zur Regulierung des Lohnarbeitsver-hältnisses zu institutionalisieren.

In den letzten Jahren haben die Widerstän-de jedoch zugenommen. Die Arbeiter ent-wickeln (wie in vielen anderen Ländern zu-vor) soziale Ansprüche. Neben den bereits vom Staat eingeräumten Klagemöglichkei-ten sind neue Formen der kollektiven Ge-genwehr entstanden. ❙10 Die lokale Einhaltung der Arbeitsgesetze hängt vom sozialen Druck ab, was sich teilweise in erfolgreichen Klagen etwa bezüglich der Auszahlung ausstehender Löhne manifestiert.

Die Regierung befürchtet nun, vereinzelte Unruhen könnten in einen sozialen Flächen-brand münden. Das Regime weiß um die Ex-plosivität sozialer Proteste, die Älteren unter

10 ❙ Vgl. China Labour Bulletin 2009, Going It Alone: The Workers’ Movement in China (2007–2008), online: www.clb.org.hk/en/files/share/File/research_ reports/workers_movement_07-08.pdf (5. 6. 2009).

den Mächtigen haben das Jahr 1989 noch in wacher Erinnerung, als eine studentisch ge-prägte Demokratiebewegung in eine Revolte der städtischen Bevölkerung und vieler Beleg-schaften überging und nur noch mittels Waf-fengewalt gestoppt werden konnte. Bei den Streiks im Sommer 2010 bei Zulieferern von Toyota oder Honda wurden offensive Forde-rungen wie nach besserer Bezahlung gestellt, die beteiligten Arbeiter hielten Versammlun-gen ab und wählten eigene Delegierte. Die sozialen Versprechen der Regierung, so be-fürchten Teile der Machteliten, könnten sich nunmehr zu allzu „unrealistischen“ Ansprü-chen der Arbeiter verselbstständigen. ❙11

Marktliberaler Staatskapitalismus chinesischer Prägung

In den letzten Jahrzehnten kombinierten die chinesischen Machteliten in Politik und Wirt-schaft erfolgreich die Selbsterhaltungsinteres-sen des Parteistaates mit der Umorientierung auf die Kräfte des Marktes. Die Doppelstruk-tur von Partei und Staat hat sich vor dem Hin-tergrund einer günstigen weltwirtschaftlichen Lage alles in allem als erstaunlich flexibel er-wiesen. Auch wenn innerhalb der Machteliten Zentrifugalkräfte wirken, schafft deren relati-ve Homogenität einen Spielraum für die Ini-tiierung und Implementierung neuer Politi-ken. Es existiert ein Fortschrittsglaube, der an die Hochzeiten der Moderne erinnert und in neuartiger Weise zugleich auf die Vorzüge der „wissenschaftlichen“ Planung und der einzel-unternehmerischen Schöpferkraft setzt.

Es stellt sich allerdings heraus, dass ge-nau diejenigen Merkmale, die als Quellen des wirtschaftlichen Erfolgs gelten – wie die streng nach quantitativem Wachstum streben-

11 ❙ Diese neueren Entwicklungen unterstützen eine Strömung in den Staatsgewerkschaften, die eine größe-re Unabhängigkeit und eine Stärkung gewerkschaftli-cher Vertretungskompetenz in den Betrieben anstrebt. Ebenso fordert eine kleine Zahl chinesischer Exper-ten Reformen des Systems der Lohnfindung, um die „Lohnempfänger reich zu machen“. Vgl. Boy Lüthje, Arbeitsbeziehungen in China: „Tripartismus mit vier Parteien?“, in: WSI-Mitteilungen, (2010) 9, S. 473–479. Chinesische Soziologen veröffentlichten jüngst eine scharfe Kritik an den unwürdigen Arbeits- und Le-bensbedingungen der Wanderarbeiter. Vgl. Appeal by Sociologists, Address to the Problems of New Gene-rations of Chinese Migrant Workers, online: http:// sacom.hk/archives/644 (12. 7. 2010).

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den lokalen Entwicklungsstaaten sowie eine angebotsorientierte, Lohn- und Verteilungs-fragen kaum berücksichtigende und den Aus-bau zivilgesellschaftlicher Strukturen gering schätzende Politik –, in sich ihre krisenhaften Schattenseiten tragen. Während die Dezen-tralisierung der politischen Regulierung ei-nen Trend zur Überinvestition und Dopplung von Investitionen beschleunigt, gefährdet die soziale Polarisierung das Wachstum der inne-ren Nachfrage. Eingeklemmt zwischen dem öffentlichen Versprechen, den Konsum zu stärken und die soziale Sicherung auszubau-en, womit nicht zuletzt die wachsenden An-sprüche der arbeitenden Bevölkerung befrie-digt werden sollen, und dem fortdauernden Glauben an die mit niedrigen Löhnen ver-bundenen Wettbewerbsvorteile, schwankt die Staatsführung zwischen ausgleichend-autori-tativen und desorganisiert-despotischen For-men des Krisenmanagements.

Die Wohlstandsmehrung in breiten Bevöl-kerungsschichten und die hiermit verbun-denen individuellen Aufstiegsmotivationen bildeten bis heute die Grundlage der Herr-schaftssicherung und -stabilisierung. Wenn dies infrage gestellt wird, droht auch der chi-nesische Entwicklungsweg vor ernsthafte Zerreißproben gestellt zu werden.

Es lag unter anderem an der hohen interna-tionalen Nachfrage, dass die chinesische Wirt-schaft seit den 1990er Jahren keinen ernsthaf-ten Einbruch erlebt hat. In der gegenwärtigen Krise hat sich dieser Faktor abgeschwächt und die Exportwirtschaft belastet. Dass die hohe Wachstumsrate nicht empfindlich gestört wurde, ist seitdem vor allem den Rettungsak-tionen des Staates zu verdanken – und der Tat-sache, dass es an keinem anderen Ort der Erde bessere Wachstumsaussichten gibt. Auch des-halb strahlt der Stern Chinas weiter.

Zweifellos ist die chinesische Wirtschafts-entwicklung imposant – ein Gang durch die Metropolen des Landes oder die giganti-schen Industrieparks und Fertigungsanlagen sagt mehr als tausend Worte –, doch wider-spruchsfrei ist sie beileibe nicht. Einmal mehr zeigt sich, dass ein Kapitalismus ohne Krisen und soziale Widersprüche nicht zu haben ist. Das gilt auch für den marktliberalen Staats-kapitalismus chinesischer Prägung.

Anja-Désirée Senz

Zwischen kultureller Anpassung und Autonomie: Nationale Minderheiten in China

Das heutige China zeichnet sich durch eine große Heterogenität aus, die nicht nur

aus regionalen und ökonomischen Unterschie-den resultiert, sondern auch ethnisch bedingt ist. Denn in China lebt eine Vielzahl von Ge-sellschaften, deren kul-turelle Prägung sich von den „Han-Chi-nesen“ unterscheidet. Der Name „Han“ geht zurück auf die Han-Dynastie zwischen 206 v. u. Z. und 220 n. u. Z. und wurde zur Selbstbezeichnung für die heu-tige chinesische Mehrheitsbevölkerung. Je-doch sind auch die Han-Chinesen keineswegs eine homogene Gruppe, sondern das Ergeb-nis der Vermischung verschiedener Völker im Laufe der Geschichte. Insofern gibt es inner-halb dieser Gruppe erhebliche, zumeist regio-nal gedeutete Unterschiede bei Sprache, Sitten und Gebräuchen. Trotz dieser unterschiedli-chen Lebensweisen ist ihre gemeinsame Iden-tität jedoch sehr ausgeprägt, und ein wichti-ges verbindendes Element ist der Stolz auf die Heimat China und die chinesische Kultur.

Nach offizieller chinesischer Lesart gibt es neben den Han-Chinesen weitere 55 Na-tionalitäten – ethnische Gruppen, die als an-erkannte „nationale Minderheiten“ Chinas gelten und deren Größe zwischen einigen Tausend und mehreren Millionen Personen variiert. Chinesische Lieder besingen die Be-ziehungen zwischen den verschiedenen Nati-onalitäten der multiethnischen Gesellschaft Chinas gern als das Zusammenleben einer großen Familie bestehend aus „56 Brüdern und Schwestern“. Die Han-Chinesen sind mit etwa 1,2 Milliarden Menschen die zahlenmä-ßig größte Gruppe und stellen, um im Bild zu bleiben, den „großen Bruder“ für die übrigen

Anja-Désirée Senz Dr. phil.; wissenschaftliche Geschäftsführerin des Konfuzi-us-Instituts Metropole Ruhr an der Universität Duisburg-Essen, Bismarckstraße 120, 47057 Duisburg. [email protected]

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55 nationalen Minderheiten dar, die als eine Gruppe „kleiner Geschwister“ zusammen etwa 106 Millionen Menschen umfassen. Das sind nur etwa 8,6 Prozent der Gesamtbevöl-kerung, aber die von ihnen bewohnten Regi-onen umfassen zwei Drittel der Gesamtfläche Chinas, insbesondere die rohstoffreichen, aber wenig erschlossenen Grenzgebiete.

Traditionelles chinesisches Weltbild

Im traditionellen Weltbild galt China als das „Reich der Mitte“. Dieses Zentrum der zi-vilisierten Welt, in dessen Mittelpunkt der chinesische Kaiser lebte, war umgeben von „Barbaren“, deren kulturelles Niveau mit wachsender Entfernung vom Mittelpunkt ab-nahm. Die Ackerbau treibenden Han-Chine-sen fühlten sich diesen „Barbaren“, vielfach waren es Nomaden- und Jägervölker, überle-gen. Der Konfuzianismus, für viele Jahrhun-derte die staatstragende Ideologie Chinas, war die Basis dieses Überlegenheitsgefühls.

Im konfuzianischen Denken ging man da-von aus, dass die Ausstrahlung der chinesi-schen Kultur und ihrer Errungenschaften so stark sei, dass sich die nicht-chinesischen Völker an diese anpassen würden, wenn man sie ihnen nur vermittelte. So konnten aus „Barbaren“ „Chinesen“ werden, wenn diese sich in das chinesische System einfügten und ihre kulturellen Eigenarten aufgaben. ❙1 Ein interessantes Beispiel für die kulturelle An-passung sind die in den nördlichen Regionen Chinas lebenden Mandschuren. Zu ihnen werden heute etwa 10 Millionen Menschen gerechnet. Im 17. Jahrhundert eroberten sie China und installierten die letzte Dynastie, die Qing. Während dieser Herrschaftszeit, die erst 1911 ein Ende fand, passten sie sich jedoch in hohem Maße chinesischen Lebens-gewohnheiten an. Inzwischen ist sogar ihre Sprache nahezu in Vergessenheit geraten.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern wurden in China vornehmlich kultu-rell und über unterschiedliche Stadien der kul-turellen Entwicklung interpretiert, wobei sich die Han-Chinesen als die fortschrittlichsten

1 ❙ Vgl. Gudula Linck, Die Menschen in den Vier Himmelsrichtungen. Chinesische Fremdbilder, in: Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.), Das andere Chi-na, Wiesbaden 1995, S. 257–289.

und zivilisiertesten Menschen betrachteten. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Westen wich das Denken in kulturellen Ein-flusszonen ab Ende des 19. Jahrhunderts all-mählich der Notwendigkeit, feste territoriale Grenzen zu definieren und einen National-staat zu schaffen. Nach den politischen Wirren zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand für die neue kommunistische Führung Chinas ab 1949 eine wesentliche Herausforderung darin, das chinesische Territorium und seine Gren-zen zu sichern und die nationale Einheit zu er-reichen. Die chinesische Politik gegenüber den auf chinesischem Gebiet lebenden ethnischen Minderheiten reflektiert diesen Aspekt inso-fern, als im offiziellen Sprachgebrauch nicht von verschiedenen Ethnien (zuqun), sondern von 56 in China lebenden Nationalitäten (min-zu) beziehungsweise 55 nationalen Minderhei-ten (shaoshu minzu) gesprochen wird.

Nach der Gründung der Volksrepublik China bemühte sich der chinesische Staat um die Identifizierung nationaler Minderheiten. Nach offizieller chinesischer Definition gilt eine Gruppe dann als nationale Minderheit, wenn sie sich durch gemeinsame historische Wurzeln, eine stabile Gemeinschaft von Mit-gliedern mit einem erkennbaren Siedlungsge-biet, eine gemeinsame Sprache sowie ökono-mische und kulturelle Gepflogenheiten von anderen Menschen unterscheidet. Doch er-weist sich die Anwendung dieser Definition als schwierig. Manche Gruppen (wie die Hui) haben keine eigene Sprache. Zudem leben die etwa zehn Millionen Menschen, die den Hui zugerechnet werden, in sechs chinesischen Provinzen – sie gelten als diejenige ethnische Gruppe, die am weitesten verstreut in China lebt. Ihr Siedlungsgebiet ist also kaum abzu-grenzen. Der zentrale Unterschied zwischen den Han-Chinesen und den Hui ist ihre Re-ligion, denn die Hui sind islamisch geprägt. Ihre Herkunft geht auf Kaufleute aus dem arabischen und persischen Raum zurück, die im 7. Jahrhundert nach China kamen. ❙2

Frühe chinesische Nationalitätenpolitik

Der erste Verfassungsentwurf von 1949 ver-folgte mit Bezug auf ethnische Minderheiten den Gedanken der „Einheit und Gleichheit“.

2 ❙ Vgl. Michael Dillon, China’s Muslim Hui Commu-nity: migration, settlement and sects, Richmond 1999.

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Dessen Artikel 50 formulierte, dass alle Na-tionalitäten innerhalb der chinesischen Gren-zen gleich und Diskriminierung, Unterdrü-ckung sowie Separatismus verboten seien. Der Theorie nach sollten offiziell anerkann-te Minderheiten den Han-Chinesen rechtlich gleichgestellt und in der Ausübung ihrer Reli-gion, Sprache und Kultur nicht eingeschränkt werden. Zugleich wurde im Sinne der natio-nalen Einheit die unbedingte Integration in den chinesischen Staat gefordert.

Wichtiger Teil der chinesischen Nationali-tätenpolitik war die offizielle Anerkennung ethnischer Gruppen als nationale Minderhei-ten. Bis zum Jahr 1979 erkannte der chinesi-sche Staat insgesamt 55 Minderheiten an. Alle späteren Forderungen ethnischer Gruppen auf Anerkennung als eigenständige nationale Minderheit wurden von der politischen Füh-rung Chinas abgelehnt. Doch erweist sich die offizielle Anerkennung nicht nur deshalb als problematisch. Es wurden z. B. auch verschie-dene ethnische Gruppen, die mehrheitlich in den Provinzen Sichuan und Yunnan leben, unter der gemeinsamen Bezeichnung Yi zu-sammengefasst, obwohl sie große kulturelle Unterschiede aufwiesen. Die Mosuo wiede-rum wurden aus vielfältigen, hauptsächlich politischen Gründen nicht als eigenständige Gruppe anerkannt, sondern zählen bis heu-te zur Minderheit der Naxi. Diese in der Pro-vinz Yunnan lebende Gruppe umfasst insge-samt 300 000 Menschen. Im Gegensatz zu den Naxi ist die Sozialstruktur der Mosuo jedoch matrilinear geprägt, die verwandtschaftlichen Verhältnisse, das Erbrecht und die Abstam-mungslinie sind also an der Familie der Mut-ter und nicht an der des Vaters orientiert.

Anerkannte Minderheiten mit größeren zusammenhängenden Siedlungsgebieten er-hielten eine regionale Gebietsautonomie. Da-her gibt es neben den chinesischen Provin-zen heute fünf sogenannte Autonome Gebiete. Darüber hinaus bestehen weitere autonome Verwaltungseinheiten auf den nachgeordne-ten staatlichen Ebenen, den Kreisen und Ge-meinden. So wurde beispielsweise im süd-westlichen China 1958 das Autonome Gebiet Guangxi der Zhuang geschaffen. Von den 55 nationalen Minderheiten sind die Zhuang mit etwa 16,2 Millionen Menschen heute die größ-te Gruppe. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich neben drei Provinzen im Südwesten Chinas auch auf Vietnam und Laos, wo sie unter den

Namen Tay, Giay oder Nung bekannt sind. Ein gemeinsames ethnisches Bewusstsein der Zhuang war zunächst jedoch gering ausge-prägt. In den frühen 1950er Jahren bezeichne-te sich die Mehrheit der Menschen, die heute zu den Zhuang zählen, selbst nicht als Zhu-ang, sondern identifizierte sich mit verschie-denen kleinen, lokalen sozialen Gruppen, die verstreut in Chinas Südwesten lebten und teils im Streit miteinander lagen, andere definierten sich als Han-Chinesen. Keine Regierung vor 1949 hatte sie als Zhuang beziehungsweise als eine gemeinsame ethnische Gruppe betrach-tet. Vor diesem Hintergrund scheint es, dass frühe Sonderregelungen für Minderheiten-angehörige wie Selbstverwaltungsrechte oder Quoten in politischen Gremien Strategien des chinesischen Staates waren, die isoliert leben-den sozialen Gemeinschaften Südwestchinas unter einer gemeinsamen Bezeichnung in den chinesischen Staat zu integrieren. ❙3

Beispiele zeigen, dass viele ethnische Grup-pen nicht prinzipiell die staatliche Berechti-gung zur ethnischen Zuordnung in Zweifel zogen, sondern ihre Kritik gegen eine falsche Kategorisierung richteten und sich damit letzt-lich in die staatliche Ordnung einfügten. Inso-fern resultiert ethnisches Bewusstsein in Chi-na heute aus einem Dreiklang von ethnischem Selbstverständnis, der Abgrenzung zu anderen Gruppen sowie der staatlichen Zuschreibung. Bereits in den 1950er Jahren fielen die positi-ven Ansätze der chinesischen Nationalitäten-politik – das heißt diejenigen politischen Pro-gramme, welche die ethnischen Minderheiten betrafen – den teils mit großer Radikalität in ganz China umgesetzten politischen Experi-menten der kommunistischen Führung zum Opfer. So galt z. B. „lokaler Nationalismus“, also die Förderung der lokalen ethnischen Gruppenzusammengehörigkeit, als schwe-res Delikt. Mit dem Klassenkampf als Leitli-nie wurden ethnische Konflikte als Konflikte zwischen Klassen gedeutet. Nach dem Ver-ständnis der damals in China dominanten sta-linistischen Lehre, welche Gesellschaften nach unterschiedlichen Entwicklungsniveaus ab-stuft, galten ethnische Minderheiten außer-dem als historisch rückständig, wurden nicht selten als unterentwickelt verachtet und sollten mit Hilfe der kommunistischen Ideologie mo-dernisiert werden. Besonders schlimm traf es

3 ❙ Vgl. Katherine Palmer Kaup, Creating the Zhuang: Ethnic politics on the PR China, Ann Arbor 1997.

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die Minderheiten in der Kulturrevolution von 1966 bis 1976, als ihre Sitten und Gebräuche, die Schriften und religiösen Ausdrucksfor-men verboten wurden. ❙4 Moscheen und Tem-pel wurden geschlossen und religiöse Würden-träger ebenso wie Gläubige verfolgt. Religiöse Feste, bei denen zur Ahnenverehrung Tiere ge-opfert wurden, wurden als „Verschwendung“ gebrandmarkt, Schamanen wurden als „Be-trüger“ bezeichnet, Liederfeste verboten, weil sie „die Produktion behinderten“ oder weil „anstößige Texte“ gesungen wurden. Vielfach kam es zur Zerstörung und Schändung von Kulturgütern und religiösen Stätten, Aufstän-de wurden brutal niedergeschlagen. ❙5 Diese Ereignisse stellen eine schwere Hypothek für die Beziehungen zwischen den Han-Chinesen und den ethnischen Minderheiten dar.

Wandel der Nationalitätenpolitik in den 1980er Jahren

Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik ab 1978 und dem wachsenden politischen Inter-esse, die wirtschaftliche Entwicklung auch in den Minderheitengebieten zu forcieren, änder-te sich die Nationalitätenpolitik. Sie verfolg-te fortan den Gedanken der „Autonomie und Gleichheit“. Dieser fand einen ersten Ausdruck in der Verfassung von 1982 und dem „Autono-miegesetz“ von 1984, welches den Minderhei-ten formell die weitreichendsten Freiheiten seit 1949 gewährte. Neben verwaltungstechnischen Rechten wie bei Entscheidungen zur Gestal-tung der lokalen Wirtschaftsentwicklung oder im Bildungswesen zählten dazu auch Sonder-regelungen für Minderheitenangehörige beim Hochschulzugang, der Geburtenplanung, der Verwendung eigener Sprachen und Schriften und einer Quotenregelung in den Parlamenten (Volkskongressen) auf den verschiedenen po-litischen Ebenen. Eine wirkliche Autonomie besteht jedoch bis heute nicht.

Aufgrund der politischen Struktur der Volks-republik ist die Kommunistische Partei Chinas

4 ❙ Vgl. June Dreyer, Assimilation and accomodation in China, in: Michael Brown/Sumit Ganguly (eds.), Government policies and ethnic relations in Asia and the Pacific, Cambridge–London 1997, S. 351–391.5 ❙ Vgl. Thomas Heberer, Die Nationalitätenfrage in

China am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Gunter Schubert (Hrsg.), China: Konturen einer Übergangs-gesellschaft auf dem Weg in das 21. Jahrhundert, Hamburg 2001, S. 81–134.

(KPCh) allen Verwaltungsorganen übergeord-net. Das Autonomiegesetz bezieht sich auf den staatlichen Verwaltungsapparat und vermag daher die Rechte der ethnischen Minderhei-ten nicht ausreichend zu schützen. Außerdem können formal gewährte Rechte nicht einge-klagt werden, weil China kein Rechtsstaat ist. Bei wichtigen Punkten wie der Ansiedlung von Industrieanlagen, der Ausbeutung natür-licher Ressourcen oder Zuwanderungsregeln für Han-Chinesen haben die Minderheiten kein formales Mitspracherecht. So kommt es, das in vielen sogenannten Autonomen Gebie-ten ethnischer Minderheiten Han-Chinesen die Bevölkerungsmehrheit bilden, was zu gro-ßer Unzufriedenheit bei vielen Minderheiten-angehörigen führt. Die Migration erfolgte in den vergangenen Jahrzehnten durch staatliche Umsiedlungen von Han-Chinesen aus den be-völkerungsreichen Zentren Ostchinas, durch die Stationierung von Armee-Einheiten, die Verschickung von städtischen Mittelschulab-gängern in Minderheitengebiete sowie durch inoffizielle Einwanderung. ❙6

Seit den 1990er Jahren haben sich aufgrund des Rückzugs des Staates und des durch die Reformpolitik bedingten raschen sozialen Wandels neue Freiräume für die ethnischen Minderheiten und lokale Kulturen ergeben. Im religiösen und kulturellen Bereich wer-den viele Traditionen wieder gepflegt. Dies gilt nicht nur für den Islam und den Buddhismus, sondern auch für animistische Vorstellungen. So können traditionelle Heiler und Schama-nen ihren Tätigkeiten wieder nachgehen und erfreuen sich auch im urbanen Raum wachsen-der Popularität. Auch steigt die Repräsentation der Minderheiten in den staatlichen Gremien und eine Ergänzung des Autonomiegesetzes von 2001 betont insbesondere den Aspekt der Verbesserung von Rekrutierungschancen eth-nischer Minderheiten in die staatliche Ver-waltung. Doch auch weiterhin entspricht der Anteil der Minderheiten besonders in der Lo-kalverwaltung zumeist nicht ihrem jeweiligen lokalen Bevölkerungsanteil.

Armut und Konflikte

Das Verhältnis zwischen der Han-Mehrheit und den nationalen Minderheiten ist zwei-

6 ❙ Vgl. Mette Halskov Hansen, Frontier people, Van-couver et al. 2005.

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felsfrei konfliktbehaftet. Es lassen sich drei zentrale Konfliktfelder unterscheiden:

Politisch: Zum einen sind Konflikte politi-scher Natur, weil den Minderheiten Selbstbe-stimmungsrechte beziehungsweise eine gleich-berechtigte politische Teilhabe fehlen. Sehr wesentlich resultiert dieser Mangel aus der Grundstruktur des chinesischen politischen Systems und wird im Rahmen des gegenwär-tigen Gefüges kaum zu überwinden sein.

Ökonomisch: Zum zweiten basieren Kon-flikte auf ökonomischen und damit eng ver-bunden auch auf ökologischen Problemen. Landumwidmung, industrielle Erschließung, Rohstoffexploration und Umweltzerstörung bilden den Kerninhalt dieser Art von Konflik-ten. Die Siedlungsgebiete ethnischer Minder-heiten werden in starkem Maße ökonomisch ausgebeutet, oftmals allerdings, ohne dass die ethnischen Minderheiten an den Erträgen partizipieren würden. Insgesamt zählt ein großer Teil der heutigen Minderheitengebie-te zu den ärmsten Regionen Chinas: 80 Pro-zent der Menschen in Minderheitengebieten lebten zu Beginn des neuen Jahrtausends un-terhalb der Armutsgrenze. Seit Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 flossen Sub-ventionen in diese Gebiete, doch wurden sie häufig im Interesse der Han-Gebiete einge-setzt. Und obwohl ein Wirtschaftswachstum in den Siedlungsgebieten ethnischer Minder-heiten zu verzeichnen ist, haben sich die Ent-wicklungsunterschiede zu den Han-Gebie-ten, die sich deutlich rascher entwickeln, in den vergangenen Jahren vergrößert.

Benachteiligt sind Minderheitenangehörige auch auf dem Arbeitsmarkt, was zu deutlich höheren Arbeitslosenraten im Verhältnis zur han-chinesischen Mehrheit führt. Zwar flie-ßen Finanzmittel für den Infrastrukturauf-bau und zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung im Rahmen des sogenannten Go-West-Programms explizit nach Westchi-na, wo ein Großteil der ethnischen Minder-heiten lebt. Dies hat jedoch unter anderem die Zuwanderungen von Han-Chinesen begüns-tigt und damit massiven Einfluss auf die loka-len Strukturen genommen.

In ganz China hat die rasante Wirtschafts-entwicklung schwere ökologische Folgen. Von dieser Umweltzerstörung sind auch die Sied-lungsgebiete ethnischer Minderheiten stark

betroffen. Die Umweltverschmutzung durch Industriebetriebe führt zu hohen Krank-heitszahlen. In einigen Bezirken der Miao in Südwestchina beispielsweise ist die Lebens-erwartung im Vergleich zum Landesmaßstab deutlich niedriger. Nach offiziellen Angaben ist der Grund in der Wasserverschmutzung durch Industrieabfälle zu sehen. Der Nordwes-ten Chinas wiederum, in dem früher haupt-sächlich Viehzucht betrieben wurde, ist öko-logisch schwer geschädigt, weil Weidegebiete in großem Umfang in Ackerland umgewan-delt wurden. Die für den Ackerbau notwendi-ge Bewässerung führte zur Austrocknung von Flüssen und Binnenseen, der Überweidung der Graslandschaften folgten Versalzung und Vegetationsrückgang sowie eine Ausbreitung der Wüsten. Die Verschlechterung der Boden-qualität sowie der Verlust von Anbauflächen und der Rückgang der Erträge entzieht vie-len Angehörigen ethnischer Minderheiten die Existenzgrundlage, so dass gerade die jünge-ren auf der Suche nach alternativen Einkom-mensquellen in die Städte abwandern. In den Städten kam es jedoch in den vergangenen Jah-ren immer wieder zu Gewalttätigkeiten zwi-schen der Han-Bevölkerung und ethnischen Zuwanderern, die oftmals für den Anstieg von städtischer Kriminalität oder den Drogenhan-del verantwortlich gemacht werden.

Soziokulturell: Insgesamt ist der chinesische Modernisierungsweg und der gesellschaftliche Wandel in China für die ethnischen Gruppen mit einem unterschwelligen Gefühl der Be-drohung verbunden, weil mit ihm die Zuwan-derung von Han-Chinesen, die Abwanderung von Angehörigen der eigenen Ethnie, die in-dustrielle Erschließung der Minderheitenge-biete, Umweltprobleme sowie die Aufwei-chung der jeweiligen Kultur einhergehen. So sind es zum Dritten soziokulturell begründe-te Spannungen, die aus dem mangelnden Res-pekt für die ethnischen Gruppen und die Be-wahrung ihrer Kultur resultieren.

Die ethnischen Minderheiten reagieren un-terschiedlich auf diese Konfliktformationen. Generell scheint der Gebrauch der eigenen Sprachen und Schriften unter den meisten Minderheitenangehörigen ebenso abzuneh-men wie das Tragen von Trachten. Ausschlag-gebend hierfür dürfte zum einen der gesell-schaftliche Modernisierungsprozess sein, mit dem eine Angleichung in Alltagsleben und Konsumgewohnheiten einhergeht. Da

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im Bildungssystem außerdem Schriften und Sprachen der Minderheiten als zweitran-gig betrachtet werden, werden Minderhei-tensprachen oftmals nur in der Grundschule oder der ersten Stufe der Mittelschulen ge-lehrt, danach ist Chinesisch die einzige Spra-che. Wer eine Universität besuchen oder be-ruflich aufsteigen möchte, benötigt in erster Linie gute Chinesisch-Kenntnisse. Viele El-tern bevorzugen daher aufgrund angenom-mener besserer Zukunftschancen eine „chi-nesische“ Ausbildung. ❙7 Insgesamt tendieren viele der kleineren ethnischen Gruppen dem-nach zu Resignation und Anpassung an die Mehrheitskultur. Bei einigen Gruppen wächst aber auch das Bewusstsein ethnischer Identi-tät durch eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen. Bei einem weiteren Teil schlägt dieses Bewusstsein in Widerstand um, wobei vielfältige Formen des aktiven und passiven, des gewaltfreien und gewalttätigen Wider-standes unterschieden werden können.

Xinjiang und Tibet

Besonders konfliktgeladen ist die Situation der ethnischen Minderheiten im westchinesi-schen Xinjiang. Dort kommt es seit Beginn der 1990er Jahre immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit den han-chine-sischen Machthabern und dies konfrontiert die chinesische Zentralregierung mit größe-ren innenpolitischen Problemen als der Fall Tibet. Doch anders als die Tibeter haben die ethnischen Gruppen Xinjiangs weder inner-halb noch außerhalb Chinas einen dem Dalai Lama vergleichbar bekannten Vertreter. Ihre Anliegen werden daher international weniger vernommen.

Das westchinesische Xinjiang, dort wo China an die Mongolei, Russland, Kasachs-tan, Kirgisistan, Tadschikistan und die Regi-on Kashmir grenzt, umfasst ein Sechstel der Gesamtfläche Chinas. Als Grenzregion zur früheren Sowjetunion war es stets von beson-derem sicherheitspolitischem und strategi-schem Interesse. Heute ist die Region wegen ihres Reichtums an Bodenschätzen wie Erd-öl, Gas und Kohle von hoher Bedeutung. In

7 ❙ Vgl. Gerard Postiglione, Education of Ethnic Groups in China, in: James Banks (ed.), The Rout-ledge International Companion on Multicultural Ed-ucation, New York–London 2009, S. 501–511.

diesem westlichsten Teil Chinas leben zehn nationale Minderheiten. Von den insgesamt 17 Millionen Einwohnern Xinjiangs sind die Uiguren mit acht Millionen die größte ethni-sche Gruppe. Daher heißt das Gebiet offiziell Autonomes Gebiet Xinjiang der Uiguren. Die Uiguren sind ein islamisch geprägtes Turk-volk mit langer Tradition und Geschichte und Lebensgewohnheiten, die im klaren Kontrast zu denjenigen der Han-Chinesen stehen. Als Anfang der 1990er Jahre die sowjetischen Re-publiken Kasachstan, Kirgisistan und Tad-schikistan unabhängig wurden, keimte auch bei den chinesischen Uiguren die Hoffnung auf eine gemeinsame uigurische Republik. Forderungen nach einem eigenen Staat aber wurden von den chinesischen Behörden ge-waltsam unterdrückt und als Terrorismus be-zeichnet. Repression, Versammlungsverbote, die Überfremdung durch die chinesische Zu-wanderung und die vielfältigen Formen der ethnisch bedingten Benachteiligung haben die Konflikte geschürt, die Polarisierung zwi-schen Chinesen und Uiguren gefördert und führen anhaltend zu Gewalttätigkeiten. ❙8

Ähnlich problematisch ist die Situation in Tibet. Wie bei den Uiguren ist auch bei den Tibetern das ethnische Wir-Gefühl und das Bewusstsein, nicht „chinesisch“ zu sein, stark ausgeprägt. ❙9 Der gesamte tibetische Kulturraum ist etwa doppelt so groß wie die heutige chinesische Verwaltungseinheit, die nach der Gründung der Volksrepublik Chi-na geschaffen wurde. In diesem Autonomen Gebiet Tibet sowie in den angrenzenden chi-nesischen Provinzen Qinghai, Gansu, Sichu-an und Yunnan leben Tibeter. Allerdings sind sie ethnisch und sprachlich keine einheitliche Gruppe. Zu der von China anerkannten nati-onalen Minderheit der Tibeter werden etwa 4,5 Millionen Menschen gerechnet. Im Au-tonomen Gebiet Tibet leben neben den Ti-betern weitere offiziell von China anerkann-te nationale Minderheiten wie die Salar und die Tu.

Aus chinesischer Perspektive ist Tibet seit vielen hundert Jahren ein Teil Chinas. Nach dem Verständnis der politischen Führung in

8 ❙ Vgl. Colin Mackerras, China, Xinjiang and Cen-tral Asia, London et al. 2009.9 ❙ Vgl. Thomas Heberer, Verwaltungsmethode zur

Reinkarnation eines Lebenden Buddhas, in: Zeit-schrift für chinesisches Recht, 15 (2008) 1, S. 1–9.

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Peking wurden die Menschen in Tibet durch den chinesischen Einmarsch 1950 von den mittelalterlichen Verhältnissen der Leibei-genschaft befreit. Aus Sicht der Tibeter hin-gegen war dies eine Invasion. Mit Verweis auf längere Perioden der faktischen Unabhän-gigkeit Tibets von China betrachten sie die Herrschaft der Chinesen über Tibet als illegi-tim. Aufgrund der wechselvollen Geschichte ist der völkerrechtliche Status Tibets bis heu-te umstritten.

Für China ist Tibet von großer ökonomi-scher und strategischer Bedeutung. War das tibetische Hochland früher vor allem eine Pufferzone gegenüber den geostrategischen Interessen Russlands und Großbritanniens, ist es heute wirtschaftlich wichtig. Die Er-schließung und Ausbeutung der Rohstoffe, die Zerstörung von Klöstern und eine Politik der ethnischen Verdrängung durch Besied-lung aus Zentralchina haben das Gesicht Ti-bets in den vergangenen Jahrzehnten verän-dert. Lhasa, die Hauptstadt der Region und ehemalige Residenz des Dalai Lama, gleicht in vieler Hinsicht inzwischen einer chinesi-schen Stadt.

Seit 2006 verbindet eine Eisenbahn Tibet mit dem restlichen China. Sie ist das sichtbare Symbol für Chinas Willen, Tibet zu erschlie-ßen. Neben wirtschaftlichem Fortschritt will man auch den Tourismus nach Tibet brin-gen und so hatte sich nach chinesischen An-gaben die Zahl der Touristen bereits im ers-ten Halbjahr nach Eröffnung der Zugstrecke nahezu verdoppelt. Die überwiegende Mehr-heit der rund eine Million Besucher kam aus China, nur 73 000 ausländische Gäste waren darunter. Der Widerstand der Tibeter gegen diese „Entwicklungspolitik“ äußert sich in Unruhen sowie Fluchtbewegungen beson-ders nach Indien und Nepal. Zugleich ist aber auch eine Angleichung der tibetischen Jugend an ein weltliches Leben und seine Konsum-kultur zu beobachten. Diese entfremdet sie möglicherweise stärker von ihren religiös-kulturellen Wurzeln, als jeder administrative Druck aus Peking es vermag.

Tourismus als Wirtschaftsfaktor

Die Mehrheit der ethnischen Minderhei-ten lebt in den dünnbesiedelten chinesischen Randgebieten im Norden, Westen und Süden.

Im chinesischen Kernland und an der pros-perierenden Ostküste siedeln vornehmlich Han-Chinesen. Die han-chinesische Mehr-heit lernt die nationalen Minderheiten da-her kaum durch persönliche Kontakte bezie-hungsweise im Zusammenleben kennen. Sie beziehen ihre Kenntnisse über die Lebensge-wohnheiten und die Kultur der Minderheiten vielmehr aus der Schule, aus Büchern, Zei-tungen oder aus Film und Fernsehen.

Betrachtet man diese mediale Wiedergabe genauer, zeigt sich, dass in Reportagen über einzelne Regionen und die dort lebenden eth-nischen Gruppen oftmals spezifische Bilder erzeugt werden. So wird beispielsweise ein scharfer Kontrast zwischen modernen und traditionellen Lebensformen gezeichnet. Die farbenreichen Trachten, natürlichen Land-schaften und einfachen landwirtschaftlichen Arbeitsmethoden der ethnischen Gruppen kontrastieren mit der großstädtischen Mo-derne und neuen Technologien. Damit wird beim Betrachter das Bild der Rückständigkeit ethnischer Minderheiten erzeugt und wach gehalten, die mit chinesischer Hilfe über-wunden werden kann. Nationale Minderhei-ten werden auch gerne in exotischer Weise in bunten Gewändern singend und tanzend dargestellt, wobei Musik, Gesang und Tanz häufig an den han-chinesischen Geschmack angepasst werden. Diese Bilder verfügen über einen ästhetischen Wert für die Han-Chinesen. Aber durch die Reproduktion von Stereotypen über „die Anderen“ dienen sie kaum dem Erwerb tatsächlicher Kenntnisse über die jeweilige Kultur. ❙10

Ein Effekt der erfolgreichen wirtschaft-lichen Entwicklung des vergangenen Jahr-zehnts sind Einkommenssteigerungen, die es den Chinesen erlauben, zu verreisen. Traf man vor 15 Jahren noch vornehmlich Tou-risten aus Europa, Amerika und den asiati-schen Nachbarländern an allen wichtigen Se-henswürdigkeiten Chinas, hat sich das Bild inzwischen gewandelt. Zwar kommen nach wie vor viele ausländische Touristen, aber die Zahl der Chinesen, die das eigene Land erkunden, ist in den vergangenen fünf Jah-ren um 600 Millionen gestiegen. Die Reise-lust erstreckt sich neben den aus historischen Gründen berühmten Orten auch auf die Ge-

10 ❙ Vgl. Anja-Désirée Senz/Yi Zhu, Von Ashima zu Yi-Rap, Duisburg 2001.

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biete der ethnischen Minderheiten, vor al-lem die nord- und südwestlichen Landesteile. Aufgrund der vielen dort lebenden ethni-schen Minderheiten gelten diese Regionen als exotisch.

Für diese Gebiete ist der Tourismus eine wichtige, oft die einzige Einnahmequelle. So entstanden in den vergangenen Jahren auch sogenannte „Minderheitenparks“. Dort soll die Lebensweise einzelner Minderheiten, ihre Trachten, Zeremonien und Musik für Touris-ten vorgeführt werden. Oftmals werden da-bei auch Teile der materiellen Kultur – Klei-dung, Gefäße, Musik – feilgeboten, die an den Geschmack der Touristen angepasst wurden, um sie besser vermarkten zu können. Diese Form der Kommerzialisierung wird nicht von allen positiv beurteilt. Während die Ei-nen die Einkommensverbesserungen begrü-ßen, sehen Andere darin einen Ausverkauf beziehungsweise eine Aushöhlung der loka-len Kultur. Die Einen lehnen diese Form der musealen Präsentation als unauthentisch ab, die Anderen sehen darin eine Chance, kul-turelle Gebräuche vor dem Vergessen zu be-wahren. Und wo die Einen die Parks als „tou-ristische Ausweichorte“ begrüßen, welche touristische Überfremdung und die damit verbundenen Probleme für die Dörfer (wie Müllentsorgung) reduzieren helfen, kritisie-ren die Anderen die stereotype Darstellung von traditionellen Lebensweisen.

Wie auch immer man urteilt, die „Minder-heitenparks“ könnten zumindest ein Hinweis darauf sein, dass die Mehrheitsgesellschaft im Gegensatz zu früher Interesse an den na-tionalen Minderheiten zeigt und langsam ein Umdenkungsprozess einsetzt, der die Re-levanz ethnischer Vielfalt für das kulturel-le Leben Chinas erkennt. Wenn mit dem ge-stiegenen Interesse auch der Respekt für die Minderheiten wächst, wäre dies ein wichtiger Beitrag zur Minderung bestehender sozialer Spannungen. In politischer Hinsicht müsste die gegenwärtige Autonomie in ein System der territorialen Selbstverwaltung überführt werden, bei dem den ethnischen Minderhei-ten die Gestaltung ihres Lebensraumes ob-liegt und dadurch eine Bewahrung ihrer lokalen Kulturen unter selbstgewählten Vor-zeichen möglich wird.

Gerhard Paul

„Chinas Mona Lisa“ – Zur Geschichte des Mao-Porträts und sei-ner globalen Rezeption

Ende des Jahres 2007 erschien in spani-schen Zeitungen eine Anzeige des fran-

zösischen Automobilherstellers Citroën: Von einer Anschlagfläche herunter schielt Mao Zedong, Vorsitzender des Zentralkomitees (ZK) der Kommunis-tischen Partei Chinas (KPCh) von 1949 bis 1976, dem neuesten Citroën-Modell hin-terher. Nach Protes-ten aus China musste sich der Autobauer beim chinesischen Volk entschuldigen und die Wer-bung einstellen. Der Anzeige zugrunde lag das offizielle Staatspor trät Maos auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tiananmen Platz, in Peking. ❙1 Dieses Porträt ist als „Chinas Mona Lisa“ und als „Mona Lisa der Weltrevo-lution“ bezeichnet worden. Es sei Chinas erster und einziger globaler Markenartikel, befand die New York Times, „a kind of George Wa-shington, James Dean and Che Guevara wrap-ped in one“. ❙2 Wie die Fotos von Marilyn Mon-roe und Che Guevara gehört es zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts. Mit Maßen von sechs mal vier Metern und einem Gewicht von zwei Ton-nen ist es ein Bild der Superlative und vermut-lich das größte Outdoor-Porträt, das es gibt. Allein während der Kulturrevolution wurde es in einer Auflage von 2,2 Milliarden Exemp-laren vervielfältigt. Der Vergleich mit Leonar-do da Vincis „Mona Lisa“ drängt sich auf. Wie diese schaut Mao den Betrachter frontal an, und wie Da Vincis Gemälde entfaltet auch das Mao-Bild eine eigene ästhetische Kraft.

Bild-Variationen

Mindestens acht Varianten des Mao-Porträts auf dem Tiananmen Platz lassen sich unter-

Gerhard Paul Dr. rer. pol., geb. 1951; Profes-sor am Institut für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg, Auf dem Campus 1, 24943 Flensburg. [email protected] www.prof-gerhard-paul.de

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scheiden. Über ein erstes Porträt ist nur be-kannt, dass es im Frühjahr 1949 und damit noch vor der Gründung der Volksrepublik (VR) China auf dem Balkon über dem Tor des Himmlischen Friedens angebracht war. Das erste offizielle Porträt, das man während der Proklamation der VR am 1. Oktober 1949 den Massen präsentierte und das nun unterhalb des Balkons angebracht war, war ein Tag zu-vor aufgehängt worden. Es beruhte auf einer Fotografie, auf der Mao eine achteckige Kap-pe und eine grobe, dunkle Uniformjacke mit Stehkragen trägt. Seine unmittelbare Funk-tion war es, den Menschen auf dem riesigen Platz das Bild ihres Staatsgründers zu zeigen, der auf der Tribüne nur als winziger Punkt zu sehen war und von dem es bislang nur we-nige Bilder gab. Mao hat den Kopf hier leicht nach rechts gewendet. Über die Betrachter auf dem Platz hinweg schaut er teilnahmslos in die Ferne. Zum 1. Mai 1950 ersetzte man dieses Bild durch ein Gemälde, das Mao nun ohne Kappe zeigte. Wie auf dem ersten Por-trät war der „Große Vorsitzende“ aus der Untersicht dargestellt, den Kopf leicht nach links und den Blick gegen den Himmel ge-richtet – ebenfalls ohne Blickkontakt zu den Menschen auf dem Platz. Zum ersten Jahres-tag der Staatsgründung löste ein viertes Port-rät dieses Bild ab, auf dem Mao den Kopf nun wieder leicht nach rechts gedreht hatte, aber weiterhin den Blickkontakt zu den Massen mied. Das eigentliche Ursprungsporträt, wie es bis heute dem offiziellen Porträt zugrun-de liegt, stammt aus dem Jahr 1952. Es wurde von dem Kunsterzieher Zhang Zhenshi ge-schaffen und beruhte ebenfalls auf einer foto-grafischen Vorlage. Erstmals schaute Mao die Betrachter nun mild lächelnd und direkt an. Dass nur ein Ohr zu sehen war, wurde später als ignorant kritisiert und abgeändert.

Neben diesen Porträts lassen sich drei wei-tere Varianten ausmachen: das Two-ear-Por-trät von 1958; das im Unterschied zu 1952 ge-glättete, auf der linken Gesichtshälfte leicht verschattete Porträt Wang Guodongs von 1966, auf dem Mao nun deutlich älter und vä-terlicher dargestellt ist und seinen Kopf wie schon auf dem Porträt von 1950 wieder leicht

1 ❙ Vgl. Gerhard Paul, Das Mao-Porträt. Herrscher-bild, Protestsymbol und Kunstikone, in: Zeithistori-sche Forschungen/Studies in Contemporary Histo-ry, 6 (2009) 1, S. 58–84.2 ❙ New York Times vom 28. 5. 2006.

Mao Zedong; verschiedene Bild-VariationenQuelle: Sammlung Paul, Flensburg.

nach rechts gewendet hat, wodurch nur mehr sein rechtes Ohr zu erkennen ist; sowie das seit Ende der 1970er Jahre bis heute offizi-ell gültige Two-ear-Porträt von Liu Yang. Der „Große Vorsitzende“ wirkt hier deut-lich älter, die Augenhöhlen weisen Schatten auf, sein Gesicht ist breiter und leicht aufge-dunsen, wodurch die bislang markanten Ge-sichtszüge verschwimmen.

Zeitloses Herrscherbild

Im Unterschied zu anderen Herr scher por-träts des 20. Jahrhunderts dominiert seit nun-mehr 60 Jahren eine immer gleiche, ikonen-haft starre Darstellung das offizielle Porträt Maos. Dieser erscheint nicht als der Agitator wie vor ihm Lenin, als Anführer einer Mas-senbewegung wie Hitler oder als Verkünder des Fortschritts wie Stalin, sondern einzig als

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der alterslose väterliche „Führer“. Mit dem Verzicht auf jedwede Herrschaftssymbole und -insignien betont das Porträt die über-natürlichen und göttlichen Fähigkeiten des „Großen Vorsitzenden“, dessen Wille und Kraft als Person im Mittelpunkt der Dar-stellung stehen. Anders auch als das bekann-te Stalin-Bild von Fjodor Schurpin, das den Diktator mit Moderne und Zukunft – sym-bolisiert durch Traktoren, Hochspannungs-masten und Sonnenaufgang – in Verbindung bringt, verzichtet das Mao-Porträt auf jegli-che identifizierbaren Hintergründe. Dadurch wird die transzendente Qualität des Porträ-tierten hervorgehoben und dieser zur über-menschlichen Figur verallgemeinert. Durch den fehlenden Bildhintergrund, den Ver-zicht auf zusätzliche Herrschaftsinsignien als auch durch die nur minimalen Änderungen am Ursprungsbild ist es den Einflüssen der Zeit enthoben. Mao erscheint keiner beson-deren Rolle verpflichtet, sondern einzig als über den Massen schwebender gottähnlicher „Führer“. Durch die fotorealistische Abbil-dung sowie durch die Fixierung der Betrach-ter durch den Porträtierten bleibt Mao zu-gleich eine diesseitige Person.

Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die graue, Uniform ähnliche Jacke, die er auf allen Porträts seit 1951 trägt. Zeigten ihn die ersten Porträts noch in einem dunklen Mili-täranzug mit hoch geschlossenem Stehkragen, bildete ihn Xin Mang erstmals in einem grauen Anzug ab. Dieses, später als Mao-Anzug po-pulär gewordene Kleidungsstück bestand aus einem modernisierten schmalen Rundkragen, zwei symmetrisch aufgenähten Brust- und Seitentaschen sowie fünf Uniformknöpfen, die den Anzug bis zum Kragen verschließen. Anders als Stalin verzichtete Mao auf jedwe-den Ordensschmuck; vielmehr bestach seine Kleidung durch betonte Schlichtheit, absolu-te Korrektheit und strenge Symmetrie. His-torisch geht das Kleidungsstück auf einen von Sun Yat-sen, den Revolutionsführer und Gründer der chinesischen Republik, in Auf-trag gegebenen Anzug zurück, der 1923 von der Kuomintang zur Pflichtkleidung der chi-nesischen Beamten erklärt und seit 1927 auch von dem jungen Mao getragen wurde. ❙3

3 ❙ Vgl. Tina Mai Chen, Mao Zedong and Sun Yat-sen suits, in: Edward L. Davis (ed.), Encyclopedia of contemporary Chinese culture, London-New York 2005, S. 373 f.

Anders als spätere Poster lässt das offiziel-le Mao-Porträt keine originären chinesischen Traditionen etwa der Tusche- oder Bauern-malerei erkennen. Vielmehr ist es der westli-chen beziehungsweise der sowjetischen Ma-lerei verpflichtet, wie sie seit 1949/50 an den Kunstakademien in China gelehrt wurde, de-ren Lehrer vielfach in der Sowjetunion stu-diert hatten. Und auch der Kult, der um das Porträt später gemacht wurde, erinnert eher an byzantinische Traditionen, in dem der Kaiser als Abbild Gottes erschien. Wie da-mals sollten die Untertanen in ihrer Haltung zum Bild und im Umgang mit diesem Staat und Partei ihre Loyalität bezeugen.

Blick aus dem Bild und Aura des Ortes

Das Mao-Porträt stellt eine offene Kompo-sition dar, die ihre Wirkung vor allem durch die von ihm ausgelösten Blickbeziehungen zwischen Betrachter und Bild sowie durch den Ort seiner Präsentation bezieht. ❙4 Mit dem Blick aus dem Bild findet eine Raum-erweiterung statt. Das Bild öffnet sich dem Betrachter und fängt ihn geradezu ein. In diesem Sinne ist das Porträt nicht nur ge-staltetes Abbild, sondern zugleich Medi-um, das den Betrachter zur Teilnahme auf-fordert. Wie die „Mona Lisa“ entfaltet das Mao-Porträt damit eine eigene Kraft, indem es unabhängig von den Standorten und Be-wegungen jedes einzelnen Betrachters auf dem Platz auf jeden Blick simultan reagiert und die Betrachter durch den Blick auf das Bild an Maos „übernatürlichem Wesen“ teil-haben lässt. Allerdings agieren Porträt und Betrachter nie auf Augenhöhe. Vielmehr schwebt Mao über diesen, was das Über-natürliche und Göttliche des Porträtier-ten betont. Sein Blick überstrahlt den Platz und von diesem aus die Welt. Dieser Effekt sei sehr bewusst geschaffen worden, wie ei-ner der Mao-Porträtisten später einräum-te: „This image is very different from any indoor painting in its method of represen-tation and visual effect. (…) It should be equally ideal when viewed from front or si-dewalks, and equally powerful when viewed from any spot in Tiananmen Square, whe-ther from the Golden Water Moat, the nati-

4 ❙ Vgl. Wu Hung, Remaking Beijing: Tiananmen Square and the Creation of a Political Space, London 2005, S. 78.

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onal flag pole, or from the Monument to the People’s Heroes.“ ❙5

Seine Wirkung erzielt das Mao-Porträt da-rüber hinaus durch den besonderen Ort sei-ner Präsentation. Zur klassischen Ikonografie des Herrschers zählte immer auch ein entspre-chendes architektonisches Umfeld. Vor allem symbolische Orte des Sieges wie Feldherren-hügel, Triumphbögen oder Siegessäulen eig-neten sich als Hintergründe, vor denen man sich wie in einer Blue Box porträtieren ließ. Auch das Mao-Porträt macht hiervon keine Ausnahme. Seine Wirkung ist daher auch im Kontext des Ortes und dessen Architektur zu sehen. Diese statteten das Bild mit einer zusätzlichen Aura aus. Der Ort fungiert da-bei als metaphorischer Körper, der dem Bild Bedeutung und Sinn verleiht. Für die kana-dische Kunsthistorikerin Francesca Dal Lago ist der Ort des Porträts der wichtigste Faktor der Bildwirkung überhaupt. ❙6

Seit 1949 hängt das Porträt unverändert an der Nordseite des Tiananmen Platzes. Für die Betrachter befindet es sich optisch vor der Kulisse des mächtigen Kaiserpalastes. Das Bild thront gleichsam über dem Tor des Himmlischen Friedens aus dem 15. Jahrhun-dert, das bis 1911 für alle normal Sterblichen den Zugang zur Verbotenen Stadt versperr-te, und exakt an der Stelle, an der bis zum Ende der Kaiserzeit die kaiserlichen Dekre-te der Öffentlichkeit bekannt gemacht wor-den waren – traditionell ein Ort besonderer Bedeutung. Topografisch befindet es sich auf der Zentralachse des Pekinger Stadtplans. Zugleich hängt es unterhalb der Tribüne, von der aus Mao 1949 die VR China proklamierte und die wiederum von dem offiziellen Staats-emblem – den ährenumkränzten fünf golde-nen Sternen und dem goldenen Zeichen des Kaiserpalastes und des Tores des Himmli-schen Friedens – gekrönt wird. Für Millionen chinesischer Kommunisten ist der Tianan-men Platz seit 1949 der Ort des Sieges und das symbolische Zentrum des neuen Chi-na. Das Porträt besitzt somit keine dekora-tive Funktion, es beherrscht vielmehr einen zentralen Ort und kreiert zusammen mit an-

5 ❙ Ge Xiaoguang zit. nach: Jia Yinting (Hrsg.), Tianan-men, Peking 1998, S. 92.6 ❙ Vgl. Francesca Dal Lago, Personal Mao: Reshaping

an Icon in Contemporary Chinese Art, in: The Art Journal, 58 (1999) 2, S. 46–59, hier: S. 48.

deren Elementen des Platzes einen symboli-schen Raum, der traditionelle mit neuen sozi-alistischen Elementen verknüpft. Seit 1950 ist das Porträt durch die Schriftzüge „Lang lebe die Volksrepublik China“ und „Lang lebe die Einheit der Völker der Welt“ eingefasst, wel-che die Bedeutung Maos als Gründer des mo-dernen China wie als Weltpolitiker betonen.

Die Funktion des Ortes und des Tores als Resonanzkörper des Porträts ist das Ergebnis einer rigorosen Stadtplanung. Diese löste das Tor seit 1958 aus seinem traditionellen Um-feld, ließ andere Tore und Monumente sowie die den Platz begrenzenden Mauern schleifen und neue Monumente wie das Denkmal der Volkshelden errichten. Zusätzliche symboli-sche Bedeutung erhielt der Ort dadurch, dass das Tor seit 1949 mit dem offiziellen Staats-emblem über eine Krone verfügte.

Bis zur Kulturrevolution wurde das Porträt, einer christlichen Reliquie vergleichbar, nur wenige Tage im Jahr gezeigt: um den 1. Mai sowie am Nationalfeiertag, dem 1. Oktober. Seit 1966 hängt das Bild dauerhaft an seinem heutigen Platz. Einmal im Jahr, jeweils unmit-telbar vor den Feiern zum 1. Oktober, wird es seitdem durch ein weitgehend identisches Bild ersetzt. Lediglich ein einziges Mal – nach dem Tode Stalins – hing an seiner Stelle zu Ehren des verstorbenen Sowjetführers dessen Kon-terfei. Nach Maos Tod 1976 wurde das farbige Porträt als Zeichen der Trauer für kurze Zeit durch eine Schwarzweißfotografie ersetzt, an dessen Rändern ein Trauerflor angebracht war. Seit dieser Zeit nun bezieht sich Mao gleich-sam auf sich selbst, indem er über den riesigen Platz auf sein eigenes Mausoleum blickt und somit den gesamten Platz beherrscht.

Bildkult

Erst mit der Kulturrevolution setzte sich das Mao-Porträt als wichtigstes Andachts-bild und als allgegenwärtige Ikone in China durch. ❙7 Voraussetzungen hierfür waren sei-ne multimediale Präsenz und die unterschied-liche Materialität seiner Darstellungen. Seit

7 ❙ Vgl. Robert Benewick, Icons of Power: Mao Ze-dong and the Cultural Revolution, in: Harriet Evans/Stephanie Donald (eds.), Picturing Power in the People’s Republic of China – Posters of the Cultural Revolution, Lanham 1999, S. 123–138.

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der Kulturrevolution begrüßten lebensgro-ße Maos die Besucher in den Eingängen von öffentlichen Gebäuden. An markanter Stel-le positioniert zierten sie in Form von Plaka-ten Regierungsgebäude, Schulen, Kindergär-ten, Parks und Kultureinrichtungen. Kopien des Tiananmen Porträts befanden sich jetzt in fast jedem Haus. Mit der Mao-Bibel, die 1966 die Auflagenhöhe von einer Milliarde Exem-plare überschritt und deren Frontispiz eben-falls das Porträt des „Großen Vorsitzenden“ schmückte, erfuhr das Bild eine weitere Ver-breitung. Für einige Zeit nahm die Verehrung Maos geradezu rituellen Charakter an, wenn Mao-Worte vor dem Bild rezitiert, Loyalitäts-tänze vor dem Porträt aufgeführt oder gera-dezu fanatisch Kopien hergestellt wurden. Ein sowjetischer Beobachter schrieb beeindruckt: „Bauern ziehen mit Mao-Postern auf die Fel-der. Manchmal zäunen sie die Felder mit Mao-Bildern ein. Bauern aus Tibet platzie-ren Mao-Büsten neben Bildnissen von Bud-dha. Rotgardisten tragen das Porträt Maos auf Brusthöhe wie Ikonen durch Straßen und Gänge.“ ❙8 Mitunter hatte der Kult skur-rile Züge, wenn dem Porträt Erlösungs- und Wunderqualitäten zugeschrieben wurden. Die Zeitung Peking Review berichtete von einem Mann, der bewusstlos in einem Krankenhaus gelegen und beim Betrachten eines Mao-Por-träts die Erinnerung zurück erhalten habe. ❙9

Das US-Satiremagazin The Onion brachte die Herrschaftsfunktion des Bilderkults auf den Punkt. Unter der Überschrift „Riesiges Mao-Poster erringt die Macht in China“ hieß es in einer fiktiven Meldung aus Peking vom 2. Oktober 1949: „Das chinesische Volk fei-erte heute, einen langen Bürgerkrieg been-dend, die Machtübertragung an ein sechs mal vier Meter großes Poster des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas Mao Zedong. Nachdem die postergeführte Regie-rung in ihr Amt eingeführt war, fand ein gro-ßer Parteitag auf dem Platz des Himmlischen Friedens statt, währenddessen das Bild vom Balkon herunter über die versammelte Mas-se schaute. Tausende waren gekommen, um dem Poster, das jetzt die bevölkerungsreichs-te Nation der Erde führt, ihren Tribut zu zollen. Das Zentralkomitee wählte das Pos-

8 ❙ Zit. nach: George Urban (ed.), The Miracles of Chairman Mao: A compendium of devotional litera-ture 1966–1967, London 1971, S. 171–178, hier: S. 175 f.9 ❙ Ebd., S. 144.

ter zum alleinigen Führer der neuen kommu-nistischen Regierung Chinas; kleinere Abbil-dungen sollen regional die Autorität über das geeinte Land gewährleisten.“ ❙10

Bild gegen Bild

Die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten erschöpften sich auch in China keineswegs nur in kultischer Verehrung und Erlösungsglauben. Gerade dort, wo die Bür-ger in ihrer Haltung zum Bild und im Um-gang mit diesem Staat und Partei ihre Loya-lität bezeugen sollten, war das Porträt immer auch Ziel von Protest. Bekannt wurden vor allem die Demonstrationen vom Frühjahr 1989. Wu Hung hat diese als Kulminations-punkt einer image-making movement be-ziehungsweise als war of monuments be-zeichnet. ❙11 Nicht zufällig handelte es sich bei vielen Akteuren um Kunststudenten und Künstler. Die Aktionen begannen am 19. Ap-ril, als Studenten der Pekinger Zentralakade-mie der Bildenden Künste nach dem Tod des Reformpolitikers Hu Yaobang ein Porträt des Politikers am Denkmal der Heroen des Vol-kes gegenüber dem Mao-Bild anbrachten. Für Schlagzeilen sorgte am 23. Mai der Farban-schlag von drei jungen Männern aus dem Ge-burtsort Maos auf das Mao-Porträt. Wie ei-ner der Beteiligten später erklärte, habe man die Kritik an der Kommunistischen Partei „an ihrer Wurzel Mao“ demonstrieren wol-len. Da andere Demonstranten eine Diskre-ditierung ihrer Bewegung befürchteten, und auch Mao unter ihnen vielfach noch als po-sitive Ikone gegen das korrupte Regime und sein Porträt damit als sakrosankt galt, wur-den die drei „Frevler“ von Mitstreitern ge-packt und der Polizei übergeben. Höhepunkt der Proteste war die Errichtung eines Ge-genmonuments, der Goddess of Democracy, am 30. Mai 1989 durch Kunststudenten un-mittelbar gegenüber und auf Augenhöhe mit dem Mao-Porträt. ❙12 Die Freiheitsgöttin auf dem Tiananmen Platz schaute Mao direkt an. Sie bekundete damit symbolisch ihren An-

10 ❙ Scott Dikkers (ed.), Our Dumb Century: 100 Years of Headlines from America’s Finest News Source, New York et al. 1999, S. 77.11 ❙ W. Hung (Anm. 4), S. 109, 85 und 113. 12 ❙ Vgl. Tsao Tsing-yuan, The Birth of the Goddess

of Democracy, in: Jeffrey N. Wassertrom/Elisabeth J. Perry (eds.), Popular Protest and Political Culture in China, Boulder 1994, S. 140–147.

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spruch auf Teilhabe an der Macht. Unmittel-bar zu Beginn der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung am 4. Juni 1989 wurde das Gegensymbol unter den Augen Maos von einem Armeepanzer zerstört. Nachdem ein Panzer die Zelte der auf dem Platz campie-renden Demonstranten überrollt hatte, steu-erte er mit Vollgas die Statue der Freiheits-göttin an, die daraufhin zusammenstürzte und so zur wichtigsten Märtyrerin der De-mokratiebewegung avancierte.

„Mona Lisa der Weltrevolution“

Mit den antiautoritären Protestbewegungen der 1960er Jahre und der Pop Art der 1970er Jahre begann das Mao-Porträt um den Erd-ball zu zirkulieren. Es wurde Teil eines glo-balen cultural beziehungsweise visual flow, ❙13 in dem sich Bedeutung und Funktion des Bil-des immer neu veränderten. Befördert durch eine merkwürdig positive Rezeption der Kul-turrevolution in den antiautoritären Milieus des Westens übertrug sich der Mao-Bildkult seit 1967 auf die studentischen Protestbewe-gungen in Westeuropa und den USA: der erste Schritt auf dem Weg des Mao-Bildes zur glo-balen Ikone des Jahrhunderts. Vergleichbar der zwischen Reliquienkult und Protestgestus schwankenden Verehrung Che Guevaras wur-de das Mao-Bild auf Demonstrationen in Pa-ris, New York und Berlin wie eine Monstranz mitgeführt. Es wurde Teil eines öffentlichen Kollektivakts, der politische Identität und me-diale Wirkung gleichermaßen zu garantieren schien. In Deutschland war es vor allem die Kommune 1, die durch spektakuläre Aktio-nen wie den Abwurf von Mao-Bibeln von der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche das Mao-Porträt als Protestsymbol und Pro-vokationsmedium bekannt machte. ❙14 Anfangs sei der Mao-Kult noch eine „Jugendstim-mung“ und „radikal chic“ gewesen; später sei das Mao-Porträt zur Antithese und zum Sym-bol des Protestes gegen Konsumgesellschaft

13 ❙ Vgl. Marita Sturken/Lisa Cartwright, Practices of looking. An introduction to visual culture, Oxford 2001, S. 315 ff.; Fuwei Shen, Cultural Flow between China and the outside world throughout history, Pe-king 1996.14 ❙ Vgl. Laura K. Diehl, Die Konjunktur von Mao-

Images, in: Sebastian Gehrig/Barbara Mittler/Fe-lix Wemheuer (Hrsg.), Kulturrevolution als Vor-bild? Maoismen im deutschsprachigen Raum, Frankfurt/M. 2008, S. 179–201, hier: S. 179.

und Kapitalismus, zur „Mona Lisa der Welt-revolution“, avanciert. ❙15 Sich einen Mao-But-ton anzustecken oder das Porträt an die Wand seiner Studentenbude zu pinnen, galt als ra-dikalste Antithese zur bürgerlichen Welt wie zur revisionistischen Alt-Linken. Das Mao-Bild avancierte durch solche Praktiken zu eine der Hauptikonen der Studentenbewegung und zur „Popikone der Weltrevolution“, ❙16 ohne dass sich die „68er“ jemals ernsthaft mit der Herrschaftspraxis ihres leuchtenden Vor-bilds auseinandergesetzt hätten.

Indes demonstrierte die spätkapitalistische Gesellschaft zugleich ihre Fähigkeit, solche Protestsymboliken in Warenkultur und Kul-turindustrie einzuverleiben. Die Rockgruppe Pink Floyd integrierte es in ihre Bühnenshow. Angeregt vom Mao-Kult der französischen Studenten verhalf der Pariser Modeschöpfer Pierre Cardin seit 1967 dem Mao-Anzug im Westen zum Durchbruch. International ver-blasste dabei immer mehr die Erinnerung an Mao als brutalem Gewaltpolitiker.

Mona Lisa der Pop Art

Inspiriert vom Mao-Kult der „68er“ griffen Künstler das Mao-Porträt auf. Auch diesen ging es weniger darum, sich kritisch mit der diktatorischen Praxis oder dem totalitären Kunststil in China auseinanderzusetzen als vielmehr darum, die eigenen Mechanismen der Bildproduktion in Medien und Kunst zu reflektieren. Das Mao-Porträt fungierte dabei lediglich als Folie. Bereits 1966 schuf Thomas Bayrle ein mit einem Elektromotor betriebe-nes kinetisches Holzrelief mit dem Mao-Por-trät der 1950er Jahre, das sich in drei Schritten in einen roten Stern verwandelte. Ein Mao-Porträt der 1960er Jahre lag einem Gemälde Gerhard Richters zugrunde. Dieser reprodu-zierte Maos Gesicht in extremer Unschärfe, wodurch dieser gespensterhaft wie verklärt zugleich wirkte. Ebenfalls noch vor Andy Warhol hatten auch Roy Lichtenstein, Sig-mar Polke und Salvador Dali Mao zum Ge-genstand künstlerischer Arbeiten gemacht.

15 ❙ Gerd Koenen, Rotwelsch und Zeichensprache, in: Andreas Schwab/Beate Schappach/Manuel Gogos (Hrsg.), Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung, (Ausst.-Kat.), Frankfurt/M. 2008, S. 262–271, hier: S. 269.16 ❙ L. K. Diehl (Anm. 14), S. 179.

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Zur Ikone der Pop-Kultur wurde Mao in-des erst durch Andy Warhol und die Pop Art, die als transnationale Übersetzungsmaschi-ne fungierte. ❙17 Indem sich Warhol der ideolo-gisch wie propagandistisch geformten Ikone bediente, die er in seinem Stil adaptierte und nach Gesetzen des kapitalistischen Kunst-marktes vertrieb, führte er den mit dem Mao-Porträt verbundenen Mythos ad absurdum. Wie in der Markenwerbung reduzierte er den chinesischen Staatschef auf den Status einer Markenware, bei der es letztlich nur auf die richtige Verpackung, das heißt auf die Farb-gebung von Gesicht und Hintergrund, an-kam. Insgesamt schuf Warhol mehr als 2000 Mao-Porträts. ❙18 Mit ihnen machte Warhol Mao noch zu dessen Lebzeiten zum größ-ten Popstar des Jahrhunderts und zur belie-big reproduzierten Massenware. In der ver-fremdenden Entpersonalisierung geriet das Mao-Porträt zur teuer gehandelten Ware des Kunstmarktes.

Im Zentrum der künstlerischen Themati-sierung Mao Zedongs im Westen standen so primär die eigenen medialen und künstleri-schen Perspektiven und Mechanismen und kaum einmal das offizielle Herrscherpor-trät in China selbst oder gar die historische Gestalt. Wie andere Künstler thematisiere Warhol nicht den historischen Partei- und Staatsführer, „sondern das modifizierte, kommerzialisierbare Symbol, die künstli-che Maofigur der westlichen Perspektive, die für bestimmte Schlagworte stand“. ❙19 In-dem Künstler wie Warhol und Richter Mao in markt- und medienkritischer Absicht auf eine von Kunstsammlern zu erwerbende Ware und auf ihre dekorative Hülle reduzier-ten, ihn damit zur konsumierbaren Kunst-person machten, lösten sie ihn aus seinen originären historisch-politischen Kontexten heraus und leisteten somit der Aufspaltung von Oberfläche und Hintergrund, von Bild und Abbild Vorschub. Auf diese Weise ent-ideologisierten sie das Porträt, negierten sei-ne originäre Herrschaftsfunktion, machten

17 ❙ Vgl. Lydia Haustein, Global Icons. Globale Bild-inszenierung und kulturelle Identität, Göttingen 2008, S. 233 ff.18 ❙ Vgl. Sabine Müller, Symbole in der modernen Me-

dien- und Konsumgesellschaft – Andy Warhols Mao Wallpaper, in: Jörn Lamla/Sighard Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesba-den 2006, S. 185–204.19 ❙ Ebd., S. 202.

es konsumierbar und trugen damit letztlich zur globalen Popularisierung und Mytholo-gisierung Maos bei.

Am radikalsten dekonstruiert wurde das Mao-Porträt von dem aus Peking stammen-den, der Kunstrichtung des Zynischen Realis-mus verpflichteten Künstler Zhang Hongtu. In Installationen wie „Pingpong-Mao“ griff Zhang die Ikonenhaftigkeit des Mao-Bildes auf, dessen Gesichtumriss bereits genügt, um die Erinnerung an das Ursprungsbild zu ak-tivieren. Einer der wenigen Künstler, die die Produktion des Mao-Bildes und den Mao-Kult selbst zum Thema machten, war Jörg Immendorf, ehemals selbst Mitglied der mao-istischen Kommunistischen Partei Deutsch-lands (KPD). Mit seinem Gemälde „Anbe-tung des Inhalts“ von 1985 betrieb er zugleich ein Stück künstlerischer Biografiearbeit.

„Mao Craze“

Obwohl nach Maos Tod und dem öffentli-chen Eingestehen von Fehlern Maos, dessen Bilder schrittweise aus der Öffentlichkeit verschwanden, blieb das Porträt vom Tianan-men Platz hiervon verschont. Da Mao anders als andere Diktatoren des 20. Jahrhunderts selbst nie entmachtet oder fundamental in-frage gestellt wurde, überlebte sein Porträt die politischen und kulturellen Veränderun-gen nach 1989. Es blieb daher als politische Ikone, als banaler Alltagsgegenstand sowie als Objekt der Kunst auch im modernen Chi-na präsent.

Der Bruch mit der chinesischen Variante des Sozialistischen Realismus nach 1989 be-förderte eine kritisch-ironische Auseinan-dersetzung mit dem Mao-Bild in der chine-sischen Gegenwartkunst. Künstler begannen mit dem idealisierten Porträt zu spielen wie etwa Wang Keping, der das Abbild des gereif-ten Mao mit dem einer korpulenten buddhisti-schen Gottheit verband und damit auf dessen Vergötzung anspielte, oder Liu Wei, in des-sen Gemälde Mao nur mehr Hintergrund für ein Kinderfoto ist. In ihrer Thematisierung des Mao-Kults orientierten sich chinesische Künstler vor allem an den Mao-Bildern Ger-hard Richters und Andy Warhols. Als bedeu-tendster Repräsentant der Pop Art-Künstler Chinas und einer der ersten, der Mao als Su-jet in die chinesische Kunstszene einführte,

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gilt Yu Youhan. Seit den frühen 1990er Jahren setzte er sich wiederholt mit dem Mao-Por-trät und seiner Vergangenheit auseinander. Dabei benutzte er sowohl Darstellungstech-niken der traditionellen chinesischen Malerei als auch der offiziellen Propagandakunst und der Pop Art. Nur selten erfolgte die Ausein-andersetzung in genuin chinesischen Kunst-traditionen wie den populären Neujahrsbil-dern, die die Luo Brothers verwendeten.

Heute könne man in China auf keine mo-derne Kunstausstellung gehen, auf der sich nicht mindestens ein Drittel der Künstler „ir-gendwie an Mao abarbeitet, und sei es nur, weil sich solche Kunst gut verkauft“, so der in Peking lebende ehemalige Titanic-Redakteur Christian Y. Schmidt im Jahr 2008. ❙20 Tatsäch-lich provozierte beziehungsweise motivierte weniger die Politik und herausragende Stellung Maos die Künstler, sondern vor allem dessen Porträt und der es umgebende Bilderkult. Zum Teil war und ist diese Auseinandersetzung bio-grafisch oder politisch motiviert, zum Teil ver-selbständigte sie sich analog der öffentlichen Nutzung des Mao-Bildes zum modischen Selbstzweck. „Überall und immer wieder“, so Schmidt, werde Mao „mit Ikonen der westli-chen Moderne kombiniert, tritt er mit Marilyn Monroe und der Freiheitsstatue auf oder trinkt Coca Cola“. Die standardisierte Kunstwa-re Mao löste die standardisierte Propaganda-kunst um den „Großen Vorsitzenden“ ab.

Im heutigen China ist der ideologische Mao-Kult einem unpolitischen Alltagskult gewichen, der das Mao-Bild als mächtiges Motiv im Leben der meisten Chinesen prä-sent hält. ❙21 Mao-Porträts zieren Schaufenster und Kioske. Models gefallen sich in T-Shirts mit dem Aufdruck des Konterfeis des „Gro-ßen Vorsitzenden“. Das Mao-Bild fungiert als Warenzeichen für anspruchsvolle Kon-sumartikel. Das Bild hat gar den Status eines Talismans erhalten, indem es von Taxi- und Busfahrern benutzt wird, um Gefährt wie Passagiere vor Unfällen zu bewahren. All das hatten die Werbefachleute von Citroën nicht bedacht, als sie 2007 ihre Werbekampagne mit dem Porträt Maos planten.

20 ❙ Frankfurter Rundschau vom 1. 8. 2008.21 ❙ Vgl. Michael Dutton, From Culture Industry to

Mao Industry, in: Boundary, 32 (2005) 2, S. 151–168.

Marcus Hernig

„Großartiges Reich der Mitte“: Zur Aktualität chinesischer Mythen

Weida de zhongguo“ (großartiges Reich der Mitte) – so lautet das Urteil vieler

Chinesen über ihr Land. Die Aussage wird oft spontan und we-nig reflektiert getrof-fen, als wäre sie eine Selbstverständl ich-keit. Das „großarti-ge Reich der Mitte“ ist ein Mythos, der so alt ist wie die Kultur des Reiches am Gel-ben Fluss und Yangt-se-Strom. Eine beispiellose Entwicklung zu einem nicht nur wirtschaftlich bedeutenden Staat in der globalisierten Welt des 21. Jahr-hunderts lässt den Mythos heute wieder ak-tuell erscheinen.

Ursprünglich war der Begriff „Reich der Mitte“ ein Plural und bezeichnete die geogra-fische Lage kleiner Fürstentümer am Gelben Fluss, die als „Staaten der Mitte“ ❙1 den Kern des heutigen Chinas bildeten. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden weitere Staaten um diese geografischen Kerne herum. Sie wur-den schließlich vom Potentaten Qin Shi Hu-ang (259–210 v. Chr.), der sich als „erster Kai-ser von Qin“ bezeichnete, im Jahr 221 v. Chr. geeint. So wurden die „Länder in der Mitte“ zum „Reich der Mitte“.

Der geografische Begriff „Reich der Mitte“ wurde sehr bald zu einem kulturellen: Das, was in der Mitte lag und ein geeintes Reich bildete, galt als höherstehender und entwi-ckelter als die meist nomadisierenden „Bar-barenländer“ an der Peripherie. Wer „in der Mitte“ lebte, der war gewiss, in einer Regi-on zu leben, die laut Selbstwahrnehmung als

1 ❙ Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt/M. 1988, S. 58.

Marcus Hernig Dr. phil., geb. 1968; Außer-ordentlicher Professor für German and Chinese Studies an der Zhejiang-Universität in Hangzhou; Sida Lu 266, 2/3 f, 200081 Shanghai/China. [email protected]

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politisches und kulturelles Zentrum der Welt galt, ohne dass diese Region viel von der „Au-ßenwelt“, besonders jener in Europa, wusste.

Auch viele Europäer waren bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts davon überzeugt, dass China eine der „bestmöglichen Welten“, wenn nicht gar die „beste mögliche Welt“ un-seres Planeten darstellte – im Unterschied zu heute waren darunter viele prominente Deut-sche: Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff outeten sich damals als „China-Fans“, die in sinoskeptischen und eu-rozentrischen Denkern wie Johann Gottfried Herder ihre „Gegenspieler“ fanden. Ihre Dis-kurse drifteten schnell ins Extreme, egal ob Leibniz den chinesischen Kaiser als „hervor-ragenden Fürsten“ ❙2 pries oder Herder China als eine „balsamierte Mumie, mit Hierogly-phen bemalt und mit Seide umwunden“ ❙3 ab-tat. Nicht zuletzt seit Marco Polos Erzählun-gen war der Mythos vom sagenumwobenen „Reich der Mitte“ auch im Westen geboren.

Genährt wurde der Mythos aktuell durch die beiden internationalen Großereignisse: den Olympischen Spielen 2008 in Peking und der Weltausstellung Expo 2010 in Shanghai. Beide Veranstaltungen waren beziehungs-weise sind Superlative staatlicher Planungs-leistung, die China wieder in den Mittel-punkt der Welt rückten: Mit 16 Medaillen Vorsprung wurden während der Olympi-schen Spiele die USA von China in der Na-tionenwertung auf Rang zwei verwiesen. 70 Millionen Besucher holten die Welt mit-ten hinein nach Shanghai, das sich noch bis Oktober 2010 mit Akteuren aus 242 Natio-nen und internationalen Organisationen als „Stadt der Mitte“ fühlen kann. In einer glo-balisierten Welt kulturell erneut zum „Reich der Mitte“ zu werden, ist ein Kerninhalt des-sen, was heute gern als „Chinesischer Traum“ bezeichnet wird.

Gefühl des Besonderen: Mythos vom „Reich der Mitte“

Im griechischen Sinne ist unter dem Begriff „Mythos“ eine Geschichte oder Erzählung

2 ❙ Gemeint war der Mandschu-Kaiser Kangxi (von 1654 bis 1722). Zit. nach: Adrian Hsia, Deutsche Denker über China, Frankfurt/M. 1985, S. 14.3 ❙ Ebd., S. 129.

zu verstehen, welche vielen Menschen in ei-ner Gesellschaft bekannt ist, und welche die Welt der Menschen mit der Welt der Götter und Geister verknüpft. Doch ist dies im Fol-genden nicht gemeint, wenn vom Mythos des „Reichs der Mitte“ die Rede ist. Passender ist die Definition von Roland Barthes: Un-ter Mythos versteht er viel allgemeiner und wesentlich diesseitiger eine „Aussage“ des aktuellen öffentlichen Diskurses. Er ist „im allgemeinsten Sinn (…) ein Begriff, ein Pro-dukt oder ein Erklärungsmuster mit großer öffentlicher Ausstrahlung.“ ❙4

Der Gedanke des „Reichs der Mitte“ er-innert an jenen Baum, den Roland Barthes als Beispiel für seine Definition des Mythos anführt: „Ein Baum ist ein Baum. Gewiss! Aber ein Baum, der von Minou Drouet aus-gesprochen wird, ist schon nicht mehr ganz ein Baum, er ist ein geschmückter Baum, der einem bestimmten Verbrauch angepasst ist, der mit literarischen Wohlgefälligkeiten, mit Auflehnungen, mit Bildern versehen ist, kurz: mit einem gesellschaftlichen Gebrauch, der zu der reinen Materie hinzutritt.“ ❙5 Weit wichtiger als die geografische Situation, „in der Mitte zu liegen“, ist demnach die kultu-relle Bedeutung des „Reichs der Mitte“, das heißt der „gesellschaftliche Gebrauch“ die-ser Aussage: Spätestens seit der Reichseini-gung und den ersten Kaisern manifestierte sich in den Köpfen der gesellschaftlichen Eli-ten Chinas ein kulturelles Überlegenheits-gefühl als Bewohner dieses zentralen Rei-ches, „das an Alter und Cultur sich selbst das Erste aller Länder, die Mittelblume der Welt nennet“. ❙6

Das „Reich der Mitte“ galt als „Erfolgssto-ry“, das selbst Krisenzeiten in Form von Er-oberungen durch feindlich gesinnte Völker wie die Mongolen erfolgreich überstand. Der Erfolg bestand darin, diese „niedrig stehen-den Barbaren“ ohne entwickelte Agrar- und Stadtkultur und vor allem ohne entwickelte Literatur zu höherwertigen Menschen umzu-formen – kurzum: sie zu sinisieren. Sie erhiel-

4 ❙ Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 2003, S. 85.5 ❙ Ebd.6 ❙ Herder zit. nach: A. Hsia (Anm. 2), S. 118. Der

Ausdruck „Mittelblume“ geht zurück auf die Selbst-bezeichnung Chinas als zhonghua, dessen zweiter Bestandteil -hua sowohl Blume oder Blüte als auch aufblühen bedeutet.

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ten damit eine neue Identität: die chinesische. Der Mythos vom „Reich der Mitte“ erweiter-te sich um das in China verbreitete Bild einer „großen Familie“ verschiedener Volksgrup-pen (minzu), die nun nach vielen blutigen Kriegen und Konflikten verbunden durch ei-nen kulturellen Kanon lebten.

Einer beeindruckenden Verwaltungsbüro-kratie gelang es spätestens ab der Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.), chinesische Kulturmerkmale fest in die Orga-nisationsstruktur des Staates zu integrieren, so dass diese zu einem allgemein verbindli-chen Bildungskanon wurden. Der Konfuzi-anismus und seine Schriften gehörten zu den bekanntesten Merkmalen einer spezifisch chinesischen Kultur. Wer in China Erfolg ha-ben beziehungsweise das Land führen wollte, der musste sich diese Kulturmerkmale aneig-nen. Dazu gehörte vor allem das darin vor-geschriebene Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen zu verinnerlichen, wie sie die fünf Beziehungen (wulun) konfuzianischer Ethik vorgeben. ❙7 Für den Untertan bedeute-te dies: „Diene Deinem Herrscher und ordne Dich unter“. Auch der Herrscher wurde ver-pflichtet: „Sorge für Stabilität und Ordnung im Staate, so dass Dein Untertan ein sicheres Leben führen kann.“

Bis heute stellen diese Ver hal tens prin zi-pien die Grundlage des chinesischen Staa-tes dar. Ihre Erfüllung legitimiert das Man-dat des Herrschers und ist Kernaufgabe der Politik. Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Mythos des „Reichs der Mitte“ bis heute aufrechterhalten werden konnte, so auch un-ter der „modernen“, sogenannten sozialisti-schen Regierung, liegt im Erfolg dieses Regu-lierungs prinzips.

„Reiches Land und starkes Volk“: Mythos von der Auferstehung Chinas

Mitte des 19. Jahrhunderts traf China der größte Schock seiner Geschichte: Die erfolg-reichen Angriffe britischer Kanonenboo-te stürzten das stolze „Reich der Mitte“ in die quasi-koloniale Abhängigkeit. Das his-torische Gedächtnis Chinas sah sich mit ei-

7 ❙ Die fünf Beziehungen regeln das Verhältnis zwi-schen Eltern und Kindern, Herrschern und Unterta-nen, Ehepartnern, Geschwistern und Freunden.

nem Male empfindlich gestört, weil der Me-chanismus der „Sinisierung“ des Fremden bei den „widerspenstig-arroganten Europä-ern“ nicht funktionierte: Sie nahmen sich, was sie wollten, erzwangen einen ungleichen Vertrag nach dem anderen und trotzten sich weite Küstenstriche als Handelshäfen und koloniale Einflusszonen ab. Überall zeigten sie offen ihre technologische Überlegenheit. Zwischen 1894 und 1895 gelang es auch dem kleinen Inselreich Japan den großen Drachen China derart vernichtend zu schlagen, dass China „von dieser Zeit an nicht mehr Herr über sein Schicksal“ war. ❙8 Danach herrsch-te Chaos. Der Schriftsteller Lu Xun bezeich-nete den Zustand Chinas während des frü-hen 20. Jahrhunderts in einem Brief an seine spätere Frau Xu Guangping „hoffnungs-los“, wenn nicht bald die Revolution erfolgen würde. ❙9

Spätestens mit der Niederlage des „Reichs der Mitte“ im Opiumkrieg 1842 gegen die Engländer begann der hartnäckige chinesi-sche qifu-Komplex, das Gefühl des „Gede-mütigt werdens“, aus dem nur die Zukunft das Land befreien konnte. Eine Zukunft, die aus „mehr Kampfstärke, erfolgreichen Krie-gen gegen die Unterdrücker und allgemein mehr Aggressivität gegenüber Unterdrü-ckern aller Art“ bestehen müsste. ❙10 Selbst-stärkung durch wirtschaftliches und einge-schränkt auch militärisches Wachstum ist seit den Niederlagen des 19. Jahrhunderts, vor allem aber seit dem Zweiten Japanisch-Chi-nesischen Krieg von 1937 bis 1945, einer der wichtigsten Diskurse Chinas.

Zwar etablierten die Kommunisten unter Mao 1949 eine neue Dynastie und knüpf-ten damit wieder an das starke „Reich der Mitte“ der Vergangenheit an. Doch auch die „Mao-Dynastie“, die Strategien politi-scher Stärke und wirtschaftlicher Autarkie verfolgte, konnte das kollektive Gefühl ei-ner gedemütigten Nation nicht überwinden. Seine Herrschaftsjahre von 1949 bis 1976

8 ❙ J. Gernet (Anm. 1), S. 504.9 ❙ Lu Xun/Xu Guangping, Letters Between Two.

Correspondence between Lu Xun and Xu Guang-ping, Beijing 2000, S. 36.10 ❙ Vgl. Warum sind Chinesen das am meisten gede-

mütigte Volk der Welt? (Weishenme zhongguoren shi shijie shang zui shou qifu de minzu?), online: www. 360doc.com/ content/ 08/1020/13/ 77483_1794042.shtml (21. 8. 2010).

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werden im kollektiven Bewusstsein der chi-nesischen Gesellschaft zumindest teilweise als weitere Jahre der „Demütigung“ ❙11 emp-funden, weil sie am Ende in der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ münde-ten, während derer fast jede Familie ein Op-fer zu beklagen hatte und „das eigene Land seine Kinder fraß“. In der Mao-Zeit fielen bis zu 70 Millionen Menschen direkt oder indirekt politischen Kampagnen und Ver-folgungen zum Opfer. ❙12

„China der Demütigungen“

Das Gefühl der Demütigung sitzt tief in der kollektiven Erinnerung Chinas. Denn trotz wirtschaftlich äußerst erfolgreicher drei Jahrzehnte nach der Reform- und Öffnungs-politik seit 1978, welche der chinesischen Ge-sellschaft neuen Stolz und Selbstbewusst-sein einflößten, sind besonders die Stimmen laut, die an Chinas Demütigung durch die Europäer vor mehr als 150 Jahren erinnern. Die Beispiele hierfür sind zahlreich wie etwa der Bestseller aus den 1990er Jahren Chi-na kann „Nein“ sagen. ❙13 Er war eine emoti-onale Protestschrift gegen die internationale Führungsrolle der USA. Sein Erscheinen fiel in eine Phase besonders starken wirtschaft-lichen Wachstums, weshalb China kann „Nein“ sagen als Symbol für ein neues Chi-na gilt, das fortan um die Wiedererlangung seines Status als „Reich der Mitte“ mit dem „Reich der Mitte der Gegenwart“, den USA, konkurriere.

Erst mit der Reform- und Öffnungspolitik seit 1978 bot sich aus Sicht der chinesischen Eliten eine historische Chance, das Image ei-nes gedemütigten Landes zu überwinden. In dieser Phase übernahm der technologische Fortschritt die Aufgabe, die Gegenwart so zu gestalten, dass wirtschaftliche Stärke gepaart mit internationalem Ansehen das „China der

11 ❙ Vgl. J. Gernet (Anm. 1), S. 504.12 ❙ Vgl. Jung Chang/Jon Halliday, Mao – Das Le-

ben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes, München 2007, S. 17; kontroverse Debatten über die Regierungszeit Maos online: lkcn.net/bbs/ index. php?showtopic=227331 (21. 8. 2010).13 ❙ Song Qiang (Hrsg), Zhongguo keyi shuo bu:

lengzhan hou shidai de zhengzhi yu qinggan jue-ze (China kann „Nein“ sagen: Politische und emo-tionale Entscheidungen in der Ära nach dem Kalten Krieg), Peking 1996.

Demütigungen“ endgültig zur Vergangenheit werden lässt.

An die Stelle des agrarischen Chinas, das noch in den 1990er Jahren das Selbstbild präg-te, ist im 21. Jahrhundert eine zukunftsorien-tierte und technologiegläubige urbane Kultur getreten. Sie treibt die gesellschaftliche Ent-wicklung an und fördert den neuen Mythos eines Phönix, der endgültig aus der Asche der Vergangenheit aufsteigt. Dieser Phönix – im Übrigen ein chinesischer Mythos ❙14 – ist Symbol dessen, was in Anklang an den ame-rikanischen Traum als „Chinesischer Traum“ bezeichnet wird. Die Olympischen Spiele in Peking und die Weltausstellung in Shanghai gaben Chinas Zukunft ein weltweit beach-tetes Gesicht. Beide Großereignisse führten Chinas „großen 100-jährigen Traum“ (bai nian da meng) deutlich vor Augen: „ein rei-ches Land und ein starkes Volk“ (fu guo qi-ang min) zu sein – „der Traum eines jeden Chinesen“. ❙15

Gerade der kollektive Wunsch, „ein starkes Volk zu sein“, könnte Anzeichen für einen tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex vieler Chinesen gegenüber Europäern und Amerikanern sein. Man empfindet sich als schwach im Vergleich zu den erfolgreichen Völkern des Westens und wünscht sich mehr Mut und Stärke, wie sie der Autor Jiang Rong in seinem erfolgreichen Buch Wolf Totem (Lang Tu Teng) seinen Protagonisten einfor-dern lässt: „Noch immer thronen Wölfin und ihre Kinder über der Stadt Rom. In den star-ken Volks-Adern ihrer Nachfolger, Germa-nen und Angelsachsen, floss ebenfalls Wolfs-blut. Und das schwache chinesische Volk, das Han-Volk bedarf unbedingt einer solchen In-fusion wilden Blutes. Ohne den Wolf gäbe es die Geschichte der Menschheit so nicht, wie sie ist.“ ❙16

Der „Chinesische Traum“ neuer Stärke be-steht an der Oberfläche aus jenen Bildern, die ein Times-Reporter in den Wochen der

14 ❙ Der Phönix ( fenghuang oder feng) gilt als König der Vögel und symbolisiert Glück und Harmonie. Wie der Drache (long) ist er eine Art Totem der Han-Chinesen, der großen Mehrheit im Lande. 15 ❙ Zhongguo ren de bai nian da meng (Der große

Traum der Chinesen), online: www.ddbc.org/gospel/sky/revel-1.htm (23. 7. 2010).16 ❙ Jiang Rong, Lang tu teng, Peking 20082, S. 148.

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Olympischen Spiele eingefangen hat: Ein Land, das zum ersten Mal sportlich die USA bezwingen und somit ein wenig „Wolfsna-tur“ im Sinne Jiang Rongs zeigen konnte. Noch stärker aber beeindruckte den Korres-pondenten, dass er den alten amerikanischen Pioniergeist des 19. und 20. Jahrhunderts, „the optimism, dynamism, the patriotism, the cando-spirit, the determination to leave the next generation better off than one’s own“, ❙17 im China des 21. Jahrhunderts wie-derfinden konnte.

Im Gegensatz dazu messen einige chine-sische Autoren den „Chinesischen Traum“ eines wirtschaftlich, politisch und kulturell erstarkten Landes eher an den Bedürfnissen des Alltags: In der Verbesserung adäqua-ter Bildungsangebote für eine breite Masse junger Menschen ❙18 als große Hoffnung ei-ner bildungsorientierten Gesellschaft, die China immer war, werde der „Chinesische Traum“ wach gehalten. Ein anderer chine-sischer Autor zeigt sich gar äußerst kritisch gegenüber dem Konstrukt des „Chinesi-schen Traums“ als das kollektive Streben ei-nes Staates, endlich die Demütigungen der Vergangenheit zu überwinden. Für ihn ist diese Art des „Chinesischen Traums“ derje-nige einer privilegierten Ober- und Mittel-schicht des Landes, die ihre Verantwortung für das „Kollektiv“ nie gefunden habe. Die armen Schichten der Bevölkerung blieben davon völlig ausgenommen. Ein „Chinesi-scher Traum“ könne nur dann ein kollekti-ver sein, wenn die Privilegierten ihre Auf-gabe darin sähen, die Unterprivilegierten zu unterstützen. ❙19

Land zwischen Traum und Wirklichkeit

Ökonomisch und zunehmend auch politisch ist China wieder in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Allerdings teilt es diese Stel-

17 ❙ The Chinese Dream has replaced America’s, in: The Times vom 23. 8. 2008.18 ❙ Cherish the Chinese Dream, in: People’s Daily

Online vom 12. 2. 2009, online: http://english.peop-le.com.cn/90001/90780/6591151.pdf (23. 7. 2010).19 ❙ Vgl. Meiguo meng yu Zhongguo meng (Der ame-

rikanische und der „Chinesische Traum“), in: Guang-ming Wan (Guangming Netz) vom 17. 7. 2010, online: http://view.news.qq.com/a/20100717/000025.htm (23. 7. 2010).

lung vor allem mit den USA, die der einzige wirkliche Rivale um die Position des Primus sind, und ein wenig auch mit den Europä-ern, was künftig allerdings von der Einig-keit Europas abhängen wird. Wieder im kul-turellen Sinne „Reich der Mitte“ zu sein, nährt den „Chinesischen Traum“ neuer na-tionaler Größe.

Mit dem zwangsläufigen Niedergang der transatlantisch geprägten Weltordnung kommt dem alten und neuen „Reich der Mitte“ eine Schlüsselposition zu, dessen konkrete Auf-gaben der „Chinesische Traum“ kaum an-spricht: China muss zu einer der wichtigen Integrationskräfte für eine stabile Weltord-nung aus Ost und West, Nord und Süd wer-den. Die Funktion, die es im Kleinen bereits im Falle des Korea-Konflikts inne hat, gilt es zunehmend auch in anderen Spannungsbe-reichen zu erfüllen: die der friedlichen po-litischen Mittlerrolle. Gerade Chinas gute Beziehungen zum Iran und anderen Kon-fliktherden können einer wirklich integrati-ven Rolle Chinas in der Welt, einem neuen Verständnis als „Reich in der Mitte“, dienlich sein.

Die Zukunft liegt daher eher bei denen – sei es in Europa oder in China –, die er-kannt haben, dass ein friedliches Zusam-menleben „in der Mitte“ nur durch interna-tionale Kooperation Wirklichkeit werden kann. Zur weiteren Einbindung des Landes in multilateral-globale Organisationen, Ver-bände und Abkommen bedarf es einer Inter-nationalisierung des Landes (auch im Inne-ren) und Kooperationen von Chinesen und Nicht-Chinesen bei der Bewältigung chine-sischer Strukturprobleme beispielsweise in den Bereichen Bildung und Armutsbekämp-fung. Davor steht aber die Notwendigkeit für den Abbau der auf beiden Seiten propagier-ten kulturellen Dichotomie: „wir und die“, „unsere Kultur und ihre Kultur“. Wenn diese Art der Zusammenarbeit möglich wird, dann vergrößert sich die Chance, dass China auch international als ein „großartiges“ Land an-erkannt wird.

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Heinrich Kreft

Chinas Aufstieg – eine Herausforderung

für den „Westen“

Der Autor vertritt im Beitrag ausschließlich seine per-sönliche Meinung.

Der wirtschaftliche und in der Folge po-litische Aufstieg Chinas ist der Mega-

trend unserer Zeit. Wir sind Zeitzeugen einer geopolitischen Macht-verschiebung vom eu-ro-atlantischen Raum in die asiatisch-pazifi-sche Region mit China als neuem Machtzen-trum. Aus Warte der USA ist China der

einzige ernst zu nehmende zukünftige Riva-le. Daher sehen einige bereits eine neue Zeit der Bipolarität (G-2) heraufziehen – was nicht nur in Europa auf Skepsis und Ablehnung stoßen würde. Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Chinas im Jahr 1978 ist das „Reich der Mitte“ dank zumeist zweistelliger Wachstumsraten von der Peripherie ins Zen-trum der Weltwirtschaft gerückt. Im zweiten Quartal 2010 hat China gemäß eigener Sta-tistiken die Wirtschaftsleistung Japans über-troffen und sich hinter den USA als weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft etabliert. Chi-nas Anteil am Welthandel ist von unter einem Prozent vor 25 Jahren auf heute über sechs Prozent angestiegen. Das Land hat Deutsch-land im vergangenen Jahr als „Exportwelt-meister“ abgelöst. Das Pro-Kopf-Einkommen im Land konnte von 1980 bis 2008 mehr als verzehnfacht werden. Damit ist auch die Ar-mut im Lande signifikant zurückgegangen.

Als weltweit größter Halter von Devi-senreserven spielt China auch im Weltwäh-rungssystem eine immer wichtigere Rolle. Die wachsende Bedeutung Chinas auf den Weltfinanzmärkten wird dadurch deutlich, dass die ersten vier der zehn größten Ban-ken der Welt ihren Sitz im „Reich der Mit-te“ haben. Ausländische Direktinvestitionen strömen weiter in das Land – allein 2008 fast 150 Milliarden US-Dollar. Chinesische Fir-men sind in die Weltliga aufgestiegen und ex-portieren nicht nur, sondern treten auch zu-nehmend selbst als Investoren im Ausland

Heinrich Kreft Dr. phil., geb. 1958; Botschafter und Sonderbeauftragter für den

Dialog zwischen den Kulturen im Auswärtigen Amt.

[email protected]

auf (etwa 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2009). Durch die globale Finanz- und Wirt-schaftskrise ist die Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft weiter gestiegen. Während die Wirtschaftsleistung in den OECD-Län-dern 2009 deutlich schrumpfte, konnte Chi-na dank erheblicher Konjunkturspritzen sei-nen Wachstumskurs halten. In 2010 wird ein Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft von über neun Prozent erwartet, womit Chi-na wie schon im vergangenen Jahr der wich-tigste unter den wenigen verbliebenen Wachs-tumspolen der Weltwirtschaft sein dürfte.

Wachsender Einfluss Chinas in der Weltpolitik

Der ökonomische Aufstieg des Landes führt auch zu einem politischen: Das Land entwi-ckelt sich zu einer Macht mit nicht nur re-gionalen, sondern globalen Ambitionen. China ist ohne Zweifel eine Weltmacht im Werden. Nach Jahrzehnten relativer Isolation und der Konzentration auf die eigene wirt-schaftliche Entwicklung ist das Land seit den 1980er Jahren auf die Weltbühne zurückge-kehrt – mit schnell wachsenden Handelsbe-ziehungen zu immer mehr Ländern und seit der Jahrtausendwende auch mit wachsendem politischen, diplomatischen und kulturellen Einfluss. Damit einher gehen zunehmende Auslandsinvestitionen und Entwicklungs-hilfeprogramme vor allem in Afrika. Durch diesen Aufstieg werden für nahezu alle Staa-ten der Welt die bilateralen Beziehungen zu China immer wichtiger: Auch der aktuelle Auftragsboom für die deutsche Exportwirt-schaft wird insbesondere von der hohen chi-nesischen Nachfrage nach Investitionsgütern und Automobilen gespeist.

Chinas Aufstieg verändert die Welt

Der Aufstieg Chinas hat nicht nur ökonomi-sche und ökologische Folgen, sondern auch politische, geopolitische und sicherheitsrele-vante. Europa und die USA sehen sich immer mehr gezwungen, ihre Position in einer im-mer weniger euro-atlantisch geprägten Welt neu definieren zu müssen. Auch die gegen-wärtige geopolitische Lage in Asien wird vor

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allem durch das größere Engagement und den zunehmenden wirtschaftlichen, politisch-di-plo matischen, kulturellen und militärstrategi-schen Einfluss Chinas bestimmt. Durch sein wachsendes wirtschaftliches Gewicht, seine zunehmende soft power (wie kulturelle Anzie-hungskraft auf die asiatischen Nachbarn), sei-ne Stellung als Nuklearmacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Na-tionen (VN), sein Engagement in regionalen und multilateralen Organisationen ist ein chi-nesischer Beitrag zur Lösung vieler regionaler und globaler Fragen inzwischen unerlässlich.

Dennoch sind die USA nach wie vor der si-cherheitspolitische Stabilitätsanker Asiens und werden es auf absehbare Zeit bleiben, da dies im Interesse der meisten Staaten Asiens, wel-che wichtige regionale Verbündete der USA sind, ist. ❙1 Das Verhältnis zwischen den USA und China und damit zwischen der bisherigen Führungsmacht und dem aufstrebenden Land ist weltweit zur wichtigsten bilateralen Bezie-hung geworden, was weit reichende Auswir-kungen für andere Akteure mit sich bringt. Jedoch werden China und die USA auf lange Sicht sowohl Partner als auch Rivalen bleiben, so dass die Sorgen eines chinesisch-amerika-nischen Kondominiums (G-2 beziehungswei-se „Chinmerica“) auf Kosten Europas oder anderer keine reale Grundlage haben. ❙2

Wachsendes Gewicht in der Weltwirtschaft

Der Aufstieg Chinas bedeutet auch für die Weltwirtschaft tiefgreifende Veränderun-gen – obgleich diese de facto die Rückkehr zu den vorkolonialen Kräfteverhältnissen be-deuten. China hat heute wieder einen Anteil am Weltsozialprodukt wie schon vor etwa 200 Jahren. Der Aufstieg Chinas (und auch Indiens) verändert weltweit die ökonomi-schen und damit auch die politischen Kräf-teverhältnisse und Grundmuster nachhaltig. Mittlerweile gilt es als wahrscheinlich, dass

1 ❙ Vgl. Heinrich Kreft, Die USA – Stabilitätsanker für Asien?, in: Petermann Geographische Mittei-lungen, 148 (2004) 2, S. 32–37; ders., United States – Indispensable World Power, in: The World Today, (2009) 2, S. 11 ff. 2 ❙ Vgl. Elisabeth Economy/Adam Segal, The G-2 Mi-

rage. Why the United States and China Are Not Rea-dy to Upgrade Ties, in: Foreign Affairs, (2009) 5–6, S. 14–23.

China bereits 2035 – also erheblich früher als bisher angenommen – die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen könnte.

Trotz des Wachstumstempos der vergan-genen Jahre verfügt China aber erst über ei-nen Anteil von etwa sieben Prozent am Welt-bruttosozialprodukt gegenüber jeweils einem Drittel Europas und der USA. Doch bereits in 20 Jahren wird China seinen Anteil ver-dreifacht und damit zu Europa und den USA aufgeschlossen haben. Als Folge der rapiden Wirtschaftsentwicklung verfügt China nicht nur dank gewaltiger Exportüberschüsse über Rekorddevisenreserven von 2,4 Billionen US-Dollar, sondern ist in diesem Jahr auch zum größten Emittenten von klimaschädli-chen Gasen geworden. Die künftige Energie-politik Chinas wird einen prägenden Einfluss auf den globalen Klimawandel haben.

Trotz aller Dynamik darf nicht übersehen werden, dass China nach wie vor mit großen innenpolitischen Problemen konfrontiert ist, welche das weitere Wachstum negativ beein-flussen können. ❙3 Die schnelle Modernisierung des Landes geht mit einer Akzentuierung be-stehender innerer Widersprüche einher. Dazu gehören eine ständige Gratwanderung zwi-schen hohem Wachstum und Überhitzung, massive gesellschaftliche Ungleichgewich-te (große Wohlstandsunterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen Küstenpro-vinzen und Binnenland), bis zu 150 Millionen Wanderarbeiter und hohe Arbeitslosigkeit (in zunehmendem Maße auch unter Hochschul-abgängern) sowie die fortgesetzte Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen. Hinzu kom-men die Zunahme sozialer Proteste, Probleme bei der Implementierung von Politik und mo-dernem Recht sowie eine systemische Kor-ruption. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) tut sich immer schwerer damit, die Entwicklungen zu steuern und zu kontrollie-ren. Die Folge ist eine zunehmende Erosion der Legitimität der Partei. Ungeachtet der un-bestrittenen Erfolge der vergangenen 30 Jah-re und der wiederholt unter Beweis gestellten Anpassungsfähigkeit der KPCh bleiben daher Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit.

Allerdings muss anerkannt werden, dass China, das aufgrund seiner starken Export-

3 ❙ Vgl. Heinrich Kreft, China – Die soziale Kehrseite des Aufstiegs, in: APuZ, (2006) 49, S. 15–20.

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orientierung massiv von der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 betroffen war, die Finanzkrise in einem großen Kraftakt besser bewältigt hat als die USA, Europa oder andere Schwellenländer. Um der Wachs-tumsabschwächung zu begegnen, hat die chinesische Regierung Ende 2008 ein Kon-junkturprogramm von umgerechnet 586 Mil-liarden US-Dollar aufgelegt, das im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) 13 Prozent ausmachte. Damit hat China die Krise ge-nutzt, um den Rückstand seiner Volkswirt-schaft in puncto Größe und Entwicklungsni-veau gegenüber den OECD-Staaten merklich zu verringern.

Herausforderung für Europa und Deutschland

Für Europa und Deutschland bestehen die Herausforderungen zum einen darin, durch den politischen Aufstieg Chinas (und der an-deren BRIC-Staaten Brasilien, Russland und Indien) einen Verlust von Einfluss auf die glo-bale Agenda hinzunehmen. Besonders deut-lich wurde dieser Einflussverlust auf der Kli-makonferenz in Kopenhagen Ende des Jahres 2009. ❙4 Zum anderen bestehen sie in Faktoren, welche die politische Stabilität und Entwick-lung in Asien und darüber hinaus gefährden können wie die militärische Aufrüstung, die nicht zuletzt von China – mit entsprechenden Reaktionen in der asiatisch-pazifischen Regi-on – betrieben wird. Nach dem Mittleren Os-ten hat sich Asien zu der Region mit den am schnellsten wachsenden Rüstungsausgaben entwickelt, was bei den Regionalstaaten neue Bedrohungsperzeptionen und Sicherheitsdi-lemmas hervorgerufen und bestehende ver-tieft hat.

Sicherheitspolitisch könnte China die USA und ihre Verbündeten in Asien zukünftig he-rausfordern. Auf deutsche oder europäische Interessen haben Chinas Anstrengungen zur militärischen Modernisierung bisher zwar keinen direkten negativen Einfluss: China und die EU treten sich nicht als sicherheits-politische Konkurrenten oder geopolitische Rivalen gegenüber. Dennoch kann nichts im deutschen beziehungsweise europäischen In-teresse liegen, was die Gefahr eines militäri-schen Konflikts in Asien erhöhen würde, da

4 ❙ Vgl. dazu die APuZ Klimawandel, (2010) 32–33.

auch Europa aufgrund transnationaler Zu-sammenhänge und Dynamiken unweigerlich davon betroffen wäre.

Die ökonomischen Herausforderungen des Aufstiegs Chinas bestehen für Deutsch-land und Europa vor allem im davon ausge-henden Wettbewerbs- und Anpassungsdruck für unsere Volkswirtschaft und Gesellschaft, im unzureichenden Schutz geistigen Eigen-tums und dem ausgeprägten Druck der chi-nesischen Regierung auf ausländische Unter-nehmen zum Technologietransfer. Aber es darf auch nicht unterschlagen werden, dass deutsche Firmen vom Aufstieg Chinas über-durchschnittlich profitiert haben und weiter profitieren werden.

Konkurrenz um Energie und Rohstoffe

Die seit der Jahrtausendwende zu beobach-tenden Preissteigerungen für Energie, me-tallische Rohstoffe und Agrarprodukte – nur kurz von der Wirtschafts- und Finanzkrise unterbrochen – sind im Wesentlichen auf die gestiegene Nachfrage aus China zurückzu-führen. Der Anteil Chinas an der Weltnach-frage nach Basismetallen stieg von etwa fünf Prozent Anfang der 1990er Jahre auf heute 20 bis 25 Prozent. Insbesondere im Energie-bereich tritt China aufgrund seines schnell wachsenden Bedarfs (der Pro-Kopf-Verbrauch liegt bei nur einem Zehntel des europäischen Konsums) immer mehr als Wettbewerber auf, insbesondere um die Energievorräte im Na-hen Osten, Zentralasiens und Russlands und in zunehmendem Maße auch Afrikas und Lateinamerikas. Gleiches gilt für eine Rei-he metallischer Rohstoffe. ❙5 Das Engagement Chinas in Afrika sticht hervor. Dort ist Chi-na vielfach in das Vakuum vorgestoßen, das durch den Rückzug westlicher Unterneh-men entstanden war. Die Triebkraft des chi-nesischen Engagements in Afrika ist wirt-schaftlich motiviert, wobei die chinesische Afrikapolitik inzwischen sehr viel breiter an-gelegt ist. ❙6

5 ❙ Vgl. Heinrich Kreft, Die geopolitische Dimension der Ressourcensicherheit – eine wachsende Heraus-forderung für Deutschland und Europa, in: Sicher-heit + Frieden, (2009) 4, S. 225–231.6 ❙ Vgl. hierzu den Beitrag von Jin Ling in dieser Aus-

gabe.

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Ordnungspolitische HerausforderungChina ist zwar erst eine globale Macht im Werden, entfaltet jedoch bereits weltpoli-tisches Gewicht. Aufgrund seiner Stellung als VN-Vetomacht und Führungsmacht der Schwellen- und Entwicklungsländer sowie seines wachsenden Einflusses in multilate-ralen Strukturen ist ein chinesischer Beitrag zur Lösung vieler globaler Fragen inzwi-schen unerlässlich. Allerdings ist die chine-sische Regierung bislang nur zögernd bereit, sich dieser wachsenden globalen Verantwor-tung zu stellen. Eine positive Ausnahme ist Chinas Engagement zur Beilegung der Nu-klearkrise mit Nordkorea, seine Beteiligung an VN-Friedensmissionen und die jüngs-te Entscheidung, Sanktionen gegen den Iran nicht zu verhindern.

Mit China steigt ein nicht-demokratischer, nicht-liberaler Staat in der weltwirtschaftli-chen und weltpolitischen Hierarchie auf, der sich in Konkurrenz zum Westen zu einem ei-genen ordnungspolitischen Modell für ande-re Staaten entwickeln könnte. China hat in den vergangenen 30 Jahren ein Entwicklungs- und Modernisierungsmodell geschaffen, wel-ches bisher außerordentlich erfolgreich ist und pragmatische Anpassungen zulässt: Autoritä-re politische Führung wird kombiniert mit staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus. Hier-bei darf aber nicht außer Acht gelassen wer-den, dass China aufgrund seiner Größe und Geschichte und nicht zuletzt aufgrund seiner im Vergleich zu europäischen Staaten spät be-gonnenen Reform- und Öffnungspolitik eine Ausnahme darstellt. Zudem hat die sich be-schleunigende Globalisierung seit den 1990er Jahren erheblich zum Erfolg Chinas beigetra-gen. Der Beweis steht deshalb noch aus, ob das „chinesische Modell“ auch langfristig eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen kann.

Ohne Zweifel besitzt das „chinesische Mo-dell“ in einigen Entwicklungsländern eine ge-wisse Attraktion und mindert damit zugleich die Anziehungskraft westlich-liberaler Ord-nungsprinzipien. China unterhält aus einem engen wirtschaftlichen Interesse heraus die in-tensivsten Beziehungen einer Großmacht zu einer Vielzahl wegen ihrer Menschenrechts-verletzungen weltweit geächteter Regime wie Simbabwe, Sudan, Birma/Myanmar und Nordkorea und ist zudem eine enge Koopera-tion mit Hugo Chávez in Venezuela und an-

deren links-populistischen Regimes in Latein-amerika eingegangen. Dieses bleibt nicht ohne Auswirkungen auf westliche Anstrengungen, im Rahmen der internationalen Entwicklungs-kooperation Demokratie und Krisenpräven-tion zu fördern. Die hohen Devisenreserven erlauben es der chinesischen Regierung, Ent-wicklungsländern günstige Kredite anzubie-ten – ohne die im Rahmen westlicher Ent-wicklungskooperation etablierten Sozial-, Umwelt-, Transparenz- und Menschenrechts-auflagen beachten zu müssen. China scheint dem Westen damit in zunehmendem Maße die Systemfrage zu stellen und sich als alternatives politisches Ordnungsmodell zu projizieren. Selbst in krisengeschüttelten westlichen In-dustrieländern hat das „chinesische Modell“ in jüngster Zeit Sympathien gewonnen. ❙7

Sozioökonomischer Anpassungsdruck und Verschärfung des Wettbewerbs

Der Aufstieg Chinas löst in anderen Welt-regionen einen sozioökonomischen Anpas-sungsdruck aus. So sind in der chinesischen Industrie über 100 Millionen Arbeitskräf-te beschäftigt und damit etwa so viele wie in den 14 größten OECD-Ländern zusammen. Weitere 100 bis 120 Millionen chinesische Ar-beitskräfte verfügen über vergleichbare Qua-lifikationen und könnten in den kommenden Jahren zusätzlich in den Industriesektor hi-neinwachsen. Angesichts dieser Situation ist es unwahrscheinlich, dass die Lohnkosten in China rasch steigen werden – auch wenn der Trend in jüngster Zeit (aufgrund vereinzel-ter Lohnstreiks) in diese Richtung zu gehen scheint. Die chinesischen Exporte setzen in ei-ner steigenden Anzahl von Branchen die In-dustrieunternehmen in Europa, in den USA und anderen Industrieländern – aber auch Schwellenländern – unter enormen Kosten-druck. Zwar findet nur in Ausnahmefällen eine direkte Verlagerung von Arbeitsplätzen nach China statt, doch schaffen etliche west-liche Großunternehmen mehr Arbeitsplätze in China (und anderen asiatischen Standorten) als an ihren Heimatstandorten. Im Blick blei-

7 ❙ Vgl. Roger C. Altman, Globalisation in Retreat. Further Geopolitical Consequences of the Financi-al Crisis, in Foreign Affairs, (2009) 7–8, S. 2–7; John Ikenberry, The Rise of China and the Future of the West. Can the Liberal System Survive?, in: Foreign Affairs, (2008) 1–2, S. 23–37.

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ben sollte bei diesem Aspekt aber auch, dass hierbei häufig die Erschließung neuer Wachs-tumsmärkte im Vordergrund steht und weni-ger die Senkung der Arbeitskosten.

China holt auch technologisch auf

Dank steigender Qualifikation seiner Arbeits-kräfte und rascher technologischer Lernpro-zesse wird der Kostendruck inzwischen auch in technologieintensiven Branchen spürbar. In China gibt es etwa vier Millionen Hoch-schulabgänger pro Jahr mit steigender Ten-denz – darunter 600 000 Ingenieure, von de-nen allerdings nur etwa ein Drittel eine mit deutschen Ingenieuren vergleichbare Quali-fikation erworben hat. Allerdings steigt auch das Niveau chinesischer Universitäten weiter an: Inzwischen verlagern Großunternehmen Teile ihrer Forschungs- und Entwicklungs-abteilungen nach China, um sich den Zugang zu den kostengünstigen Talentpools Chinas zu sichern. China rückt damit zunehmend ins Zentrum globaler Innovationsnetzwerke.

Die Ansiedlung von Forschungs- und Ent-wicklungseinrichtungen wird von der chi-nesischen Regierung massiv gefördert. Chi-na ist bislang zwar lediglich in sehr wenigen Bereichen in die Weltspitze vorgedrungen, allerdings beginnen sich die zunehmenden staatlichen Investitionen in die Innovationsfä-higkeit chinesischer Unternehmen auszuzah-len. Noch ist Deutschland das „Land der Ide-en“ und die deutsche Verflechtung zwischen Industrie und industrienaher Forschung vor-bildlich – doch auch hier holt China auf.

Produktpiraterie und Marktbarrieren

Der unzureichende Schutz geistigen Eigen-tums (Intellectual Property Rights, IPR) ist immer noch einer der großen Herausforde-rungen westlicher Unternehmen im „China-Geschäft“. Sie verlieren in China jedes Jahr Milliardenbeträge durch Produktpiraterie. ❙8 Durch die erheblichen Investitionen deutscher und europäischer Unternehmen in China, die überwiegend in Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures) eingebracht werden, besteht

8 ❙ Allein für deutsche Unternehmen entsteht ein jährlicher Schaden in Höhe von 30 Milliarden Euro. Vgl. Financial Times vom 8. 6. 2010.

die Gefahr einen unbeabsichtigten Technolo-gie- und Wissenstransfers zugunsten Chinas. Westliche Firmen müssen verstärkt darauf ach-ten, dass sie bestehende „Lücken“ im Patent-schutz rechtzeitig schließen. China hat inzwi-schen ein gesetzliches Regelwerk zum Schutz geistigen Eigentums geschaffen, welches den Standards der Welthandelsorganisation ent-spricht, allerdings mangelt es an seiner Um-setzung. Da jedoch inzwischen die Mehrzahl der IPR-Fälle vor chinesischen Gerichten zwi-schen chinesischen Firmen ausgetragen wird, steigt auch in China das Interesse an einem ef-fektiven Schutz gegen Produktpiraterie.

Ein größeres Problem ergibt sich allerdings in der immer ausgeprägteren chinesischen In-dustriepolitik mit der gezielten Förderung „na-tionaler Industrien“ (wie des Automobilsek-tors) und mit dem anhaltenden „Zwang zum Technologietransfer“. Dieser hat im Wesentli-chen drei Komponenten: einen erzwungenen Technologietransfer im Gegenzug für die Be-teiligung ausländischer Firmen an öffentlichen Aufträgen; einen erzwungenen Technologie-transfer durch die Verpflichtung, zugewiesene chinesische Joint-Venture-Partner zu akzep-tieren und diesen den Zugang zur Technologie zu eröffnen; und die Bedingung, genaue Engi-neering- und Baupläne für Investitionsgeneh-migungen beziehungsweise Firmengründun-gen gegenüber einer staatlichen Behörde offen zu legen. Während chinesische Unternehmen damit begonnen haben, europäische Automo-bilhersteller zu übernehmen (wie Volvo), wer-den ausländische Autofirmen in China noch immer in Joint Ventures mit einer 50-prozen-tigen Teilhabe eines chinesischen Partners ge-zwungen – wie vor 30 Jahren. ❙9

Herausforderungen durch China anerkennen

Während in den USA, Japan und Australi-en seit Jahren eine breite Diskussion über die Herausforderungen und Chancen, die mit dem Aufstieg Chinas verbunden sind, ge-führt wird, fehlt diese in Deutschland und Europa weitgehend. Dabei ist es nicht zuletzt auf dem Weltklimagipfel in Kopenhagen, als Europa mit seiner Position isoliert war, deut-

9 ❙ Vgl. EU Chamber of Commerce in China, Euro-pean Business in China, Positionspapier, 2009/2010, Peking 2009.

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lich geworden, dass wir eine strategische De-batte darüber brauchen, wie wir mit dem Aufstieg Chinas und anderer Schwellenlän-der umgehen sollten.

Aus deutscher Sicht müssen wir dringend die beiden traditionellen Pfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – die transat-lantischen Beziehungen und die europäische Integration – um die euro-asiatische Dimen-sion erweitern. Deutschland und Europa brauchen eine vielschichtige China- und Asi-enstrategie, die sich in ihrer Breite und Tiefe an den transatlantischen Beziehungen orien-tiert. So, wie es sich heute kaum mehr ein Un-ternehmen erlauben kann, die Entwicklungen in China nicht in all ihren Facetten zu beob-achten, müssen wir in der Außen-, Außen-wirtschafts-, Entwicklungs- und Sicherheits-politik, aber auch in unserer Bildungspolitik China und die anderen asiatischen Aufstei-ger mit einbeziehen. China ist inzwischen ein Partner und Wettbewerber auf Augenhö-he. Dem wachsenden Konkurrenzdruck aus China kann und darf nicht mit protektionis-tischen Maßnahmen begegnet werden, denn damit würde Europa sich von der Dynamik Chinas abkoppeln und den eigenen ökonomi-schen Niedergang einleiten.

Vielmehr gilt es, der Herausforderung für die europäische Wettbewerbsfähigkeit mit ei-ner neuen Wettbewerbsstrategie zu begegnen und an die Dynamik Chinas und seiner asi-atischen Nachbarn anzukoppeln. Es spricht vieles dafür, dass sich das Kraftfeld globalen Wachstums dauerhaft vom euro-atlantischen Raum nach Asien mit China als Zentrum ver-lagert hat.

Der Aufstieg Chinas und Asiens verlangt eine grundsätzliche Neuorientierung Eu-ropas. Die Neuausrichtung der USA vom transatlantischen zum asiatisch-pazifischen Raum ist spätestens seit dem Ende des Kal-ten Krieges im Gange. Während China in sei-ner wirtschaftlichen Bedeutung für Europa schnell wächst, sinken die Möglichkeiten Europas, dort Einfluss zu nehmen. Die EU – wie auch Deutschland – muss eine Strate-gie entwickeln, um ihren Interessen in Asien mehr Gewicht zu verleihen. Dazu müssen die Europäer ihre gemeinsamen Interessen und Werte eindeutig formulieren, aber auch alle Bereiche europäischer Politik – Bildung und Forschung, Arbeitsmarkt, Technologie und

Raumfahrt, Finanzen und Energie – müssen auf die globale Wettbewerbsfähigkeit abge-stellt werden. Zudem ist es wichtig, bestehen-de Dialogforen wie die EU-China-Gipfel und multilaterale Foren wie ASEM (Asia-Europe Meeting) weiter auszubauen. Oberste Maxi-me muss es sein, das partnerschaftliche Ver-hältnis zu China weiterzuentwickeln.

Gerade die Finanzkrise hat gezeigt, wie wichtig der chinesische Markt für die euro-päische, insbesondere die deutsche Exportin-dustrie ist. Deutsche Unternehmen gehören zu den größten ausländischen Investoren und Technolgiegebern in China. Die wirtschaftli-che Vernetzung zwischen Europa und China muss aber deutlich enger werden. Dazu gehö-ren auch Investitionen chinesischer Firmen in Europa und die Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs.

Neben der wirtschaftlichen sollte auch die politische und sicherheitspolitische Vernet-zung zwischen Europa und China ausgebaut werden. Die Erhaltung von Stabilität und Sicherheit in China und seinen asiatischen Nachbarn ist auch für Europa von großer Be-deutung. Eine nachhaltige Entwicklung und Stabilität dürfte auch in Asien nur unter den Bedingungen von Partizipation und der Wah-rung von Menschenrechten erreicht werden.

Deutschland und Europa treten für eine bessere Integration Chinas in die bestehen-den internationalen Strukturen ein und stre-ben Partnerschaften zur Durchsetzung von Anliegen an, die nur im globalen Rahmen sinnvoll umgesetzt werden können, wie der Ressourcen- und Klimaschutz. Wenn die EU als außenpolitischer Akteur gestärkt und die euro-chinesischen Beziehungen ausgebaut werden, bleibt Europa auch für die USA, de-ren Ausrichtung auf Asien sich weiter inten-sivieren wird, ein relevanter Partner.

Größere Machtverschiebungen zwischen Staaten oder Regionen sind selten, und da, wo es in der Geschichte dazu gekommen ist, sind diese in den wenigsten Fällen friedlich verlau-fen. Es ist daher eine große gemeinsame Auf-gabe Chinas, den USA, Europas und anderer relevanter Akteure, das jeweils in ihrer Macht stehende beizutragen, dass diese geopolitische Machtverschiebung friedlich verläuft.

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Jin Ling

Gemeinsam mehr. st

Wege für eine chine-sisch-europäische Zusammenarbeit

t

in Afrika?

Übersetzung aus dem Englischen von Georg Danck-werts, Bonn.

Chinas Engagement auf dem afrikanischen Kontinent ist bei chinesisch-europäi-

schen Treffen zu einem der wichtigsten The-men geworden. Auf dem 9. China-EU-Gipfel im Jahr 2006 wurde Afrika erstmals in der gemeinsamen Erklärung erwähnt: Beide Seiten verein-barten, Wege prakti-scher Zusammenarbeit in Afrika in Fragen

wie der Wirksamkeit von Entwicklungszu-sammenarbeit und dem Erreichen der Millen-nium-Entwicklungsziele zu finden. ❙1 Die Realität hat aber gezeigt, dass es angesichts unterschiedlicher Wahrnehmungen und Ein-schätzungen des Engagements der jeweils anderen Seite schwierig ist, über die verschie-denen Grundsätze hinweg eine wirkliche Zusam men arbeit zu beginnen.

Grundsätze und Prinzipien der Afrikapolitik Chinas

Anfang 2006 hatte China erstmals seine Stra-tegie für Afrika veröffentlicht und die offi-ziellen Grundsätze seiner Afrikapolitik dar-gelegt: (1) Aufrichtigkeit, Freundschaft und Gleichheit, (2) beiderseitiger Nutzen, Rezi-prozität (Prinzip der Gegenseitigkeit) und allgemeiner Wohlstand, (3) gegenseitige Un-terstützung und enge Koordinierung, (4) voneinander Lernen und Streben nach allge-meiner Entwicklung. ❙2 Im historischen Ver-gleich sind die vorgestellten Prinzipien um-fassender und strategie orientierter als die bis

Jin Ling Dr. phil., geb. 1975; Wissen-

schaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für EU-Studien am

China Institute of International Studies (CIIS), 3 Toutiao, Tai-

jichang, 100005, Peking/CHINA. [email protected]

dahin gültigen. Sie reflektieren nicht nur die Kontinuität der chinesischen Afrikapolitik, ondern auch Anpassungen an die veränder-en Rahmenbedingungen.

Vor diesem Hintergrund geht es im Folgen-den darum, durch eine Darstellung der Ent-wicklung von Chinas Engagement in Afrika das europäische Verständnis für dessen Hin-ergründe und Intentionen zu vergrößern. ❙3

Anschließend sollen aus chinesischer Sicht Folgerungen für eine Kooperation zwischen China und der EU diskutiert werden.

Kontinuität in den chinesisch-afrikani-schen Beziehungen: Aufrichtigkeit, Freund-schaft und Gleichheit. Im Grundsatzpapier von 2006 werden diese Prinzipien am stärks-ten betont. ❙4 Sie gelten als Fortführung der „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexis-tenz“, die seit spätestens 1954 offizielle Leit-linien der chinesischen Außenpolitik sind. Dazu gehören: (1) gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, (2) gegenseitiger Nichtangriff, (3) gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegen-heiten, (4) Gleichberechtigung und beidersei-tiger Nutzen sowie (5) friedliche Koexistenz. Auf dem 3. Gipfel des China-Afrika-Koope-rationsforums (Forum on China-Africa Co-operation, FOCAC) 2006 in Peking erklär-te der chinesische Staatspräsident Hu Jintao dazu: „Aufrichtigkeit und Freundschaft sind die solide Grundlage der Beziehungen zwi-schen China und Afrika, Gleichheit ist der Garant für gegenseitiges Vertrauen. Beide Seiten respektieren den Entwicklungsweg und die Angelegenheiten der jeweils ande-

1 ❙ Vgl. das Joint Statement of the Ninth EU-China Summit, online: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/september/tradoc_130360.pdf (12. 7. 2010).2 ❙ Vgl. Ministry of Foreign Affairs of the People’s Re-

public of China, China’s African Policy, online: www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx/t230615.htm, (12. 7. 2010); Presseerklärung der chinesischen Botschaft in Ber-lin, online: http://de.china-embassy.org/det/zgyw/t231002.htm (12. 7. 2010).3 ❙ Aus Platzgründen kann an dieser Stelle keine Dar-

stellung des Engagements der EU in Afrika stattfin-den. Vgl. hierzu das Online-Dossier der bpb, online: www.bpb.de/themen/Q525HK,0,0,Afrika_und_Europa.html (31. 8. 2010).4 ❙ Erstmals vorgestellt wurden diese Prinzipien vom

damaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai während seines ersten Besuchs in Afrika 1964.

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ren Seite.“ ❙5 Aufgrund ähnlicher historischer Erfahrungen mit dem Kolonialismus haben China und die Staaten Afrikas stets Sympa-thie füreinander gehegt, einander im Kampf für die nationale Befreiung unterstützt und einen freundschaftlichen Umgang miteinan-der gepflegt.

Durch die Verfolgung dieser Grundsätze gelang es China, viele „Herzen und Köpfe“ in den afrikanischen Staaten zu gewinnen. Denn im Gegensatz zu traditionellen „west-lichen“ Geberländern, die als „Retter und Be-schützer“ Afrikas auftraten, bestanden China und seine afrikanischen Partner auf Koopera-tion auf Augenhöhe: China stellte zwar An-gebote für die Entwicklung Afrikas zur Ver-fügung, jedoch ohne dass die Beziehungen einem „Geber-Empfänger“-Prinzip folgten, in dem sich afrikanische Staaten unterlegen fühlten. Wichtigstes Merkmal war beispiels-weise, dass die Angebote nicht konditioniert waren, was den afrikanischen Partnern grö-ßere Selbstständigkeit in der Umsetzung der Projekte verlieh. Da sie nicht an Vorgaben ge-bunden war, wirkte Chinas Hilfsleistung we-sentlich attraktiver für diejenigen Afrikaner, die lange Erfahrung damit haben, nicht res-pektiert zu werden.

Erweiterung der chinesisch-afrikanischen Beziehungen: beiderseitiger Nutzen, Rezi-prozität und allgemeiner Wohlstand. Wäh-rend des Kalten Krieges bezog sich „bei-derseitiger Nutzen“ noch hauptsächlich auf Chinas Wunsch, von der afrikanischen Sei-te politische Unterstützung auf internatio-naler Ebene zu bekommen. Heute dagegen, mit verändertem innenpolitischen Kontext und der neuen internationalen Position Chi-nas, hat sich der Bedeutungsinhalt stark er-weitert: Seit 1978, als China den Weg der Re-form und der politischen Öffnung einschlug, ist wirtschaftliche Entwicklung zur Haupt-aufgabe der chinesischen Gesellschaft ge-worden. Entsprechend wurden „beiderseiti-ger Nutzen, Gegenseitigkeit und allgemeiner Wohlstand“ zur zentralen Zielvorgabe für die Umgestaltung der Afrikapolitik Chinas, wobei sich „beiderseitiger Nutzen“ nunmehr weniger auf gegenseitige politische Unter-

5 ❙ Rede von Staatspräsident Hu Jintao bei der Er-öffnungszeremonie des FOCAC-Gipfels in Peking, 2006, online: www.focac.org/eng/ltda/dscbzjhy/SP32009/t606840.htm (12. 7. 2010).

stützung als vielmehr auf wirtschaftliche Zu-sammenarbeit bezieht.

Nach diesem Prinzip erkundete China ver-schiedene Wege, über reine Hilfslieferungen für Afrika hinaus nutzbringende Zusam-menarbeit zu fördern, wie durch das Instru-ment der konzessionären Darlehen, wel-ches die chinesische Regierung ab Mitte der 1990er Jahre einführte: Es wurden speziel-le Geldmittel bereitgestellt, um Anreize für Investitionen chinesischer Firmen in Afrika zu schaffen. 2006 wurden weitere Maßnah-men zur Förderung von Handel und Inves-titionen in Afrika vorgestellt wie der China-Afrika-Entwicklungsfonds, Zollfreiheit und die Einrichtung von Sonderzonen für Über-seehandel und wirtschaftliche Zusammenar-beit. Kurzum: Das Prinzip der Reziprozität bedeutet, dass China sich darum bemüht, ne-ben der Verfolgung von Eigeninteressen auch das Streben der afrikanischen Staaten nach wirtschaftlicher Entwicklung und Nationen-bildung zu unterstützen, auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in verschiedenen Formen zusammenzuarbei-ten und allgemeinen Wohlstand in China und Afrika zu fördern.

Verstärkt strategische Ausrichtung: Gegen-seitige Unterstützung und enge Koordinie-rung. Gegenseitige Unterstützung und enge Koordinierung als Zielsetzung der Afrikapo-litik Chinas bringt eine strategische Dimen-sion in die bilateralen Beziehungen. Sie zeigt nicht nur die gewachsene Bedeutung des af-rikanischen Kontinents in der Welt, sondern reflektiert auch die Tatsache, dass die chine-sisch-afrikanischen Beziehungen heute weit über bilaterale Fragen hinausgehen. Chi-na als das größte aller Entwicklungsländer und Afrika als der Kontinent mit der größ-ten Konzentration von Entwicklungsländern übernehmen immer wichtigere Rollen in der globalen Regierungsführung.

Wichtiger noch ist, dass der Wandel auch ein Spiegel der gemeinsamen Anliegen in der globalisierten Welt von heute ist. China und Afrika haben über ein halbes Jahrhundert ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen auf-gebaut, das für die heutige Zusammenarbeit in der globalisierten Welt eine solide Grund-lage bildet. Darüber hinaus teilen China und die afrikanischen Staaten als „Entwicklungs-länder“ die gleiche „Identität“ und stehen vor

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derselben Entwicklungsaufgabe, wenn auch mit verschiedenen Prioritäten. Angesichts ge-meinsamer Herausforderungen wie Frieden und Entwicklung sprechen China und Afrika gewöhnlich eine gemeinsame „Sprache“. So sehen beide Seiten beispielsweise den Klima-wandel zuerst einmal als ein Entwicklungs-problem an, das sie in ihrer Wirtschafts- und Industriepolitik einschränkt – und keine Ver-einbarung zu diesem Thema sollte auf Kos-ten des Rechts der Entwicklungsländer auf Entwicklung gehen. Die gleiche gemeinsame Sprache findet sich auch für Themen wie die Strukturreformen in internationalen Institu-tionen (beispielsweise innerhalb der Vereinten Nationen, VN) und die Doha-Runde (Ver-handlungen im Rahmen der Welthandelsor-ganisation zur Neustrukturierung des Welt-handels). Die Realität zeigt aber auch, dass China und Afrika aufgrund verschiedener Prioritäten nicht notwendigerweise zu allen internationalen Fragen gemeinsame Positio-nen einnehmen – was wiederum die Bedeu-tung von enger Koordinierung hervorhebt.

Alles in allem bilden die genannten Prinzi-pien das Fundament der Afrikapolitik Chi-nas. Sie lenken die bilateralen Beziehungen in die Richtung einer neuen strategischen Partnerschaft, die politisch gegenseitiges Vertrauen, wirtschaftlich eine für beide Sei-ten Gewinn versprechende Kooperation und kulturell Austausch und gemeinsames Ler-nen bedeutet.

Chinas Engagement im Wandel

China ist in Afrika kein Neuankömmling. Bereits seit der Gründung der VR ist es dort vertreten. Beide Seiten verbinden politische Beziehungen, regelmäßige hochrangige Be-suche und reger Austausch zwischen ihren Bevölkerungen. Heute genießen China und Afrika eine „Allwetterfreundschaft“. Rück-blickend lässt sich das Engagement in drei Phasen einteilen:

1950er Jahre bis 1978: Aufbau von Freund-schaft und Vertrauen. In dieser Phase wurde Chinas Afrikapolitik hauptsächlich vom in-ternationalen Kontext geprägt. Damals sah sich China einer eher konfrontativen Politik der westlichen Staaten gegenüber und muss-te neuen diplomatischen Spielraum gewin-nen, um auf internationaler Ebene als souve-

räner Staat seine Interessen durchsetzen zu können, während Afrika sich auf den Weg machte, Unabhängigkeit von Kolonialismus und Imperialismus zu erlangen. Beide Seiten standen vor gemeinsamen Aufgaben – Anti-kolonialismus, Antiimperialismus und An-tihegemonialsmus –, die gegenseitige Un-terstützung erforderten. In jener Zeit sagte Tansanias Präsident Julius Kambarage Nye-rere stets: „Die afrikanischen Staaten sind klein, schwach und arm und werden von den westlichen Staaten nicht respektiert. Nur ver-eint und mit der Unterstützung von Staaten wie China können wir unsere Rolle in der Welt aufwerten.“ ❙6 Zurückschauend können wir sagen, dass es in dieser Phase war, in wel-cher gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und ein solides Fundament für die heutigen Be-ziehungen gelegt wurden. Diese Phase kenn-zeichnete sich durch folgende Merkmale:

• Gegenseitige politische Unterstützung war für beide Seiten das wichtigste Ziel: Sie wurde aufgrund der ähnlichen Vergangen-heit als kolonisierte Länder und der ge-meinsamen Aufgabe der nationalen „Wie-dergeburt“ zum verbindenden Element. China unterstützte afrikanische Länder, die für ihre Unabhängigkeit kämpften, und Afrika unterstützte China in der Tai-wan-Frage. Ein Höhepunkt war die Un-terstützung, mit der Afrika der VR Chi-na im Jahr 1971 dazu verhalf, seinen Sitz in den VN zurückzuerlangen, den bis dahin die Republik China auf Taiwan inne hat-te. Der damalige Vorsitzende der Kommu-nistischen Partei Chinas Mao Zedong wird heute noch oft zitiert mit den Worten: „Es waren afrikanische Freunde, die uns in die VN beförderten.“

• Wirtschaftshilfe galt als eine Maßnahme der Freundschaft: Angesichts der gemein-samen Herausforderung, unterdrückten Völkern zur Unabhängigkeit zu verhel-fen, stand China in der Pflicht, trotz des großen wirtschaftlichen Drucks im eige-nen Land, Hilfe leisten zu müssen. Gegen Ende der 1970er Jahre erreichte Chinas Af-

6 ❙ Julius Kambarage Nyerere, South-South dialogue and development in Africa, in: Uhuru vom 23. 5. 1979. Zit. nach: Liu Hongwu, Thirty Years of Sino-Afri-can Relations: A Pivot in Reshaping the Structure of China’s Relations with the Outside World, in: Chi-nese Academy of Social Sciences (CASS), Journal of World Economics and Politics, (2008) 11, S. 82.

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rika-Hilfe einen Umfang von 2,476 Milli-arden US-Dollar, die in 36 afrikanischen Staaten mehr als 200 Projekte finanzierten. Höhepunkt war der Bau der Eisenbahnver-bindung zwischen Sambia und Tansania, die „Eisenbahn der Freiheit und Freund-schaft“, deren Kosten von 455 Millionen US-Dollar eigentlich weit über den Mög-lichkeiten Chinas lagen. ❙7

• „Bilaterale Freundschaft“ wurde zum Schlagwort der Afrikapolitik Chinas: We-gen seiner uneigennützigen Hilfe, beson-ders aber wegen der Leistungsfähigkeit der entsandten medizinischen Einsatzkräfte und anderer Entwicklungshelfer konnte sich China als Helfer in Afrika einen guten Namen machen.

Von 1978 bis 2000: Transformation der Bezie-hungen. Verglichen mit der ersten Phase wur-den die Beziehungen in dieser Phase haupt-sächlich von innenpolitischen Faktoren in China bestimmt. Seit 1978 begann das Land den Prozess der Reform und Öffnung. Wirt-schaftliche Entwicklung zur zentralen nati-onalen Aufgabe und dementsprechend wan-delte sich auch die Afrikapolitik Chinas von gegenseitiger politischer Unterstützung zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Allgemein wird diese Phase weithin als Transformati-onsphase der chinesischen Außenbeziehun-gen angesehen. ❙8 Die Transformation zeigte sich in folgenden Aspekten:

• Es gab eine Verschiebung der Schwerpunk-te in der Afrikapolitik von Politik hin zu wirtschaftlicher Entwicklung: Der neue Ansatz wurde erstmals vorgestellt vom damaligen Premierminister Zhao Ziyang während seines Afrikabesuchs im Dezem-ber 1982. Zhao stellte die vier Prinzipien (1) Gleichheit und beiderseitiger Nutzen, (2) Effektivität, (3) Vielfalt der Methoden und (4) gemeinsame Entwicklung vor. Da-bei reflektierten Gleichheit und beider-

7 ❙ Vgl. die Rede des Botschafters der Volksrepub-lik China in Südafrika Liu Guijin am South Afri-can Institute of International Affairs (SAIIA) am 25. 10. 2006 in Pretoria, online: http://za.china-em-bassy.org/eng/dsxx/dshd/t277443.htm (12. 7. 2010).8 ❙ Vgl. Li Anshan, On the Adjustment and Transfor-

mation of China’s African Policy, in: West Asia and Africa, (2006) 8, online: http://en.cnki.com.cn/Artic-le_en/CJFDTotal-XYFZ200608001.htm (12. 7. 2007) (englische Zusammenfassung).

seitiger Nutzen die Kontinuität der chi-nesischen Afrikapolitik, die anderen drei Prinzipien waren neue Elemente. Das Prin-zip der Effektivität kündigte den Wechsel von einer „Hilfe ohne Kostenkalkulation“ (im Sinne von eher punktuellen Hilfsleis-tungen) zu „nachhaltiger Hilfe“ an, und Vielfalt der Methoden bedeutete, das Ver-hältnis nicht mehr nur auf Hilfsleistungen zu gründen, sondern darüber hinaus auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus-zubauen – zu beiderseitigem Nutzen, was sich im Prinzip der gemeinsamen Entwick-lung widerspiegelte.

• Es kam zum Wechsel von hilfezentrierter wirtschaftlicher Kooperation (das heißt Wirtschaftsleistungen, die primär akute Missstände beheben sollten) zu einer für beide Seiten gewinnbringenden wirtschaft-lichen Kooperation: Auf seinem eigenen Entwicklungsweg hatte China die Erfah-rung gemacht, dass Hilfe von außen allein nicht zu Entwicklung führt. Daher erkun-dete man neue Wege, um mehr Geld und andere Ressourcen in die „durstigen“ afri-kanischen Märkte fließen zu lassen. 1992 führte China eine sozialistische Markt-wirtschaft ein. Drei Jahre darauf stellte es ein neues Finanzinstrument vor, konzes-sionäre Darlehen für chinesische Unter-nehmen. Die Kooperation hatte somit eine zweifache Intention: Auf chinesischer Seite wurde internationales Engagement chine-sischer Firmen gefördert, auf afrikanischer Seite wurden finanzielle Lücken geschlos-sen, welche bis dahin Investitionen in die wirtschaftliche Infrastruktur verhinder-ten. Daneben wurde der bilaterale Handel ausgebaut.

• Der Aufbau einer zukunftsorientierten mehrdimensionalen Partnerschaft wurde vorangetrieben: Obwohl der Schwerpunkt auf der wirtschaftlichen Kooperation lag, gestalteten sich die chinesisch-afrikani-schen Beziehungen während der 1990er Jahre zunehmend umfassender und zu-kunftsorientierter. Seither hat China gro-ßen Wert auf politischen und kulturellen Austausch gelegt. So ist Afrika seit 1996 stets das erste Ziel von Auslandsreisen des chinesischen Außenministers gewesen. Und um afrikanischen Diplomaten China näher zu bringen, lädt die chinesische Re-gierung regelmäßig Vertreter der diploma-tischen Korps zur Teilnahme an Symposien

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und zum Meinungs- und Erfahrungsaus-tausch über Entwicklungsthemen ein.

Von 2000 bis heute: strategische, umfassen-de und gereifte Beziehungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich die bilateralen Beziehungen als gereift, strategisch und um-fassend beschreiben. Nach über einem halben Jahrhundert sind sie in eine neue Phase einge-treten, die alle Ebenen und Themenbereiche einschließt. Zentrales Zeichen dieser gereif-ten Beziehungen sind die bewährten und ins-titutionalisierten Instrumente des China-Af-rika-Kooperationsforums (FOCAC), die eine effektive Plattform für eine routinierte Zu-sammenarbeit bieten. Weitere Kennzeichen dieser Phase sind folgende Wesensmerkmale:

• Die sich weiterentwickelnden chinesisch-afrikanischen Beziehungen gelten aus der Warte Chinas als strategische Partner-schaft im Rahmen der Süd-Süd-Beziehun-gen: Noch auf dem 1. FOCAC-Gipfel im Jahr 2000 in Peking wurde das Verhältnis als eine „langfristige und stabile Partner-schaft“ beschrieben; ❙9 auf dem Gipfel von 2006 ging es einen Schritt weiter zur „stra-tegischen Partnerschaft neuen Typs zwi-schen China und Afrika“. ❙10 Stärkster In-dikator für diesen Trend ist das steigende Handelsvolumen zwischen beiden Seiten: Während es im Jahr 1998 bei 5,5 Milliarden US-Dollar und im Jahr 2000 bei zehn Milli-arden US-Dollar lag, waren es 2005 bereits knapp 40 Milliarden und einer jährlichen Steigerungsrate von 30 Prozent. Für die chinesische Wirtschaft sind die Rohstoffe aus Afrika überlebensnotwendig und afri-kanische Märkte wichtige Absatzmärkte, während China zu einem bedeutenden In-vestor auf dem Kontinent aufgestiegen ist.

• Es findet eine rasante Ausdehnung der bi-lateralen Beziehungen statt, die alle Seiten, Ebenen und Sektoren einschließt: Neben einer Expansion in Handel und Wirt-schaftsbereichen sowie einer zunehmen-den Koordinierung der Positionen in der

9 ❙ Vgl. Beijing Declaration of the Forum on Chi-na-Africa Cooperation vom 12. 10. 2000, online: www. focac.org/eng/ltda/dyjbzjhy/DOC12009/t606796.htm (13. 7. 2010).10 ❙ Vgl. Declaration of the Beijing Summit of the Fo-

rum on China-Africa Cooperation vom 5. 11. 2006, on-line: www.focac.org/eng/ltda/dscbzjhy/DOC32009/t606841.htm (13. 7. 2010).

Sicherheits- und internationalen Politik ha-ben China und die afrikanischen Staaten sich dazu entschieden, auch ihre „Zusam-menarbeit in Wirtschaft, Handel, Finan-zen, Landwirtschaft, Gesundheitsfürsor-ge und Gesundheitswesen, Wissenschaft und Technologie, Kultur, Ausbildung, Entwicklung und Förderung des Arbeits-kräftepotenzials, Transport, Umwelt, Tou-rismus und anderen Bereichen energisch weiter auszubauen“. ❙11 Das spiegelt sich im Anstieg der chinesischen Präsenz in Afrika wider.

• Ausgereifte Mechanismen garantieren lang-fristige und nachhaltige Beziehungen: Inzwischen haben sich die chinesisch-afrikanischen Beziehungen durch Koope-rationsmechanismen auf verschiedenen Ebenen zu Routineabläufen entwickelt. Dazu gehören beispielsweise abwechselnd in China und Afrika stattfindende Mi-nistertreffen alle drei Jahre und Treffen hochrangiger Funktionäre alle zwei Jahre. Außerdem wurden zwischen China und afrikanischen Staaten zur weiteren Regu-lierung der Zusammenarbeit zahlreiche bi-laterale Vereinbarungen unterzeichnet.

Folgerungen für die chinesisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika

Sowohl in den politischen als auch akademi-schen chinesisch-europäischen Debatten über Afrika herrscht Konsens darüber, dass bei-de Seiten im Hinblick auf Friedenssicherung, Sicherheit, nachhaltige Entwicklung und die Garantie des ownership der afrikanischen Staaten (das heißt ihrer Eigenverantwortung und Beteiligung an entwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen) ähnliche Ansichten vertreten. Jedoch gibt es darüber, wie diese Ziele zu erreichen sind, nach wie vor Mei-nungsverschiedenheiten, die eine umfassen-de Zusammenarbeit zwischen China und der EU in Afrika blockieren. Europäische Kri-tik zielt vor allem auf die nicht konditiona-lisierte Hilfsleistung Chinas. Hinzu kommt, dass eine Reihe von Fehleinschätzungen und Vorurteilen über die Afrikapolitik der jeweils anderen Seite bestehen, die regelmäßig zu Misstrauen und Missverständnissen führen. Angesichts dessen ist es an der Zeit, die Ein-

11 ❙ Ebd.

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schätzung beiseite zu schieben, dass es hier primär um Systemkonkurrenz ginge, und sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren.

Logik hinter der Afrikapolitik der jeweils anderen Seite verstehen: Die verschiedenen Ansätze in der Afrikapolitik der EU und Chinas widersprechen sich nicht notwendi-gerweise. Die Differenzen rühren von den jeweils unterschiedlichen Entwicklungsmo-dellen, Entwicklungsstufen und verschiede-nen Erfahrungen in der Entwicklungshilfe in Afrika her. Allgemein gesprochen, ist die Politik Chinas als Entwicklungsland eher auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerich-tet, während die EU sich eher institutionellen Reformen und der Politik zuwendet. Beide sind sich jedoch darin einig, dass keine äuße-re Macht das Patentrezept für Afrikas Pro-bleme besitzt, und dass Entwicklung niemals allein von außen bewirkt werden kann. So-wohl die EU als auch China bieten verschie-dene Entwicklungsmodelle und Erfahrungen mit Entwicklung an, die für Afrika nutzbrin-gend sein können.

Selbstkritik gegenüber der eigenen Afrika-politik: Um dem Ziel der Entwicklung Af-rikas besser zu dienen, müssen sowohl Chi-na als auch die EU einen selbstkritischeren Standpunkt gegenüber ihren jeweiligen Stra-tegien für Afrika einnehmen. Beide Ansät-ze stehen kurzfristig und langfristig vor be-stimmten Problemen. Für die europäischen Staaten bestehen die Herausforderungen in den Fragen, wie sie als ehemalige Kolonial-herren ihr Image als ein Partner „auf Augen-höhe“ in Afrika wiederherstellen und wie sie ihre eigenen politischen Ziele mit den Erfor-dernissen für die wirtschaftliche Entwick-lung Afrikas in Einklang bringen, das heißt sicherheits- und entwicklungspolitische Ziel-konflikte auflösen können. Dabei muss über zwei Fragen ernsthaft nachgedacht werden: Warum ist für afrikanische Partner das Thema der Souveränität so wichtig? Warum kommt es zu so großen Missverständen, was die Um-setzung des ownership-Prinzips angeht: Wie kann es sein, dass die EU das Prinzip ange-wandt sieht, während viele afrikanische Part-ner sich bei den Entscheidungsprozessen im Rahmen der Hilfsprojekte nicht beteiligt be-ziehungsweise involviert fühlen?

Für China sind die wichtigsten Herausfor-derungen folgende: Chinesische Firmen sind

bekannt und werden geschätzt für ihre schnel-len Lieferungen, was vor allem an der Ar-beitseffizienz und -kapazität in chinesischen Betrieben liegt. Problematisch ist allerdings, dass kaum Kapazitäten vor Ort (das heißt in den afrikanischen Staaten) aufgebaut oder die lokalen Arbeitsmärkte gestützt werden und auch kaum Technologietransfer stattfindet. Wie können daher die verschiedenen chine-sischen Akteure in Afrika am besten koordi-niert werden, besonders was die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards anbetrifft? Und eine grundsätzliche Frage: Wie können Dialogmechanismen auf der Ebene der Af-rikanischen Union und ihrer Mitgliedstaa-ten angestrebt werden, ohne das Prinzip der Nichteinmischung zu verletzen?

Pragmatische und flexible Kooperation

Ein Blick auf die Herausforderungen zeigt, dass beide, sowohl China als auch die EU, verschiedene Vorteile in ihrem Vorgehen, aber auch Erfahrungsschätze und Wissensbe-stände haben; diese könnten in institutionali-sierten Austauschmechanismen systematisch zusammengeführt werden. Bei der Konzepti-on einer möglichen Zusammenarbeit müssen praktische, pragmatische und flexible Vor-gehensweisen gefunden werden. Man könn-te zunächst mit gemeinsamen Forschungs-programmen beginnen, an denen Mitglieder aus China, der EU und Afrika beteiligt sind. Gemeinsame Forschung bietet außerdem die Gelegenheit, Defizite beim Fachwissen zu überbrücken und durch mögliche Feldstudi-en zu umfassenden und ausgewogenen Beur-teilungen der jeweils anderen Strategie zu ge-langen. Zweitens würde ein wichtiger Ansatz zur Förderung des Erfahrungsaustauschs da-rin bestehen, dass auf der Ebene der Politik-gestaltung Möglichkeiten zur Einrichtung von Austauschprogrammen für die Funktio-näre aus involvierten Fachbereichen geprüft werden. Drittens sollte, sobald ein bilateraler oder multilateraler Rahmen geschaffen ist, praktische Zusammenarbeit in weniger um-strittenen Bereichen wie Gesundheit und Ar-beitskräftequalifizierung beginnen. Jede Art von Erfahrungsaustausch muss jedoch un-ter den Prinzipien von Vielfältigkeit, gleicher Augenhöhe und gegenseitigem Respekt statt-finden.

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Herausgegeben vonder Bundeszentralefür politische BildungAdenauerallee 8653113 Bonn

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Redaktionsschluss dieses Heftes:17. September 2010

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ISSN 0479-611 X

APuZNächste Ausgabe 40/2010 · 4. Oktober 2010

Intellektuelle

Károly MéhésDie Intellektuellen und Europa

Dietz Bering„Intellektueller“: Schimpfwort, Diskursbegriff, Grabmal?

Barbara VinkenDie Intellektuelle: gestern, heute, morgen

Dorothea WildenburgSartres „heilige Monster“

Friedrich Wilhelm GrafPropheten moderner Art?

Hauke BrunkhorstDie Macht der Intellektuellen

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APuZ 39/2010China

Thomas Heberer

3–9 Chinas zivilgesellschaftliche EntwicklungEine funktionierende Zivilgesellschaft braucht „Bürger“. Der chinesische Staat versucht Bürgersinn und -moral als zentrale Charakteristika von Bürgern zu schaffen. Er erweist sich hierin als Entwicklungsagentur.

Tobias ten Brink

9–15 Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende?Wer die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft verstehen will, muss sich mit den Besonderheiten dieses Systems auseinandersetzen. Dabei werden Entwicklungs-dynamiken und Widersprüche sichtbar, die den weiteren Erfolg behindern können.

Anja-Désirée Senz

15–22 Nationale Minderheiten zwischen Anpassung und AutonomieChina ist ein multiethnischer Staat mit offiziell 56 ethnischen Gruppen. Seine Na-tionalitätenpolitik setzt auf kulturelle Anpassung. Doch haben sich im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik für die Minderheiten neue Freiräume ergeben.

Gerhard Paul

22–29 Geschichte des Mao-Porträts und seiner globalen RezeptionDas Mao-Porträt zählt zu den am meisten reproduzierten Herrscherbildern. Als Kultobjekt der internationalen Studentenbewegung und Gegenstand der zeitge-nössischen Kunst trug es zur globalen Mythologisierung Maos bei.

Marcus Hernig

29–33 Zur Aktualität chinesischer MythenAusgehend vom Begriff des Mythos als kollektive Aussage stellt der Beitrag zwei bedeutende Mythen Chinas vor, die eng miteinander verknüpft sind: den Mythos vom „Reich der Mitte“ und den Mythos des „Chinesischen Traums“.

Heinrich Kreft

35–40 Chinas Aufstieg – eine Herausforderung für den „Westen“Der Aufstieg Chinas führt zu einer Machtverschiebung vom euro-atlantischen Raum nach Asien mit China als neuem Machtzentrum. Auf diesen Wettbewerb muss sich der „Westen“ politisch und ökonomisch besser einstellen.

Jin Ling

41–46 Chinesisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika?Chinas Präsenz in Afrika wird in der EU mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Trotz unterschiedlicher Ansätze entwickeln sich Potenziale für eine chinesisch-europäische Kooperation auf Augenhöhe mit den afrikanischen Partnern.