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Jahrgang 24 · Seiten 193 – 240 ISSN 1862-0469 · E 7250 F 5/2006 Arbeitsförderung Grundsicherung Sozialhilfe Rechtsentwicklung Rechtsschutz Aus dem Inhalt Aufsätze Ute Winkler, Der neue Gründungszuschuss 195 Manfred Hammel, Unbegrenzte Vorlage von Kontoauszügen als Voraussetzung für die (Weiter-)Bewilligung von Arbeitslosen- geld II 201 Daniel Herbe, Martin Wallbruch, Keine Beratungshilfe im Sozialrecht? 206 Entscheidungen zur Arbeitsförderung (SGB III): Erstattung von Insolvenzgeld, Förderung der Arbeitsaufnahme, Sperrzeit nach befristetem Arbeitsverhältnis 209 Entscheidungen zur Grundsicherung für Arbeit- suchende (SGB II): Schwerwiegende soziale Gründe bei U 25, EU-Ausländer als Anspruchs- berechtigte, Aufwendungen für Familienfeier 221 Statistik-Warenkorb 2006 235 INFORMATIONEN ZUM ARBEITSLOSENRECHT UND SOZIALHILFERECHT Nomos

Arbeitsförderung Aus dem Inhalt · Jahrgang 24 · Seiten 193 – 240 ISSN 1862-0469 · E 7250 F 5 /2006 Arbeitsförderung Grundsicherung Sozialhilfe Rechtsentwicklung Rechtsschutz

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Jahrgang 24 · Seiten 193 – 240ISSN 1862-0469 · E 7250 F

5/2006

Arbeitsförderung

Grundsicherung

Sozialhilfe

Rechtsentwicklung

Rechtsschutz

Aus dem Inhalt

Aufsätze

Ute Winkler, Der neue Gründungszuschuss 195

Manfred Hammel, Unbegrenzte Vorlage von Kontoauszügen als Voraussetzung für die (Weiter-)Bewilligung von Arbeitslosen- geld II 201

Daniel Herbe, Martin Wallbruch, Keine Beratungshilfe im Sozialrecht? 206

Entscheidungen zur Arbeitsförderung (SGB III): Erstattung von Insolvenzgeld, Förderung der Arbeitsaufnahme, Sperrzeit nach befristetem Arbeitsverhältnis 209

Entscheidungen zur Grundsicherung für Arbeit- suchende (SGB II): Schwerwiegende soziale Gründe bei U 25, EU-Ausländer als Anspruchs- berechtigte, Aufwendungen für Familienfeier 221

Statistik-Warenkorb 2006 235

InformAtIonEn zUm ArBEItSloSEnrEcht UnD SozIAlhIlfErEcht

nomos

infoalso_2006_05_U12.indd 1 23.11.2006 14:59:35

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Inhaltsverzeichnis

AUFSÄTZE

Der neue Gründungszuschuss Ute Winkler 195

Unbegrenzte Vorlage von Kontoauszügen als Voraussetzung für die (Weiter-)Bewilligung von Arbeitslosengeld II? Manfred Hammel 201

Keine Beratungshilfe im Sozialrecht? Daniel Herbe Martin Wallbruch 206

ENTSCHEIDUNGEN ZUR ARBEITSFÖRDERUNG (SGB III)

Versäumung der Antragsfrist für Insolvenzgeld §§ 183 Abs. 1, 324 Abs. 3 SGB III Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. 4. 2006 – L 9 AL 118/04 209

Förderung einer auswärtigen Arbeitsaufnahme durch Fahrkostenbeihilfe § 53 Abs. 2 Nr. 3 SGB X Sozialgericht Dresden, Gerichtsbescheid vom 11. 11. 2005 – S 23 AL 1282/04 213

Keine Sperrzeit nach Wechsel in eine befristete Beschäftigung § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2 SGB III Sozialgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 18. 5. 2006 – S 13 AL 4450/03 215

NEUE ENTSCHEIDUNGEN DES BUNDESSOZIALGERICHTS 218

ENTSCHEIDUNGEN ZUR GRUNDSICHERUNG FÜR ARBEITSUCHENDE (SGB II)

Schwerwiegende soziale Gründe bei U 25 §§ 22 Abs. 2a, 68 Abs. 2 SGB II, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG Sozialgericht Hamburg, Beschluss vom 27. 3. 2006 – S 59 AS 522/06 ER 221

Schwerwiegende soziale Gründe bei U 25 § 22 Abs. 2a SGB II, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 2. 5. 2006 – L 5 B 160/06 ER AS mit Kurzanmerkung von Peter Trenk-Hinterberger 222

EU-Ausländer als Berechtigte für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. Sozialgericht Osnabrück, Beschluss vom 27. 4. 2006 – S 22 AS 263/06 ER mit Kurzanmerkung von Peter Trenk-Hinterberger 224

Aufwendungen für Familienfeier als Leistung nach SGB II §§ 20 Abs. 2, 23 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10. 4. 2006 – L 9 AS 44/06 ER 226

Beratungshilfe bei Sozialleistungsbescheid §§ 1, 2 BerHG; §§ 13 – 16 SGB I Amtsgericht Wiesbaden, Beschluss vom 2. 3. 2006 – 91 UR 413/05 229

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FÜR SIE GELESEN – ZEITSCHRIFTEN- UND RECHTSPRECHUNGSÜBERSICHT

Arbeitsförderung 230 Grundsicherung für Arbeitsuchende 231 Sozialhilferecht 234

DOKUMENTATION

Statistik-Warenkorb 2006 mit einer Anmerkung von Albert Hofmann 235

LITERATURSCHAU: SGB II – NACHLESE

Albrecht Brühl 239

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Der neue Gründungszuschuss Ute Winkler*

Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) sind die §§ 57 und 58 SGB III mit Wirkung vom 1. August 2006 neu gefasst worden. Statt des bisherigen Überbrü-ckungsgeldes gibt es jetzt einen Gründungszuschuss. Dieser ist auch als Nachfolgeregelung für den Existenzgründungs-zuschuss (Ich-AG) in § 421l SGB III gedacht, der zum 30. Juni 2006 befristet war und nicht verlängert worden ist.1 Jetzt gibt es also nur noch eine Regelung für die Förderung von Existenzgründungen zur Beendigung oder Verhinde-rung von Arbeitslosigkeit.

Aus dem Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirksam-keit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geht her-vor, dass das Überbrückungsgeld als Mittel zur Beendigung von Arbeitslosigkeit kurz und mittelfristig wirksam ist. Bei der Ich-AG ergeben sich zumindest kurzfristig ebenfalls positive Effekte, über mittelfristige Wirkungen kann wegen der Kürze der Beobachtungszeit, die noch nicht einmal bis zum Ende der Förderungszeit dauerte, keine Aussage ge-troffen werden.

Zwischen 2000 und 2004 ist die Zahl der Förderungen durch Überbrückungsgeld von knapp 93.000 auf 183.500 angestiegen.2 Außerdem gab es 2004 171.0003 neu gegrün-dete Ich-AGs. Von der Bundesagentur für Arbeit geförderte ExistenzgründerInnen waren häufiger als eine Vergleichs-gruppe von Arbeitslosen weder arbeitslos noch in arbeits-marktpolitischen Maßnahmen. So liegen 16 Monate nach Beginn der Förderung mit Überbrückungsgeld die Unter-schiede in Westdeutschland bei 24 Prozentpunkten für Frauen und 27 Prozentpunkten für Männer, in Ostdeutsch-land bei 27 Prozentpunkten für Frauen und 32 Prozentpunk-ten für Männer.4 Das Überbrückungsgeld war also ein er-folgreiches Instrument zur Vermeidung zukünftiger Ar-beitslosigkeit. Noch günstiger erweisen sich die Zahlen für die Ich-AG. Da die Förderung zum Zeitpunkt der Untersu-chung noch nicht ausgelaufen war, ist eine abschließende Bewertung noch nicht möglich.5

Von einem Mitnahmeeffekt, also Existenzgründungen, zu denen es auch ohne die Förderung gekommen wäre, wird in der genannten Untersuchung ausgegangen.6 Dieser lässt sich aber nur schwer beziffern. Auch ist keine Aussage darüber möglich, in welchem Umfang die Existenzgrün-dungen auch in diesen Fällen nur oder hauptsächlich wegen

* U. Winkler ist Präsidentin des Landessozialgerichts Sachsen An-

halt a. D. 1 In das SGB III eingefügt mit dem Dritten Gesetz für moderne

Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl. I S. 2848).

2 BT-Drs. 16/505 S. 114 3 BT-Drs. 16/505 S. 114 4 BT-Drs. 16/505 S. 117 5 BT-Drs. 16/505 S. 117 6 BT-Drs. 16/505 S. 120

der Förderung durch Überbrückungsgeld oder Existenz-gründungszuschuss erfolgreich waren. Insgesamt zeigt sich jedenfalls als »Ergebnis von Benchmarking und der Makro-analyse«, dass die Existenzgründungsförderung mit dem Überbrückungsgeld und dem Existenzgründungszuschuss anderen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik über-legen ist.7

Die Neuregelung soll nun alle vermuteten Fehler der beiden bisherigen Existenzförderungsinstrumente vermeiden. Der neue Gründungszuschuss lehnt sich zwar sprachlich an den Existenzgründungszuschuss an, ähnelt aber mehr dem Überbrückungsgeld. Der Existenzgründungszuschuss wur-de wegen seiner Höhe und Dauer in größerem Maße von Frauen in Anspruch genommen, das Überbrückungsgeld von Männern.8 Es ist bezeichnend für den deutschen Ge-setzgeber, dass er von den beiden Instrumenten das für Männer attraktivere zur Grundlage der Neuregelung ge-macht hat.

I. Voraussetzungen des Gründungszuschusses

1. Existenzgründung

Die Existenzgründung wird überwiegend in der Errichtung eines neuen Unternehmens bestehen. Auf die Rechtsform kommt es nicht an. Auch die Gründung einer Gesellschaft, z. B. einer GmbH, kann die Voraussetzungen des § 57 SGB III erfüllen.

Die Existenzgründung im Sinne des § 57 SGB III setzt nicht notwendiger Weise die Neugründung eines Unter-nehmens voraus, auch eine Betriebsübernahme oder die Er-weiterung einer nebenberuflichen Tätigkeit zu einer haupt-beruflichen Selbständigkeit kann nach der Begründung im Gesetzentwurf eine Existenzgründung darstellen.9 Ob der Übergang von einer Nebentätigkeit zu einer hauptberufli-chen Tätigkeit eine Existenzgründung war und mit der Zah-lung von Überbrückungsgeld unterstützt werden konnte, war für den alten § 57 SGB III ungeklärt. Das LSG Rhein-land-Pfalz hatte die Frage bejaht,10 das LSG Baden-Würt-temberg hatte sie verneint.11

Eine Beschränkung der Förderung auf Existenzgründungen im Inland lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen, so dass auch eine Existenzgründung im Ausland die Voraussetzung 7 BT-Drs. 16/505 S. 121 8 BT-Drs. 16/1696 S. 30. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen

hatte deshalb die Verlängerung der Ich-AG bis 31.3.2007 bean-tragt (BT-Drs. 16/1405).

9 BT-Drs. 16/1696 S. 30 10 Urteil vom 2.8.1999 – L 7 Ar 166/98 11 Urteil vom 27.9.2004 – L AL 645/04; das BSG hat die Frage in

seiner Entscheidung vom 1.6.2006 – B 7a AL 34/05 R – offen gelassen.

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für den Gründungszuschuss erfüllen kann,12 wenn die übri-gen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Die Arbeitslo-sigkeit im Inland wird auch bei einer ausländischen Exis-tenzgründung beendet.13 Allerdings kann es schwierig sein, die Anspruchsvoraussetzungen zu ermitteln, soweit sie von der Realität in dem gewählten Land abhängen, insbesonde-re die Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit wird sich bei einer beabsichtigten Auslandstätigkeit häufig schwer prognostizieren lassen.

Aufgenommen wird die selbständige Tätigkeit, wenn der Existenzgründer nach außen unternehmerisch im Ge-schäftsverkehr auftritt. Erforderlich sind eine Gewerbean-meldung nach § 14 GewO, die Anzeige einer freiberufli-chen Tätigkeit beim Finanzamt nach § 18 EStG, die Eintra-gung in die Handwerksrolle oder in das Verzeichnis der zulassungsfreien Handwerksbetriebe und der handwerks-ähnlichen Betriebe nach § 19 HdwO, ggf. behördliche Kon-zessionen zur Ausübung des Gewerbes.

Selbständig ist eine Erwerbstätigkeit, die nicht in Abhän-gigkeit von fremden Weisungen ausgeübt wird. Der Selb-ständige muss über seine eigene Arbeitskraft frei verfügen können. Die Entscheidung über Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsweise muss bei ihm liegen. Typisch für eine selb-ständige Tätigkeit sind die eigene Betriebsstätte, der Ein-satz eigener Betriebsmittel und das Arbeiten auf eigene Rechnung, die Verfügung über die eigene Arbeitskraft und die im wesentlichen freigestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit. Maßgebend ist immer das Gesamtbild der Tätigkeit. Hier-bei sind immer die tatsächlichen Verhältnisse entscheidend, wenn diese von den Vereinbarungen abweichen.14 Wirt-schaftliche Abhängigkeit schließt rechtliche Selbständigkeit nicht aus. Im Einzelfall kann die selbständige Tätigkeit von Scheinselbständigkeit schwer zu unterscheiden sein. § 7 Abs. 4 SGB IV, der eine Sonderregelung für die Existenz-gründer nach § 421l SGB III vorsieht,15 galt bisher nicht für das Überbrückungsgeld und gilt auch nicht für den Grün-dungszuschuss nach dem neuen § 57 SGB III.

Selbständig tätig ist auch ein Gesellschafter einer Personen-gesellschaft und der Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH, wenn er über wenigstens die Hälfte des Stammkapi-tals oder eine Sperrminorität verfügt, also nicht den Wei-sungen eines anderen Gesellschafters unterliegt.16

Gefördert werden kann nur die Existenzgründung selbst, nicht die Vorbereitung der Existenzgründung. Der Gesetz-geber hat offenbar seine Einsicht vergessen, die der bisheri-

12 LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.1.1990 – L 5 Ar 1486/

88 – Breithaupt 1991 S. 426; a. A. ohne nähere Begründung LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.4.2004 – L 3 AL 5035/02

13 So auch Link in Eicher/Schlegel, SGB III, 54. EL März 2005, § 57 Rdnr. 42b

14 Ständige Rechtsprechung des BSG, z. B. Urteil vom 22.6.2005 – B 12 KR 28/03 R – SozR 4-2400 § 7 Nr. 5

15 Ab dem Antrag auf den Existenzgründerzuschuss wird die Selb-ständigkeit der Erwerbsausübung widerleglich vermutet; wird er gewährt, gilt der Gewerbetreibende sozialversicherungsrechtlich als selbständig.

16 BSG, Urteil vom 25.1.2006 – B 12 KR 30/04 R – ZIP 2006 S. 678; Urteil vom 6.3.2003 – B 11 AL 25/02 R

gen Regelung sowohl des Überbrückungsgeldes als auch des Existenzgründungszuschusses zugrunde lag, nämlich dass die Existenzgründung kein punktuelles Ereignis, son-dern ein Prozess ist.17

Nach § 57 Abs. 1 SGB III wird die Leistung nur gewährt, wenn die Aufnahme einer hauptberuflichen selbständigen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beendet. Nach dem umfas-senden Arbeitslosigkeitsbegriff der §§ 118/119 SGB III genügt hierfür, dass der Arbeitslose keine abhängige Be-schäftigung mehr sucht. In welchem Umfang die Unter-nehmenstätigkeit darüber hinaus ausgeübt wird, gibt das Gesetz nicht unmittelbar vor. Es kann sich also um eine selbständige Tätigkeit in Teilzeit handeln, wenn die übrigen Förderungsvoraussetzungen vorliegen. Allerdings setzt Hauptberuflichkeit voraus, dass die Tätigkeit nicht anderen Beschäftigungen in abhängiger Stellung oder einem Studi-um untergeordnet ist. Es darf sich also nicht um einen Zu-satz- oder Nebenerwerb handeln. Die selbständige Tätigkeit muss deshalb mehr als geringfügig sein und eine Arbeits-zeit von wenigstens 15 Wochenstunden umfassen.

2. Anwartschaftliche Voraussetzungen

a) Entgeltersatzleistung

Den Gründungszuschuss kann nach § 57 Abs. 1 SGB III erhalten, wer bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III hat. Entgeltersatzleistungen sind nach § 116 SGB III Ar-beitsosengeld, Teil-Arbeitslosengeld, Übergangsgeld, Kurz-arbeitergeld, Insolvenzgeld, Winterausfallgeld. Entgelter-satzleistungen sind auch die Arbeitslosenbeihilfe nach dem § 86a des Soldatenversorgungsgesetzes18 und § 13 des Ent-wicklungshelfergesetzes.19

Unklar ist, ob die Entgeltersatzleistung bis zur Existenz-gründung auch bezogen werden muss. Nach § 57 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) SGB III muss der Anspruch aktuell bestehen, d.h. alle Anspruchsvoraussetzungen müssen erfüllt sein. Das bedeutet für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, dass der Antragsteller nicht nur beschäftigungslos ist, sondern auch die weiteren Voraussetzungen der Arbeitssuche, der Verfügbarkeit und die Anwartschaftszeit erfüllen muss (§§ 118, 119, 123 SGB III). Der Anspruch auf die Entgelt-ersatzleistung muss dem Existenzgründer bis unmittelbar vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit zustehen, auch wenn er erst nachträglich bewilligt wird. Aus § 57 Abs. 3 SGB III ist zu schließen, dass ein Ruhenssachverhalt nach den §§ 142 bis 144 der Förderung nicht entgegensteht. Wurde die Leistung zu Unrecht bewilligt, kann sich daran

17 BT-Drs. 14/673 S. 12 18 § 86a Abs. 1 Satz 2 und Nr. 1 SGG bestimmen, dass die Vor-

schriften über das Arbeitslosengeld anzuwenden sind und Wehr-dienstzeiten Versicherungszeiten gleichstehen.

19 Danach stehen Zeiten des Entwicklungsdienstes Zeiten eines Versicherungspflichtverhältnisses gleich.

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der Gründungszuschuss anschließen, wenn eine Korrektur nach § 45 SGB X nicht möglich ist.20

Der Anspruch auf den Gründungszuschuss setzt also im Regelfall, wenn nicht die Anforderungen an eine andere Entgeltersatzleistung erfüllt sind, bereits eingetretene Ar-beitslosigkeit voraus. Bisher konnte das Überbrückungsgeld auch zur Abwendung von Arbeitslosigkeit geleistet werden. Arbeitslosigkeit und der Bezug von Arbeitslosengeld waren nicht gefordert. Es musste nur ein Anspruch auf Arbeitslo-sengeld für den Fall der Arbeitslosigkeit bestehen, also die Anwartschaftszeit erfüllt sein. Der alte § 57 SGB III wollte vermeiden, dass Arbeitslose den unproduktiven Umweg über eine Arbeitslosigkeit gehen müssen. Jetzt ist der un-mittelbare Leistungsbezug zwar auch nicht ausdrücklich Voraussetzung der Existenzförderung, da aber ein Arbeits-losengeldanspruch bzw. ein Anspruch auf eine andere Ent-geltersatzleistung bis zur Aufnahme der selbständigen Tä-tigkeit bestehen muss, kommt ein Gründungszuschuss auch nur während des Leistungsbezugs bzw. beim nahtlosen Anschluss der Existenzgründung an die Entgeltersatzleis-tung in Betracht. Auch das war nach dem alten § 57 SGB III anders, § 57 Abs. 2 Nr. 1 SGB III a. F. ließ einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Entgeltersatz-leistung und Existenzgründung ausreichen, um Raum für die Vorbereitung der Unternehmensgründung zu lassen.21

Das Gesetz legt jedoch nicht fest, wie lange die Arbeitslo-sigkeit oder der Leistungsbezug vor der Existenzgründung bestanden haben müssen, so dass auf diese Weise die Be-endigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Ziel der geför-derten Unternehmensgründung nicht verhindert werden. Da ein Tag des Leistungsbezugs für die Anspruchsbegründung genügt, führt der Versuch, Mitnahmeeffekte auszuschalten, nur zur Erhöhung des Verwaltungsaufwandes.

b) Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Keine aktuelle Arbeitslosigkeit muss vorliegen, wenn der Existenzgründer seine Tätigkeit im unmittelbaren An-schluss an eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) aufnimmt. Vielfach wird der ABMler dann aber die Vor-aussetzungen nicht mehr erfüllen, weil ABM nach § 27 Abs. 3 Nr. 5 SGB III nicht mehr arbeitslosenversicherungs-pflichtig ist und der Anspruch vor der Aufnahme der ABM-Beschäftigung vielfach verbraucht oder unter 90 An-spruchstage zusammengeschmolzen ist.22 Auch hier muss sich die Existenzgründung unmittelbar an die Arbeitsbe-schaffungsmaßnahme anschließen.

20 BSG, Urteil vom 13.5.1987 – 7 RAr 62/85 – SozR 4100 § 134

Nr. 31; Urteil vom 19.3.1998 – B 7a 86/96 R – SozR 3-4100 § 112 Nr. 29

21 BT-Drs. 14/673 S. 12. Das BSG hat allerdings in einer neuen Entscheidung erwogen, ob das SGB III mit der Formulierung »unmittelbar« im Allgemeinen einen Vier-Wochenzeitraum meint (Urteil vom 6.4.2006 – B 7a AL 74/05 R).

22 Ob der bisherige § 57 SGB III die Förderung mit dem Überbrü-ckungsgeld ohne Arbeitslosengeldanspruch erlaubte, ist unklar. Der Wortlaut ließ dies zu.

c) Arbeitslosengeldanspruch von 90 Tagen

Die Anknüpfung an andere Entgeltersatzleistungen kann allein die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Gründungszuschuss nicht erfüllen. Auch die unmittel-bar vorangegangene Beschäftigung in einer Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahme eröffnet allein nicht mehr den Zugang zur Förderung der Existenzgründung. Bisher war streitig, ob das Überbrückungsgeld auch nach Erlöschen des Stamm-rechts auf Arbeitslosengeld gezahlt werden konnte.23 Jetzt muss im Zeitpunkt der Unternehmensgründung immer auch ein Arbeitslosengeldanspruch von wenigstens 90 Tagen vorhanden sein. Der Gesetzgeber will dem Arbeitslosen einerseits Zeit lassen, die Möglichkeit zu prüfen, ob er die Arbeitslosigkeit durch eine selbständige Tätigkeit beenden will.24 Andererseits will er diese Zeit begrenzen und durch eine Mindestdauer des Arbeitslosengeldanspruchs Geld sparen. Mit der zusätzlichen Voraussetzung eines Arbeits-losengeldanspruchs für eine festgelegte Dauer soll das Ver-sicherungsprinzip verstärkt werden.

3. Tragfähigkeit

Näher konkretisiert und verschärft werden die Anforderun-gen an den Nachweis der Tragfähigkeit der geplanten Exis-tenzgründung. Ursprünglich war bei der Ich-AG eine solche Überprüfung gar nicht vorgesehen, sie wurde erst nachträg-lich eingeführt.25

Wie bisher ist die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorzulegen. Dieser muss der Arbeitslose geeignete Unterla-gen einreichen, also ein Unternehmenskonzept, die Finan-zierungsvorstellungen, die zu erwartenden Erträge, eine Marktanalyse usw. Als mögliche fachkundige Stelle nennt das Gesetz Industrie- und Handelskammern, Handwerks-kammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und Kreditinstitute. Die Aufzählung ist nicht abschließend.

Neu ist, dass der Arbeitslose zukünftig seine unternehmeri-schen Fähigkeiten gegenüber der Bundesagentur darlegen muss. Hierzu gehören einerseits die Fachkenntnisse für die auszuübende Tätigkeit, andererseits die kaufmännischen und betriebswirtschaftlichen Kenntnisse zur Unternehmens-führung. Hierfür kann er Zeugnisse, Beschäftigungsnach-weise, Zertifikate über erworbene Qualifikationen u. ä. vorlegen. Bleiben begründete Zweifel an der persönlichen Eignung, kann die BA vom Antragsteller verlangen, dass er an Maßnahmen der Eignungsfeststellung oder zur Vorberei-tung der Existenzgründung teilnimmt. Tut er das nicht, obwohl berechtigte Zweifel bestehen, fehlt es an der Darle-gung der Kenntnisse und Fähigkeiten, so dass der Grün-dungszuschuss nicht zu zahlen ist.

Die Teilnahme an einer Maßnahme der Eignungsfeststel-lung oder einem Existenzgründungslehrgang kann die BA

23 Siehe Link, FN 13, § 57 Rdnr. 29 ff.; jedoch war keinesfalls ein

Restanspruch einer bestimmten Dauer verlangt. 24 BT-Drs. 16/1696 S. 30 25 § 421l SGB III wurde durch das 4. SGB III-ÄndG vom

19.11.2004 (BGBl. S 2902) um Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 ergänzt.

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nach § 10 SGB III unterstützen. Aus der Gesetzesbegrün-dung geht hervor, dass die Maßnahme, an der der An-tragsteller auf Veranlassen der BA teilnehmen soll, nach §§ 48 ff. SGB III als Trainingsmaßnahme gefördert werden soll. Die Trainingsmaßnahmen dienen eigentlich zur Förde-rung der Vermittlung in abhängige Beschäftigungen.

Es ergibt sich zusätzlich das Problem, dass die Teilnahme an einer Feststellungs- oder Vorbereitungsmaßnahme ent-weder die Arbeitslosigkeit beendet oder, wenn sie als Trai-ningsmaßnahme ausgestaltet ist, den Anspruch auf Arbeits-losengeld verbraucht mit der möglichen Folge, dass kein Restanspruch von 90 Tagen mehr vorhanden ist. Ob dann entgegen dem Wortlaut des Gesetzes, der im Zeitpunkt der Unternehmensgründung einen Arbeitslosengeldanspruch von 90 Tagen voraussetzt, eine Förderung der Existenz-gründung noch möglich ist, erscheint zweifelhaft.

II. Anspruchsausschluss

1. Ruhenszeiten

Der Zuschuss wird nach § 57 Abs. 3 SGB III nicht geleistet, solange Ruhenstatbestände nach den §§ 142 bis 144 SGB III vorliegen und vorgelegen hätten. Das war auch bisher beim Überbrückungsgeld und dem Existenzgrün-dungszuschuss so. Erst nach dem Ende der Ruhenszeit kann der Gründungszuschuss gezahlt werden. Das gilt nicht für Zeiten, in denen Leistungen im Wege der Gleichwohlge-währung gezahlt werden oder hätten gezahlt werden dür-fen.26 Ein Zuschuss kann aber gezahlt werden, wenn die Existenzgründung in die Ruhenszeit fällt, weil andernfalls der Ausschluss von Leistungen für Zeiten, in denen eine Ruhenszeit vorgelegen hätte, wenig sinnvoll wäre. Nach § 57 Abs. 3 Satz 3 SGB III a. F. verkürzte sich die Dauer der Förderung um die Dauer der Sperrzeit, die in die För-derzeit fiel. Das war nur möglich, wenn das Unternehmen während der Ruhenszeit gegründet wurde, weil danach ein Sperrzeitsachverhalt nicht mehr eintreten konnte. Eine ent-sprechende Kürzungsregelung enthält § 57 SGB III n. F. zwar nicht mehr. Jedoch entspricht § 57 Abs. 3 SGB III n. F. dem § 57 Abs. 3 Satz 2 SGB III a. F. ansonsten wei-testgehend, so dass auch jetzt die Ruhenszeit die Förde-rungsleistung nur für ihre Dauer ausschließt.

2. Frühere Förderung

Keinen Gründungszuschuss erhält, wer innerhalb der letz-ten zwei Jahre bereits einmal einen Zuschuss bezogen hat. In Abwägung zwischen den wirtschaftlichen Folgen einer zuvor nicht erfolgreichen Gründung und der »zweiten Chance« für den Selbständigen soll die Arbeitsagentur nur dann zu einer erneuten Förderung verpflichtet sein, wenn ein gewisser Zeitraum seit der letzten geförderten selbstän-digen Erwerbstätigkeit verstrichen ist. Eine Frist von 24 26 Das betrifft die §§ 143, 143a SGB III, wenn das Arbeitsentgelt,

die Urlaubsabgeltung oder die Entlassungsentschädigung tatsäch-lich nicht gezahlt werden (Bernard in Kasseler Handbuch des Ar-beitsförderungsrechts, 2003, § 9 Rdnr. 104a).

Monaten hält der Gesetzgeber für angemessen, damit der Arbeitslose die wirtschaftlichen und sonstigen Vorausset-zungen für eine erneute Unternehmung klären kann.27 Die Gründungsförderung kann erst nach einem Zeitraum von zwei Jahren erneut in Anspruch genommen werden. Die Frist beginnt mit dem Ende der vorangegangenen Förde-rung. Von dieser Frist kann in besonderen Fällen abgewi-chen werden, z. B. bei Krankheit oder Unfall während der ersten Förderung,28 eine neue Förderung muss in Ausnah-mefällen aber auch möglich sein, wenn der Existenzgründer schuldlos Opfer eines Betruges wird und sich daraus nicht auf seine Geschäftstüchtigkeit schließen lässt.

Unklar ist, ob die Zahlung von Überbrückungsgeld oder eines Existenzgründungszuschusses nach altem Recht in den letzten 24 Monaten dem Anspruch auf den Gründungs-zuschuss entgegensteht. Da mit dem Gründungszuschuss ein neues Förderinstrument geschaffen werden sollte, das Gesetz über eine Kontinuität mit früheren Förderungsfor-men aber nichts sagt, muss davon ausgegangen werden, dass der Gründungszuschuss auch zu zahlen ist, wenn in den letzten 24 Monaten eine frühere Existenzgründung ge-fördert worden ist. Allerdings wird sich dann der An-tragsteller hinsichtlich der Tragfähigkeit und der persönli-chen Eignung eine intensive Prüfung gefallen lassen müs-sen.

3. 65. Lebensjahr

Für Zeiten ab der Erfüllung des 65. Lebensjahres wird kein Gründungszuschuss geleistet. Das entspricht § 117 Abs. 2 SGB III, wonach ab der Vollendung des 65. Lebensjahrs kein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht. Der 65-Jährige kann ohnehin die Voraussetzung eines Arbeitslosengeldan-spruchs von 90 Tagen nicht mehr erfüllen.

III. Dauer und Höhe

Der Gründungszuschuss wird zunächst für neun Monate in Höhe des Betrages gewährt, den der Arbeitnehmer zuletzt als Arbeitslosengeld bezogen hat, zuzüglich 300 € monat-lich. Das gilt auch dann, wenn er zuletzt eine andere Ent-geltersatzleistung bezogen hat. Scheitert das Unternehmen vor Ablauf der Förderzeit, endet die Förderung. Die Ru-henszeiten, für die der Zuschuss nicht gezahlt werden darf, kürzen den Anspruch nicht, sondern schieben ihn nur hin-aus, wie sich aus der Kürzungsbestimmung für die sperr-zeitbedingte Ruhenszeit im alten § 57 SGB III ergibt.

Den Betrag für die Sozialversicherungsbeiträge hat der Gesetzgeber mit 300 € pauschaliert selbst festgesetzt.29 Es muss deshalb keine Berechnung der Sozialversicherungs-beiträge mehr stattfinden. Allerdings ist der Betrag, der neben den Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversiche-rung sowie die Rentenversicherung jetzt auch den für die 27 BT-Drs. 15/1515 S. 81 28 vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 2.12.2005 – L 3 AL

79/05; BT-Drs. 15/1515 S. 81 29 BT-Drs. 16/1696 S. 31

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Arbeitslosenversicherung berücksichtigen müsste, wohl knapp bemessen. Aus dem Gesetzestext und der Begrün-dung geht nicht hervor, wie er berechnet worden ist. Es kommt für die Zahlung des Zuschusses nicht darauf an, ob der Existenzgründer sich sozial absichert und welche Kos-ten ihm tatsächlich entstehen.

Nach Ablauf von neun Monaten kann für weitere sechs Monate ein Zuschuss von 300 € gezahlt werden. Vorausset-zung ist, dass der Existenzgründer seine Geschäftstätigkeit durch geeignete Unterlagen darlegt. Die Förderung soll erfolgen, wenn eine intensive Geschäftstätigkeit und haupt-berufliche unternehmerische Aktivitäten vorliegen.30 Der Existenzgründer wird seine Geschäftstätigkeit beschreiben und ggf. belegen und einen Ausblick auf die weitere Ge-schäftserwartung geben müssen. Bestehen begründete Zweifel, kann die Arbeitsagentur die erneute Vorlage der Stellungnahme einer fachkundigen Stelle verlangen. Das Gesetz sagt nicht ausdrücklich, worauf sich die »begründe-ten Zweifel« beziehen müssen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich jedoch, dass die Erfolgsaussichten der Unter-nehmensgründung zweifelhaft sein müssen, nicht nur die Bemühungen des Selbständigen. Der weitere Zuschuss soll gezahlt werden, wenn vom zukünftigen Erfolg der Maß-nahme ausgegangen werden kann.

IV. Antrag und Entscheidung

Der Gründungszuschuss ist antragsabhängig. Zuständig ist nach § 327 Abs. 1 SGB III die Arbeitsagentur, in der der Antragsteller seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Antrag muss nach § 324 Abs. 1 Satz 1 SGB III vor Beginn der selbständigen Tätigkeit gestellt werden. Hiervon kann die Arbeitsagentur abweichen und einen verspäteten Antrag zulassen, um unbillige Härten zu vermeiden (§ 324 Abs. 1 Satz 2 SGB III). Eine unbillige Härte wird regelmäßig bei einer unverschuldeten Verspä-tung – ähnlich wie bei der Wiedereinsetzung wegen der Versäumung gesetzlicher Fristen nach § 27 SGB X und § 67 SGG – vorliegen.

Auf den Zuschuss für die ersten neun Monate besteht ein Rechtsanspruch. Liegen also die Voraussetzungen des § 57 SGB III vor, muss die Leistung bewilligt werden. Der Gründungszuschuss ist tatsächlich ein Zuschuss und muss auch im Fall des Misslingens nicht zurückgezahlt werden. Die Zahlung des Zuschusses für den zehnten bis fünfzehn-ten Monat steht im Ermessen der Arbeitsagentur, die hier-bei § 39 SGB I und § 35 SGB X zu beachten hat.

V. Übergangsrecht

Bis zum 1. November 2006 können Arbeitslose, die nur deshalb die Voraussetzungen des Gründungszuschusses nach § 57 SGB III nicht erfüllen, weil sie nicht mehr über einen Anspruch von 90 Tagen verfügen, Überbrückungs-geld nach altem Recht erhalten (§ 434o SGB III). 30 BT-Drs. 16/1696 S. 31

VI. Versicherungsrechtliche Folgen

1. Arbeitslosenversicherung

Weder das Überbrückungsgeld noch der Existenzgrün-dungszuschuss hatte Auswirkungen auf den Arbeitslosen-geldanspruch. Er konnte beim Scheitern der Existenzgrün-dung in den Grenzen des § 147 SGB III (also vier Jahre nach seiner Entstehung) geltend gemacht werden. Jetzt verbraucht nach dem neuen § 128 Abs. 1 Nr. 9 SGB III jeder Tag, für den der Gründungszuschuss in der Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes gezahlt wird, einen Anspruchstag. Der Verbrauch gilt also nur für den Zuschuss für die ersten neun Monate, nicht für die Zeit, für die nur ein Betrag von 300 € zur sozialen Absicherung gezahlt wird.

Der Selbständige hat jetzt die Möglichkeit, sich nach § 28a SGB III auch in der Arbeitslosenversicherung, die bis zum 31. Januar 2006 eine reine Arbeitnehmerversicherung war und einen freiwilligen Zugang nicht kannte, freiwillig wei-terzuversichern. Der Beitrag ist außerordentlich günstig. Bemessungsgrundlage der Beiträge sind 25 % der monatli-chen Bezugsgröße (§ 341 Abs. 2, § 345b SGB III). Bei einer Bezugsgröße von 2450 € im Westen und 2065 € im Osten ergeben sich im Jahr 2006 bei einem Beitragssatz von 6,5 % für die als Selbständige freiwillig Versicherten Beiträge von 39,81/33,56 € monatlich. Das Arbeitslosen-geld wird regelmäßig nach § 132 SGB III entsprechend der Qualifikation fiktiv zu bemessen sein.

2. Kranken- und Pflegeversicherung

In der gesetzlichen Krankenversicherung kann sich der Selbständige nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB V weiterversi-chern, wenn er in den letzten fünf Jahren wenigstens 24 Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung ununterbrochen wenigstens zwölf Mo-nate der gesetzlichen Krankenversicherung angehört hat. Als hauptberuflich Selbständiger kann der Existenzgründer unabhängig von der Höhe seines Einkommens nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V nicht familienversichert sein.

Bei der Beitragsberechnung wird der Anteil von 300 €, der zur sozialen Absicherung bestimmt ist, nicht als Einkom-men berücksichtigt (§ 240 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Für hauptberuflich Selbständige gibt es in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Mindestbeitrag, der für die Bezieher des Gründungszuschusses gegenüber anderen Selbständigen abgesenkt ist. Wird sonst dem Mindestbei-trag (pro Kalendertag) ein Betrag in Höhe eines Vierzigs-tels der monatlichen Bezugsgröße zugrunde gelegt, ist es bei dem Existenzgründer mit Gründungszuschuss nur ein Sechzigstel der monatlichen Bezugsgröße. Das sind im Jahr 2006 monatlich 1225 €/1033 € (West/Ost), aus dem die Krankenkasse nach ihrem Beitragssatz die Beiträge ermit-telt. Bei höherem Einkommen ist der Beitragsberechnung das tatsächliche Einkommen zugrunde zu legen. Die Ver-günstigung gilt nur für die Zeit, für die der Gründungszu-schuss gezahlt wird, also längstens 15 Monate.

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Die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung; der in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig Versi-cherte ist nach § 20 Abs. 3 SGB XI Mitglied der sozialen Pflegeversicherung. Er kann sich von der Versicherungs-pflicht befreien lassen und sich privat versichern. Familien-versichert kann der hauptberuflich Selbständige auch in der Pflegeversicherung nicht sein (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB XI).

3. Rentenversicherung

Anders als bei der Ich-AG (§ 2 Satz 1 Nr. 10 SGB VI) ist der Existenzgründer nach § 57 SGB III nicht als Bezieher des Gründungszuschusses rentenversicherungspflichtig. Versicherungspflicht kann nach anderen Bestimmungen vorliegen, insbesondere für Handwerker und Gewerbetrei-bende ohne Personal und mit nur einem Auftraggeber, so-weit sie überhaupt selbständig sind (§ 2 Satz 1 Nr. 8 und 9 SGB VI). Selbständige können sich nach § 7 SGB VI frei-willig rentenversichern oder nach § 4 Abs. 2 SGB VI auf Antrag versicherungspflichtig werden.

4. Unfallversicherung

Es besteht keine Unfallversicherungspflicht für den Exis-tenzgründer als Leistungsbezieher. Als Kleingewerbetrei-bender kann er nach § 3 Nr. 1 SGB VII durch die Satzung der einzelnen Berufsgenossenschaft pflichtversichert sein, oder er kann sich nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II freiwillig versichern.

VII. Steuerrecht

Der Gründungszuschuss ist nach § 3 Abs. 2 EStG nicht einkommenssteuerpflichtig, auch nicht mittelbar im Sinne eines Progressionsvorbehaltes.

VIII. Einstellungszuschuss bei Neugründungen

Weiterhin können Existenzgründer während der ersten bei-den Jahre ihrer Geschäftstätigkeit neben dem Gründungszu-schuss Förderleistung für die Einstellung von Arbeitslosen nach den §§ 225 ff. SGB III erhalten.

IX. Gründungszuschuss als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben

Der Gründungszuschuss kann auch durch andere Sozialleis-tungsträger als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben er-bracht werden (§ 33 SGB IX). Das galt bisher schon für das Überbrückungsgeld.

X. SGB II

Bezieher der Grundsicherung für Arbeitslose nach dem SGB II können einen Gründungszuschuss nicht erhalten. Ihnen kann aber neben der Grundsicherungsleistung nach § 29 SGB II ein Einstiegsgeld gezahlt werden.

Ansonsten kann die Grundsicherungsleistung nach dem SGB II nur unter Anrechnung des Gründungszuschusses gezahlt werden, weil dieser nach § 57 Abs. 1 SGB III aus-drücklich zur Sicherung des Lebensunterhalts dient. Leis-tungen nach dem SGB II kommen dann in Betracht, wenn der Arbeitslosengeldanspruch niedrig ist oder wenn der Existenzgründer Familienmitglieder unterhalten muss. Der Betrag von 300 € ist für die soziale Absicherung, nicht den aktuellen Lebensunterhalt bestimmt und darf – wie bei der Beitragsberechnung der gesetzlichen Krankenversiche-rung – nicht als Einnahme berücksichtigt werden.

Für den Existenzgründungszuschuss nach § 421l SGB III ist umstritten, ob er ganz, teilweise oder gar nicht auf die Grundsicherungsleistung nach dem SGB II anzurechnen ist. Gegen die Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen, das die Ansicht vertreten hat, der Zuschuss sei als zweck-gebundene Leistung gar nicht anrechenbar, ist Revision beim BSG anhängig.31

XI. Schluss

Ob der Gründungszuschuss ein erfolgreicheres Instrument zur Beendigung von Arbeitslosigkeit ist als Überbrückungs-geld und Ich-AG, ist zweifelhaft. Die gründlichere Prüfung der Tragfähigkeit von Unternehmensgründungen liegt al-lerdings auch im Interesse der Arbeitslosen selbst, die u. U. vor den Folgen einer Firmenpleite bewahrt werden. Bedau-erlich ist es allerdings, dass der Gesetzgeber die Interessen von Frauen weiterhin vernachlässigt. Diese erhalten meist ein niedriges Arbeitslosengeld oder haben nach länger dau-ernden Erziehungszeiten oder Pflegezeiten oft keinen Ar-beitslosengeldanspruch. Mit der Abschaffung des Unter-haltsgeldes ist die Möglichkeit, Berufsrückkehrerinnen ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld mit Überbrückungs-geld zu fördern, beseitigt worden.32 Sie können dann allen-falls ein Einstiegsgeld nach § 29 SGB II erhalten, gehen aber leer aus, wenn sie nicht bedürftig sind.

31 Az: B 7b AS 16/06 R und B 7b AS 20/06 R 32 Winkler, info also 2006, Heft 2, S. 65 ff.; dieselbe, Familie,

Partnerschaft, Recht 2005 S. 456, 459

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Unbegrenzte Vorlage von Kontoauszügen als Voraussetzung für die (Weiter-)Bewilligung von Arbeitslosengeld II? Manfred Hammel*

1. Zum Problem

Bereits zur Zeit des BSHG wurde die Frage, ob und inwie-weit hilfebedürftige Personen bei der Beantragung von Leistungen der Sozialhilfe dem Sozialhilfeträger auf dessen Aufforderung hin vollständige Kontoauszüge vorzulegen haben, kontrovers diskutiert.1 Es handelte sich hier nicht nur damals, sondern es handelt sich auch weiterhin um eine schwierige Problematik, die Aspekte des materiellen Sozi-alleistungsrechts2, der allgemeinen Grundsätze des Sozial-rechts3 sowie des Sozialdatenschutzrechts4 betrifft.

Es war hier das Verwaltungsgericht Sigmaringen, das mit Urteil vom 23.11.20005 die Berechtigung eines Sozialamtes bejahte, zum Zwecke der umfassenden Überprüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse von Antragstel-lern die Vorlage von lückenlosen Kontoauszügen der letz-ten Monate als Voraussetzung für eine Hilfegewährung zu verlangen. In diesem Urteil hatte das Gericht § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 SGB I herangezogen und dazu ausgeführt: »Bei Kontoauszügen handelt es sich um erhebliche Be-weismittel, weil sie geeignet sind, die erforderliche Sach-entscheidung zu ermöglichen. Ohne die Vorlage der voll-ständigen Kontoauszüge konnte die Beklagte Einkommen und Vermögen der Kläger nicht mit Sicherheit ermitteln. Die Beklagte hat (…) dargelegt, dass sie im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs dazu über-gegangen sei, die Kontenbewegungen zu überprüfen, um auf diese Weise festzustellen, ob Rückforderungsansprüche des Hilfeempfängers nach den §§ 528 und 529 BGB wegen eines Notbedarfs bestehen, oder aber Zahlungen an Le-bensversicherungen, Ausbildungsversicherungen, Sparver-träge o. ä. geleistet werden, aus denen auf ein bestehendes Vermögen Rückschlüsse gezogen werden können ...«6

2. Äußerungen der Landesbeauftragten für den Daten-schutz zur Zeit des BSHG

Die Problematik der über die Vorlage von Kontoauszügen durch öffentliche Träger durchgeführten Erhebung (und ggf. auch Verarbeitung) von Sozialdaten im Sinne der

* Diplom-Verwaltungswissenschaftler und Assessor des Verwal-

tungsdienstes, Caritasverband für Stuttgart e. V. 1 Vgl. hierzu M. Hammel, info also 2001, S. 131 ff. (»Unbegrenzte

Vorlage von Kontoauszügen? – Anmerkungen zum Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 23. November 2000«).

2 So z.B. die Feststellung der Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 SGB II im Hinblick auf bestehendes Einkommen (§ 11 SGB II) und Vermögen (§ 12 SGB II).

3 Mitwirkung des Leistungsberechtigten nach §§ 60 ff. SGB I, Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X.

4 Schutz der Sozialdaten gemäß §§ 67 ff. SGB X. 5 Vgl. info also 2001, S. 165 ff. 6 Vgl. info also 2001, S. 165, 166.

§§ 67 ff. SGB X beschäftigte bereits zur Zeit des BSHG immer wieder auch die Landesdatenschutzbeauftragten. Die von diesen Datenschutzbeauftragten abgegebenen Stellung-nahmen fielen differenziert aus. So hielt es der Landesbe-auftragte für den Datenschutz Sachsen-Anhalt in seinem Tätigkeitsbericht 1995/1997 für »überzogen«, wenn ein Sozialamt einen Empfänger von Hilfe zur Pflege7 auffor-dert, als Voraussetzung für die Bearbeitung eines Antrags auf Erhöhung der Leistung sämtliche Kontoauszüge der letzten drei Monate vorzulegen. Maßgebend für dieses Vo-tum war die Tatsache, dass im zu beurteilenden Fall »aus der gesamten Leistungszeit keine konkreten Anhaltspunkte für einen Missbrauch vorlagen«. Dem Sozialhilfeträger wurde deshalb vom genannten Datenschutzbeauftragten empfohlen, »sich in Stichproben auf die Vorlagen für je-weils einen Monat zu beschränken ...«8

Ausführlicher äußerte sich zur Problematik der Vorlage von Kontoauszügen der Landesbeauftragte für den Datenschutz bei dem Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Land-tags in seinen am 11.11.1998 abgegebenen »Hinweisen« im Hinblick auf die »Datenschutzrechtliche Ausgestaltung der Mitwirkungspflicht nach den §§ 60 ff. SGB I bei der Vorla-ge von Kontoauszügen«9. Der genannte Datenschutzbeauf-tragte ging dort zwar von der grundsätzlichen Zulässigkeit der von einem Sozialamt verfügten Anforderung der Kon-toauszüge der letzten drei bis sechs Monate aus, begrenzte die Zulässigkeit dieser Anforderung aber auf die vier fol-genden Fallgruppen:

– Bei der erstmaligen Beantragung von laufenden Leis-tungen,

– bei der Beantragung von einmaligen Beihilfen,10 – »während des laufenden Hilfebezuges nach Ablauf eines

Hilfezeitraumes von mindestens zwölf Monaten« sowie

– »zwecks Klärung einer konkreten Frage zur Einkom-mens- und Vermögenssituation der Hilfesuchenden, wenn diese nicht durch die Vorlage anderer Unterlagen herbeigeführt werden kann bzw. wenn konkrete Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der Angaben der Hilfesuchenden bestehen«, z.B. »wenn konkrete An-haltspunkte den Verdacht auf Vorliegen eines Sozialhil-femissbrauchs begründen«, wobei aber der Sozialleis-tungsträger jeweils anzugeben habe, weshalb der erfor-

7 Heute: nach den §§ 61 ff. SGB XII. 8 Landesbeauftragter für den Datenschutz Sachsen-Anhalt: Tätig-

keitsbericht 1.4.1995 – 31.3.1997, Nr. 24.6 (»Vorlage von Kon-toauszügen bei Sozialhilfeleistungen«).

9 Az.: LD 4 a – 72.06/00.302, abgedruckt in: Amtsblatt Schleswig-Holstein 1998, S. 966.

10 Sofern kein fortlaufender, aber ein einmaliger Bedarf geltend gemacht werden kann; vgl. heute § 23 Abs. 3 SGB II bzw. § 31 Abs. 1 und 2 SGB XII.

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derliche Nachweis nicht auf andere Weise erbracht wer-den könne.

Im Hinblick auf »Vollständigkeit der Kontoauszüge/ Schwärzung einzelner Buchungen« führte der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte zudem aus: »Den Hilfesuchenden kann nicht von vornherein und ausnahms-los das Schwärzen von einzelnen Buchungen verwehrt wer-den. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es, von den Hilfesuchenden nur soweit eine Mitwirkung zu verlan-gen, wie diese erforderlich und angemessen ist. Insbeson-dere bei Soll-Buchungen über kleinere Beträge (regelmäßig bis EUR 50,-) können Hilfesuchende die zu den Einzelbu-chungen aufgeführten Texte schwärzen. Über die Angabe der Beträge bzw. durch den Vergleich der Kontostände lässt sich die Einkommens- bzw. Vermögenssituation wei-terhin lückenlos feststellen. Inwieweit das Schwärzen von Texten bei einzelnen Soll-Buchungen über größere Beträge (über EUR 50,-) zur Wahrung schutzwürdiger Belange von Antragstellern zulässig ist, hängt von der Gestaltung des Einzelfalls ab. Das Schwärzen von Haben-Buchungen, also Einnahmen, kann zu einer Verletzung der Mitwirkungs-pflicht nach § 60 Abs. 1 SGB I führen, da nach den (heute: § 11 SGB II bzw. §§ 82 ff. SGB XII; der Verf.) grundsätz-lich das gesamte Einkommen bei der Hilfegewährung zu berücksichtigen ist. Die Forderung nach der Vorlage lü-ckenlos ungeschwärzter Kontoauszüge ist grundsätzlich nur im Rahmen der Klärung einer konkreten Frage zur Ein-kommens- und Vermögenssituation der Hilfesuchenden erforderlich und datenschutzrechtlich zulässig. Die Betrof-fenen müssen auf die Möglichkeit des Schwärzens bereits bei Anforderung der Kontoauszüge hingewiesen werden ...«

Im Hinblick auf die Speicherung der über die Vorlage von Kontoauszügen durch einen Sozialleistungsträger erlangten Sozialdaten,11 d.h. hinsichtlich des Erfassens, Aufnehmens oder Aufbewahrens dieser Informationen auf einem Daten-träger zum Zwecke ihrer weiteren Verarbeitung oder Nut-zung,12 wies der genannte Datenschutzbeauftragte schließ-lich darauf hin, ein Sozialleistungsträger dürfe Kontoauszü-ge lediglich einsehen, d.h. Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs. 5 SGB X erheben, und stellte zudem klar: »Die Ver-pflichtung zur Vorlage von Kontoauszügen nach § 60 SGB I stellt keine automatische Ermächtigung zur Speicherung dieser Daten dar. Nach § 67c Abs. 1 SGB X dürfen in Akten und auf sonstigen Datenträgern Sozialdaten nur gespei-chert werden, soweit dies für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe erforderlich ist. Kontoauszüge von drei bis sechs Monaten werden in der Regel eine Vielzahl von Kontobe-wegungen beinhalten, welche für die Feststellung des Sozi-alhilfebedarfs nicht relevant sind. Eine Speicherung dieser Daten ist unzulässig. Eine Speicherung darf nur erfolgen, wenn diese Daten zur Aufgabenerfüllung im Einzelfall er-forderlich sind. Im Regelfall ist daher in der Sozialhilfeakte nur zu vermerken, aus welchem Zeitraum Kontoauszüge eingesehen und dass keine sozialhilferechtlich relevanten Fakten ermittelt wurden. Wurden sozialhilferechtlich rele-vante Daten ermittelt, so können diese in der Akte vermerkt werden. Im Einzelfall kann auch die Fertigung von Kopien 11 Dazu § 67 Abs. 1 SGB X. 12 Vgl. § 67 Abs. 6 Ziff. 1 SGB X i.V.m. § 67c SGB X.

der Kontoauszüge zulässig sein. Voraussetzung ist aber, dass zuvor die nicht erforderlichen Angaben geschwärzt wurden.«

Den zitierten Ausführungen des schleswig-holsteinischen Datenschutzbeauftragten pflichteten die meisten Landesda-tenschutzbeauftragten im Wesentlichen bei.13

3. Die Entwicklung nach dem Inkrafttreten des SGB II

Zum 1.1.2005 trat als Art. 1 des am 24.12.2003 verkünde-ten Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-beitsmarkt14 das »Sozialgesetzbuch (SGB ) Zweites Buch (II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende« in Kraft. Bei dem nach §§ 19 ff. SGB II von den Trägern der Grundsi-cherung für Arbeitsuchende15 zu erbringenden Arbeitslo-sengeld II (Alg II) handelt es sich um eine bedürftigkeits-orientierte Sozialleistung, die nach § 9 SGB II nur gewährt wird, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige16 seinen Le-bensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann. Im Hinblick auf die frag-liche Pflicht, zum Nachweis der Hilfebedürftigkeit geeigne-te Nachweise zu erbringen, verfügte der Gesetzgeber weder eine Neuregelung noch eine Änderung der bis dahin (zum BSHG) bestehenden Rechtslage: Die Problematik der Vor-lage von Kontoauszügen als Voraussetzung für die (weite-re) Gewährung der Sozialleistung Alg II blieb die gleiche. Etliche von einer entsprechenden Aufforderung der Grund-sicherungsträger betroffene Hilfebedürftige riefen deshalb in dieser Frage in der Folgezeit sowohl die nunmehr zu-ständigen Sozialgerichte als auch die Landesdatenschutzbe-auftragten an.

13 So z.B. der Landesbeauftragte für den Datenschutz Nordrhein-

Westfalen: 14. Datenschutzbericht 1999, Ziff. 7. 1 (»Sozialämter schießen über das Ziel hinaus«): »Eine Aufbewahrung der Kon-toauszüge oder Kopien der Akte ist nur zulässig, soweit dies zur Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Im Regelfall dürfte ein Ak-tenvermerk über die getroffenen Feststellungen ausreichen. Die Soll-Posten können von Antragstellerinnen und Antragstellern grundsätzlich geschwärzt werden, worauf sie ausdrücklich hin-zuweisen sind. In Einzelfällen, insbesondere bei hohen Sollbu-chungen oder konkretem Missbrauchsverdacht, mag eine Offen-legung der Soll-Posten erforderlich sein«. Ferner: Der Landesbe-auftragte für den Datenschutz Rheinland-Pfalz: 18. Tätigkeitsbe-richt 1999 – 2001, Nr. 11.6.3 (»Vorlage von Kontoauszügen und Befreiung vom Bankgeheimnis«), der Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen. 15. Tätigkeitsbericht 1999/2000, Nr. 18.7 (»Anforderung von Kontoauszügen durch Sozialhilfe-träger«), der Landesbeauftragte für den Datenschutz Mecklen-burg-Vorpommern: 5. Tätigkeitsbericht 2000/2001, Ziff. 3.11.1 (»Umgang mit Sozialdaten – immer wieder aktuell«), der Ham-burgische Datenschutzbeauftragte in seiner im Januar 2002 abge-gebenen Stellungnahme in Sachen »Pauschale Vorlage von Kon-toauszügen beim Sozialamt nur in bestimmten Fällen« sowie der Landesbeauftragte für den Datenschutz Bremen in seiner am 24. Mai 2004 in Sachen »Vorlage von Kontoauszügen bei Bean-tragung von Sozialleistungen« abgegebenen Stellungnahme.

14 BGBl. I S. 2954. 15 Vgl. § 6 SGB II bzw. § 6a SGB II. 16 Vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

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3.1 Unterschiedliche Tendenzen in der Rechtsprechung der Sozialgerichte

Bislang bildete sich zur hier behandelten Problematik eine uneinheitliche, durch die beiden nachfolgend ausgeführten Tendenzen geprägte Rechtsprechung heraus:

Das LSG Hessen17 sowie hieran anschließend die Sozialge-richte Freiburg18 und Bayreuth19 stellten sich jeweils auf den Standpunkt, für die von einer ARGE erhobene Forde-rung nach der Vorlage der Kontoauszüge der letzten Mona-te durch einen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen als Voraus-setzung für eine (Weiter-)Bewilligung von Alg II bestünde keine tragfähige Rechtsgrundlage. Für diese Ansicht wurde im Wesentlichen angeführt: Wer als Antragsteller sämtliche leistungserheblichen Tatsachen auf dem hierfür vorgesehe-nen Formular angegeben habe,20 verletze keine nach den §§ 60 ff. SGB I bestehenden Mitwirkungsvorschriften, wenn dem zuständigen Träger der Grundsicherung für Ar-beitsuchende auf eine entsprechende Aufforderung hin keine Kontoauszüge vorgelegt würden. Diese Auszüge seien weder als »leistungserheblich« noch als »erforder-lich« für die Bewilligung von Sozialleistungen gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGB I anzusehen; es bestünde über-dies nicht die Notwendigkeit der Erhebung derart umfas-sender Datenbestände.21 Das aus den Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG ableitbare Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung würde eine entsprechend weitgehende Einschränkung des von Antragstellern beanspruchbaren Sozialgeheimnisses22 nicht gestatten. Mit diesen Grundsät-zen vereinbar seien nur Eingriffe »im überwiegenden all-gemeinen Interesse«, die »zudem einer verfassungsgemä-ßen gesetzlichen Grundlage bedürfen und dem rechtsstaat-lichen Gebot der Normenklarheit entsprechen müssen«: Eine solche Bestimmung besteht nach Ansicht des LSG Hessen aber nicht; resümierend stellt das Gericht fest: »Es steht nicht im Belieben der Verwaltung, Umfang und Reichweite der Mitwirkungspflichten von Antragstellern ohne konkrete rechtliche Grundlage festzulegen und bei deren Nichterfüllung sogar die Sanktion der Leistungsver-sagung zu verhängen. Zur Verhängung des Leistungsmiss-brauchs hat der Gesetzgeber u.a. den automatisierten Da-tenabgleich gemäß § 52 SGB II und besondere Anzeige- und Mitwirkungspflichten gemäß den §§ 56 ff. SGB II ein-geführt, die jedoch (einem Sozialleistungsträger; der Verf.) keinerlei Handhabe für sein Verlangen auf Vorlage der Kontoauszüge bieten, das auch unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung des Leistungsmissbrauchs jeglicher Legi-timation entbehrt ...«23

Demgegenüber grenzte sich das Sozialgericht München mit Beschluss vom 9.9.200524 ausdrücklich von der oben ange-führten Ansicht des LSG Hessen ab: Die in diesem Fall 17 Beschluss vom 22.8.2005 (L 7 AS 32/05 ER), FEVS 57, 258. 18 Beschluss vom 12.10.2005 (S 4 AS 4006/05 ER). 19 Beschluss vom 27.2.2006 (S 8 AS 34/06 ER). 20 Vgl. § 60 Abs. 2 SGB I zur (bedingten) Pflicht zur Benutzung

von Vordrucken. 21 Vgl. § 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X. 22 Vgl. § 35 SGB I. 23 So das LSG Hessen a.a.O. (oben Fn. 18). 24 S 50 AS 472/05 ER.

durch die ARGE von der Antragstellerin geforderte Vorlage von ungeschwärzten Kontoauszügen für die letzten sechs Monate sah dieses Gericht als rechtmäßig an. Es führte dazu aus: »Für die Feststellung, ob Einkommen und Ver-mögen vorhanden ist, (…) ist die Kontenbewegung der letzten Monate zur vollständigen Ermittlung von Einkom-men und Vermögen erforderlich. Datenschutzrechtliche Bedenken bestehen nicht, da es sich bei den angeforderten Unterlagen um erhebliche Tatsachen und Beweismittel im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGB I handelt, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgaben der Sozialver-waltung erforderlich sind (§ 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X). Entgegen der Auffassung des LSG Hessen im Beschluss vom 22. August 2005 wird aus zurückliegenden Kontobe-wegungen z.B. ersichtlich, ob die Antragstellerin Zuwen-dungen Dritter erhält oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen bisher vorgenommen wurden. Ein Verdacht auf beabsich-tigten Leistungsmissbrauch im Einzelfall – der bei Vorlage geschwärzter Kontoauszüge nahe liegt – ist nicht erforder-lich. Wenn die Antragstellerin Geld will, muss sie die ange-forderten Nachweise vorlegen, da das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch die §§ 60 ff. SGB I im Inte-resse daran, aus Steuermitteln finanzierte ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden, eingeschränkt wird.«

Das Sozialgericht Nürnberg schloss sich dieser Ansicht des Sozialgerichts München mit Beschluss vom 15.2.200625 an: Eine ARGE dürfe Alg II nicht nur auf Grund der vom An-tragsteller getätigten Aussagen bewilligen; vielmehr sei dieser auf Grund der §§ 60 ff. SGB I und des § 21 Abs. 2 Satz 1 SGB X26 verpflichtet, auf Verlangen »auch belastba-re Nachweise« vorzulegen. Hinter diese die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stets treffende Obliegenheit habe »das (…) Sozialgeheimnis zurücktreten«, denn: »Es ist nicht erkenn-bar, inwieweit die ARGE die vorgelegten Daten unbefugt benutzen würde.« Das Gericht räumt lediglich ein: »Es mag im Einzelfall gerechtfertigt sein, einzelne Daten auf den Kontoauszügen zu schwärzen, insbesondere solche, die die Behörde für die Berechnung der Bedürftigkeit nun wirklich nicht braucht«; was dies genauer bedeutet, wird vom Sozi-algericht Nürnberg freilich nicht näher ausgeführt.

3.2 Stellungnahmen der Landesdatenschutzbeauftrag-ten

Bei den Stellungnahmen der Landesdatenschutzbeauftragen fällt zunächst die Äußerung des Hessischen Datenschutz-beauftragten auf: Dieser grenzt sich in seinem zum 31.12.2005 vorgelegten 34. Tätigkeitsbericht von der oben angeführten Ansicht des LSG Hessen (Beschluss vom 22.8.2005) deutlich ab und pflichtet demgegenüber dem zitierten Standpunkt des Sozialgerichts München (Be-schluss vom 9.9.2005) mit der Begründung bei, »aus zu-rückliegenden Kontenbewegungen« werde »z.B. ersichtlich, ob und inwieweit Zuwendungen Dritter geflossen sind, größere Beträge transferiert und sonstige leistungserhebli-che Transaktionen vorgenommen wurden (etwa Beiträge zu 25 S 20 AS 75/06 ER. 26 Pflicht zur Mitwirkung von Antragstellern und Leistungsbezie-

hern bei der Ermittlung des Sachverhalts.

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einer Kapitallebensversicherung)«. Überdies hätten die ARGEn bei der Frage nach der Erforderlichkeit einer Erhe-bung von Sozialdaten im Sinne des § 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X »einen gewissen Beurteilungsspielraum, der bei dem Verlangen nach Kontoauszügen der letzten Monate sicher nicht überschritten wird«27. Der hessische Daten-schutzbeauftragte sieht es zudem als zulässig an, wenn öffentliche Träger »Kopien der Kontoauszüge zu den Akten nehmen, um beispielsweise die korrekte Sachbearbeitung jederzeit nachprüfen zu können«. Der genannte Daten-schutzbeauftragte hält es aber für »ein datenschutzrechtlich berechtigtes Anliegen« der Antragsteller, wenn »nach Überprüfung der Kontoauszüge nicht relevante Angaben ggf. geschwärzt werden«; ferner distanziert er sich von der Ansicht des Sozialgerichts München, bei Vorlage ge-schwärzter Kontoauszüge sei ein Verdacht auf einen beab-sichtigten Leistungsmissbrauch naheliegend.

Der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informations-freiheit Nordrhein-Westfalen räumt zwar in seinen am 9.5.2005 vorgelegten »Grundsätzen zum Datenschutz bei der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der ARGE« ein, es bestünden »keine durchgreifenden datenschutzrechtlichen Bedenken« gegen die Forderung der Vorlage von Nachweisen wie Kontoaus-zügen über einen zurückliegenden Zeitraum von bis zu sechs Monaten.28 Im Hinblick auf die Aufbewahrung von Kontoauszügen oder von Ablichtungen dieser Papiere beim zuständigen öffentlichen Träger hält der nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte dieses Verfahren aber nur für zulässig, »soweit dies im Einzelfall zur Aufgabener-füllung erforderlich ist«. Hinsichtlich der Anforderung von Kontoauszügen durch die ARGEn bei Beziehern von Alg II stellt der genannte Datenschutzbeauftragte fest: »Die Kenntnis darüber, wie Empfänger/innen von Sozialleistun-gen ihr ›Einkommen‹ verwenden und – dokumentiert durch die Soll-Posten im Kontoauszug – in einzelnen Beträgen per Überweisung ausgeben, ist demgegenüber bei laufen-dem Hilfebezug in der Regel zur Aufgabenerfüllung des Sozialleistungsträgers nicht erforderlich. Personen, die Sozialleistungen beziehen, sind nicht verpflichtet, ihr Aus-gabeverhalten offenzulegen und durch Vorlage der Soll-Buchungen nachzuweisen, für welche Ausgaben die Unter-stützung verwendet wird. Aus diesem Grunde kann hinsicht-lich dieser Tatsachen auch nicht nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 SGB I die Vorlage entsprechender Beweisurkunden verlangt werden.« Eine andere Einschätzung sei nur ver-tretbar »bei hohen Abbuchungen oder konkretem Miss-brauchsverdacht«. Und weiter: »Bei erstmaliger Beantra-gung von Sozialleistungen bzw. bei neuerlichem Antrag nach zeitlich unterbrochenem Leistungsbezug« sei hingegen entscheidend, ob die Kenntnis der Soll-Buchungen für die Aufgabenerfüllung des Sozialleistungsträgers erforderlich ist. Im Übrigen verweist der nordrhein-westfälische Daten-

27 Hessischer Datenschutzbeauftragter: 34. Tätigkeitsbericht vom

31. Dezember 2005, 5.9 (»Sozialwesen«), 5.9.1 (»Hartz IV – Vorlage von Kontoauszügen«).

28 Vgl. Landesdatenschutzbeauftragter Nordrhein-Westfalen: Grund-sätze zum Datenschutz, S. 23/24 (Ziff. 2.7: »Insbesondere Kon-toauszüge«).

schutzbeauftragte auf die Äußerung seines schleswig-holsteinischen Kollegen aus dem Jahre 1998 (dazu oben 2.).

Der Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen führt in seiner im gleichen Jahr (2005) veröffentlichten Stellungnahme zur »Grundsicherung für Arbeitsuchende – Arbeitslosengeld II« (und dort: »Vorlage von Kontoauszü-gen beim Antrag auf Arbeitslosengeld II«) aus, das von den Trägern dieser Sozialleistung geäußerte Verlangen nach einer Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge sei »in einer Gesamtwertung (…) nicht von vornherein negativ zu bewer-ten«. Angeknüpft wird in dieser Stellungnahme an die be-reits vom schleswig-holsteinischen Landesdatenschutzbe-auftragten im November 1998 einschränkend abgegebenen Hinweise (dazu oben 2.). Es wird allerdings der Befürch-tung Ausdruck verliehen, bei einer entsprechenden Hand-habung würden sich zwischen Antragstellern und Sozial-leistungsträger »möglicherweise länger dauernde Ausein-andersetzungen um einzelne Positionen« ergeben, was »Zweifel« dahin aufwerfe, »dass diese Lösung dem Interes-se des Antragstellers an einer möglichst schnellen und komplikationslosen Leistungsgewährung dienlich ist«.

Im November 2005 veröffentlichten die Datenschutzbeauf-tragten der Bundesländer Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schles-wig-Holstein »Gemeinsame Hinweise ... zur datenschutzge-rechten Ausgestaltung der Anforderung von Kontoauszügen bei der Beantragung von Sozialleistungen«29. In diesen Hinweisen wird an der pauschalen Anforderung von Kon-toauszügen zunächst Kritik geübt: Eine solche Kritik sei »insbesondere dann« angebracht, »wenn dem Betroffenen generell untersagt wird, einzelne Buchungen zu schwär-zen«.

»Um sowohl dem Recht auf informationelle Selbstbestim-mung der Antragsteller als auch den Interessen des Sozial-leistungsträgers angemessen Rechnung tragen zu können«, vertreten die genannten Datenschutzbeauftragten im We-sentlichen diejenigen Standpunkte, die im November 1998 der schleswig-holsteinische Landesdatenschutzbeauftragte äußerte (dazu oben 2.). Eine Anforderung von Kontoauszü-gen der letzten drei bis sechs Monate sei deshalb nur in den folgenden Fällen zulässig:

– Bei der erstmaligen Beantragung von laufenden Leis-tungen nach dem SGB II und dem SGB XII sowie bei einem Nachsuchen um einmalige Beihilfen außerhalb eines fortlaufenden Leistungsbezugs gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II bzw. § 31 Abs. 2 SGB XII,

– während eines laufenden Hilfebezugs frühestens nach Ablauf von zwölf Monaten,

– zum Zwecke der Klärung der Einkommens- und Ver-mögensverhältnisse in einem besonders begründeten Einzelfall, sofern eine entsprechende Informationsbe-schaffung nicht auf andere Weise – z. B. über einen au-tomatisierten Datenabgleich gemäß § 52 SGB II – mög-lich ist.

29 Vgl. www.datenschutz-berlin.de/doc/de/sonst/kontoauszuege.pdf.

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Ferner – so wird des weiteren festgestellt – müssten die betroffenen Personen auf die Möglichkeit des Schwärzens einzelner Buchungen auf den vorzulegenden Kontoauszü-gen von Amts wegen bereits bei Anforderung dieser Papie-re hingewiesen werden. Im Übrigen wird von den Daten-schutzbeauftragten festgestellt, dass die Unkenntlichma-chung von »Haben-Buchungen« zu einer Verletzung von Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. SGB I führen kann. In Bezug auf »Soll-Buchungen« wird es hingehen lediglich für unbedenklich erachtet, wenn Betroffene solche (ausgedruckte) Angaben sowie Buchungen über geringe Beträge (bis 50 Euro) schwärzen, die Überweisungen an Parteien und Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaf-ten betreffen. Hier habe aber der Text »Mitgliedsbeitrag« oder »Spende« stets weiterhin erkennbar zu sein. Hinsicht-lich der Speicherung von Sozialdaten (§ 67c Abs. 1 Satz 1 SGB X) stellen die genannten Datenschützer deutlich her-aus, dass von einem Sozialleistungsträger Kontoauszüge nur eingesehen werden (d.h. Daten erhoben30) dürfen, weil »Kontoauszüge eines Zeitraums von drei bis sechs Monaten regelmäßig eine Vielzahl von Kontobewegungen erhalten, die für die Feststellung des Bedarfs des Hilfebedürftigen nicht relevant sind.« Denn: ... »im Regelfall« würde »ein Vermerk in der Akte, aus welchem Zeitraum Kontoauszüge eingesehen werden und dass keine für den Leistungsan-spruch relevanten Daten ermittelt wurden«, ausreichen.

30 § 67 a SGB X.

4. Schlussfolgerung

Die zuletzt genannten Datenschutzbeauftragten nehmen eine prinzipiell als sachgerecht zu qualifizierende Abwä-gung vor zwischen dem Interesse der Sozialleistungsträger an einer möglichst exakten Ermittlung des Einkommens und Vermögens der um bedürftigkeitsorientierte Sozialleis-tungen nachfragenden Personen einerseits sowie den be-rechtigten Belangen hilfebedürftiger Menschen an einer Achtung ihres Persönlichkeitsrechts (in Gestalt des so ge-nannten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung31) andererseits. Der Kontoauszug als ein Instrument der Of-fenlegung von Hilfebedürftigkeit darf dabei von Behörden nicht uneingeschränkt angefordert werden. Eine »Datener-hebung auf Vorrat« wie »bis auf Weiteres« stellt jeweils einen Verstoß gegen das aus den Art. 1 und 2 GG abzulei-tende Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar: Solche Praktiken laufen auf eine als unverhältnismäßig anzusehende Kontrolle hilfebedürftiger Menschen hinaus. Die sich in der Praxis der Umsetzung gerade des SGB II hier aufzeigenden Schwierigkeiten sowie die unterschiedli-chen Äußerungen der Rechtsprechung und der Daten-schutzbeauftragten sind insbesondere auf die Tatsache zu-rückzuführen, dass zu dieser Problematik in den Regelun-gen des Sozialleistungsrechts – und hier insbesondere in den §§ 60 ff. SGB I – keine klaren gesetzlichen Vorgaben bestehen. Die Legislative ist deshalb aufgefordert, zum Zwecke einer sachgerechten Regelung dieses schwierigen Problemfeldes aussagekräftige Regelungen zu schaffen.

31 Grundlegend: BVerfGE 65, 1 (Volkszählungsurteil).

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Keine Beratungshilfe im Sozialrecht?

Die Beratungshilfestelle des Amtsgerichts Fulda versagt seit einiger Zeit regelmäßig die Bewilligung von Bera-tungshilfe gerade in einem Rechtsgebiet, in dem man es nicht erwarten würde, in sozialrechtlichen Angelegenheiten. Es geht dabei um die Beantragung der Übernahme der Kos-ten für die anwaltlichen Kosten im außergerichtlichen Be-reich, also für Beratung über die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die Vertretung im Widerspruchsverfah-ren.

Sie stützt ihre Entscheidungen darauf, dass nach ihrer Auf-fassung die Voraussetzungen des § 1 I Nr. BerHG nicht gegeben seien. Nach dem Amtsgericht Fulda sei es den Rechtssuchenden angeblich möglich, sich zumutbar ander-weitiger Hilfe zu bedienen. In einem Fall (Az: 55 II 632/06 AG Fulda) begehrte die Rechtssuchende Beratungshilfe für die Inanspruchnahme einer anwaltlichen Beratung. Sie hatte von der in Fulda für das Arbeitslosengeld II zuständigen Behörde des Landkreises Fulda, das Amt für Arbeit und Soziales, einen Bescheid erhalten, mit dem zum einen ge-mäß § 48 SGB X ein vorhergehender Bescheid aufgehoben und ein Erstattungsanspruch geltend gemacht worden war und zum anderen für die Erstattung nach § 86a II Nr. 5 SGG die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet worden war. Die Beratungshilfestelle des AG Fulda vertrat in ihrem ablehnenden Beschluss vom 14.7.2006 die Auffassung, der Antragstellerin wäre es zumutbar gewesen, bei dem Amt für Arbeit und Soziales vorzusprechen und den Wider-spruch bei der eingerichteten Servicestelle zur Niederschrift des Amtes zu erklären und die »besonders weitgehenden Beratungs- und Auskunftspflichten« in Anspruch zu neh-men. Dies gelte sowohl für den Widerspruch, als auch für ein evtl. gerichtliches Aussetzungsverfahren. Im Falle der Versagung der Aufnahme stünde der Antragsstellerin die Möglichkeit zu, sich an die Dienstvorgesetzten zu wenden.

In einer anderen Beratungshilfesache (Az: 55 II 942/05 AG Fulda) vertrat die Beratungshilfestelle die Auffassung, dass eine »anwaltliche Beratung und Vertretung nicht notwen-dig« sei, da das Amt für Arbeit und Soziales sicher hätte auch erklären können, warum und wie im konkreten Fall eine Anrechnung zu erfolgen hat. Die fristgerecht eingeleg-te Erinnerung gemäß § 6 II BerHG iVm. § 11 II RPflG wies das Amtsgericht Fulda mit der Begründung zurück, Bera-tungshilfe sei nur dann zu gewähren, wenn »keine anderen Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung stünden, deren Inanspruchnahme dem Rechtssuchenden zuzumuten« seien. Bei dem Amt für Arbeit und Soziales sei eine Service-Stelle eingerichtet, die unter anderem für die Entgegennahme von Widersprüchen der Bescheidempfänger zuständig sei. Dort hätte die Widerspruchsführerin ihr Anliegen und ihren Wi-derspruch ohne Weiteres vortragen können. Anwaltlicher Hilfe hätte es hierzu nicht bedurft.

Die Vorgehensweise der Beratungshilfestelle des AG Fulda dürfte allerdings rechts- und verfassungswidrig sein.

Sie verstößt zunächst gegen Gesetz und Recht, da das BerHG fehlerhaft durch das Gericht zum Nachteil der Rat-suchenden ausgelegt wird. Nach dem Gesetz über Rechts-beratung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkom-men (BerHG) vom 18.6.1980 (BGBl. I 1980, S. 689) hat der Gesetzgeber folgende Voraussetzungen für die Inan-spruchnahme von Beratungshilfe vorgesehen:

1. Der Rechtssuchende kann die erforderlichen Mittel nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen (§ 1 I Nr. 1 BerHG),

2. ihm stehen keine anderen Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung, deren Inanspruchnahme ihm zuzumuten ist (§ 1 I Nr. 2 BerHG),

3. die Wahrung der Rechte ist nicht mutwillig (§ 1 I Nr. 3 BerHG). Die Beratungshilfe wird gemäß § 2 II Nr. 4 BerHG auch in Angelegenheiten des Sozialrechts ge-währt. Dabei kann sich der Ratsuchende nach § 4 II S. 4 BerHG direkt an einen Rechtsanwalt wenden und nach-träglich einen Antrag auf Bewilligung der Beratungshil-fe stellen.

Die von der Beratungshilfestelle behauptete »besonders weitgehende« Auskunfts- und Beratungspflicht der Behörde existiert tatsächlich nicht. Die alle Sozialleistungsträger treffenden »allgemeinen« Auskunfts- und Beratungspflich-ten i.S.d. §§ 13-16 SGB I erstreckt sich nur darauf, dem Bürger das Rechtsmittel zu benennen und ggf. dem Bürger durch Niederschrift der Einlegung des Widerspruchs Hilfe-stellung zu leisten. Diese »Beratungsmöglichkeit« stellt aber gerade nicht eine für den Ratsuchenden Bürger quali-tativ gleichwertige und kostengünstige dar, die der Gesetz-geber bei der Schaffung des § 1 I Nr. 2 BerHG im Auge hatte. Denn es ist bei dem den Bescheid erlassenden Sozi-alhilfeträger gerade nicht sichergestellt, dass er objektiv geeignet und gewillt ist, an sie verwiesene Ratsuchende zu beraten oder weitergehende Hilfe zu gewähren. Dies schei-tert zum einen an dem fehlenden fachkundigen Personal der Service-Stelle, zum anderen ist evident nicht zu erwarten, dass die Behörde die gegen die eigene Entscheidung spre-chenden Umstände objektiv würdigen kann und dem Ratsu-chenden und Widerspruchsführer diese nennt (vgl. auch: Schoreit/Dehn, Kommentar zum BerHG, 8. Auflage, § 1 Rn. 98c ).

Das Amt für Arbeit und Soziales in Fulda behauptet nicht einmal selbst, dass die Servicestelle Widersprüche ent-gegennimmt und bei der Formulierung hilft. In ihrer home-page weist die Behörde unter dem Punkt »Kundenfreund-lichkeit« darauf hin, dass die Servicestelle über Leistungs-anträge informiere und Ausfüllhinweise erteile (vgl. www.fulda-jobs.de). Die von der Servicestelle angebotene Hilfe bezieht sich also nur auf das Antragsverfahren und Fragen zu den Formularen.

Faktisch erhalten die Bürger keine objektive Beratung in den Angelegenheiten des SGB II und häufig ist die Bera-

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tung durch den Sachbearbeiter oder sogar den Vorgesetzten fehlerhaft.

Die von dem Amtsgericht geforderte »Notwendigkeit der anwaltlichen Tätigkeit« ist gesetzlich nicht vorgesehen und stellt sich als rechtswidrige richterliche Rechtsfortbildung dar.

Die Versagung der Beratungshilfe durch das Amtsgericht dürfte auch verfassungswidrig sein. Sie verletzt Art. 1 GG iVm. dem Sozialstaatsprinzip, denn auch der Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums ist geschützt. Dazu sollen gerade auch die Leistungen nach dem SGB II dienen, denn diese sollen den Lebensunterhalt von erwerbsfähigen Hilfe-bedürftigen sichern (§ 1 I S. 2 SGB I) und zur Verwirkli-chung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern (§ 1 I SGB I). Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates (vgl. BVerfGE 82, 60, 80). Gerade zur Durchsetzung und Erhaltung von sozialen Leistungen hat der Gesetzgeber u.a. das Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen geschaf-fen. Es liegt auch eine Verletzung des Art. 3 GG vor, wenn von Ratssuchenden in sozialrechtlichen Angelegenheiten etwas verlangt wird, was von Ratsuchenden in arbeitsrecht-lichen oder zivilrechtlichen Angelegenheiten nicht verlangt wird. Das Amtsgericht setzt voraus, dass die bei den Be-hörden eingerichteten Widerspruchsstellen objektiv die Bescheide der eigenen Behörde überprüfen und die Ratsu-chenden auch noch auf die Fehler hinweist und bei der Formulierung der Widersprüche hilft. Diese Ansicht dürfte lebensfremd sein.

Zuletzt liegt auch noch eine Verletzung des Art. 19 IV GG vor, denn geschützt ist nicht nur effektiver Rechtsschutz im Einzelfall, sondern auch der freie Zugang zu den Sozialleis-tungen und zu Beratungs- und Prozesskostenhilfe.

Durch die leichtfertige Versagung der Beratungshilfe wer-den nach meiner Auffassung die vorgenannten Grundrechte der Ratsuchenden Bürger verletzt. Dies dürfte oftmals auch vor dem Hintergrund der Kenntnis geschehen, dass gegen die Entscheidungen der Gerichte über die Erinnerung kein Rechtsmittel mehr statthaft ist. Es bleibt nun im Sinne einer Klärung der Rechtslage und Korrektur der Entscheidungen zu hoffen, dass die vom Unterzeichner am 9.11.2006 einge-legte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenom-men wird.

Daniel Herbe, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht in Fulda

Die Gewährung von Beratungshilfe in sozialrechtlichen Angelegenheiten ist schon seit jeher ein umstrittenes The-ma. Nachdem das Beratungshilfegesetz ursprünglich in Angelegenheiten des Sozialrechts die Gewährung von Be-ratungshilfe überhaupt nicht vorsah, hat der Gesetzgeber diese für das Sozialrecht erst im Jahre 1993 eingeführt. Grund für die anfängliche Zurückhaltung des Gesetzgebers war es, daß damals (1976/77) nur ein recht geringer Bera-

tungsbedarf in den Bereichen Arbeitsrecht und Sozialrecht bestand. Den damaligen geringen Beratungsbedarf erklärte man sich mit dem bereits vorhandenen Beratungsangebot, insbesondere durch Gewerkschaften und Sozialverbände, aber auch wegen dem Angebot an Beratungsmöglichkeiten im Bereich der öffentlichen Verwaltung im Rahmen der §§ 14, 15, 16 Abs. 3 des SGB I, § 8 Abs. 2 BSHG, § 25 VwVfG (vgl. BT-Drs. 8/3311).

Als in der Folge der Beratungsbedarf gerade im Sozialrecht immer mehr anstieg, setzten sich die Betroffenen freilich gegen die fehlende Möglichkeit der Beratungshilfe zur Wehr. Im Januar 1989 kam es daher zu einem Nichtannah-mebeschluß der 3. Kammer des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß vom 19.1.1989, Az.: 1 BvR 1685/88), in dem das Bundesverfassungsgericht ausführte, daß die Nichtgewäh-rung von Beratungshilfe in Angelegenheiten des Sozial-rechts nicht gegen den Gleichheitssatz verstoße. Zur Be-gründung wurde angeführt, ein sachlicher Grund für die Nichtgewährung von Beratungshilfe in Angelegenheiten des Sozialrechts sei mit dem Regierungsentwurf darin zu sehen, daß die Vorschriften der §§ 14, 15 und 16 SGB I und des § 8 Abs. 2 BSHG die Träger von Sozialleistungen ein-schließlich der Sozialhilfe zur (kostenlosen) Beratung und Auskunft gegenüber den Hilfesuchenden verpflichten und damit die Gewährung von Beratungshilfe in der Form des § 3 BerHG weniger notwendig erscheint.

Nur drei Jahre später entschied das Bundesverfassungsge-richt dann allerdings, daß die Nichtgewährung von Bera-tungshilfe im Bereich des Arbeitsrechts mit dem Gleich-heitssatz nicht vereinbar war (Beschluß vom 02.12.1992, Az.: 1 BvR 296/88 = BVerfGE 88, 5). Daraufhin änderte der Gesetzgeber das Beratungshilfegesetz entsprechend und führte die Gewährung von Beratungshilfe nicht nur für das Arbeitsrecht, sondern auch für das gesamte Sozialrecht ein.

Damit steht nach dem Willen des Gesetzgebers eigentlich völlig klar fest, daß in Angelegenheiten des Sozialrechts den Rechtssuchenden Beratungshilfe zu gewähren ist. Die-ses gilt, obwohl gerade im Bereich des Sozialrechts auch die Behörden im Rahmen der §§ 14, 15 und 16 SGB I zur Beratung verpflichtet sind. Dies folgt schon daraus, daß dem Gesetzgeber diese Beratungsmöglichkeiten bekannt waren, dieser jedoch trotzdem die Beratungshilfe auch auf Angelegenheiten des Sozialrechts ausgedehnt hat.

Gleichwohl versuchen immer mehr Amtsgerichte aufgrund der drastisch gestiegenen Kosten, die Gewährung von Bera-tungshilfe im Bereich des Sozialrechts faktisch zu versagen, in dem die Rechtssuchenden nach wie vor auf die Beratung durch die Behörde verwiesen werden. Dies geht sogar so weit, daß man von den Betroffenen verlangt, Widersprüche selbst einzulegen und sich bei der Begründung von der Behörde, gegen die sich der Widerspruch richtet, helfen zu lassen. Hierbei wird zum Teil zur Begründung immer noch auf den Kammerbeschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1989 verwiesen, der mittlerweile völlig über-holt ist.

Daß dies rechtswidrig ist, liegt auf der Hand. Nicht nur, daß der Gesetzgeber diese Möglichkeiten der Beratung mittler-

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weile als nicht ausreichend angesehen hat. Schon wegen der sich hieraus ergebenden Interessenkonflikte wird wohl auch kaum erwarten werden können, daß die Behörde den Be-troffenen etwa im Rahmen der Formulierung eines Wider-spruches objektiv darüber berät, welche Gesichtspunkte für eine Rechtswidrigkeit des betroffenen Bescheides sprechen. Zudem ist es leider auch so, daß in vielen Fällen eine Bera-tung durch die Behörde entweder gar nicht erfolgt oder aber die Beratung nicht objektiv oder gar fehlerhaft ist. Dies gilt gerade im Bereich des SGB II. Als Beispiel sei etwa die Frage des Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft oder die Rechtmäßigkeit von Leistungsabsenkungen genannt. Die Beratung, die hier teilweise von den Behörden erfolgt, tendiert oftmals praktisch gegen null, oder sie ist fehlerhaft. Weil dem so ist, muß dem Betroffenen gerade durch das Institut der Beratungshilfe die Möglichkeit gegeben wer-den, eine bereits von der Behörde erfolgte Beratung durch einen unabhängigen Berater auf ihre Richtigkeit hin über-prüfen zu lassen.

Eine andere Schiene, die von den Amtsgerichten immer wieder gefahren wird, ist die, daß eine imaginäre »Notwen-digkeit der anwaltlichen Tätigkeit« zur Tatbestandsvoraus-setzung gemacht wird, obwohl das Gesetz eine solche über-haupt nicht vorsieht (vgl. hierzu Schoreit/Dehn, § 1, Rn. 6, 40). Dies geht dann teilweise so weit, daß die Betroffenen sich mit zahlreichen Versuchen zunächst selbst an die Be-hörde zu wenden haben, bevor die Erteilung eines Berech-tigungsscheins in Erwägung gezogen wird. Dies führt nicht selten dann dazu, daß Widerspruchsfristen versäumt wur-den bzw. die Betroffenen bereits seit Wochen oder Monaten keine Leistungen zum Lebensunterhalt erhalten.

Aufgrund der derzeit bestehenden Situation, die von Amts-gericht zu Amtsgericht und teilweise sogar von Rechtspfle-ger zu Rechtspfleger unterschiedlich sein kann, kann daher nur empfohlen werden, auf das Institut der nachträglichen Beantragung von Beratungshilfe vollständig zu verzichten. Sicher sein, daß Beratungshilfe für eine Angelegenheit des Sozialrechts gewährt wird, kann man nämlich nur dann, wenn dem Rechtssuchenden vor der Beratung bereits ein Berechtigungsschein ausgestellt wurde. Diese Situation ist sowohl für die Rechtssuchenden als auch für die Anwalt-schaft völlig unbefriedigend. Oft vergeht wertvolle Zeit (bis zu mehreren Wochen) für das Besorgen des Berechtigungs-scheins, sofern er denn überhaupt erteilt wird. Der Hinweis, daß zwar ein Beratungshilfeanspruch besteht, es aber gleichwohl sein kann, daß kein Berechtigungsschein ausge-stellt wird und deswegen Gebühren für die anwaltliche Tätigkeit anfallen können, stößt zu Recht auf völliges Un-verständnis bei den Rechtssuchenden.

Der in diesem Heft (S. 229) veröffentlichte Beschluß des Amtsgerichts Wiesbaden ist daher besonders zu begrüßen und ermutigt hoffentlich andere betroffene Kollegen dazu, ebenfalls erfolgreiche Erinnerungsverfahren durchzuführen und für Klarheit im betroffenen Amtsgerichtsbezirk zu sorgen.

Martin Wallbruch, Rechtsanwalt in Wiesbaden

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Entscheidungen zur Arbeitsförderung (SGB III)

§§ 183 Abs. 1 und 2, 324 Abs. 3 SGB III Versäumung der Antragsfrist für Insolvenzgeld

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. 4. 2006 – L 9 AL 118/04

Richter: Dr. Poske

Beklagte: Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Bayern

Leitsatz (der Redaktion):

Der Arbeitnehmer hat die Versäumung der zweimonati-gen Ausschlussfrist für die Beantragung des Insolvenz-geldes auch dann zu vertreten, wenn er in Unkenntnis des Insolvenzereignisses weiterarbeitet.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die Verpflichtung zur Erstattung eines Insolvenzgeldvorschusses für den Zeitraum 1. September 2000 – 16. November 2000 in Höhe von 4.500,00 DM.

Der 1965 geborene Kläger war seit 3. Mai 2000 bei der Firma P. GmbH in C-Stadt als Brandschutzfachmann be-schäftigt. Er erhielt für die Monate September 2000 und bis November 2000 das vereinbarte Arbeitsentgelt nicht voll-ständig, bot seinem Arbeitgeber ab 27. September 2000 erfolglos seine Arbeitskraft an und wies auf Materialmangel auf seiner Baustelle in G. hin (Schreiben der Industriege-werkschaft Bauen-Agrar-Umwelt an die Firma P. GmbH vom 9. und vom 15. November 2000), und kündigte das Arbeitsverhältnis fristlos zum 16. November 2000 und meldete sich an diesem Tag bei dem zuständigen Ar-beitsamt arbeitslos. Die P. GmbH beantragte am 23. No-vember 2000 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei dem Insolvenzgericht Weilheim; das Gericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 9. Mai 2001 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckende Masse ab (IN 221/2000). Der Kläger erhielt am 18. Dezem-ber 2000 von der P. GmbH eine Insolvenzgeldbescheini-gung mit Datum vom selben Tag, in der die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit sowie der Lösung des Arbeitsverhältnisses durch Arbeitgeberkündigung auf den 31. Oktober 2000 datiert sind. – Das Arbeitsgericht Mün-chen verurteilte die P. GmbH auf die Klage des Klägers vom 9. Januar 2001 durch Versäumnisurteil vom 14. März 2001 zur Zahlung von 10.384,03 DM (29b CA 26/01 W).

Der Kläger beantragte mit Schreiben der Industriegewerk-schaft Bauen-Agrar-Umwelt vom 11. Januar 2001, welches bei der Beklagten am 12. Januar 2001 einging, die Gewäh-rung von Insolvenzgeld für die Monate September 2000, Oktober 2000 und November 2000 sowie einen Vorschuss auf das zu erwartende Insolvenzgeld. – Die Beklagte ge-

währte dem Kläger durch Bescheid vom 27. April 2001 einen Insolvenzgeld-Vorschuss in Höhe von 4.500,00 DM unter Hinweis darauf, dass dieser zu erstatten sei, soweit der Anspruch auf Insolvenzgeld nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt werde.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 13. November 2001 den Antrag des Klägers auf Gewährung von Insol-venzgeld mit der Begründung ab, der Antrag vom 12. Janu-ar 2001 sei erst nach Ablauf der zweimonatigen Aus-schlussfrist nach dem maßgeblichen Insolvenzereignis ge-stellt worden. Das maßgebliche Insolvenzereignis sei hier der Tag der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit am 31. Oktober 2000, sodass die Ausschlussfrist vom 1. November 2000 bis zum 31. Dezember 2000 laufe. Der geleistete Vorschuss sei in Höhe von 4.500,00 DM zu er-statten.

Hiergegen legte der Kläger am 30. November 2001 Wider-spruch mit der Begründung ein, die geltenden Insolvenz-geld-Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III) sähen gar keine zweimonatige Ausschlussfrist vor. Im Übrigen sei das nach § 183 SGB III maßgebliche Insolvenzereignis nicht die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit zum 31. Oktober 2000, sondern entweder die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder die Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Da die Entscheidung des Insolvenzgerichts mit Sicherheit nach dem 23. November 2000 ergangen sei, der Leistungsantrag jedoch bereits Anfang Januar 2001 gestellt worden sei, wäre auch eine zweimonatige Ausschlussfrist gewahrt. – Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchs-bescheid vom 18. Juli 2002 als unbegründet zurück. Dem angefochtenen Bescheid sei zutreffend die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit am 31. Oktober 2000 als maßgebliches Insolvenzereignis zugrunde gelegt, weil zu diesem Zeitpunkt der Antrag auf Eröffnung des Insolvenz-verfahrens (vom 23. November 2000) noch nicht gestellt und noch nicht abgewiesen gewesen sei. Daraus ergebe sich das Fristversäumnis gemäß § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III. Eine Nachfrist gemäß § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III könne dem Widerspruchsführer nicht eingeräumt werden, weil er von der Insolvenz seines Arbeitgebers innerhalb der Aus-schlussfrist durch das Schreiben des Steuerberaters vom 18. Dezember 2000 Kenntnis erlangt habe. Die Erstattungs-forderung beruhe auf § 186 Satz 4 SGB III.

Der Kläger erhob am 26. Juli 2002 Klage […]

Das Sozialgericht Marburg hat die Klage mit Urteil vom 29. März 2004 abgewiesen. In der Begründung hat es aus-geführt, der Kläger habe die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III für die Beantragung von Insolvenzgeld versäumt. […]

Der Kläger hat am 26. Mai 2004 Berufung bei dem Hessi-schen Landessozialgericht gegen das ihm am 4. Mai 2004 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Marburg eingelegt. Er

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trägt zur Begründung vor, bei Weiterarbeit des Arbeitneh-mers in Unkenntnis des anspruchsbegründenden Ereignis-ses verschiebe sich die Antragsfrist mit dem Insolvenzgeld-zeitraum auf die drei Monate vor der Kenntnisnahme. Ver-sage man dem in fahrlässiger Unkenntnis weiterarbeitenden Arbeitnehmer die Möglichkeit der Antragstellung mit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme, liefe die gesetzliche Intenti-on, den Arbeitnehmer während seiner Unkenntnis des Ab-weisungsbeschlusses des Insolvenzgerichts vor dem Verlust seiner bis dahin erarbeiteten Entgeltansprüche zu schützen, leer. Gleiches gelte bei Insolvenzverfahren von Außen-dienstmitarbeitern oder im Urlaub befindlichen Arbeitneh-mern (Gagel, SGB III, Kommentar, § 324 Rdnr. 29). Ferner könne die Auslegung des Merkmals der Offensichtlichkeit einer Masseunzulänglichkeit durch das Sozialgericht nicht geteilt werden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichtes Mar-burg vom 29. März 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 18. Juli 2002 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

[…]

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 29. März 2004 ist nicht fehlerhaft und nicht aufzuheben. Der angefochtene Be-scheid der Beklagten vom 13. September 2001 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2002 ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

Der Kläger hat der Beklagten den ihm durch Bescheid vom 27. April 201 gewährten Vorschuss auf das zu erwartende Insolvenzgeld in Höhe von 4.500,00 DM entsprechend 2.300,81 Euro zu erstatten. Ein von dem Arbeitsamt auf das Insolvenzgeld erbrachter Vorschuss ist gemäß § 186 Satz 4 SGB III zu erstatten, soweit ein Anspruch auf Insolvenz-geld nicht … zuerkannt wird. – Mit der zutreffenden Ver-neinung eines Anspruchs des Klägers auf Insolvenzgeld durch Bescheid der Beklagten vom 13. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2002 wurde hier der streitbefangene Erstattungsanspruch, den Insolvenzgeldvorschuss betreffend, kraft Gesetzes begrün-det.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Insol-venzgeld aufgrund von offenen Arbeitsentgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis zur Firma P. GmbH. Arbeitneh-mer haben gemäß § 183 Abs. 1 SGB III Anspruch auf In-solvenzgeld, wenn sie u. a. bei vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröff-nung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Insolvenzereignis), für die vorausge-henden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprü-che auf Arbeitsentgelt haben. Betroffene Arbeitnehmer haben Insolvenzgeld gemäß § 324 Abs. 3 SGB III innerhalb

einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insol-venzereignis zu beantragen. Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, so wird Insolvenzgeld geleistet, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes ge-stellt wird. Der Arbeitnehmer hat die Versäumung der Frist zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorg-falt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat.

Der Kläger hat die Versäumung der Antragsausschlussfrist zu vertreten. Anknüpfungspunkt für die Berechnung der Ausschlussfrist nach § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist hier das Insolvenzereignis der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III als der früheste der gesetzlich normierten drei Insolvenzer-eignis-Tatbeständen. Eine vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit liegt vor, wenn keine dem Betriebszweck dienenden Arbeiten mehr verrichtet werden, wozu reine Erhaltungs-, Abwicklungs- oder Liquidationsarbeiten nicht zählen (Bundessozialgericht – BSG-, SozR 4100 § 141 b Nr. 19). Keine zwingende Voraussetzung einer vollständi-gen Beendigung ist eine Gewerbeabmeldung oder Lö-schung der Firma im Handelsregister (LSG Nordrhein-Westfalen vom 19. März 2001 – L 12 AL 117/00).

Vorliegend beendete die P. GmbH ihre Betriebstätigkeit am 31. Oktober 2000 vollständig. Abzustellen ist auf das Ge-samtbild des Einzelfalles. Das Gericht stützt sich haupt-sächlich auf die Angaben des Zeugen C., der Mitgesell-schafter der P. GmbH mit einem Gesellschaftsanteil von unter 50 % neben seiner Ehefrau als Hauptgesellschafterin und Geschäftsführerin war und der intern die Geschäfte mit Generalvollmacht führte. […]

Die rechtliche Bewertung der bezeugten Geschehensabläufe ergibt die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit zum 31. Oktober 2000. Eine Betriebseinstellung liegt vor, wenn nach dem Gesamtbild des Einzelfalles keine dem Betriebszweck dienende Tätigkeit mehr geleistet wird (Pe-ters-Lange, in: Gagel, Kommentar zum SGB III, § 183 Rdnr. 42). Maßgeblich für die Gestaltung der Betriebstätig-keit ist der Wille der Betriebsleitung. Dieser Wille – hier des Zeugen für seine Ehefrau – war auf die Beendigung der Betriebstätigkeit gerichtet und trat nach außen: Der Auftrag des Zeugen an seinen Steuerberater zur Entlassung aus-nahmslos aller Beschäftigten der P. GmbH zum 31. Okto-ber 2000 ist vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Handlungsunfähigkeit wegen Zahlungsunfähigkeit eine aussagekräftige Gestaltung mit dem Ziel der Beendigung der Betriebstätigkeit. Zu mehr Aktivitäten reichten die Res-sourcen der GmbH wie die Kräfte des Zeugen, der später erkrankte, in der damaligen Krisensituation nicht, was nachvollziehbar ist. – Dagegen macht der Kläger ohne Er-folg seine Weiterarbeit in Unkenntnis der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit als dem Betriebszweck dienende Tätigkeit geltend. Das die Kündigungserklärung des Arbeitgebers vom 31. Oktober 2000 zum 31. Oktober 2000 (siehe die undatierte Arbeitsbescheinigung) den Klä-ger nicht nachweisbar erreichte, das Arbeitsverhältnis also bis zur Eigenkündigung des Klägers zum 16. November 2000 fortdauerte, beinhaltete weder eine Weiterarbeit i.S.v. § 183 Abs. 2 SGB III noch eine die vollständige Beendi-

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gung der Betriebstätigkeit i.S.v. § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III hindernde Fortführung einer dem Betriebszweck dienenden Tätigkeit. Mit Rücksicht auf das erfolglose An-bieten seiner Arbeitskraft durch den Kläger seit dem 27. Oktober 2000 fand gerade keine dem Betriebszweck die-nende Weiterarbeit mit Wissen und Wollen des Arbeitge-bers statt. Eine Weiterarbeit anderer Beschäftigter der P. GmbH über den 31. Oktober 2000 hinaus ist nicht bekannt.

Auch die übrigen zwei Tatbestandsmerkmale des Insol-venzereignisses nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III, die kumulativ vorliegen müssen, waren im Zeitpunkt der voll-ständigen Beendigung der Betriebstätigkeit am 31. Oktober 2000 gegeben: Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzver-fahrens als Ausschlusstatbestand war am 31. Oktober 2000 (noch) nicht gestellt und wurde erst am 23. November 2000 bei dem Amtsgericht Weilheim gestellt, und ein Insolvenz-verfahren kam am 31. Oktober 2000 offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht.

Masselosigkeit i.S.v. § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners voraussicht-lich nicht ausreichen wird, die Verfahrenskosten zu decken, die § 54 Insolvenzordnung im Einzelnen anführt. Die Fest-stellung der Masselosigkeit, die als Teil des Insolvenzver-fahrens nach § 26 Insolvenzordnung außerhalb des Insol-venzverfahrens schwerlich fundiert durchführbar ist, muss im Insolvenzgeldverfahren lediglich dem gesetzlichen Kri-terium der Offensichtlichkeit genügen. Die entsprechende Auslegung berücksichtigt Sinn und Zweck des Insolvenzer-eignisses gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III als Auf-fangtatbestand bei Entgeltrückständen aufgrund einer ange-gebenen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ohne Durchführung eines Insolvenzverfahrens (vgl. BSG vom 4. März 1999 – B 11/10 AL 3/98 R). Die Rechtsprechung des BSG spricht deshalb in diesem Kontext den Eindruck eines unvoreingenommenen Betrachters an: Offensichtlich ist eine Masselosigkeit, wenn sie sich aus den äußeren Tat-sachen ergibt, d. h. wenn alle äußeren Tatsachen – und insofern der Anschein – für Masseunzulänglichkeit spre-chen (vgl. BSG, wie vor). Das Fehlen von Tatsachen, die den zwingenden Schluss zulassen, dass ein Konkursverfah-ren mangels Masse nicht in Betracht kommt, steht der so zu verstehenden Offensichtlichkeit nicht entgegen (vgl. BSG vom 23. November 1981 – 10/8b RAr 6/80, in: SozR 4100 § 41 b Nr. 21). Danach wird in der Regel offensichtliche Masselosigkeit anzunehmen sein, wenn Zahlungsunfähig-keit nach § 17 Abs. 2 Satz 2 Insolvenzordnung anzunehmen sein wird, weil der Arbeitgeber seinen wirtschaftlichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommt, – zum Beispiel, wenn unter Hinweis auf Zahlungsunfähigkeit kein Lohn mehr gezahlt wird und die Betriebstätigkeit eingestellt ist (BSG SozR 4100 § 141 b Nr. 21) oder wenn arbeitsgericht-liche Versäumnisurteile gegen den Arbeitgeber ergangen sind (BSG SozR 3-4100 § 141 b Nr. 12) oder wenn der Arbeitgeber seinen Betrieb aufgegeben hat, weil er in Zah-lungsschwierigkeiten war und eine auf den Betriebszweck gerichtete Tätigkeit eingestellt wurde (LSG Brandenburg vom 28. Juni 2000 – L 8 AL 42/99). Offensichtliche Masse-losigkeit liegt bei bloßer Zahlungsunwilligkeit des Arbeit-gebers nicht vor (Wissing/Mutschler/Bartz/Schmidt-De Ca-luwe, SGB III, Kommentar, 2. Auflage, § 183 Rdnr. 55 und

56), wofür zum Beispiel sprechen könnte, wenn ein ver-schuldeter Arbeitgeber sich unter Mitnahme von Vermögen ins Ausland abgesetzt hat (BSG vom 22. September 1993 – 10 RAr 9/91 in: SozR 3-4100 § 141b Nr. 7), jedenfalls nach der Lebenserfahrung kaum ohne Barmittel zum Aufbau einer neuen Existenz im Ausland weggezogen ist (LSG Berlin-Brandenburg vom 8. Dezember 2005 – L 28 AL 75/04).

Vorliegend war die durch Insolvenzgutachten von Dr. E., E-Stadt, vom 10. März 2001 geklärte Masselosigkeit der Firma P. GmbH am 31. Oktober 2000 auch ihrem Anschein nach durch äußere Tatsachen hinreichend begründet: Die Firma P. GmbH hatte die Entgeltforderungen des Klägers für die Entgeltabrechnungszeiträume ab September 2000 nicht erfüllt, das Arbeitskraftangebot des Klägers ab 27. September 2000 nicht angenommen, Baustellenmaterial (Baustelle G) nicht organisiert und die Arbeitsverhältnisse aller Beschäftigten zum 31. Oktober 2000 kündigen lassen. Umgekehrt sind Umstände, die seinerzeit Zweifel an die-sem Anschein hätten begründen können, nicht ersichtlich und klägerseitig nicht dargelegt.

Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Insolvenzgeld vom 12. Januar 2001 (Eingang bei dem Arbeitsamt Weil-heim) erfolgte außerhalb der gesetzlichen Ausschlussfrist. Die zweimonatige Ausschlussfrist beginnt bei allen Insol-venzereignissen mit deren Eintritt und ohne Rücksicht auf die Kenntnis des betroffenen Arbeitnehmers von dem maß-geblichen Insolvenzereignis (BSG SozR 4100 § 141 Nr. 8 m.w.N.; BSG vom 4. März 1999 – B 11/10 AL 3/98 R). Ausgehend vom Insolvenzereignis der vollständigen Been-digung der Betriebstätigkeit am 31. Oktober 2000 begann hier der Lauf der Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III unter Ausschluss des Tages des Insolvenzereignis-ses am Folgetag (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) und endete am 2. Januar 2001, weil der 31. Dezember 2000 sowie der 1. Januar 2001 Feiertage (Silvester, Neujahr) waren (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Der Zeitpunkt der Antragstel-lung (12. Januar 2001) lag damit nach dem Ende der Aus-schlussfrist.

Dagegen macht der Kläger ohne Erfolg einen Fristlauf ab seiner Kenntnis des maßgeblichen Insolvenzereignisses nach Weiterarbeit in Unkenntnis des Insolvenzereignisses gemäß § 183 Abs. 2 SGB III geltend. Soweit im Schrifttum diese Mindermeinung vertreten wird (Gagel, SGB III, Kommentar, Loseblatt, Stand Juli 2004, § 324 Rdnr. 29; Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, Kommentar, 3. Auf-lage, Loseblatt, Stand 12/2002, § 324 Rdnr. 14; – anders: Hess/Wagner, in: Gemeinschaftskommentar, SGB III, Lo-seblatt, Stand Dezember 1999, § 324 Rdnr. 34; Eicher/ Schlegel, SGB III, Kommentar, Loseblatt, Stand August 2004, § 324 Rdnr. 50; Hauck/Noftz, SGB III, Kommentar, Loseblatt, Stand IX/2003, § 324 Rdnr. 22; Niesel, SGB III, Kommentar, 3. Auflage, § 324 Rdnr. 20), befindet sich diese Meinung nicht im Einklang mit der höchstrichterli-chen Rechtsprechung (nach altem Recht). Das Bundessozi-algericht hat im Gegenteil zur gutgläubigen Weiterarbeit ausgeführt, dass die Antragsfrist von zwei Monaten nach dem Abweisungsbeschluss des Konkursgerichts auch hier

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gelte (Urteil vom 27. August 1998 – B 10 AL 7/97 R, obiter dictum zu § 141e Abs. 1 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz). Ohnedies ist vorliegend von einer tatsächlichen Weiterar-beit des Klägers nicht auszugehen (siehe oben zur Fortfüh-rung einer dem Betriebszweck dienenden Tätigkeit).

Der Kläger hat die Versäumung der Ausschlussfrist zu ver-treten. Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen ver-säumt, die er nicht zu vertreten hat, so wird gemäß § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III Insolvenzgeld geleistet, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hin-dernisses gestellt wird. Der Arbeitnehmer hat die Versäu-mung der Frist gemäß § 324 Abs. 3 Satz 3 SGB III zu ver-treten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat. – Eine auf Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis der rechtserhebli-chen Umstände seitens des Arbeitnehmers schließt daher den Insolvenzgeldanspruch nach zwei Monaten aus (BSG vom 26. August 1983 – 10 RAr 1/82). Eine Nachfrist ist nicht eröffnet, wenn das Hindernis für eine fristgerechte Antragstellung schon während des Laufs der Ausschluss-frist wegfällt (LSG Bayern vom 15. Oktober 2002 – L 11 AL 327/01). Hinsichtlich der bei einer gewissenhaften Pro-zessführung nach allgemeiner Verkehrsanschauung erfor-derlichen Sorgfalt des Arbeitnehmers gilt ein an den Er-kenntnismöglichkeiten und -fähigkeiten des Arbeitnehmers (Hünecke, in: Gagel, a.a.O., § 324 Rdnr. 31) orientierter objektiver Verschuldensmaßstab unter Einschluss von Fahr-lässigkeit (§ 276 Abs. 2 BGB). Es sind die für die Wieder-einsetzung in den vorigen Stand geltenden Grundsätze an-zuwenden (LSG Brandenburg vom 28. Juni 2000 – L 8 AL 42/99). Das Verschulden des von ihm beauftragten Vertre-ters ist dem Arbeitnehmer zuzurechnen (ständige Recht-sprechung; BSG vom 29. Oktober 1992, 10 RAr 14/91). – Vorliegend hat der Kläger eine fahrlässige Unkenntnis in Bezug auf alle Tatbestandsmerkmale des Insolvenzereignis-ses gemäß § 183 Abs. 2 SGB III bis zum Ende der Aus-schlussfrist am 2. Januar 2001 zu vertreten.

Der Kläger hatte Kenntnis von der vollständigen Einstel-lung der Betriebstätigkeit der P. GmbH am 31. Oktober 2000; denn in der ihm am 18. Dezember 2000 zugegange-nen Insolvenzgeldbescheinigung seines Arbeitgebers vom 18. Dezember 2000 waren Umstand und Zeitpunkt der voll-ständigen Einstellung der Betriebstätigkeit ausdrücklich so eingetragen. Weiter wusste der Kläger oder hätte erkennen müssen, dass ein Insolvenzverfahren am 31. Oktober 2000 offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kam. Inso-weit genügt auch im vorliegenden Kontext das Erkennen-Können des äußeren Scheins einer offensichtlichen Masse-losigkeit (siehe oben). An äußeren Tatsachen war zu beach-ten: Die P. GmbH hatte die Entgeltforderungen des Klägers für die Entgeltabrechnungszeiträume ab September 2000 nicht erfüllt, das Arbeitskraftangebot des Klägers ab 27. September 2000 nicht angenommen, Baustellenmaterial (Baustelle G.) nicht besorgt und ihm – nach seiner Eigen-kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 16. November 2000 – schließlich die Insolvenzgeldbescheinigung vom 18. Dezember 2000 zugesandt. Die Summe der genannten Umstände hätte dem Kläger Anlass zu einer unverzüglichen Beantragung von Insolvenzgeld geben müssen; insbesonde-re die Zusendung der ausdrücklich so überschriebenen »In-

solvenzgeldbescheinigung« hätte dem Kläger ein Anstoß sein müssen. Der Kläger hatte schließlich Kenntnis davon, dass am 23. November 2000 Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Firma P. GmbH gestellt worden war; denn sein Bevollmächtigter von der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt hatte nach Zugang der Insolvenzgeldbescheinigung die entspre-chende Information bei dem Insolvenzgericht Weilheim telefonisch in Erfahrung gebracht (siehe Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 24. April 2003) oder hätte sie aus Anlass dieses Gesprächs erfragen müssen.

Dem Kläger ist auch als einem rechtsunkundigen Arbeit-nehmer keine generelle Überlegungsfrist von ca. 2 Wochen ab Zugang der Insolvenzgeldbescheinigung vom 18. De-zember 2000 einzuräumen; er hätte zumindest vorsorglich zur Wahrung der Ausschlussfrist den Insolvenzgeldantrag – ggf. unter Inanspruchnahme einer Beratung bei dem zu-ständigen Arbeitsamt – stellen müssen (BSG vom 18. Januar 1990 – 10 Rar 14/89). Wenn er die fristgerechte Antragstellung etwa wegen einer rechtsirrigen Beurteilung der Antragsvoraussetzungen unterließ, hat er diesen Rechts-irrtum zu vertreten (BSG, wie vor). Ein Rechtsirrtum ent-schuldigt ein Fristversäumnis nur ausnahmsweise, wenn der Beteiligte den Irrtum auch bei sorgfältiger Prüfung nicht hätte vermeiden können (Meyer-Ladewig, SGG, Kommen-tar, 8. Auflage, § 67 Rdnr. 8 – 8a m.w.N.). Ein unvermeid-licher Rechtsirrtum eines rechtsunkundigen Arbeitnehmers liegt dann nicht vor, wenn dieser nicht unverzüglich sach-kundigen Rechtsrat einholte (vgl. BSG vom 18. Januar 1990 – B 10 Rar 14/89). Wenn der Kläger seiner Sorgfalts-pflicht dadurch genügt hätte, dass er – anstellte einer unver-züglichen Antragstellung – nach eigenen Angaben Ende Dezember 2000, also noch vor Fristablauf, seine gewerk-schaftlichen Bevollmächtigten aufsuchte, die dann die Frist möglicherweise unter Verkennung der Rechtslage verstrei-chen ließen, wäre ihm deren Verschulden zuzurechnen. Die Beauftragung der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt mit der Insolvenzgeldsache steht mit Rücksicht auf ihre Insolvenzgeld-Antragstellung mit Schreiben vom 11. Januar 2001 fest. Die Anforderungen an die Sorgfalts-pflicht von Verbandsvertretern im Hinblick auf die Einhal-tung einer gesetzlichen Verfahrensfrist ist derjenigen von Rechtsanwälten grundsätzlich gleich (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 67 Rdnr. 8 b). Das Informationsschreiben der Pro-zessbevollmächtigten vom 6. April 2001 an den Kläger enthielt zwar einen »vorsorglichen« Hinweis auf die Bean-tragung von Insolvenzgeld, lässt indes den – ungeachtet der Beurteilung des maßgeblichen Insolvenzereignisses – er-forderlichen Hinweis auf die Fristgebundenheit des Antrags vermissen; die in der Widerspruchsbegründung der Pro-zessbevollmächtigten vom 25. Februar 2002 vertretene Rechtsauffassung, im aktuellen Insolvenzgeldrecht sei kei-ne zweimonatige Ausschlussfrist vorgesehen, beinhaltet auch eine fahrlässige Falsch-Beratung gegenüber dem Klä-ger. In einem solchen Fall ist dem beauftragenden Arbeit-nehmer dann nicht die Nachfrist zu gewähren, sondern er ist auf eventuelle Regressansprüche gegen seinen Bevoll-mächtigten zu verweisen (LSG Berlin-Brandenburg vom 8. Dezember 2005 – L 28 AL 75/04).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

§ 53 Abs. 2 Nr. 3 SGB X Förderung einer auswärtigen Arbeitsaufnahme durch Fahrkostenbeihilfe

Sozialgericht Dresden, Gerichtsbescheid vom 11. 11. 2005 – S 23 AL 1282/04

Richter: Dr. Schnell

Beklagte: Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Bautzen

Leitsatz (der Redaktion):

Eine die Förderung nach § 53 SGB III rechtfertigende auswärtige Arbeitsaufnahme liegt vor, wenn Wohnort und konkreter Arbeitsort des Arbeitnehmers divergieren. Auf den Sitz des Betriebes kommt es nicht an. Der För-derfähigkeit steht auch nicht entgegen, wenn der Arbeit-nehmer an verschiedenen auswärtigen Arbeitsorten ein-gesetzt ist.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Fahrtkostenbeihilfe.

Der am ... 1977 geborene, in Bautzen wohnhafte, arbeitslo-se Kläger nahm ab 25. März 2004 ein auf unbestimmte Zeit abgeschlossenes Vollzeitbeschäftigungsverhältnis als Leih-arbeitnehmer bei der Firma »A. Personaldienstleistungen GmbH« Fulda auf. In dem am 23. März 2004 abgeschlos-senen schriftlichen Arbeitsvertrag ist unter anderem ausge-führt, dass der Kläger eingestellt wird für den Niederlas-sungsbereich Bautzen und als Leiharbeitnehmer mit allge-meinen Produktionsarbeiten in Industrie und Handel ab 25. März 2004 beschäftigt wird. Die monatliche Arbeitszeit beträgt im Durchschnitt 151,67 Stunden. Auf das Arbeits-verhältnis finden die zwischen dem Bundesverband Zeitar-beit Personaldienstleistungen e.V. (BZA) und der Tarifge-meinschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) bestehenden Tarifverträge (Manteltarifvertrag, Entgeltrah-mentarifvertrag und Entgelttarifvertrag) Anwendung, so-weit der Arbeitsvertrag nichts Weitergehendes bestimmt. Der Arbeitsvertrag enthält folgende Ziffer 5.2: »Die Wege-zeitvergütung richtet sich nach den Bestimmungen der §§ 8.3 und 8.4 MTV. Sofern für den einfachen Weg außer-halb der Arbeitszeit von der Niederlassung zum Einsatzort des Kundenbetriebes mehr als 1,5 Stunden bei der Benut-zung des zeitlich günstigsten öffentlichen Verkehrsmittels aufgewendet werden müssen, erhält der/die Mitarbeiter/in die über 1,5 Stunden hinausgehende Wegezeit je Hin- und Rückweg mit den tariflichen Entgelten nach §§ 2 bis 4 ETV

bezahlt, sofern diese Wegezeit tatsächlich aufgewendet wird.«

Bereits am 18. März 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Fahrkostenbeihilfe für die tägliche Hin- und Rückfahrt zwischen Wohnung und aus-wärtiger Arbeitsstelle. Im Antragsformular vom 18. März 2004 gab der Kläger an, als Selbstfahrer eines privaten Pkws mit 1.781 cm³ Hubraum zu seiner Arbeitsstelle in Neukirch zu fahren.

Mit Bescheid vom 2. April 2004 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Fahrkostenbeihilfe ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus: Fahrkosten-beihilfe werde nur gewährt, wenn die Arbeitsaufnahme nicht im selben Ort sei wie der Wohnort. Außerdem werde Fahrkostenbeihilfe nur bis zum Sitz des Arbeitgebers ge-währt. Somit sei der Arbeitsort mit dem Wohnort identisch. Hiergegen legte der Kläger mit undatiertem Schreiben, welches bei der Beklagten am 8. April 2004 einging, Wi-derspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2004 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. [...]

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 13. Mai 2004, welches bei der Beklagten am 19. Mai 2004 einging, erneut Widerspruch ein. Die Beklagte gab den Widerspruch des Klägers mit Schreiben vom 24. Juni 2004, welches beim Sozialgericht Dresden am 28. Juni 2004 einging, als Klage an das Sozialgericht Dresden ab.

Der Kläger ist der Ansicht, dass ihm Wegegeld zustehe, da sein Arbeitsplatz in Neukirch sei und er in Bautzen wohne.

Der Kläger beantragt – sinngemäß –, wie erkannt.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

[...]

Entscheidungsgründe:

I.

Das Gericht entscheidet über den Rechtsstreit gemäß § 105 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Ver-handlung und ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtli-cher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt hinreichend geklärt ist. Der Gerichtsbescheid wirkt gemäß § 105 Abs. 3 Halbsatz 1 SGG als Urteil.

II.

Der Klage war stattzugeben, weil sie zulässig und begrün-det ist.

Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 2. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai

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2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte war gemäß §§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG, 39 Abs. 1 Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) zur Neubescheidung zu verpflichten, weil der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Fahrkostenbeihilfe nach §§ 53 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) im Ermessen der Beklagten steht, welches nur diese, nicht aber das Gericht selbst ausüben kann. Eine Verurteilung zur Leistung kam deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I nur einen gerichtlich ein-klagbaren Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Er-messens hat. Diesen Anspruch hat die Beklagte allerdings bislang nicht erfüllt, weil sie die Voraussetzungen des An-spruchs des Klägers zu Unrecht verneinte.

Nach § 53 Abs. 1 SGB III – in der zum Antragszeitpunkt (ab 1. Januar 2003) geltenden Fassung – können Arbeitslo-se und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitssuchende, die eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen, durch Mobilitätshilfen gefördert werden, soweit dies zur Aufnahme der Beschäftigung notwendig ist. Nach § 53 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b SGB III umfassen die Mobilitätshil-fen bei Aufnahme einer Beschäftigung bei auswärtiger Arbeitsaufnahme die Übernahme der Kosten für die tägli-chen Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle (Fahr-kostenbeihilfe). Nach § 54 Abs. 4 SGB III können als Fahr-kostenbeihilfe für die ersten sechs Monate der Beschäfti-gung die berücksichtigungsfähigen Fahrkosten übernom-men werden.

Zu Unrecht hat die Beklagte im Falle des Klägers die An-spruchsvoraussetzung der auswärtigen Arbeitsaufnahme verneint. Die Tatbestandsvoraussetzung der Auswärtigkeit der Arbeitsaufnahme in § 53 Abs. 2 Nr. 3 SGB III um-schreibt allein, dass es sich um einen auswärtigen Arbeits-platz handeln muss, den der Antrag stellende Arbeitslose zukünftig erreichen muss, um seiner arbeitsvertraglich übernommenen Verpflichtung Folge leisten zu können. Die Auswärtigkeit meint damit nichts anderes, als das Wohn- und Arbeitsort nicht identisch sein dürfen. Hierbei kommt es allerdings nicht auf den Sitz des Betriebes – wie die Be-klagte meint –, sondern auf den konkreten Arbeitsort an (so zutreffend: Winkler in: Gagel, Kommentar zum SGB III, Stand: Mai 2005, § 53, Rn. 17; vgl. auch: Hennig in: Ei-cher/Schlegel, Kommentar zum SGB III, Stand: Januar 2005, § 53, Rn. 57 und Bernard in: Spellbrink/Eicher, Kas-seler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 1. Auflage 2003, § 9, Rn. 75). Befindet sich der konkrete zukünftige Arbeitsplatz des Antrag stellenden Arbeitslosen nämlich nicht am Betriebssitz des Arbeitgebers, geht der Vergleich zwischen Wohn- und Arbeitsort ins Leere. Auch vom Sinn und Zweck der Regelung des § 53 SGB III her, der darin besteht, die berufliche Mobilität des Arbeitslosen zu er-leichtern, kann es nicht darauf ankommen, ob der Betriebs-sitz des potentiellen Arbeitgebers und der Wohnort des Arbeitslosen in ein und derselben politischen Gemeinde liegen, wenn der tatsächliche Arbeitsort außerhalb des Wohnortes des Arbeitslosen liegt und dem Arbeitslosen daher tatsächlich Kosten für die Fahrten zum konkreten auswärtigen Arbeitsort entstehen. Insbesondere die umge-kehrte Konstellation eines solchen Abstellens auf den Be-

triebssitz des potentiellen Arbeitgebers – wie die Beklagte meint – würde zu widersinnigen Ergebnissen sowie zu einer Förderung, die mit einer Regelung des § 53 Abs. 2 Nr. 3 b SGB III nicht beabsichtigt sein kann, führen: Legte man nämlich die Ansicht der Beklagten zu Grunde, müsste der Kläger Fahrkostenbeihilfe dann beanspruchen können, wenn er den gleichen Arbeitsvertrag mit der Firma A. Per-sonaldienstleistungen GmbH (Betriebssitz nach Meinung der Beklagten: Bautzen) abgeschlossen hätte, tatsächlich allerdings in Neukirch wohnen würde und tatsächlich auch seine tägliche Arbeit in Neukirch verrichten würde. Dieser Vergleich belegt nach Auffassung des Gerichts deutlich, dass das Förderziel der Vorschrift nur dann erreicht werden kann, wenn auf den konkreten Arbeitsort und nicht auf den Betriebssitz abgestellt wird. Im Übrigen ist der Betriebssitz der Firma A. Personaldienstleistungen GmbH in Fulda, sodass die Beklagte – widersinnigerweise – genauso gut auf Fulda hätte abstellen können und als, nach Meinung der Beklagten, zu berücksichtigende Wegstrecke zwischen Wohnort und Betriebssitz die Strecke Bautzen/Fulda hätte berücksichtigen müssen. Denn, wenn es nach Ansicht der Beklagten lediglich auf den Betriebssitz des Arbeitgebers ankäme, wäre ja ebenso unbeachtlich, dass der Kläger we-der in Bautzen noch in Fulda tatsächlich arbeiten würde.

Der Kläger hat auch durch Vorlage seiner »Arbeitsplatzzu-weisungen und einsatzbezogenen Leistungen« nachgewie-sen, dass er tatsächlich außerhalb seines Wohnortes in Bautzen (nämlich in Neukirch und Landau) im maßgebli-chen Förderzeitraum (vgl. § 54 Abs. 4 SGB III) eingesetzt war und seine arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit als Produktionsmitarbeiter gerade nicht ausschließlich in Baut-zen verrichtete. Dass dem Kläger für die Tage, an denen er in Bautzen eingesetzt war (22. Juni 2004 bis 15. August 2004 und 30. August 2004 bis 8. September 2004 und ab 13. September 2004 bis Ende des maßgeblichen Förderzeit-raumes), kein Anspruch zustehen kann, versteht sich von selbst, da an diesen Tagen gerade keine Fahrkosten zu einer auswärtigen konkreten Arbeitsstelle angefallen sind.

Dass der Kläger an verschiedenen auswärtigen konkreten Arbeitsorten (nämlich Neukirch und Landau) eingesetzt war, hindert die Förderfähigkeit – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht. Es ergibt sich aus dem Wortlaut des § 53 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b SGB III gerade nicht, dass es sich bei der auswärtigen Arbeitsstelle um ein und dieselbe han-deln müsste. Eine solche einschränkende Auslegung ergibt sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Zur Förderung der beruflichen Mobilität des Arbeitslosen und zur Beseitigung der finanziellen Hindernisse, die förde-rungsberechtigten Personen den Wiedereintritt in das Be-rufsleben erschweren können (vgl. zu diesem Fördersinn und -zweck deutlich: Petzold in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB III, Stand: Mai 2005, K § 53, Rn. 1; Winkler in: Gagel, Kommentar zum SGB III, Stand: Mai 2005, § 53 Rn. 2; Hennig in: Eicher/Schlegel, Kommentar zum SGB III, Stand: Januar 2005, § 53, Rn. 2; Bernard in: Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförde-rungsrechts, 1. Auflage 2003, § 9, Rn. 59), bedeutet es kei-nen relevanten Unterschied, der im Lichte des Gleichheits-satzes des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) eine Un-gleichbehandlung zu rechtfertigen geeignet wäre, ob der

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konkrete auswärtige Arbeitsort des Arbeitslosen im Förder-zeitraum immer derselbe ist oder ob es sich um unterschied-liche konkrete auswärtige Arbeitsorte handelt. Entschei-dend ist allein, dass der jeweilige Arbeitsort tatsächlich auswärtig ist.

Auch der Einwand der Beklagten, der Arbeitgeber, sei im Rahmen seiner Fürsorgepflicht gefordert, sodass der Kläger – wie die Beklagte meint – bei Abschluss des Arbeitsver-trages eine Regelung im Rahmen des Aufwendungsersatzes hätte vereinbaren müssen, trägt die ablehnende Entschei-dung nicht. Eine »hätte-was-wäre-wenn«-Betrachtung liegt den Regelungen gerade nicht zu Grunde. Im Übrigen ist es auch nicht so, dass die Firma A. Personaldienstleistungen GmbH für die Fahrten des Klägers zum konkreten Arbeits-einsatzort Aufwendungsersatz nach § 670 BGB schulden würde. Entscheidend ist, inwieweit der Arbeitsvertrag einen konkreten Arbeitsort benennt, sodass andere Arbeitsorte als im Interesse des Arbeitgebers liegend für den Arbeitnehmer als überobligatorisch zu bezeichnen wären. Der Arbeitsver-trag des Klägers vom 23. März 2004 benennt gerade keinen konkreten Arbeitsort, sodass der Kläger vertragsgemäß an jedem Arbeitsort in Deutschland eingesetzt werden kann. Im Übrigen schließt die im Arbeitsvertrag des Klägers in Bezug genommene Vorschrift des § 8.7 des Manteltarifver-trages Zeitarbeit vom 22. Juli 2003 Aufwendungsersatz ausdrücklich aus, soweit er nicht einzelvertraglich geregelt ist. Der Arbeitsvertrag des Klägers regelt ausdrücklich kei-nen Aufwendungsersatz nach § 670 BGB, sodass das Ab-stellen der Beklagten auf diese Vorschrift im vorliegenden konkreten Fall unverständlich ist. Hinreichend ergibt sich dies zudem aus Ziffer 1. und Ziffer 5.2 des Arbeitsvertrages des Klägers sowie aus § 8.3 und § 8.7 des Manteltarifver-trages Zeitarbeit. Der Kläger hat damit für seine Einsätze an dem auswärtigen Arbeitsort Neukirch in der Zeit vom 25. März 2004 bis 21. Juni 2004 und 9. September 2004 bis 12. September 2004 keinen Anspruch auf Fahrkostenersatz gegenüber seinem Arbeitgeber, der Firma A. Personal-dienstleistungen GmbH.

Der Kläger schuldet auch nicht – entgegen der Ansicht der Beklagten – nur »seine Bereitschaft, für die Kunden des Arbeitgebers tätig zu werden«. Der Kläger hat vielmehr nach Ziffer 1 des Arbeitsvertrages vom 23. März 2004 i.V.m. § 8.2 des Manteltarifvertrages Zeitarbeit die »Pflicht, auf Anordnung des Arbeitgebers an wechselnden Einsatzor-ten tätig zu werden«. Die Verpflichtung des Klägers, »bei den Kunden entsprechende Tätigkeiten auszuführen«, ent-spricht daher – entgegen den Ausführungen der Beklagten – nicht »nur sekundär dem Arbeitsvertrag«, sondern explizit primär. Damit liegt auch eine dem konkreten Arbeitsvertrag entspringende und primär auf diesem beruhende, konkrete auswärtige Arbeitsaufnahme des Klägers vor, wenn dieser in der Zeit vom 25. März 2004 bis 21. Juni 2004 und 9. September 2004 bis 12. September 2004 in Neukirch beschäftigt war und hierfür gegenüber dem Arbeitgeber keinen Fahrkostenerstattungsanspruch hat.

Entgegen der Ansicht der Beklagten werden dem Kläger die erhöhten Aufwendungen für eine auswärtige Ar-beitsaufnahme auch nicht anderweitig über zusätzliche Entgeltzahlungen erstattet, wie diese meint unter Bezug-

nahme auf § 8.3 sowie § 4 (? wovon) folgern zu können. § 8.3 des Manteltarifvertrages Zeitarbeit vom 22. Juli 2004 trifft ausweislich seines Regelungsgehaltes auf die auswär-tigen Arbeitseinsätze des Klägers im Zeitraum vom 25. März 2004 bis 21. Juni 2004 und 9. September 2004 bis 12. September 2004 in Neukirch nicht zu, da es sich um keinen Einsatzort handelt, bei dem der einfache Weg au-ßerhalb der Arbeitszeit von der Niederlassung/Geschäfts-stelle zum Einsatzort beim Kundenbetrieb mehr als 1,5 Stunden bei Benutzung des zeitlich günstigsten öffentlichen Verkehrsmittels beträgt. Auch aus § 4 des Entgelttarifver-trages Zeitarbeit vom 22. Juli 2003 folgt nichts Gegenteili-ges im Sinne eines einsatzbezogenen Zuschlages, da diese einsatzbezogenen Zuschläge erst nach einem ununterbro-chenen Einsatz bei dem gleichen Kunden nach Ablauf von drei Monaten eingreifen, was bei dem Kläger nicht zutrifft. Im Übrigen ergibt sich insoweit auch aus den Lohnabrech-nungen des Klägers für den Zeitraum von März 2004 bis einschließlich September 2004, dass dem Kläger für seine auswärtigen Arbeitseinsätze keine Zulagen gezahlt worden sind, die eine Wegstreckenentschädigung beinhalten wür-den. Der Kläger erhält lediglich im Monat August 2004 eine Mehraufwandsentschädigung für Verpflegungsmehr-kosten, was vermutlich den auswärtigen Arbeitseinsatz in Landau in der Zeit vom 16. August bis 29. August 2004 anbelangt. Diese Mehraufwandsentschädigung für Verpfle-gungsmehraufwendungen gleichen jedoch nicht den Auf-wand zur Ausgabe von Fahrkosten aus.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

[...]

§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2 SGB III Keine Sperrzeit nach Wechsel in eine befristete Beschäf-tigung

Sozialgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 18. 5. 2006 – S 13 AL 4450/03

Richter: Eckert

Beklagte: Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Hanau

Es liegt im Interesse der Versichertengemeinschaft, dass ein Arbeitnehmer, der die Staatsprüfungen für das Lehr-amt an Gymnasien absolviert hat, im Arbeitsleben ent-sprechend seiner Ausbildung eingesetzt wird. Für einen Wechsel in ein bis zu Beginn der Sommerferien befriste-tes Angestelltenverhältnis an einem Gymnasium kann er sich auf einen wichtigen Grund berufen, der dem Eintritt einer Sperrzeit entgegensteht.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um eine Sperrzeit wegen Herbeifüh-rung der Arbeitslosigkeit durch Aufgabe eines unbefristeten

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zu Gunsten eines befristeten Beschäftigungsverhältnisses. Streitig ist der Leistungszeitraum für die Gewährung von Arbeitslosengeld in den Sommerferien 2003.

Der 1957 geborene Kläger stand nach Ableistung der Staatsprüfungen für das Lehramt an Gymnasien in Hessen seit 1.7.1987 bis 11.8.2002 in einem unbefristeten Beschäf-tigungsverhältnis bei dem S.-Sanatorium, jetzt S.-Klinik, B. XY, zunächst als Bewegungs- und Sporttherapeut und ab dem Jahre 2002 auch als Lehrer an der Klinikschule. Sein monatliches Bruttoentgelt betrug zuletzt 4.380 €. Das Ar-beitsverhältnis war mit einer Kündigungsfrist von 6 Mona-ten zum Quartalsende kündbar.

Der Kläger kündigte das Arbeitsverhältnis am 10.8.2002 zum 11.8.2002 und nahm ab 12.8.2002 eine Tätigkeit als Gymnasiallehrer im Angestelltenverhältnis an dem staatli-chen U.-Gymnasium in S. gegen ein monatliches Entgelt von € 4.500 auf. Das Arbeitsverhältnis war befristet bis vor Beginn der Sommerferien am 18.7.2003. Vor Fristablauf wurde ein weiterer gleichartig befristeter Anstellungsver-trag für die Zeit nach Ende der Sommerferien für das nächste Schuljahr geschlossen.

Am 18.7.2003 meldete sich der Kläger zum 19.7.2003 ar-beitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosen-geld. Nach Anhörung des Klägers stellte die Beklagte mit Bescheid vom 9.9.2003 den Eintritt einer Sperrzeit von 12 Wochen für den Zeitraum vom 19.7.2003 bis 10.10.2003 fest. Die Arbeitsaufgabe bei der S.-Klinik sei für die später eingetretene Arbeitslosigkeit ursächlich gewesen, denn das Anschlussarbeitsverhältnis sei von vornherein befristet ge-wesen. Die vom Kläger aufgeführten Gründe, in den öffent-lichen Schuldienst wechseln zu wollen, seien bei Abwä-gung mit den Interessen der Versichertengemeinschaft nicht geeignet, den Eintritt einer Sperrzeit abzuwenden.

Mit Widerspruch trug der Kläger – wie bereits bei Anhö-rung – vor, seine Tätigkeit als Lehrer in der S.-Klinik sei nicht gesichert gewesen, da eine weitere Kostenübernahme durch den M.-Kreis als Kostenträger fraglich gewesen sei. Die wirtschaftliche Lage der Klinik sei insgesamt ange-spannt gewesen, wie sich auch an der verzögerten Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld und der Beiträge zur Zusatzversorgung gezeigt habe. Seit Abschluss seiner Leh-rerausbildung habe er sich regelmäßig – aber erfolglos – über das Ranglistenverfahren bei dem Lande Hessen um Einstellung in den gymnasialen Schuldienst beworben. Im Sommer 2002 habe sich ihm kurzfristig die Chance gebo-ten, einen Vertretungsvertrag für das Schuljahr 2002/2003 zu erhalten, der allerdings – wie üblich im Lande Hessen – bis zum letzten Unterrichtstag befristet gewesen sei. Es hätten aber auch schon bei Abschluss des befristeten Ver-trages gute Chancen bestanden, Anschlussverträge zu erhal-ten, was auch dann der Fall gewesen sei, und damit auch seine Einstellungsvoraussetzungen durch so genannte Bo-nuspunkte im Ranglistenverfahren zu verbessern. Er habe angestrebt, noch vor der Erreichung der Altersgrenze von 50 Jahren zur Einstellung als Beamter eine neue berufliche Laufbahn zu beginnen.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2003 im Wesentlichen aus den Gründen des ange-fochtenen Bescheides zurückgewiesen. Der Kläger habe die Arbeitslosigkeit zumindest grob fahrlässig herbeigeführt. Ein wichtiger Grund für sein Verhalten sei nicht gegeben, da die Beschäftigung bei der S.-Klinik nicht gefährdet ge-wesen sei. Es wäre ihm zuzumuten gewesen, das Beschäfti-gungsverhältnis so lange fortzusetzen, bis er nahtlos ein neues unbefristetes Arbeitsverhältnis hätte eingehen kön-nen. Ein Fall besonderer Härte liege ebenfalls nicht vor.

Am 9.12.2003 reicht der Kläger die Klage ein.

Der Kläger steht nunmehr als Gymnasiallehrer im Beam-tenverhältnis im Dienste des Landes Hessen.

Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen.

Der Kläger beantragt; den Bescheid vom 9.9.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2003 auf-zuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Arbeitslosen-geld in gesetzlichem Umfange ab dem 19.7.2003 zu gewäh-ren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Der Bescheid der Beklagten vom 9.9.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2003 ist nicht rechtmäßig und daher aufzuheben. Die Beklagte ist ver-pflichtet, dem Kläger Arbeitslosengeld ab dem 19.7.2003 in gesetzlichem Umfange zu gewähren.

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB III in der Fas-sung des Gesetzes vom 23.12.2002 (BGBl. I 4607) tritt eine Sperrzeit ein, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsver-hältnis gelöst hat und er dadurch vorsätzlich oder grob fahr-lässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat, ohne für sein Verhalten einen wichtigen Grund zu haben. Der Arbeitslose hat die für die Beurteilung eines wichtigen Grundes maß-gebenden Tatsachen darzulegen und nachzuweisen, wenn diese in seiner Sphäre oder in seinem Verantwortungsbe-reich liegen.

Der Kläger hat das Beschäftigungsverhältnis bei der S.-Klinik B. XY durch Eigenkündigung gelöst und damit seine Arbeitslosigkeit ab 19.7.2003 grob fahrlässig herbeigeführt, da ihm bewusst war, dass er in den Sommerferien 2003 arbeitslos werden würde. Nach der Einstellungspraxis der meisten Schulämter des Landes Hessen, auch der des für den Kläger zuständigen Schulamtes für den M.-Kreis, wer-den nur befristete Anstellungsverträge bis zum Beginn der Sommerferien geschlossen, wobei aber in der größeren Zahl der Fälle ein erneuter befristeter Anstellungsvertrag mit Ende der Sommerferien begründet wird. Die Sommer-ferien werden somit ausgespart, was die Personalkosten zum Nachteil der betroffenen Lehrer mindert. Die einge-sparten Gelder werden verwendet, um weitere Stellen zu finanzieren. Für viele, die über die Rangliste des Ministeri-

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ums keine Chance zur Einstellung haben, ist es eine Mög-lichkeit, im Schuldienst Fuß zu fassen. Die Kammer nimmt insoweit Bezug auf entsprechende Veröffentlichungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Der Kläger konnte bei Abschluss des befristeten Vertrages ab 12.8.2002 nicht damit rechnen, dass sich diese Praxis der Schulämter bis zum Beginn der Schulferien ändern werde, wohl aber, dass er wieder eine Anstellung nach Ende der Sommerferien 2003 erhalten werde. Auch ansonsten hatte er keine Aussicht, dass er die Arbeitslosigkeit in den Som-merferien etwa durch Aufnahme einer anderen Beschäfti-gung hätte verhindern können.

Dem Kläger stand jedoch für sein die Arbeitslosigkeit her-beiführendes Verhalten ein »wichtiger Grund« im Sinne des Gesetzes zur Seite. Ihm war unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten nicht zumutbar (siehe ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, zuletzt vom 26.10.2004 – B 7 AL 98/03 R – mit weiteren Nachweisen). Nach seinem glaubhaften Vortrag eröffnete sich für ihn eine gute Chance, in seinem angestammten Beruf des Gymnasiallehrers tätig zu werden und nachfolgend in das Beamtenverhältnis übernommen zu werden, nachdem eine Einstellung über das Ranglistenverfahren bisher nicht ge-lungen war. Ihm muss zugestanden werden, dass er seine berufliche Perspektive als Gymnasiallehrer an einer öffent-lichen Schule zu arbeiten, wozu er ausgebildet worden war und wofür er die Voraussetzungen durch Staatsprüfungen geschaffen hatte, weiter verfolgen wollte und hierfür den einzig noch möglichen Weg der Aufnahme eines befristeten Anstellungsverhältnisses eingeschlagen hat. Dies hat schließlich auch zum Erfolg und zur Einstellung geführt.

Die Kammer hält im Übrigen auch den Vortrag des Klägers für glaubhaft, dass seine unbefristete Anstellung bei der S.-Klinik nicht gesichert war, was ihn letztlich in seiner Ab-sicht, die Arbeitstelle zu wechseln, bestärkte. Auch hierin könne eine »wichtiger Grund« gesehen werden. Dem war jedoch nicht weiter im Einzelnen nachzugehen, da sich jedenfalls noch aus anderen Überlegungen – außerhalb der Sphäre des Klägers – Gründe zeigen, die eine Sanktion durch Sperrzeit ausschließen.

Die Allgemeinheit, wie auch die Versichertengemeinschaft, haben ein Interesse daran, dass Personen, die eine aufwän-dige Ausbildung, wie hier die zum Gymnasiallehrer, absol-viert haben, auch ihrer Ausbildung entsprechend im Ar-beitsleben eingesetzt werden. Dies muss umso mehr gelten, wenn – wie es jetzt der Fall ist – sogar nicht oder nicht einschlägig ausgebildete Vertretungskräfte für den Schul-dienst im Lande Hessen gewonnen werden sollen. Volks-wirtschaftliche Verluste durch Nichteinsatz gut ausgebilde-ter Arbeitskräfte sind zu vermeiden. Die Kammer ist nicht dazu aufgerufen, darüber zu befinden, ob die Einstellungs-praxis des Landes Hessen dieser Zielvorstellung entspricht. Es kann jedoch nicht im öffentlichen Interesse sein, dass den Personen, die trotz dieser Einstellungspraxis den Wechsel des Beschäftigungsverhältnisses auf sich nehmen, weitere Nachteile in Form des Eintrittes einer Sperrzeit erwachsen.

Im Übrigen ist im Hinblick auf die Interessen der Versi-chertengemeinschaft zu bemerken, dass laut der oben zitier-ten Veröffentlichungen die Schulämter mit den eingespar-ten Kosten anderweitige Stellenbesetzungen finanzieren. Diese Umverteilung der Mittel bewirkt eine Entlastung des Arbeitsmarktes, was jedenfalls zum Teil der Versicherten-gemeinschaft zu Gute kommt.

Nicht gehört werden kann die Beklagte mit ihrem Vortrag, dass der Kläger sich nicht bereits vor der Arbeitslosmel-dung um eine Arbeitsstelle in den Sommerferien bemüht habe. Dies kann nicht die vorsätzliche oder grob fahrlässige Herbeiführung der Arbeitslosigkeit begründen. Eine Minde-rung des Arbeitslosengeldes nach Maßgabe des § 37 b SGB III wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend ist nicht Gegenstand des Verfahrens.

Die Leistungsvoraussetzungen zur Gewährung von Arbeits-losengeld hat der Kläger, der seit dem Jahre 1987 bis 18.7.2003 aus einem Beschäftigungsverhältnis heraus Bei-träge zur Arbeitslosenversicherung entrichtete, erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialge-richtsgesetzes.

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Neue Entscheidungen des Bundessozialgerichts

Fehlende Eigenbemühungen – Urteil vom 31. Januar 2006 – B 11a AL 13/05 R

Mit Urteil vom 25. Oktober 2005 hat der 7a. Senat über die Pflicht, Eigenbemühungen nachzuweisen, entschieden und ausgeführt, dass die Pflicht zu Eigenbemühungen Bestand-teil des Arbeitslosigkeitsbegriffs ist. Wer sich nur auf die Dienste der BA verlässt und keine eigenen Aktivitäten zur Überprüfung seiner Eingliederungschancen unternimmt, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil die Anspruchs-voraussetzung der Eigenbemühungen und damit der Ver-fügbarkeit nicht erfüllt ist. Von der allgemeinen Verpflich-tung, sich um Arbeit zu bemühen, müsse die Nachweis-pflicht nach § 119 Abs. 5 Satz 2 SGB III unterschieden werden; diese sei keine Anspruchsvoraussetzung, sondern eine Beweislastregelung. Die Konkretisierung der Eigen-bemühungen müsse sich am Maßstab der Zumutbarkeit messen lassen. Einem Arbeitslosen könnten keine unzu-mutbaren und (damit rechtswidrigen) Eigenbemühungen abverlangt werden. Ist die Pflicht zu Eigenbemühungen schuldhaft verletzt, darf die Leistungsbewilligung, wenn die übrigen Voraussetzungen der §§ 45, 48 SGB X vorliegen, rückwirkend für die Zeit ab Zugang des Konkretisierungs-schreibens aufgehoben werden. Der 11a. Senat hat sich jetzt dieser Rechtsprechung angeschlossen und fünf Bewerbun-gen in ca. einem Monat nicht für unzumutbar gehalten.

Nochmals: Fehlende Eigenbemühungen – Urteil vom 31. Januar 2006 – B 11a AL 5/05 R

In einem weiteren Urteil vom selben Tag, das wohl densel-ben Kläger betraf, ging es um die Frage, ob die Leistungen (hier: Arbeitslosenhilfe) wegen der fehlenden Eigenbemü-hungen auch für die Zukunft entzogen werden dürfen. Die Arbeitsagentur hatte ihre Entscheidung auf § 66 SGB I gestützt und die Leistung wegen Verletzung der Mitwir-kungspflichten entzogen. Das BSG hat § 66 SGB I nicht für eine geeignete Rechtsgrundlage gehalten, weil diese Vor-schrift sich auf die Verletzung einer Verfahrenspflicht be-ziehe, während der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe von den Eigenbemühungen des Arbeitslosen abhänge. Eine Entzie-hung des Leistungsanspruchs wegen der fehlenden Eigen-bemühungen könne nur auf § 48 SGB X gestützt werden. Eine Umdeutung nach § 43 SGB X sei nicht zulässig, weil die Rechtsfolgen einer Entziehung nach § 66 SGB I wegen § 67 SGB I für den Betroffenen günstiger seien als die end-gültige Aufhebung nach § 48 SGB X.

Lohnsteuerklassenänderung – Urteil vom 6. April 2006 – B 7a AL 82/05 R

Wiederholt hat das BSG entschieden, dass die Bundesagen-tur verheiratete Arbeitslose auf die Rechtsfolgen des § 137 Abs. 1 Satz 1 SGB III a. F. (jetzt § 133 SGB III) hinweisen und vor einem Lohnsteuerklassenwechsel ohne vorherige Beratung durch die BA warnen muss. Das gilt aber nur für

den Steuerklassenwechsel, also die Änderung der Steuer-klassenkombination von Eheleuten. Wählen Eheleute im Zusammenhang mit der Heirat erstmals die für Eheleute in Betracht kommenden Steuerklassen, liegt nach § 137 Abs. 2 Satz 2 SGB III eine Steuerklassenänderung, kein Steuerklassenwechsel nach § 137 Abs. 3 SGB III vor. Für die Steuerklassenänderung gilt die Hinweispflicht der Ar-beitsagentur nicht, so daß der Rückforderung einer etwai-gen Überzahlung kein Herstellungsanspruch entgegensteht.

Ausländischer Wehrdienst und Anwartschaftszeit – Urteil vom 6.4.2006 – B 7a/7 AL 86/04 R

Der Wehrdienst in Spanien ist keine nach deutschem Recht anwartschaftsbegründende Zeit; er ist auch keine gleichge-stellte Zeit, mit der in Deutschland ein Anspruch auf Ar-beitslosenhilfe erworben werden konnte. Eine Berücksich-tigung des Wehrdienstes in Spanien ergibt sich auch nicht aus europarechtlichen Vorschriften, insbesondere nicht aus den Regelungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der »Verordnung des Rates der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienange-hörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwan-dern«. Hierbei gelten für Arbeitslose nach den allgemeinen Zuständigkeitsregeln der EWGV 1408/71 grundsätzlich die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, also für den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe das deutsche Recht. Da der Wehrdienst nach spanischem Recht keine Beschäftigung im Sinne des Arbeitslosenrechts und des sonstigen Sozialversicherungsrechts ist und dieser nicht gleichsteht, sind die Vorschriften für »unechte Grenzgän-ger« (Art. 71 Abs. 1 EWGV 1408/71) nicht anwendbar. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 EWGV 1406/71 liegt nicht vor, wenn bei der Prüfung des Anspruchs auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit die Zeit eines in einem anderen Mitgliedstaat zurückgeleg-ten Pflichtwehrdienstes unberücksichtigt bleibt.

Beschränkung der Rückforderung nach Schwarzarbeit – Urteil vom 1. Juni 2006 – B 7a AL 76/05

Mit diesem Urteil hat das BSG die Entscheidung des LSG Hamburg, die in info also 2006, Heft 1, S. 18 veröffentlicht ist, aufgehoben. Anders als das LSG Hamburg ist das BSG der Meinung, dass die Beendigung der Wirkung einer Ar-beitslosmeldung bei nicht gemeldeter Aufnahme einer Be-schäftigung endgültig sein und diese nicht nur für eine be-stimmte Zeit suspendiert werden solle. Wortlaut und Geset-zesbegründung seien insoweit eindeutig. An dem Inhalt des § 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III habe die Aufhebung der Nr. 3 mit der Verpflichtung dreimonatlicher Meldungen nichts geändert. Die Vorschrift wolle verhindern, dass Schwarzar-beiter aus der Regelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 SGB III Vorteile ziehen, und wolle dadurch eine abschreckende

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Wirkung erzielen, dass das Arbeitslosengeld für einen Zeit-raum, der länger ist als das Beschäftigungsverhältnis, ent-zogen werden kann. Auch werde der Verwaltung die schwierige Aufgabe, das Ende des Beschäftigungsverhält-nisses festzustellen, erspart. Die Vorschrift verstoße nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ihre Wir-kung werde dadurch gemildert, dass die rückwirkende Auf-hebung einer Leistungsbewilligung nur unter den Voraus-setzungen der §§ 45, 48 SGB X möglich ist. Der Tatsache, dass der Betroffene nicht nachträglich Sozialhilfe beziehen könne, könne durch einen teilweisen Erlass Rechnung ge-tragen werden.

Bestandsschutz und Unterhaltsgeld – Urteil vom 1. Juni 2006 – B 7a AL 86/05 R

Nach § 133 Abs. 1 SGB III in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung ist Bemessungsentgelt für einen neuen Anspruch auf Arbeitslosengeld mindestens das Ar-beitsentgelt, nach dem das Arbeitslosengeld oder die Ar-beitslosenhilfe zuletzt bemessen worden ist, wenn der Ar-beitslose innerhalb der letzten drei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezogen hat. Ungeklärt war bisher, ob den Bestandsschutz auch beanspruchen kann, wer innerhalb der letzten drei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Unterhaltsgeld bezogen hatte. Das BSG hat die Berücksichtigung des Un-terhaltsgeldbezuges in den letzten drei Jahren vor der Ent-stehung eines neuen Anspruchs ausgeschlossen, wenn das Unterhaltsgeld gezahlt wird, nachdem der Anspruch auf Arbeitslosengeld verbraucht ist und Arbeitslosenhilfe nicht bezogen wird. Sinn des § 133 Abs. 1 SGB III a. F. sei nur, durch die Beibehaltung eines Anspruchs auf Arbeitslosen-geld auf der Basis des bisherigen Bemessungsentgelts die Bereitschaft des Arbeitslosen zu fördern, die Arbeitslosig-keit auch durch eine niedriger vergütete Zwischenbeschäf-tigung zu beenden An einer derartigen Vertrauensschutz begründenden Position fehlt es aber, wenn innerhalb des Dreijahreszeitraums lediglich Unterhaltsgeld bezogen wird, ohne daß das Unterhaltsgeld an die Stelle eines noch beste-henden Arbeitslosengeldanspruchs tritt. Da die Klägerin keine Arbeitslosenhilfe bezogen hatte, konnte offen blei-ben, ob eine Verletzung des Gleichheitssatzes vorliegt, wenn das Unterhaltsgeld an die Stelle der Arbeitslosenhilfe tritt. Die Frage hat nach der Abschaffung des Unterhalts-geldes zum 1. Januar 2005 durch das Dritte Gesetz für mo-derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2848) an Bedeutung verloren (siehe info also 2006, Heft 2, S. 65).

Bei der Ermittlung des Bemessungsentgelts sind nach § 130 Abs. 1 SGB III nur die Entgeltzeiträume zu berücksichti-gen, die vom Bemessungsrahmen umschlossen sind. Das BSG hat seine Rechtsprechung zu § 112 Abs. 2 Satz 1 AFG, wonach alle Entgeltabrechnungszeiträume, die in den Bemessungsrahmen hineinragen, zum Bemessungszeitraum gehören, für das SGB III nicht übernommen (siehe hierzu info also 2006, Heft 4, S 147).

Überbrückungsgeld – Urteil vom 1. Juni 2006 – B 7a AL 34/05 R

Streitig war in dem zu entscheidenden Fall, ob Überbrü-ckungsgeld auch dann gezahlt werden kann, wenn die selb-ständige Tätigkeit bereits vorher in Nebentätigkeit ausgeübt worden ist. Das BSG hat diese Frage letztlich offen gelas-sen, aus seinen Überlegungen geht jedoch hervor, dass aus Sicht des Gerichts trotz der Missbrauchsmöglichkeit viel dafür spricht, auch die Ausweitung einer Nebentätigkeit zu einer hauptberuflichen Tätigkeit als förderfähige Existenz-gründung anzuerkennen. Für den neuen Gründungszu-schuss ergibt sich aus dem Ausschussbericht, dass der Ge-setzgeber Existenzgründungen auch dann für förderwürdig hält, wenn ihnen eine Nebentätigkeit vorausgegangen ist (BT-Drs. 16/1696 S. 30).

Insolvenzgeld und variable Entgeltbestandteile – Urteil vom 23. März 2006 – B 11a AL 29/05 R

Streitig war, ob und unter welchen Voraussetzungen variab-le Entgeltbestandteile durch Insolvenzgeld auszugleichen sind. Auf Grund einer Betriebsvereinbarung hatte der Klä-ger neben einem Fixum Anspruch auf eine variable Vergü-tung, die sich teils am Unternehmenserfolg, teils an indivi-duellen Zielen ausrichten sollte. Für den Insolvenzgeldzeit-raum fehlt es an einer Zielvereinbarung über die individuel-len Ziele. Das BSG hat zunächst die Frage bejaht, dass der Variobestandteil der Vergütung Arbeitsentgelt im Sinne des Insolvenzgeldrechts ist. Allerdings gehen in das Insolvenz-geld nur Arbeitsentgeltansprüche ein, die für den Insol-venzgeldzeitraum zu zahlen sind. Maßgeblich ist hierbei der Zeitraum, in dem der Arbeitsentgeltanspruch erarbeitet worden ist. Es kommt dagegen nicht darauf an, ob der An-spruch im Insolvenzgeldzeitraum fällig oder bezifferbar geworden ist. Ansprüche, die über einen längeren Zeitraum erworben, jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt geschul-det werden, sind der jeweiligen Arbeitsleistung anteilig zuzuordnen. Das gilt auch für den variablen Lohnbestand-teil, weil es sich hierbei nicht um eine Sondervergütung handelt, sondern um laufendes Arbeitsentgelt, das der Ar-beitnehmer für ein bestimmtes Jahr erhält. Die Verknüp-fung von Arbeitseinsatz und variabler Vergütung gehört geradezu zu den Wesensmerkmalen eines durch Zielverein-barungen gesteuerten Vergütungssystems. Ob allerdings angesichts der Insolvenz der Arbeitgeberin hinsichtlich der Unternehmensziele eine Vergütung in Betracht kommt, kann zweifelhaft sein, weil dieser Teil der variablen Vergü-tung von der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens abhängig ist. Die Erfüllung der individuellen Ziele wird dagegen durch die Insolvenz nicht ausgeschlossen.

Auch die für den Insolvenzgeldzeitraum fehlende Zielver-einbarung steht dem Anspruch nach Meinung des Gerichts nicht entgegen, weil es andernfalls der Arbeitgeber in der Hand habe, durch Verweigerung einer entsprechenden Ver-einbarung über die Zielerreichung den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers, dem eine Regelung in einer Betriebs-vereinbarung zugrunde liegt, zu beseitigen. Der Arbeitgeber könne sich seiner Verpflichtung zur Zahlung der variablen Vergütung nur durch Vertrag oder eine Änderungskündi-

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gung entziehen. Ist die Zielvereinbarung aus vom Arbeit-nehmer nicht zu vertretenden Umständen unterblieben, steht dies seinem Anspruch auf die Variovergütung nicht entgegen.

Insolvenzgeld und Urlaubsgeld – Urteil vom 23. März 2006 – B 11a AL 65/05 R

Streitig war auch hier die Höhe des Insolvenzgeldes. Der Kläger hatte einen Anspruch auf Urlaubsgeld, das nach dem Arbeitsvertrag mit dem Juligehalt auszuzahlen war. Nach einer Zusatzvereinbarung sollte das Urlaubsgeld erst mit der Novembervergütung gezahlt werden. Wegen der Insol-venz des Arbeitgebers beanspruchte der Kläger Insolvenz-geld für die Zeit von Oktober bis Dezember. Das BSG hat dazu ausgeführt, das Urlaubsgeld, das urlaubsunabhängig zu zahlen sei, sei wie andere Sondervergütungen nur dann bei der Ermittlung des Insolvenzgeldes zu berücksichtigen, wenn es sich ganz oder teilweise den dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monaten zuordnen lasse. Arbeitsver-tragliche Vereinbarungen, die bei vorherigem Ausscheiden des Arbeitnehmers einen zeitanteiligen Anspruch vorsehen, begründen dementsprechend einen Insolvenzgeldanspruch in Höhe des auf den Insolvenzgeldzeitraum entfallenden Anteils. Lässt sich die Sonderzuwendung nicht in dieser Weise einzelnen Monaten zurechnen, ist sie in voller Höhe beim Insolvenzgeld zu berücksichtigen, wenn sie im Insol-venzgeldzeitraum zu einem Stichtag im Arbeitsverhältnis stehenden Arbeitnehmern hätte ausgezahlt werden müssen. Andernfalls geht die Sondervergütung nicht in das Insol-venzgeld ein. Bloße Fälligkeitsvereinbarungen ohne Verän-derung des Rechtsgrundes vermögen eine Änderung des Stichtags und damit eine Änderung in der zeitlichen Zuord-nung der Sonderzuwendung nicht herbeizuführen. Da hier die Veränderung des Zahlungszeitpunktes lediglich der Tilgung des zum Jahresende fälligen Jahresbeitrags aus der Direktversicherung dienen, der arbeitsrechtliche Anspruch aber ansonsten unberührt bleiben sollte, war das Urlaubs-geld nicht dem Insolvenzgeldzeitraum zuzuordnen.

Eingliederungszuschuss und Antrag – Urteil vom 6. April 2006 – B 7a AL 20/05 R

Leistungen der aktiven Arbeitsförderung sind grundsätzlich vor dem Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses zu beantragen (§ 324 Abs. 1 SGB III). Fraglich ist, ob das leistungsbegründende Ereignis für einen Eingliederungszu-schuss nach den §§ 217 ff. SGB III der Abschluss des Ar-beitsvertrages oder die tatsächliche Aufnahme der Beschäf-tigung ist. Das BSG sieht das leistungsbegründende Ereig-nis nicht in dem Abschluss eines Arbeitsvertrages, sondern erst in dem Beginn der Beschäftigung, weil es Zweck der Gewährung von Eingliederungszuschüssen sei, den Nach-teil auszugleichen, den der Arbeitgeber dadurch erleidet, dass der Arbeitnehmer während der Förderungsdauer nur eine Minderleistung erbringt. Auch soll dadurch eine dau-erhafte Eingliederung des Arbeitnehmers erreicht werden. Der Eingliederungszuschuss wird somit für die Beschäfti-gung des Arbeitnehmers, nicht für den formalen Abschlus-ses des Arbeitsvertrages gewährt.

Vermittlungsvergütung bei wirtschaftlicher Verflechtung mit dem Arbeitgeber – Urteil vom 6. April 2006 – B 7a AL 56/05 R

Die Arbeitsvermittlerin verlangte von der Arbeitsagentur die Vergütung für die Vermittlung von Arbeitnehmern, die Vermittlungsgutscheine vorgelegt hatten. Der Alleingesell-schafter und der alleinvertretungsberechtigte Geschäftsfüh-rer der Arbeitsvermittlerin und der Arbeitgeberin war ein und dieselbe Person. Das BSG hat den Anspruch der Ver-mittlerin auf die Vergütung verneint und dazu ausgeführt, es handle sich bei dem Vertrag zwischen dem Arbeitsu-chenden und der Vermittlerin um einen durch öffentlich-rechtliche Normen modifizierten zivilrechtlichen Makler-vertrag im Sinne des § 652 BGB. Nach § 296 Abs. 4 Satz 2 SGB III ist die Vermittlungsgebühr bei Vorlage eines Ver-mittlungsgutscheins gestundet und der Vermittler kann anstelle des privatrechtlichen Vermittlungshonorars nur einen öffentlich-rechtlichen Zahlungsanspruch gegen die Arbeitsagentur geltend machen, die nach § 421g Abs. 1 Satz 2 SGB III den Vergütungsanspruch des vom Arbeitsu-chenden eingeschalteten Vermittlers zu erfüllen hat. Vor-aussetzung für den öffentlich-rechtlichen Vergütungsan-spruch des Vermittlers ist deshalb sein zivilrechtlicher An-spruch gegen den Arbeitsuchenden. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH hat der Senat ausgeführt, dass ein Anspruch auf ein Maklerhonorar nicht entsteht, wenn durch seine Tätigkeit ein Hauptvertrag mit einer Person abgeschlossen wird, mit der er gesellschaftlich oder auf andere Weise verflochten ist. Eine solche Verflechtung ist beim Vermittlungsvertrag zu bejahen, wenn – wie hier – Gesellschafter und Geschäftsführer des Vermittlers mit der des Arbeitgebers identisch sind.

Das BSG hat weiter ausgeführt, dass der Vergütungsan-spruch bei Vorlage eines Vermittlungsgutscheins nach § 296 Abs. 4 Satz 2 SGB III zwar ausdrücklich nur bis zur Zahlung der Vergütung durch die Arbeitsagentur gestundet wird. Diese als Schutznorm zu Gunsten des Arbeitnehmers konzipierte Regelung kann nur so verstanden werden, dass der Vergütungsanspruch des Maklers dauerhaft gestundet ist und vom Makler auch dann nicht geltend gemacht wer-den kann, wenn sein Anspruch im Gerichtsverfahren ver-neint wird. Das Vermittlungsgutscheinverfahren tritt näm-lich nur an die Stelle der ansonsten kostenfreien Vermitt-lung durch die Arbeitsagentur selbst. Dann kann das Zah-lungsrisiko nicht auf den Arbeitsuchenden verlagert wer-den; der Vermittlungsgutschein soll ihn gerade davon be-freien.

Zum Verfahren hat das BSG darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmer zum Verfahren nach § 75 Abs. 2 SGB III notwendig beizuladen sind. Außerdem ist das sozialgericht-liche Verfahren nach § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 VwGO für den Vermittler gerichtskostenpflichtig, weil es sich bei der Vermittlungsgebühr nicht um eine Leis-tung im Sinne des § 183 SGG, sondern um eine Vergütung für wirtschaftliche Leistung handelt.

Ute Winkler

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Entscheidungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

§§ 22 Abs. 2a, 68 Abs. 2 SGB II; § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG Schwerwiegende soziale Gründe bei U25

Sozialgericht Hamburg, Beschluss vom 27. 3. 2006 – S 59 AS 522/06 ER

Leitsätze (der Redaktion):

An das Vorliegen schwerwiegender sozialer Gründe oder eines ähnlichen schwerwiegenden Grundes sind strenge Anforderungen zu stellen. Ist dies erst im Hauptsachever-fahren zu klären und ergibt sich dann, dass die Voraus-setzungen für einen Umzug vorliegen, muss die dadurch entstehende Verzögerung hingenommen werden, es sei denn, dass damit eine nicht wiedergutzumachende Rechtsbeeinträchtigung verbunden ist.

Aus den Gründen:

Die im Februar 1987 geborene Antragstellerin besucht das Gymnasium. Sie lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer 13-jährigen Schwester in einem Haushalt und bezieht Ar-beitslosengeld II. Im Wege einer einstweiligen Anordnung erstrebt sie die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zu-sicherung zu den Aufwendungen für eine ihr angebotene Zweizimmerwohnung, die sie für sich anmieten möchte, sowie zur Übernahme von Wohnungsbeschaffungskosten, Mietkaution und Umzugskosten.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anord-nungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die einstweilige Anordnung dient dabei dem Schutz von Rechten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Verhindert werden soll, dass der An-tragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt wird, bevor er – im Hauptsacheverfahren – wirksamen Rechtsschutz erlan-gen kann (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86b Rn. 27a). Hieraus folgt, dass dem An-tragsteller im Wege einer einstweiligen Anordnung nicht mehr zugesprochen werden kann, als für ihn im Hauptsa-cheverfahren erreichbar ist (vgl. Hommel in Peters/ Sautter/Wolff, SGG, § 86b Rn. 74, Bearbeitungsstand Sep-tember 2004). Dass die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegen, ist glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) und muss damit überwiegend wahrscheinlich sein.

Als Ergebnis der im Rahmen dieses Eilverfahrens gebote-nen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin mit ihrem Begehren im Hauptsa-cheverfahren Erfolg haben wird.

[...]

Durch Art. 1 Nr. 10 des Änderungsgesetzes wird mit § 68 SGB II eine Übergangsvorschrift eingefügt, deren hier rele-vanter Absatz 2 wie folgt lautet:

(2) § 22 Abs. 2a Satz 1 gilt nicht für Personen, die am 17. Februar 2006 nicht mehr zum Haushalt der Eltern oder eines Elternteils gehören.

Das Inkrafttreten der hier zitierten Gesetzesänderungen ergibt sich aus Art. 5 Abs. 1 des Änderungsgesetzes.

Nach dieser aufgrund der zitierten Übergangsvorschrift für die Antragstellerin geltenden Neuregelung würden ihr auch bei einem Umzug vor dem Inkrafttreten der Gesetzesände-rung am 1. April 2006 Leistungen für Unterkunft und Hei-zung ab diesem Termin nicht mehr zustehen. Dabei ist nicht entscheidend, dass es insoweit an einer Zusicherung nach § 22 Abs. 2a SGB II (Neufassung) fehlt; denn mangels gesetzlicher Grundlage ist die Beantragung und Erteilung dieser Zusicherung vor dem 1. April 2006 rechtlich gar nicht möglich. In entsprechender Anwendung des § 22 Abs. 2a SGB II (Neufassung) wird aber ab dem Inkrafttre-ten der Neuregelung ein Absehen von dem Erfordernis der Zusicherung nur möglich sein, wenn die sachlichen Vor-aussetzungen des Satzes 2 vorliegen (Berlit, Neuregelungen im Leistungsrecht des SGB II zum 1. April/1. Juli 2006, unveröffentlichtes Manuskript). Dies wird hier jedoch nicht der Fall sein. Die Kammer hält es aufgrund ihres jetzigen Erkenntnisstandes insbesondere nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass schwerwiegende soziale Gründe oder ein ähnlich schwerwiegender Grund bestehen, die gegen ein Verbleiben der Antragstellerin in der zur Zeit gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bewohnten Wohnung sprechen werden. Ist aus dem Attest des behandelnden Psy-chiaters nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu entnehmen, dass der Auszug der Antragstellerin aus der gemeinsamen Wohnung als Folge einer wegen einer Er-krankung der Mutter gestörten Beziehung erforderlich ist, genügt das Attest ebenso wenig zur Glaubhaftmachung eines schwerwiegenden sozialen oder anderen ähnlich schwerwiegenden Grundes, der einem Verbleib der Antrag-stellerin in der bisherigen Wohnung entgegensteht.

Damit wird, soweit in diesem Eilverfahren feststellbar, nach dem Auszug der Antragstellerin aus der jetzigen Wohnung eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Kosten der neuen Wohnung zu übernehmen, aufgrund der beschlosse-nen Gesetzesänderung ab dem 1. April 2006 nicht mehr bestehen. Ein Erfolg der Antragstellerin in einem hierauf zielenden Hauptsacheverfahren ist hiernach unwahrschein-lich. Demgemäß ist einstweiliger Rechtschutz hierfür nicht zu gewähren. Nichts anderes ergibt sich aus der aufgrund der nur summarischen Prüfung im Rahmen dieses Eilver-fahrens nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass sich nach weiterer Sachverhaltsaufklärung in einem späteren Hauptsacheverfahren herausstellen könnte, dass die Bezie-

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hung zwischen der Antragstellerin und ihrer Mutter vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung der Mutter doch so stark beeinträchtigt ist, dass ein Verbleiben in einer gemeinsamen Wohnung mit der Mutter der Antragstellerin nicht zumutbar ist. In diesem Fall könnte die Antragstelle-rin nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens eine neue Wohnung anmieten, und die Antragsgegnerin müsste die angemessenen Kosten hierfür erbringen. Zwar würde sich der Auszug der Antragstellerin aus der Wohnung trotz be-stehender Notwendigkeit bei einem Misserfolg im Eilver-fahren verzögern. Anhaltspunkte dafür, dass hiermit eine nicht wiedergutzumachende Rechtsbeeinträchtigung ver-bunden wäre, sind jedoch nicht ersichtlich.

Anmerkung der Redaktion:

Siehe zu dem angeführten Beitrag von Berlit seinen Aufsatz in info also 2/2006, S. 51.

§ 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II Schwerwiegende soziale Gründe bei U25

Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 2. 5. 2006 – L 5 B 160/06 ER AS

Leitsatz (des Gerichts):

Lebt eine 18-jährige schwangere Hilfebedüftige in ständi-gem Streit mit ihrer Mutter und lehnt diese zudem die Schwangerschaft ab, kann die Hilfebedürftige nicht auf die Elternwohnung verwiesen werden.

Gründe:

Die am 20. April 2006 durch die Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg (SG) vom sel-ben Tag eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorge-legt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz – SGG), ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG).

Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen An-ordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig die Zusi-cherung zu erteilen, ihr Leistungen für Unterkunft und Hei-zung für die Wohnung R. in Hamburg zu erbringen sowie die Mietkaution für diese Wohnung zu übernehmen. Der Senat schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts an.

Nach § 22 Abs. 2a Satz 1 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) werden, sofern Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollen-det haben, umziehen, ihnen Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur erbracht, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die Unter-

kunft zugesichert hat. Gemäß Satz 2 Nr. 1 ist er zur Zusi-cherung verpflichtet, wenn der Betroffene aus schwerwie-genden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann. Das ist hier der Fall.

Der Argumentation der Antragsgegnerin, dass die Antrag-stellerin eine bestehende Konfliktsituation nicht substanti-iert vorgetragen habe, vermag der Senat nicht zu folgen. Die Antragstellerin und ihre Mutter haben – in der gemäß §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG zur Glaubhaftmachung zugelas-senen Form einer Versicherung an Eides statt – nachvoll-ziehbare Gründe für einen bestehenden Mutter-Kind-Konflikt benannt. Es würde die Anforderungen an eine Glaubhaftmachung überspannen, wenn man nur handfeste Beweise in Form von tätlichen Auseinandersetzungen bis hin zu Polizeieinsätzen gelten ließe. Der Senat hat danach von folgendem Sachverhalt auszugehen. Die l8-jährige Antragstellerin, die im sechsten Monat schwanger ist, lebt zusammen mit ihrer behinderten Schwester und ihrer Mut-ter. Ihr derzeitiges Zimmer ist 6 qm groß. Da sie keine Ausbildung und Arbeit hat, gab es mit ihrer Mutter ständig Streit; diese lehnt auch die Schwangerschaft ab und kennt den Kindesvater nicht. Die Antragstellerin darf ihre Musik nicht hören und keine Freunde mitbringen. Sie versteht sich überhaupt nicht mit ihrer Schwester und fühlt sich von der Mutter zurückgesetzt.

Soweit die Antragsgegnerin darauf hinweist, dass der Ge-setzgeber bezüglich der schwerwiegenden sozialen Gründe im Sinne des § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II auf die Re-gelung des § 64 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch – Drittes Buch – Arbeitsförderung – verwiesen habe, ist dies zutreffend. Der Senat kann bei der gegebenen Sachlage dahinstehen lassen, inwieweit zur Auslegung dieses Begrif-fes daher auf die zur letztgenannten Regelung ergangene sozialgerichtliche Rechtsprechung, namentlich auf das Ur-teil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. Juni 2004 (B 7 AL 38/03 R – BSGE 93, S. 42 ff., 46 f. –) zurückgegriffen werden kann. Das BSG hat ausgesprochen, dass – sofern man allein auf die Eltern-Kind-Beziehung und nicht auf die Beziehung zu sonstigen im Haushalt lebenden Personen abstellt – die Anforderungen an den Schweregrad der Stö-rungen nicht überzogen werden dürfen, um die Annahme zu rechtfertigen, die Verweisung auf die Elternwohnung sei aus schwerwiegenden sozialen Gründen unzumutbar. Vor-liegend ist nämlich nicht nur das Verhältnis der Antragstel-lerin zu ihrer Mutter und ggf. ihrer Schwester von Bedeu-tung. Vielmehr sind auch die schützenswerten Interessen des werdenden Kindes zu berücksichtigen. Der Senat ist mit dem SG der Meinung, dass gravierenden Umständen, die eine gedeihliche Entwicklung der Familie und insbesondere des Kindes als gefährdet erscheinen lassen, angesichts des verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutzes der Familie und des ungeborenen Lebens im Rahmen der Vorausset-zungen für eine Zusicherung nach § 22 Abs. 2a SGB II Rechnung getragen werden muss. Dass der Schutz des un-geborenen Lebens dem Gesetzgeber ein wichtiges Anliegen ist, zeigt sich z.B. an der Sonderregelung des § 94 Abs. 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch – Sozialhilfe –‚ mit der er einer möglichen Gefährdung durch finanzielle

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Interessen vorbeugen will. Das SG hat ausführlich und schlüssig dargelegt, dass die Konflikte ein Niveau erreicht haben, bei dem gerade in der schwierigen Lebenssituation der Schwangerschaft, der Geburt und der ersten Lebensjah-re des Kindes ein weitgehend harmonisches Zusammenle-ben in der elterlichen Wohnung als Grundlage für eine posi-tive Entwicklung der Familie und damit auch des Kindes nicht erwartet werden kann.

Nicht zu folgen vermag der Senat ferner der Argumentation der Antragsgegnerin, die Antragstellerin müsse zunächst die Hilfe öffentlicher Stellen in Anspruch nehmen, um die familiären Probleme zu lösen, bevor sie sich hierauf beru-fen könne. Das BSG (a.a.O., S. 48) hat zu Recht darauf verwiesen, dass die Einschaltung von Trägern der Jugend-hilfe – oder ähnlichen öffentlichen Einrichtungen – zwar ein Indiz für das Vorliegen einer nachhaltigen Beziehungs-störung sein könne, nicht aber Voraussetzung für die »An-erkennung« einer solchen sei. Wenn die Beteiligten die Leistungen der Jugendhilfe nicht in Anspruch nehmen woll-ten, so sei dies zu akzeptieren: ihnen solle Hilfe angeboten, aber nicht aufgezwungen werden.

Der Einwand, dass durch die Verpflichtung zur Erteilung der Zusicherung zunächst einmal vollendete Tatsachen geschaffen würden, ist zutreffend, doch würde seine Be-rücksichtigung in derartigen Fällen jeglichen Eilrechts-schutz ausschließen.

Kurzanmerkung:

Nach § 22 Abs. 2a Satz 1 SGB II n.F. (also in der ab 1.4.2006 geltenden Fassung) haben Alg II-Bezieher unter 25 Jahren im Falle eines Auszugs aus der elterlichen Woh-nung nur dann einen Anspruch auf Leistungen für Unter-kunft und Heizung, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die Unterkunft zugesichert hat. Eine Verpflichtung zur Zusicherung besteht gemäß § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II n.F. dann, wenn »der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwie-sen werden kann« (dazu U. Berlit, info also 2006, Heft 2, S. 51 ff.). Offen ist, welche Fallgruppen die Sozialgerichte zur Konkretisierung der »schwerwiegenden sozialen Grün-de« entwickeln werden:

– Zum einen bietet sich ein Rückgriff auf die sozialge-richtliche Rechtsprechung zu § 64 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB III, also eine Regelung, die gleichfalls die Wort-folge »aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann« enthält und als Vorbild für die Vorschrift des § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II n.F. diente (vgl.

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drucks. 16/688, 14). Das LSG Hamburg lässt es jedenfalls dahinstehen, inwieweit auf die Rechtsprechung zu der genannten Regelung des SGB III abgestellt werden kann (grundlegend BSGE 93, 42 und dazu R. P. Hase, AuB 2004, 315, und Giesen, SGb 2005, 120). In aller Kürze wird man – als Summe dieser Rechtsprechung – sagen können: Die »schwer-wiegenden sozialen Gründe« müssen ein gewisses Ge-wicht haben; aus diesen Gründen muss sich die Unzu-mutbarkeit des Zusammenwohnens von Kind und El-tern/Elternteil für mindestens einen dieser Beteiligten ergeben; dies kann eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung sein, wobei es dafür nicht auf die »Schuld« der Eltern oder des Kindes ankommt; die Störung der Eltern-Kind-Beziehung kann auch in der individuellen persönlichen Entwicklung und Erziehung des Kindes liegen.

– Zum anderen könnte auf die unterhaltsrechtliche Judika-tur zur Änderung des elterlichen Bestimmungsrechts gemäß § 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB zurückgegriffen wer-den (dafür zu § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 z.B. Chr. Mül-ler, ZKJ 2006, 193 ff.; zu § 64 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB III bejahend Chr. Fuchsloch in: Gagel, SGB III-Arbeitsförderung, § 64 Rdnr. 39). Nach § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB können die Eltern gegenüber (auch volljäh-rigen unverheirateten) Kindern, bestimmen, ob sie den Unterhalt durch Entrichtung einer Geldrente oder durch Naturalunterhalt (z.B. Wohnraumgewährung im eigene Haushalt) erbringen wollen; das Kind kann demgegen-über nach § 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB bei Vorliegen »be-sonderer Gründe« durch einen Antrag beim Familienge-richt erreichen, dass die Eltern eine Geldrente zahlen müssen. Die zivilgerichtliche Rechtsprechung zum un-bestimmten Rechtsbegriff »besondere Gründe« ist frei-lich recht uneinheitlich; ihre Bandbreite reicht von einer familien(erz-)konservativen über eine »mittlere« bis hin zu einer – im Hinblick auf das Kind – stark emanzipato-rischen Ausrichtung (dazu z.B. P. Finger, ZfJ 1984, 454; Pachtenfels, MDR 1988, 812 und MDR 1993, 1029; Buchholz, FamRZ 1995, 705).

Unabhängig davon, ob sich die Sozialgerichte an einem der genannten Modelle orientieren werden oder eine eigenstän-dige Judikatur entwickeln werden: Festzuhalten bleibt, dass die Neuregelung des § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht nur zu einem beträchtlichen bürokratischen Aufwand bei den Trägern führen wird, sondern den Sozialgerichten auch viele kollusiv konstruierte und dann laienschauspielerisch inszenierte »schwerwiegende soziale Gründe« (Konflikt-, Misshandlungs-, Entfremdungsfälle usw.) in den mündli-chen Verhandlungen bescheren dürfte.

Peter Trenk-Hinterberger

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§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. EU-Ausländer als Berechtigte für Leistungen der Grund-sicherung für Arbeitsuchende

Sozialgericht Osnabrück, Beschluss vom 27. 4. 2006 – S 22 AS 263/06 ER

Leitsatz (des Gerichts):

Der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab 1. April 2006 geltenden Fassung ist unter Beach-tung richtlinienkonformer Auslegung mit der Maßgabe teleologisch zu reduzieren, dass nur Ausländer, die erst-malig ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutsch-land zum Zwecke der Arbeitssuche begründen, von Leis-tungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausge-schlossen sind.

Aus den Gründen:

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des einstwei-ligen Rechtsschutzes gegen die Einstellung der Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 30. April 2006 bis 31. Mai 2006. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab 1. Ap-ril 2006 geltenden Fassung – n.F. – (Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BGBl. I, S. 558) Anwendung findet.

Die 1969 in C. geborene Antragstellerin, die italienische Staatsbürgerin ist, war – nach eigenen Angaben – von 1986 bis 1987 in einer Fabrik in D. beschäftigt. Anschließend bezog sie von 1987 bis 1989 Leistungen nach dem Arbeits-förderungsgesetz. Von Juli 1999 bis Mai 2003 war sie im Gastronomiebereich selbständig tätig. Im Juni 2003 verließ sie das Bundesgebiet und zog mit ihrem Ehemann und den drei Kindern nach Italien. Von dort reiste sie am 1. Februar 2006 mit ihren drei Kindern wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Rahmen der Aufenthaltsanzeige bei der Stadt D. gab sie als Grund für ihre Einreise »Arbeits-platzsuche« an.

Am 3. Februar 2006 beantragte sie für sich und ihre drei Kinder Leistungen nach dem SGB II. Der Beklagte bewil-ligte daraufhin für die Zeit vom 3. Februar 2006 bis 31. Mai 2006 die beantragten Leistungen nach dem SGB II. In der Zeit vom 15. Februar 2006 bis 15. März 2006 war die Klä-gerin als Reinigungskraft bei der Firma E. KG F. in G. be-schäftigt (vgl. befristeter Arbeitsvertrag in der Verwal-tungsakte des Antragsgegners).

Ohne die Antragstellerin zuvor gemäß § 24 Sozialgesetz-buch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und So-zialdatenschutz – (SGB X) angehört zu haben, stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 5. April 2006 die Leis-tungen gemäß § 48 SGB X zum 1. Mai 2006 unter Hinweis

auf die gesetzliche Neuregelung des § 7 Abs. 1 SGB II ein. Über den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 6. April 2006 ist – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden wor-den.

Die Antragstellerin hat am 7. April 2006 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie trägt vor, dass sie nicht mehr wisse, wie sie die Miete bezahlen und ihre Kinder und sich ernähren solle.

(...)

II.

Der zulässige Antrag ist begründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 6. April 2006 gegen den Bescheid vom 5. April 2006 ist anzuordnen, denn die Vor-aussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wir-kung nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind erfüllt.

Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, sofern nicht durch Bundesgesetz anderes geregelt ist (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). § 39 SGB II enthält eine solche abwei-chende Regelung für Fälle, in denen der angefochtene Ver-waltungsakt über Leistungen der Grundsicherung für Ar-beitsuchende entscheidet. Hierunter fallen auch Entschei-dungen über die Aufhebungen von Bewilligungsbescheiden nach § 48 SGB X. Ein solcher Fall liegt hier vor, so dass der Widerspruch vom 6. April 2006 gegen den Bescheid vom 5. April 2006 keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Diese kann durch das Gericht gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ganz oder teilweise angeordnet werden.

Das Gericht entscheidet dabei nach eigenem Ermessen und aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung. Die auf-schiebende Wirkung ist in der Regel anzuordnen, wenn das Interesse des Leistungsempfängers an der aufschiebenden Wirkung überwiegt und die Behörde keine Umstände dar-gelegt hat, die einen Vorrang an alsbaldiger Vollziehung erkennen lassen. Dabei sind auch die Erfolgsaussichten in einem Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen. Ist der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig, wird die aufschiebende Wirkung regelmäßig angeordnet.

Unter Beachtung dieser Maßgabe fällt die hiernach vorzu-nehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragsgeg-ners aus. Der Bescheid vom 5. April 2006 wird sich voraus-sichtlich als rechtswidrig und der Widerspruch vom 6. April 2006 als begründet erweisen. Dabei kann dahinstehen, aus welchem Anlass entsprechend § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (BGBl. 2004 I, Seite 1950) die Antragstellerin nach D. gezogen ist, denn jedenfalls sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht erfüllt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen einge-treten ist. Hierunter fällt auch die Änderung der anspruchs-begründenden Rechtsnorm nach Leistungsbewilligung.

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Eine solche Änderung der Rechtslage ist vorliegend jedoch nicht anzunehmen. Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. ist auf die Antragstellerin nicht anzuwenden.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. sind von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende Ausländer ausgenom-men, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (vgl. hierzu kritisch: Winkel, Soziale Sicherheit 3/2006, S. 103, S. 104). Mit der Neufassung von Satz 2 hat der Gesetzgeber Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (vgl. Amts-blatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158 / 77 ff.) umgesetzt (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688, S. 13). Danach ist der Aufnahmemitgliedsstaat nicht ver-pflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selb-ständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) einen An-spruch auf Sozialhilfe zu gewähren. In den Gründen zu der Richtlinie 2004/38/EG heißt es, dass Personen, die ihr Auf-enthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158 / 81, Rn. 10).

Hiervon ausgehend ist der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II im Rahmen einer teleologischen Re-duktion dahingehend auszulegen, dass von der Neuregelung nur Ausländer betroffen sind, die sich erstmalig in das Bundesgebiet begeben haben und dort unmittelbar mit dem Zuzug Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dies ergibt sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung (vgl. hierzu: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 10. April 1984 – 14/83 – = EuGHE 1984, 1891, 1909; zitiert nach JURIS, Leitsatz 3). Denn das Europäi-sche Parlament und der Rat der Europäischen Union sind bei Erlass der Richtlinie 2004/38/EG offensichtlich davon ausgegangen, dass – auch unter Wahrung der Arbeitneh-merfreizügigkeit gemäß Art. 39 des Vertrages zur Grün-dung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) – von dieser Regelung nur die EU-Bürger umfasst sind, die ihren Auf-enthalt zum ersten Mal in einem anderen Mitgliedsstaat nehmen. Hierfür spricht neben der richtlinienkonformen Auslegung auch der Wille des Gesetzgebers. Denn dieser ging bei der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG eben-falls davon aus, dass nur der erstmalige Zuzug in das Bun-desgebiet einen Ausschlussgrund darstellen sollte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/688, S. 13: »Auch die Familien-angehörigen eines erstmals in Deutschland arbeitsuchenden EU-Bürgers sind dann vom Bezug von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen.«)

Hier hat die Antragstellerin nicht zum ersten Mal ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet,

denn sie lebte bereits von Geburt an bis zur ihrem Umzug nach Italien 34 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und war hier berufstätig. Danach ist nicht davon auszuge-hen, dass sie sich mit Rückkehr in das Bundesgebiet erst-mals in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Eine Ein-schränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EGV durch § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. kann damit – auch im Hinblick auf den Umstand, dass die Antragstellerin bereits vom 15. Februar 2006 bis 15. März 2006 im Bun-desgebiet wieder gearbeitet hat – nicht erfolgen.

(...)

Kurzanmerkung:

Nach der bisherigen (bis zum 31.2.2006 bestehenden) Rechtslage waren alle erwerbsfähigen Ausländer an-spruchsberechtigt, soweit sie die allgemeinen Anspruchs-voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 SGB II erfüllten sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bun-desrepublik hatten und ihnen gemäß § 8 Abs. 2 SGB II die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt war oder hätte er-laubt werden können. Nach der Neufassung werden dieje-nigen Ausländer aus der Anspruchsberechtigung ausgenom-men, »deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt« (dazu näher U. Berlit, info also 2006, 51 ff., 57). Zweck der Änderungsregelung soll das angeblich vielfach entstandene Missverständnis sein, dass für Ausländer aufgrund der bisherigen Verweisung auf § 8 Abs. 2 SGB II der gleiche oder nachrangige Arbeitsmarkt-zugang die allgemeine Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II zum gewöhnlichen Aufenthalt ersetzt habe. Mit der Änderung werde nun klargestellt, dass Ausländer ohne gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland vom Leistungsbe-zug ausgeschlossen bleiben (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drucks. 16/688, 13). Der Ausschluss von Ausländern, die ansonsten die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen er-füllen (also zwischen 15 und 65 Jahre alt, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben), entspricht laut dem genannten Ausschussbericht Regelungen des europäi-schen Rechts. Zu Recht versteht das SG Osnabrück diese Regelungen (des von ihm auch angeführten) des europäi-schen Rechts dahin, dass EU-Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und zuvor durch eine Vorbeschäftigung in Deutschland Arbeitnehmerstatus erlangt haben, nicht vom Ausschluss der Neureglung erfasst werden, weil sie nicht erstmalig ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke der Arbeitssuche begründen. Gleiches gilt für EU-Bürger, die als Familien-angehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik einrei-sen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales, BT-Drucks. 16/688, 13).

Peter Trenk-Hinterberger

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§§ 20 Abs. 2, 23 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II Aufwendungen für Familienfeier als Leistung nach SGB II

Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10.4.2006 – L 9 AS 44/06 ER

Leitsatz (der Redaktion):

Aufwendungen für eine Familienfeier (Goldene Hochzeit von Tante und Onkel) in Gestalt von Fahrt- und Klei-dungskosten können weder nach § 23 Abs. 1 noch nach § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB II beansprucht werden.

Aus den Gründen:

I.

Verfahrensziel ist die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von 99,15 € wegen gehabter Aufwendungen für eine Familienfeier im Wege der einstweiligen Anord-nung.

Der Antragsteller bezieht seit 1. Januar 2005 von der An-tragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunter-halts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Mai 2005 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 6. September 2005 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2005 wurden ihm für den Zeitraum 1. Juli 2005 – 30. No-vember 2005 monatlich zustehende Leistungen in Höhe von zuletzt 657,79 € bewilligt. (...) Durch Bescheid vom 15. November 2005 wurden dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum ab 1. Dezember 2005 in Höhe von 657,79 € und durch Ände-rungsbescheid vom 9. Januar 2006 für den Zeitraum 1. Februar 2006 – 31. Mai 2006 in Höhe von 665,29 € wei-terbewilligt, – darin: 345,00 € Regelleistung für erwerbsfä-hige Hilfebedürftige und 35,79 € Mehrbedarf zum Lebens-unterhalt für kostenaufwändige Ernährung und 284,50 € anerkannte monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung.

Der Kläger beantragte am 8. Januar 2006 bei der Antrags-gegnerin Leistungen für Fahrkosten (K. – H. – K.) sowie Kleidungskosten (Hemd, Krawatte, Schuhe) aus Anlass seiner geplanten Teilnahme an der Goldenen Hochzeit sei-ner Tante und seines Onkels K. und E. G. in U. am 11. Feb-ruar 2006. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Januar 2006 ab, weil die beantragten Leistungen durch die gewährte Regelleistung in Höhe von 345,00 € abgedeckt sei. Die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 20 Abs. 1 SGB II umfasse insbesondere in vertretbarem Umfang Bedarfe wegen Be-ziehungen zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen Le-ben. Die beantragten Leistungen seien nach den vorliegen-den Unterlagen auch nicht als unabweisbare Bedarfe im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren.

Der Antragsteller erhob gegen den Bescheid vom 13. Janu-ar 2006 am 18. Januar 2006 Widerspruch, den die Antrags-gegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 5. April 2006 unter Hinweis auf die gewährte Regelleistung als unbe-gründet zurückwies. Der Antragsteller hat am 16. Januar 2006 bei dem Sozialgericht Kassel die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz mit dem Ziel beantragt, die Antragsgegnerin zur Zahlung von 22,20 € Fahrtkosten so-wie ca. 100,– € Kleidungskosten für ein Hemd, eine Kra-watte und Schuhe zu verpflichten. Zur Eilbedürftigkeit hat er auf die zeitliche Nähe der Feier am 11. Februar 2006 hingewiesen. Zur Begründung eines diesbezüglichen Leis-tungsanspruchs hat er sein Bedürfnis geltend gemacht, sei-ne seit Jahren nicht mehr gesehene Verwandtschaft zu be-suchen. Einem Hilfebedürftigen müsse unter Würdigung der gesamten Lebensumstände, seiner Grundrechte sowie der einschlägigen Normen der Sozialgesetze ermöglicht werden, an einer Familienfeier teilzunehmen. Da seine Regelleistung zur Bedarfsdeckung nicht ausreiche, müsse er konkrete Anträge zur Bedarfsdeckung stellen, was er jetzt verschiedentlich getan habe (...).

Das Sozialgericht Kassel hat durch Beschluss vom 25. Ja-nuar 2006 den Erlass der begehrten einstweiligen Anord-nung abgelehnt und seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Kosten für die Teilnahme an Fei-ern naher Familienangehöriger aus den Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gem. § 20 Abs. 1 SGB II zu bestreiten seien, welche die Bedarfe des täglichen Le-bens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben mit um-fassten (...).

Gegen den ihm am 27. Januar 2006 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 hat der An-tragsteller am 1. Februar 2006 (Eingang bei dem Sozialge-richt Kassel) Beschwerde bei dem Hessischen Landessozi-algericht eingelegt. Mit der Beschwerde begehrt er weiter die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von insgesamt 99,15 € (22,20 € Fahrtkosten und 76,95 € Be-kleidungskosten) für die stattgefundene Teilnahme an der Familienfeier. Zur Begründung hat er zunächst sein bishe-riges Vorbringen wiederholt und bekräftigt, dass die bean-tragten Leistungen zur Durchführung der Teilnahme an der Familienfeier am 11. Februar 2006 unverzichtbar gewesen seien. Die ihm zur Verfügung gestellten Mittel reichten für ein an der Menschenwürde orientiertes Leben, wozu auch die Teilnahme an einer Familienfeier zähle, nicht aus. Ein Ansparen der dafür benötigten Mittel aus der Regelleistung sei ihm nicht möglich gewesen. Wenn ein Ansparen der benötigten Mittel allerdings für möglich erachtet werde, sei unverständlich, dass weder die Antragsgegnerin noch das Sozialgericht die Darlehensgewährung in Erwägung gezo-gen hätten. Daraus müsse geschlossen werden, dass die Regelleistung für den geltend gemachten Bedarf nicht aus-reiche, weshalb ihm dann eine Regelleistungserhöhung nach § 20 Abs. 2 SGB II oder ein Mehrbedarf gem. § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren sei. Im Übrigen seien ihm je-denfalls die beantragten Bekleidungsbedarfe auch als Be-kleidungserstausstattung zu gewähren. Nach stattgefunde-ner Teilnahme an der Familienfeier stützt der Antragsteller sein Begehren nunmehr auf den vollständigen Verbrauch

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seiner Regelleistung für Februar 2006 infolge der Aufwen-dungen für die Familienfeier am 11. Februar 2006. Ihm als Hilfebedürftigen müsse ein Spielraum in Eigenverantwor-tung zugestanden werden, wie er seine Bedürfnisse für sich gewichte und aus den ihm gewährten Leistungen decke. Weder das Sozialgericht Kassel noch die Antragsgegnerin hätten seiner Teilnahme an der Feier widersprochen. Das sei kein unwirtschaftliches Verhalten seinerseits, führe aber zu einer Unterversorgung bei anderen Bedarfen, insbeson-dere der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Zur Nahrungs-mittelversorgung könne er auch nicht auf die Möglichkeit der Versorgung durch die K. Tafel verwiesen werden, für deren Hilfeleistungen 2,– € zu entrichten seien. Er werde deshalb ab dem morgigen Tag seine Nahrungsaufnahme einstellen müssen. Aufgrund dieser Existenzgefährdung bestehe eine dringliche Notlage, die eine sofortige Ent-scheidung des Gerichts im einstweiligen Rechtsschutzver-fahren erfordere. Die Beschwerde habe darüber hinaus das Ziel, den Verfassungsverstoß durch die in § 20 SGB II de-finierte Regelleistung zu belegen. Er sehe die zu treffende Entscheidung des Landessozialgerichts als eine Zwischen-station auf dem Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht an und rege einen Vorlagebeschluss an das Bundesverfas-sungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz an (...).

II.

Die Beschwerde des Antragstellers ist statthaft (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) und insbesondere form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegt; das Sozialge-richt hat der Beschwerde am 2. Februar 2006 nicht abgehol-fen (§ 174 SGG). Im Zeitpunkt der Entscheidung des er-kennenden Gerichts besteht auch weiterhin ein Rechts-schutzbedürfnis des Antragstellers. Die Inanspruchnahme von einstweiligem Rechtsschutz kommt zur Beseitigung einer in der Vergangenheit entstandenen und bis in die Ge-genwart fortwirkenden Notlage in Betracht (Oberverwal-tungsgericht Schleswig vom 13. Januar 1993 – 5 M 112/92; Hessisches Landessozialgericht – HLSG – vom 20. Juni 2005 – L 7 AL 100/05 ER). Für die Beurteilung der Anord-nungsvoraussetzungen sind regelmäßig die gegenwärtigen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (HLSG vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; LSG Baden-Württemberg vom 17. August 2005 – L 7 SO 2117/05 ER – B). Das Fortwirken des Bedarfs mit dem Ziel einer Teilnahme an der Familienfeier ist auch nach zwi-schenzeitlich stattgefundener Teilnahme am 11. Februar 2006 zu bejahen, weil der Kläger den geltend gemachten Sonderregelleistungsbedarf aus dem Geldbetrag seiner Re-gelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gedeckt hat. Auf eine Beschwerdeänderung (vgl. § 99 Absatz 1 und 2 SGG) vom ursprünglichen Bedarf »Familienfeier am 11. Februar 2006« in den Folgebedarf »Sicherung des Lebensunterhalts ab 17. Februar 2006« hat sich die Antragsgegnerin nicht eingelassen (Schriftsatz vom 23. Februar 2006). Insoweit befindet sich der Antragsteller auf seinen Antrag vom 5. Februar 2006 im Verwaltungsver-fahren mit der Antragsgegnerin gewandt.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 ist nicht aufzu-

heben oder abzuändern; das Sozialgericht hat die Voraus-setzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen An-ordnung zutreffend verneint. Die begehrte Anordnung hat auch im Beschwerdeverfahren nicht zu ergehen.

Das Gericht kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Verände-rung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich er-schwert werden könnte (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Neben dem Anord-nungsgrund, das ist: der Sachverhalt, der die Eilbedürftig-keit der Anordnung begründet, setzt die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nach herrschender Meinung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage, Rdnr. 26c zu § 86b) einen Anordnungsan-spruch, das ist: ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Leistung, voraus, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. An-ordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches Sys-tem gegenseitiger Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungs-grund (wie vor, Rdnr. 29). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Auf-klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu ent-scheiden, wenn die grundrechtlichen Belange des An-tragstellers berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).

Alle Voraussetzungen des Einstweiligen Rechtsschutzes sind – unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Be-weislast – glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO –); die richterliche Überzeugungsgewissheit in Bezug auf die tat-sächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 16b). Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage allerdings nicht nur summarisch, sondern ab-schließend zu prüfen (Bundesverfassungsgericht, a. a. O.). In dem anhängigen Verfahren spricht nach dem derzeitigen Sach- und Rechtsstand keine überwiegende Wahrschein-lichkeit für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sowie eines Anordnungsanspruchs zugunsten des Antragstellers. Eine Notwendigkeit zur Regelung des zwischen den Betei-ligten streitigen Rechtsverhältnisses durch einstweilige Anordnung ist nach Würdigung aller Umstände nicht zu bejahen.

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Ein Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht. Es ist nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller an der Familienfeier nur angemessen teilnehmen konnte, wenn er über die begehrten neuen Kleidungsstücke verfügte. Ins-besondere ist nicht erkennbar, warum er hierfür ein Hemd im Wert von fast 50,– Euro tragen musste. Die Anforderun-gen an den Anordnungsgrund sind auch nicht wegen offen-sichtlicher Begründetheit des Anordnungsanspruchs ge-mindert. Ein Anordnungsanspruch in Bezug auf die begehr-te Leistung ist nicht glaubhaft gemacht. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in Form von Geldleistungen, insbeson-dere zur Eingliederung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Arbeit und zur Sicherung des Lebensunterhaltes der er-werbsfähigen Hilfebedürftigen erbracht. Erwerbsfähige erhalten gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 1 SGB II als Arbeitslosen-geld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Dazu zählen die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II), die Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt (§ 21 SGB II), die Leis-tungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) sowie abweichend von der Regelleistung zu erbringende Leistun-gen (§ 23 SGB II). Die Aufwendungen für die Familienfei-er kann der Antragsteller nach keiner der genannten Rege-lungen zusätzlich beanspruchen.

Die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II in Höhe von 345 € monatlich wurde dem Antragsteller durch Bescheid vom 15. November 2005 und Änderungsbescheid vom 9. Januar 2006 gewährt. Soweit der Antragsteller die pauscha-le Erhöhung der Regelleistung um mindestens 19 % be-gehrt, ist dies Gegenstand des Beschwerdeverfahrens L 9 AS 43/06 ER zu dem Einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 1 AS 551/05 ER, welches zeitlich früher (am 18. Novem-ber 2005) als das dem anhängigen Beschwerdeverfahren vorausgehende Einstweilige Rechtsschutzverfahren S 1 AS 40/06 ER (am 16. Januar 2006) bei dem Sozialgericht Kas-sel anhängig gemacht wurde.

Erstausstattungsleistungen für Bekleidung nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II, die nicht von der Regelleistung um-fasst und gesondert zu erbringen sind, kann der Antragstel-ler gleichfalls nicht verlangen. Voraussetzung für die Ge-währung einer Erstausstattung sind – neben den im Gesetz genannten Ereignissen (Schwangerschaft, Geburt) – außer-gewöhnliche Umstände (Bundestags-Drucksache 15/1514, 60). Daran fehlt es hier; denn der Antragsteller hatte seine im Besitz befindliche Bekleidung nicht durch außerge-wöhnliche Umstände verloren etc. Die Teilnahme an einer Familienfeier ist ihrer Art nach kein so außergewöhnlicher Umstand, dass dadurch ein Erstausstattungsbedarf an Be-kleidung ausgelöst würde.

Eine Sonderregelleistung nach § 23 Abs. 1 SGB II in Form eines Darlehens kann der Antragsteller schließlich auch nicht verlangen; denn die Leistungsvoraussetzungen sind nicht glaubhaft gemacht. Kann im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unab-weisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden, erbringt die Agentur für

Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sach-leistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebe-dürftigen ein entsprechendes Darlehen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Teilnahme an einer Familienfeier ist von der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes umfasst (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II: »Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben«); der diesbezügliche Bedarf ist jedoch nicht unabweisbar. Der unbestimmte Rechtsbegriff der Unabweisbarkeit ist gesetzlich nicht defi-niert und auch den Gesetzgebungsmotiven (Bundestags-Drucksache 15/1516, 57) nicht zu entnehmen. Nach Geset-zessystematik und -wortlaut ist der »unabweisbare« Bedarf jedenfalls enger zu fassen als der »notwendige« Bedarf; er wird in der Kommentierung an der Grenze des zum Leben Unerlässlichen und bei einer 20%igen Bedarfsunterdeckung gesehen (Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, § 23 Rdnr. 23 – 32 m.w.N.). Als Notlagen, die keinen weiteren Aufschub der Hilfeleistung dulden, werden Situationen nach Wohnungsbrand oder sonstigem Verlust von Ge-brauchsgegenständen vorgestellt (Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, SGB II, Loseblatt, 4. Lieferung, § 23 Rdnr. 5). In der Rechtsprechung wurden Sonderregelleistungsbedarfe in Einzelfällen anerkannt: aufgrund der Pflege und Betreuung eines kranken Kindes (Sozialgericht Berlin vom 23. November 2005 – S 37 AS 8519/05 ER), aufgrund der Wahrnehmung des Umgangs-rechts mit dem getrennt lebenden Kind (SG Dresden vom 5. November 2005 – S 23 AS 982/05 ER) sowie aufgrund krankheitsbedingter Kosten für Heil- und Körperpflegemit-tel (SG Lüneburg vom 11. August 2005 – S 30 AS 328/05 ER). Der hier streitbefangene Bedarf »Aufwendungen für eine Familienfeier« erfüllt die engen Voraussetzungen einer Unabweisbarkeit nicht: Die Teilnahme an einer Familien-feier (z. B. Silberhochzeit, Geburtstagsfeier, Kindergeburts-tag) dient dem allgemeinen persönlichen Bedürfnis der Aufrechterhaltung, Festigung und Vertiefung zwischen-menschlicher Beziehungen, hat jedoch nicht die herausra-gende – religiöse oder gesellschaftliche – Bedeutung, wie sie für die Taufe, die Erstkommunion oder die Eheschlie-ßung anerkannt ist, was nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einmalige Leistungen für die Ausrichtung entspre-chender Feiern begründen konnte (Hamburgisches Ober-verwaltungsgericht vom 30. Dezember 1993, BS IV 241/ 93; Lehr- und Praxiskommentar, BSHG, 4. Auflage, § 21 Rdnr. 45 – 48 m.w.N.). Wäre die Teilnahme an der Golde-nen Hochzeit von Tante und Onkel des Antragstellers nicht einmal ein besonderer Leistungsanlass nach dem BSHG, fehlt für die Annahme eines unabweisbaren Bedarfs umso mehr eine überzeugende Begründung.

Danach muss zur Begründung der Entscheidung nicht da-rauf zurückgegriffen werden, dass der Antragsteller wegen Anschaffungen zunächst auf seine Ansparungen verwiesen ist (Brühl/Hofmann, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsu-chende, Seite 127), über die der Antragsteller nach eigenem Vorbringen in Höhe von 30,00 € verfügte (Schriftsatz vom 4. März 2006) und die er immerhin für den Erwerb eines Hemdes, einer Krawatte sowie von einem Paar Socken sparsam hätte einsetzen können.

(...)

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§§ 1, 2 BerHG; §§ 13 – 16 SGB I Beratungshilfe bei Sozialleistungsbescheid

Amtsgericht Wiesbaden, Beschluss vom 2.3.2006 – 91 UR 413/05

Leitsatz (der Redaktion):

Trotz der gesetzlichen Beratungspflicht der (Sozial-) Verwaltungsbehörden besteht ein Anspruch auf Bera-tungshilfe durch einen Rechtsanwalt bezüglich der Wi-derspruchsmöglichkeiten gegen einen Bescheid.

Gründe:

Auf die nach § 6 Abs. 2 BerHG in Verbindung mit § 11 Abs. 2 RPflG zulässige Erinnerung war dieser abzuhelfen und Beratungshilfe zu bewilligen. Die Voraussetzungen für die Bewilligung der Beratungshilfe nach §§ 1 und 2 BerHG liegen vor.

Der Antragstellerin war nicht zuzumuten, sich zunächst selbst mit der Behörde auseinander zu setzen. Zwar ent-spricht es einer verbreiteten Auffassung, dass Beratungshil-fe für die Überprüfung von Behördenbescheiden wegen der Pflicht der Verwaltungsbehörde, ihren Bescheid zu erläu-tern, Auskunft zu erteilen und Anträge zu Protokoll zu nehmen, nicht gewährt wird (s. z.B. AG Koblenz, NJW-RR 1996, 570f, AG Westerburg, NJW-RR 1999, 1448).

Die anderweitige Beratungsmöglichkeit i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG betrifft, wie sich aus der Begründung zum

Regierungsentwurf § 1 Nr. 4 ergibt, Institutionen, Behörden und kommunale Beratungsstellen, die für den Kreis der Anspruchsteller eine qualitativ gleichwertige und kosten-günstige Beratung ermöglichen. Hierbei muss jeweils si-chergestellt sein, dass die Einrichtung objektiv hierfür ge-eignet und auch gewillt ist, an sie verwiesene Rechtssu-chende zu beraten oder weitergehende Hilfe zu gewähren.

Die sich z.B. aus § 25 VwVfG, 13 bis 16 SGB I ergebende Pflicht der Verwaltungsbehörden, Bürger im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu beraten und ihnen Hilfestellung zu leisten, erstreckt sich zwar auch darauf, die Empfänger eines Ver-waltungsaktes über Möglichkeiten der Rechtsmitteleinle-gung zu informieren und ihnen bei der Formulierung eines Widerspruchs zu helfen. Weder aus Sicht der den Bescheid erlassenden Behörde noch aus Sicht des Adressaten eines Verwaltungsaktes ist jedoch zu erwarten, dass die Behörde hierbei die möglicherweise gegen die eigene Entscheidung sprechenden Umstände objektiv würdigen kann und dem Widerspruchsführer diese nennt (s. a. Schoreit/Dehn, BerHG, 8. Aufl., § 1, Rz. 98c).

Die Wahrnehmung der Rechte war auch nicht mutwillig. Die vorausgegangene Beratung über die Möglichkeit des Antrags auf Leistungen nach § 30 BSHG lässt ein Bera-tungsbedürfnis hinsichtlich der im Ablehnungsbescheid genannten Gründe nicht entfallen. Es bedurfte rechtlicher Beratung zu den genannten Ablehnungsgründen und zur Ausübung des Ermessens, die bei der Beratung über die Antragstellung nicht absehbar waren.

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Für Sie gelesen Zeitschriften- und Rechtsprechungsübersicht

Zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht existiert ein für die Interessenten schwer zugänglicher und zersplitterter Markt von Veröffentlichungen. In der Rubrik »Für Sie ge-lesen« wird fortlaufend über wichtige Gerichtsentscheidun-gen und Abhandlungen zum Arbeitslosenrecht und zum Sozialhilferecht berichtet. Das Abkürzungsverzeichnis für die Zeitschriften findet sich ab Heft 1/2003 im Jahresregister.

Arbeitsförderung (SGB III)

Rechtsprechung

• Berücksichtigung von Mutterschutzzeiten in der Arbeitslosenversicherung (§§ 123, 124 SGB III)

Es ist mit Artikel 6 Abs. 4 GG unvereinbar, wenn Zeiten, in denen Frauen wegen der mutterschutzrechtlichen Beschäf-tigungsverbote ihre versicherungspflichtigen Beschäftigung unterbrechen, bei der Berechnung der Anwartschaftszeit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung nicht berück-sichtigt werden.

BVerfG, Beschluss vom 28.3.2006 – 1 BvL 10/01 NJW 2006, Heft 24, S. 1721 – 1723

• Kurzarbeitergeld und Anfechtungsberechtigung

Das Urteil das BSG vom 25. Mai 2005 – B 11a/11 AL 15/04 R, über das in Heft 3/2004 unter »Neue Entschei-dungen des BSG« berichtet worden ist, ist jetzt im vollen Wortlaut in NZS 2006, Heft 7, S. 378 – 381 abgedruckt.

• Geringere Erreichbarkeitsanforderungen bei älteren Arbeitslosen

Das Urteil das BSG vom 29. Juni 2005 – B 7a/7 AL 98/04 R, über das in Heft 3/2006 unter »Neue Entscheidungen des BSG« berichtet worden ist, ist jetzt im vollen Wortlaut in NZS 2006, Heft 7, S. 381 – 383 abgedruckt.

Aufsätze

• Freiwillige Arbeitslosenversicherung (§§ 28a, 434j Abs. 2 SGB III)

Durch »Hartz III« ist Selbstständigen, bestimmten Aus-landsbeschäftigten sowie Pflegepersonen unter gewissen Voraussetzungen zum 1.2.2006 erstmals die Möglichkeit

gegeben worden, sich freiwillig in der Arbeitslosenversi-cherung zu versichern. Durch das Gesetz zur Fortentwick-lung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl. I S. 1706) ist § 434j Abs. 2 SGB III um einen Satz ergänzt worden, der bewirkt, dass Personen, die vor Inkrafttreten von »Hartz III« am 1.1.2004 schon selbst-ständig tätig waren, die freiwillige Weiterversicherung nicht mehr beantragen können. Da die Absicht zur Ände-rung des § 434j Abs. 2 SGB III erst am 30. Mai 2006 be-kannt geworden ist, ist den schon länger selbstständig Täti-gen auf diese Weise ohne jede Reaktionsmöglichkeit eine Versicherungsmöglichkeit genommen worden, die ihnen erst seit dem 1.2.2006 offenstand und von der sie nach § 434j Abs. 2 SGB III in der ursprünglichen Fassung bis zum 31.12.2006 sollten Gebrauch machen können. Mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der rückwirkenden Verkürzung einer vom Gesetzgeber selbst gesetzten Bei-trittfrist befasst sich in einem lesenswerten – schon vor Inkrafttreten des Fortentwicklungsgesetzes entstandenen – Aufsatz Ulrich Wenner. Seiner Ansicht nach weist vieles darauf hin, dass die rückwirkende Beseitigung der Weiter-versicherungsmöglichkeit für Personen, die schon vor dem 1.1.2004 tätig waren, ansonsten aber die Voraussetzungen des § 28a SGB III erfüllen, nicht verfassungskonform ist.

SozSich 2006, Heft 6, S. 200 – 206

• Stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben (§ 119 Abs. 2 SGB III)

Können arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach ärztlicher Fest-stellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise wieder verrichten und können sie durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Er-werbsleben eingegliedert werden, sollen ihnen nach § 28 SGB IX die medizinischen und die sie ergänzenden Leis-tungen entsprechend dieser Zielsetzung erbracht werden. Besteht nach Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug kein krankenversicherungsrechtlicher Anspruch mehr, so stellt sich die Frage, ob die Versicherten sich bei der zu-ständigen Agentur arbeitslos melden und Arbeitslosengeld beantragen können. Werner Schimanski bejaht diese Fra-ge. Arbeitslosigkeit setze nur Vermittlungsfähigkeit voraus. Diese sei nach § 119 Abs. 2 SGB III gegeben, wenn eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchent-lich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedin-gungen des für den Arbeitnehmer in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufgenommen und ausgeübt werden könne. Das bedeute, dass auch arbeitsunfähige Menschen, die in einem ungekündigten Arbeits- oder Beschäftigungsverhält-nis stünden, trotzdem der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen würden, wenn sie irgendeine Tätigkeit, die auf dem jeweils für sie infrage kommenden allgemeinen Arbeits-markt vorhanden sei, mindestens 15 Stunden in der Woche verrichten könnten. Allerdings müssten diese Tätigkeiten auch zumutbar und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in

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info also 5/2006 231

nennenswerter Zahl und für die Arbeitslosen zumutbar erreichbar sein.

Behindertenrecht 2006, Heft 2, S. 49 – 53

Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

Rechtsprechung

• Glaubhaftmachung der Hilfebedürftigkeit

Leistungen der Grundsicherung sind davon abhängig, dass der Antragsteller hilfebedürftig ist. Die wirtschaftliche Si-tuation des Antragstellers hat das LSG Nordrhein-West-falen im zu entscheidenden Fall für ungeklärt gehalten, insbesondere waren die Einnahme- und Ausgabensituation aus einer früheren Selbständigkeit und der Verbleib von Vermögensgegenständen bzw. deren Verwertbarkeit nach Meinung des Gerichts ungeklärt. Es hat deshalb in einem Eilverfahren die Verurteilung des SGB II-Leistungsträgers zur vorläufigen Leistung abgelehnt und ausgeführt, dass die vorläufige Gewährung von Leistungen bis zum Ausschöp-fen etwaiger ergänzender Beweisantritte auf eine Umkehr der Beweislast zu Ungunsten der durch die Sozialhilfeträger handelnden Allgemeinheit hinauslaufe. Vielmehr sei der Antragsteller selbst gehalten, die für den geltend gemachten Anspruch erforderlichen Tatsachen umfassend, vollständig und behördlich nachprüfbar vorzutragen. An den hierzu entwickelten Grundsätzen, die bereits für die Sozial- und Arbeitslosenhilfe gegolten hätten, halte das Gericht fest Dabei seien die Anforderungen an die Mitwirkungspflicht umso größer, je umfassenderes Sonderwissen über die zu-grunde liegenden wirtschaftlichen Aktivitäten aus der Sphä-re der Antragsteller erforderlich sei. Die behördliche Er-mittlungspflicht gemäß § 20 SGB X finde dort ihre Grenze, wo eine weitere Aufklärung des Sachverhalts ohne die Mitwirkung der Antragsteller unmöglich sei. Diese Grund-sätze führten zu höheren Nachweisgraden bei atypischem Vorbringen und bei Personen, deren persönliche Glaubwür-digkeit auf Grund besonderer Umstände erheblich erschüt-tert sei. In solchen Fällen seien zusätzlich widerspruchsfreie und lückenlose Nachweise in Form beweiskräftiger Urkun-den oder durch glaubwürdige Zeugen zu fordern. Dem kön-ne sich der Antragsteller nicht durch Hinweise auf seine Privatsphäre entziehen.

LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.6.2005 – L 1 B 205/05 AS ER – NZS 2006, Heft 6, S. 327 – 328

• Verpflichtung zur Übermittlung von Daten der Arbeitsagentur an Optionsträger (§ 6 a SGB II, §§ 67 ff SGB X, § 86 b SGG)

Zur Befugnis und Verpflichtung einer Übermittlung von Sozialdaten an eine Optionskommune i.S.d. § 6 a SGB II.

SG Schleswig, Beschluss vom 22.11.2005 – L 5 AS 455/05 Breith. 2006, Heft 4, S. 323 – 332

• Bedarfsgemeinschaft im SGB II (§§ 7, 9 SGB II; § 86 b SGG)

1. Zum Begriff der Bedarfsgemeinschaft.

2. Eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft ist ledig-lich notwendige Vorbedingung für eine eheähnliche Ge-meinschaft, sie ersetzt jedoch nicht die Feststellung, dass sich die Paarbeziehung auch dadurch qualifiziert, dass sie auf Dauer angelegt ist und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die – in den Not- und Wechselfällen des Le-bens – ein gegenseitiges Einstehen der Partner mit ihrem jeweiligen Einkommen und Vermögen füreinander begrün-den.

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.1.2006 – L 5 B 1362/05 AS ER – Breith. 2006, Heft 4, S. 319 – 322

• Eheähnliche Gemeinschaft

Mit den Voraussetzungen einer eheähnlichen Gemeinschaft und den Beweisanforderungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschäftigt sich das LSG Sachsen-Anhalt in einem ausführlichen Be-schluss.

LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.4.2005 – L 2 B 9/05 AS ER – NZS 2006, Heft 5, S. 262 – 265

• Auszubildende (§ 7 SGB II)

Ein besonderer Härtefall gem. § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II kann darin liegen, dass der Auszubildende sich bereits zur Abschlussprüfung angemeldet und seine Diplomarbeit be-gonnen hat. Bei Vorliegen eines besonderen Härtefalls ver-bleibt dem Träger der Grundsicherung regelmäßig kein Ermessensspielraum, ob er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Wege eines Darlehens gewährt.

LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.4.2005 – L 2 B 7/05 AS ER – FEVS 57 (2006), Heft 6, S. 263 – 267

• Keine Unterhaltsverpflichtung für eheähnlichen Partner gegenüber »Stiefkind«

Bei der Ermittlung der SGB-II-Leistung für Kinder war nach einer Entscheidung des LSG Hamburg nur Einkom-men und Vermögen der Eltern, soweit sie in einer Bedarfs-gemeinschaft mit dem Kind leben, anzurechnen, nicht aber Einkommen und Vermögen eines Partners oder einer Part-nerin eines Elternteils. Nach dem seit 1. August 2006 gel-tenden § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II werden auch Einkommen und Vermögen des nicht mit dem Kind verwandten Partners

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eines Elternteils zur Unterhaltsleistung für das Kind heran-gezogen.

LSG Hamburg, Beschluss vom 2.8.2005 – L 5 B 186/05 AS ER – NZS 2006, Heft 7, S. 383 – 384

• Einstweilige Anordnung; Leistungsumfang (§ 9 SGB II)

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren besteht die Ge-währleistung effektiven Rechtsschutzes im Vordergrund. Daher ist der volle Regelsatz zuzusprechen.

LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1.8.2005 – L 19 B 33/05 AS ER FEVS 57 (2006), Heft 6, S. 256 – 257

• Anspruch auf Taschengeld für Untersuchungs-häftlinge (§ 9 SGB II)

Mittellose Untersuchungshäftlinge haben einen Anspruch auf ein Taschengeld in Höhe von 10 % des Regelsatzes der laufenden Leistungen nach dem SGB II. Eine Justizvoll-zugsanstalt ist keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7.3.2006 – L 7 AS 423/05 ER – ZFSH/SGB 2006, Heft 6, S. 346 – 349

• Zuordnung des Kindergeldes

Kindergeld ist Einkommen im Sinne des § 11 SGB II und grundsätzlich bei der Berechnung der Grundsicherungsleis-tung zu berücksichtigen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II ist das Kindergeld Einkommen des minderjährigen Kindes, wenn es zur Sicherung seines Lebensunterhalts benötigt wird. Das Kindergeld für volljährige Kinder ist Einkommen des Elternteils, an den es gezahlt wird, es sei denn, das Kindergeld wird nach § 74 EStG an das volljährige Kind ausgezahlt. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat das Kin-dergeld auch dann der Mutter zugeordnet, wenn diese das Kindergeld an die in ihrem Haushalt lebende volljährige Tochter weitergibt.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.6.2005 – L 8 AS 118/05 AS ER NZS 2006, Heft 6, S. 328-330 = FEVS 57 (2006), Heft 6, S. 277 – 279

• Existenzgründungszuschuss als anrechenbares Einkommen

Für den Existenzgründungszuschuss nach § 421 I SGB III ist umstritten, ob er ganz, teilweise oder gar nicht auf die Grundsicherungsleistung nach dem SGB II anzurechnen ist. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat die Ansicht vertreten, der Zuschuss sei als zweckgebundene Leistung gar nicht anrechenbar. Gegen die Entscheidung ist Revision beim BSG anhängig (B 7b AS 16/06 R).

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23.6.2005 – L 8 AS 97/05 ER

NZS 2006, Heft 6, S. 330 – 332 = FEVS 57 (2006), Heft 6, S. 253 – 256

• Existenzgründungszuschuss (§ 11 SGB II)

Der Existenzgründungszuschuss ist nach § 421 l Abs. 1 SGB III ist keine zweckbestimmte Einnahme im Sinne des § 11 SGB II.

LSG Hessen, Beschluss vom 29.6.2005 – L 7 AS 22/05 ER FEVS 57 (2006), Heft 4, S. 184 – 186

• Abzug der Versicherungspauschale (§ 11 SGB II)

Der Abzug der Versicherungspauschale von 30 € kann nicht von dem Kindergeld erfolgen, welches dem minder-jährigen Kind als Einkommen zuzurechnen ist. Der Abzug kommt nur bei Einkommen Volljähriger in Betracht, es erfolgt kein Abzug von dem Einkommen einer Bedarfsge-meinschaft.

VG Bremen, Urteil vom 10.3.2006 – S 3 K 409/05 ER ZFSH/SGB 2006, Heft 6, S. 344 – 346

• Arbeitsgelegenheit (§ 16 SGB II)

Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II be-gründen ein öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverhält-nis; für Streitigkeiten über Rechte und Pflichten hieraus sind die Sozialgerichte zuständig.

LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.9.2005 – L 3 ER 79/05 AS FEVS 57 (2006), Heft 5, S. 232 – 235

• Wohnungserstausstattung für Säuglinge (§ 23 SGB II)

Ein Anspruch auf Wohnungserstausstattung steht nach der Geburt eines Säuglings diesem zu. Für ein gebrauchtes Kinderbett und einen gebrauchten Kinderwagen sind grundsätzlich Beihilfen zur Erstausstattung einer Wohnung zu gewähren.

LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.7.2005 – L 3 ER 45/05 AS – FEVS 57 (2006), Heft 4, S. 181 – 184

• Vermögensminderung (§ 31 SGB II)

Wer als Arbeitslosengeld-II-Bezieher eine Erbschaft ausge-zahlt bekommt und das Geld dazu verwendet, alte Schulden zu begleichen, hat nur Anspruch auf abgesenkte Leistun-gen.

LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 25.8.2005 – L 6 200/05 AS ER – FEVS 57 (2006), Heft 6, S. 280 – 281

• Klärung der Erwerbsfähigkeit (§ 44 a SGB II)

Ein Hilfesuchender kann bis zur zweifelsfreien Klärung seiner Erwerbsfähigkeit Leistungen nach dem SGB XII nicht verlangen, denn bis dahin sind nach § 44 a Satz 3

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SGB II einstweilen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II zu erbringen.

LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 1.6.2005 – L 7 SO 1840/05 ER-B – FEVS 57 (2006), Heft 4, S. 170 – 172

• Hausbesuche (§ 21 SGB X)

Bezieher von Arbeitslosengeld II müssen Hausbesuche der Sozialleistungsträger nur dann gestatten, wenn diese be-rechtigte Zweifel an den Angaben des Betroffenen geltend machen können und ein Hausbesuch geeignet ist, diese berechtigten Zweifel aufzuklären. Vor Durchführung eines Hausbesuches ist also grundsätzlich vom Träger der Grund-sicherungsleistungen zu verlangen, dass er seine berechtig-ten Zweifel an den jeweiligen Angaben in jedem Einzelfall dem Betroffenen darlegt.

LSG Hessen, Beschluss vom 30.1.2006 – L 7 AS 1/06 ER ZFSH/SGB 2006, Heft 6, S. 308 – 314

Aufsätze

• Schlussbericht des Hartz-IV-Ombudsrats

Unter dem Titel »Rat sieht zahlreiche Mängel bei der Grundsicherung und fordert neue Organisationsstruktur« berichtet Burkhard Rexin über den Schlussbericht des Hartz-IV-Ombudsrats: Grundsicherung für Arbeitsuchende, Schlussbericht, Berlin, 23.6.2006, www.ombudsrat.de); er referiert dabei insbesondere die Empfehlungen des Rates und die Stellungnahmen (unter anderem des DGB) dazu.

Soziale Sicherheit 2006, Heft 7, S. 243 – 246

• Der Eingliederungsvertrag zwischen Autonomie und Bevormundung

Heinrich Lang prüft in einem längeren Aufsatz die Verfas-sungsmäßigkeit der Regelungen über die Eingliederungs-vereinbarung im Recht der Grundsicherung für Arbeitslose (§§ 2 und 15 SGB II). Die Verpflichtung, eine Eingliede-rungsvereinbarung zu schließen, berührt die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Der Verfasser beschreibt unter eingehender Darlegung von Literatur und der Rechtsprechung des BVerfG die verfassungsrechtlich zulässigen Beschränkungen des Grundrechts auf Hand-lungs- und Vertragsfreiheit, um ein Ungleichgewicht zwi-schen den Vertragspartnern auszugleichen oder abzumil-dern. Nach diesen Grundsätzen ergeben sich erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der sanktionsbewehr-ten Verpflichtung des arbeitslosen Hilfebedürftigen zum Abschluss eines Eingliederungsvertrages, weil der Hilfesu-chende keinerlei Verhandlungsmasse einbringen kann und allein die Folgen der Verweigerung zu tragen hat. Die Ver-waltung kann einer unliebsamen Vereinbarung durch den Erlass eines Verwaltungsaktes entgehen. Schließt der Hil-febedürftige die Vereinbarung, kann er sie nach Meinung des Verfassers nur eingeschränkt durch das Sozialgericht

auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen lassen. Verfassungsmäßig ist die Verpflichtung zum Abschluss des Eingliederungs-vertrages daher nur unter Einschränkungen: Einzelfallbezo-gen muss der Verzicht auf die Eingliederungsvereinbarung im Ermessen der Behörde liegen. Die Vereinbarung darf nicht nur die Pflichten des Hilfebedürftigen, sondern auch die ihm zu erbringenden Leistungen benennen. Dieser muss bei unangemessenen Regelungen die Anpassung des Ver-trages verlangen oder ihn kündigen können. Der Verfasser hält außerdem eine einschränkende Auslegung des Sankti-onsrechts für notwendig, z. B. bei Prüfung des wichtigen Grundes, geht aber leider auf diesen Punkt nicht näher ein, so dass offenbleibt, ob der Verstoß gegen die Vertragsfrei-heit selbst als wichtiger Grund angesehen werden kann. Dafür könnte die Schlussfolgerung sprechen, dass das SGB II seine Konzeption selbst ad absurdum führe: es schreibe sich die Autonomie eines eigenverantwortlich handelnden Subjekts, eines Kunden moderner Sozialver-waltung auf die Fahnen, setze als Mittel zur Zweckerrei-chung aber rechtliche Zwangsinstrumentarien und ein Sanktionsrecht ein, das ein fremdbestimmtes, unmündig handelndes Objekt staatlicher Sozialleistung geradezu vo-raussetze und generiere.

NZS 2006, Heft 4, S. 176 – 184

• Sozialrechtliche Einkommensanrechnung bei eheähnlichen Gemeinschaften

Ausgehend von der Entscheidung des SG Düsseldorf, S 36 SO 28/05 ER, welche die Anrechnungsregel des § 20 SGB XII für verfassungswidrig hielt, beschäftigen sich die Autoren Guy Beaucamp und Andreas Mädler mit der Frage, wann welche Indizien für das Vorliegen einer ehe-ähnlichen Gemeinschaft sprechen und inwieweit die An-rechnung des Partnereinkommens verfassungsmäßig ist. Sie verneinen einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, obwohl homosexuelle Lebensgemeinschaften von der Einkom-mensanrechnung verschont bleiben. Sie machen Vorschläge zur Veränderung des Gesetzes. Durch das Fortentwick-lungsgesetz, welches zum 1.8.2006 in Kraft tritt, wird den wesentlichen Anliegen der Autoren gefolgt.

ZFSH/SGB 2006, Heft 6, S. 323 – 327

• Erzwungene Auszüge von Alg II-Beziehern

Bislang gibt es keine empirisch abgesicherte Studie, in der das Ausmaß der nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II direkt oder indirekt erzwungenen Umzüge analysiert wird. Über erste Erfahrungen mit Zwangsumzügen berichtet Anne Alex von der bundesweiten »Kampagne gegen Zwangsumzüge« (Notruftelefon: 0800/2727278). Auch wenn diese Erfah-rungen nicht repräsentativ sein mögen, so machen sie doch deutlich, dass beim Ob und beim Wie des Zwangsumzugs je nach SGB II-Träger große Unterschiede bestehen und dass die Praxis nicht selten willkürlich verfährt.

express 2006, Nr. 5, S. 4 – 6

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234 info also 5/2006

• Leistungsabsenkung nach § 31 SGB II

Eine Reihe streitiger Auslegungs- und Rechtsfragen zur Regelung des § 31 SGB II, die im Fortentwicklungsgesetz zum Teil geklärt werden sollen, erörtern Tilmann Breit-kreuz und Michael Wolff-Dellen. Der Beitrag ist insbe-sondere der wichtigen Frage gewidmet, wie sich unbillige Härten bei Festsetzung von Sanktionen vermeiden lassen.

SGb 2006, Heft 4, S. 206 – 212

• Neuregelung des Sanktionsrahmens

Mit der Frage, ob Kürzungen des Alg II um bis zu 100 Pro-zent (vgl. § 31 Abs. 3 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Fort-entwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl. I, S. 1706) verfassungswidrig sind, befas-sen sich Annett Wunder und Alexander Diehm, die zu dem Ergebnis kommen, dass sich die zitierte Neufassung des § 31 Abs. 3 SGB II wegen der Möglichkeit der verfas-sungskonformen Auslegung »wohl gerade noch am Rande der Verfassungskonformität befindet«. Nach Ansicht der Verfasser wäre es aber sinnvoll gewesen, wenn der Gesetz-geber den zuständigen Behörden, die eine Absenkung des Alg II vornehmen (müssen), zumindest in Härtefällen ein Ermessen eingeräumt hätte.

Soziale Sicherheit 2006, Heft 6, S. 195 – 199

• Zur Schnittstelle von SGB II und SGB VIII

Die Frage, wer für die Eingliederung der unter 25-jährigen in Ausbildung und Arbeit zuständig ist, bleibt umstritten. Engagiert vertritt Peter Schruth seit langem den Vorrang der Jugendhilfe für junge Volljährige mit erhöhtem sozial-pädagogischem Unterstützungsbedarf. Er hält an dieser Meinung zusammen mit Thomas Pütz auch nach der Neu-fassung des § 10 Abs. 3 SGB VIII fest; danach »gehen Leistungen nach § 3 Abs. 2 und §§ 14 – 16 des Zweiten Buches den Leistungen nach (dem Achten Buch) vor«. Schruth und Pütz berufen sich zur Stützung des Vorrangs des Jugendhilfeträgers, soweit es um sozialpädagogische Leistungen geht, auf Johannes Münder, der in der (kom-menden) 2. Auflage des LPK-SGB II erklärt: »Sofern es sich um spezifisch sozialpädagogische Leistungen des SGB VIII handelt, die neben den sozialpädagogischen Leis-tungen auch Ausbildungs-, Beschäftigungs- und Bildungs-maßnahmen beinhalten, im Kern aber entsprechende sozi-alpädagogische Leistungen darstellen, sind die Leistungen des SGB VIII vorrangig.«

Auch wer diese Auffassung nicht teilt (vgl. die Begründung für den Vorrang des SGB II-Trägers in: Arbeitslosenprojekt TuWas, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 2. Auflage, Stand: 1.3.2006, S. 381 ff.), muss für eine vom Gesetzgeber in § 81 SGB VIII und in §§ 17,1 8 SGB II geforderte enge Kooperation von SGB II- und SGB VIII-Träger eintreten. Über ein Beispiel für eine solche gelungene Zusammenar-beit im »Jugendberatungshaus Berlin« berichten Schruth/ Pütz.

Sozialrecht aktuell 2006, Heft 3, S. 81 – 85

Sozialhilferecht (BSHG/SGB XII)

Rechtsprechung

• Kosten des Umgangsrechts (§§ 28, 73 SGB XII)

Die mit der Ausübung des Umgangsrechts mit einem leibli-chen Kind verbundenen Aufwendungen können eine vom Träger der Sozialhilfe zu übernehmende Lebenslage dar-stellen. Es bleibt offen, ob sich der Anspruch auf § 28 oder § 73 SGB XII ergibt.

LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.8.2005 – L 7 SO 2117/05 ER-B – FEVS 57 (2006), Heft 4, S. 164 – 166

• Unterkunftskosten/Betreuungsentgelt (§ 29 SGB XII)

Die Kosten der Unterkunft erfassen auch ein im Mietver-trag vereinbartes Betreuungsentgelt und können bei der Ermittlung des im Rahmen der Grundsicherung anzuerken-nenden Bedarfs nicht herausgerechnet werden.

LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 8.9.2005 – L 7 SO 2708/05 ER-B – FEVS 57 (2006), Heft 4, S. 172 – 174

Aufsätze

• Wünsche der Wissenschaft an die sozialgerichtliche Rechtsprechung zur Sozialhilfe

Johannes Münder liefert über die Problematisierung von Sonderproblemen zum SGB XII hinaus einen Beitrag dazu, welche Rolle die Wissenschaft bei der Ausformung neuen Rechts spielt. Er weist zu Recht darauf hin, dass gerade in Zeiten hastiger Nachbesserungen, oft Verschlimmbesserun-gen, der abstraktere Blick der Wissenschaft wertvolle Ori-entierungshilfe sein kann und mehr als bisher sein sollte; das gilt auch für das SGB II.

SGb 2006, Heft 4, S. 186 – 195

• Neue Regelsatzberechnung 2006

Rudolf Martens äußert sich eingehend zu den Vorschlägen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Bundesre-gierung im Hinblick auf die (neue) Berechnung des Regel-satzes 2006; unter Heranziehung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 erläutert er näher die unter-schiedlichen Berechnungsmethoden zum notwendigen Le-bensunterhalt.

Soziale Sicherheit 2006, Heft 6, S. 182 – 194

Wolfgang Conradis, Udo Geiger, Ulrich Stascheit, Horst Steinmeyer, Peter Trenk-Hinterberger, Ute Winkler

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Dokumentation

Statistik-Warenkorb 2006

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236 info also 5/2006

29 0561 000 Verbrauchsgüter für die Haushaltsführung 3,54 100,00% 3,54

30 0520 901 Anfertigung sowie fremde Reparaturen von Heim-textilien 0,15 100,00% 0,15

31 0513 900

Lieferung, Installation sowie Reparatur von Mö-beln, Einrichtungsgegenständen und Bodenbelä-gen 0,17 100,00% 0,17

32 0533 900 Reparaturen an Haushaltsgeräten sowie fremde Installationen von Großgeräten (einschl. Mieten) 0,59 100,00% 0,59

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 05 24,67

33 0611 010 Pharmazeutische Erzeugnisse (nur Eigenanteile und Rezeptgebühren) 2,53 100,00% 2,53

34 0611 900 Pharmazeutische Erzeugnisse (ohne Eigenanteile und Rezeptgebühren) 2,73 100,00% 2,73

35 0612 010 Andere medizinische Erzeugnisse (nur Eigenan-teile und Rezeptgebühren) 1,17 100,00% 1,17

36 0612 900 Andere medizinische Erzeugnisse (ohne Eigen-anteile und Rezeptgebühren) 0,61 100,00% 0,61

37 0613 050 Orthopädische Schuhe (einschl. Eigenanteile) 0,49 100,00% 0,49 38 0613 072 Materialkosten Zahnersatz (einschl. Eigenanteile) 2,21 100,00% 2,21 39 0613 090 Reparaturen von therapeutischen Geräten und

Ausrüstung (einschl. Eigenanteile) 0,18 100,00% 0,18 40

0613 900 Therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Mieten und Eigenanteile) 2,69 100,00% 2,69

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 06 12,61

41 0713 000 Kauf von Fahrrädern 0,67 100,00% 0,67 42 0721 070 Zubehör, Einzel- und Ersatzteile für Fahrräder 1,01 100,00% 1,01

43 0730 901 Fremde Verkehrsdienstleistungen (ohne im Luft-verkehr / ohne auf Reisen) 11,04 100,00% 11,04

44 0730 902 Fremde Verkehrsdienstleistungen (ohne im Luft-verkehr / auf Reisen) 2,99 100,00% 2,99

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 07 15,71

45 0820 000 Kauf von Telefon-, Telefaxgeräten, Mobilfunktele-fonen, Anrufbeantwortern 0,87 100,00% 0,87

46 0810 000 Post- und Kurierdienstleistungen (außer Post-bank), private Brief- und Paketzustelldienste 3,14 100,00% 3,14

47 0830 031 Kommunikationsdienstleistungen – Inter-net/Onlinedienste 3,11 100,00% 3,11

48 0830 900 Kommunikationsdienstleistungen – Telefon, Fax, Telegramme 23,22 100,00% 23,22

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 08 30,34

49 0911 100 Rundfunkempfänger, Tonaufnahme- und Tonwie-dergabegeräte 0,74 100,00% 0,74

50 0911 200 Fernseh- und Videogeräte, TV-Antennen 2,40 100,00% 2,40 51 0913 000 Datenverarbeitungsgeräte und Software 2,57 100,00% 2,57 52 0932 010 Sportartikel 1,02 100,00% 1,02 53 0931 900 Spielwaren und Hobbys 1,27 100,00% 1,27 54 0933 901 Topfpflanzen und Schnittblumen 3,64 100,00% 3,64

55 0941 900 Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen bzw. -einrichtungen 6,27 100,00% 6,27

56 0942 400 Sonstige Freizeit- und Kulturdienstleistungen 2,54 100,00% 2,54 57 0942 901 Ausleihgebühren 0,60 100,00% 0,60 58 0952 900 Zeitungen und Zeitschriften 7,59 100,00% 7,59 59 0951 000 Bücher und Broschüren 5,47 100,00% 5,47

60 0953 900 Sonstige Gebrauchsgüter für Bildung, Unterhal-tung, Freizeit 2,33 100,00% 2,33

61 0954 900 Sonstige Verbrauchsgüter (Schreibwaren, Zei-chenmaterial u. Ä.) 2,72 100,00% 2,72

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 09 39,16

62 111 Verpflegungsdienstleistungen 24,97 33,00% 8,24 Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 11 8,24

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info also 5/2006 237

63 1211 010 Friseurdienstleistungen 7,61 100,00% 7,61 64 1211 030 Andere Dienstleistungen für die Körperpflege 2,31 100,00% 2,31

65 1212 900 Gebrauchsgüter für die Körperpflege (einschl. Reparaturen) 3,04 100,00% 3,04

66 1213 900 Haarpflege-, Rasiermittel, Toilettenpapier u. Ä. 6,06 100,00% 6,06 67 1213 901 Sonstige Verbrauchsgüter für die Körperpflege 5,09 100,00% 5,09 68 1250 900 Versicherungs- und Finanzdienstleistungen 4,08 25,00% 1,02 69 1270 900 Sonstige Dienstleistungen, anderweitig nicht ge-

nannte (plus 1541 000 Mitgliedsbeiträge an Or-ganisationen ohne Erwerbszweck, 1542 000 Geldspenden und sonstige unregelmäßige Über-tragungen an Organisationen ohne Erwerbs-zweck, 1545 000 Gerichtskosten, Geldstrafen, gebührenpflichtige Verwarnungen etc.) 6,63 25,00%

Summe regelsatzrelevanten Einzelpositionen Abteilung 12 26,79

Anmerkung

Der vorstehende »Statistik-Warenkorb 2006« löst die bishe-rige Berechungsgrundlage für die Regelsätze auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 (»Statistik-Warenkorb 2003«) ab. Die statistischen Daten bilden die Grundlage für die »Erste Verordnung zur Änderung der Regelsatzverordnung«, die am 1.1.2007 in Kraft treten soll.1 Die Neuberechnung wurde notwendig, weil die Bemessung der Regelsätze zu überprüfen und ge-gebenenfalls weiterzuentwickeln ist, sobald die Ergebnisse einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vor-liegen (§ 28 Abs. 3 SGB XII). Die Ergebnisse der Ein-kommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 lagen Ende 2005 vor, die Berechungen des zuständigen Ministeriums für Arbeit und Soziales wurden im Mai 2006 als Arbeitspa-pier und im Juni 2006 als Ausschussdrucksache vorgelegt.2

Datengrundlagen sind wie bei der Bemessung der Regelsät-ze auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe 1998 »die Verbrauchsausgaben der untersten 20 v.H. der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haus-halte der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nach Herausnahme der Empfänger von Leistungen der Sozialhil-fe« (§ 3 DVO zu § 28 SGB XII). Gegenüber der vormali-gen Bemessung erfolgt die Regelsatzbemessung erstmals auf der Grundlage des »gesamtdeutschen Verbrauchs«, ferner wurden wegen der zum Teil neuen Systematik der EVS 2003 sowie wegen geänderter Verbrauchsstrukturen die einzelnen Anteile an den einzelnen »Abteilungen« der Einkommens- und Verbrauchstichprobe geändert. Hierbei hat sich der Verordnungsgeber auch zu einer »weitgehen-den Auflösung von normativen Setzungen (Schätzpositio-nen und Abschläge) entschieden«.3

Über die einzelnen Abteilungen und den jeweiligen regel-satzrelevanten Anteil informiert nachfolgende Tabelle (die

1 Bei Drucklegung lag hierzu lediglich der Entwurf zu einer Ersten

Verordnung zur Änderung der Regelsatzverordnung vor. 2 Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 16(11)268

vom 15.6.2006. 3 Entwurf zu einer Ersten Verordnung zur Änderung der Regelsatzver-

ordnung.

in Klammern gesetzten v.-H.-Werte entsprechen der alten Regelung).4

Tabelle Regelsatzrelevanter Verbrauch auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003

Abteilung Regelsatzrelevanter Anteil v.H. Euro 2003 01 Nahrungsmittel, Geträn-

ke, Tabakwaren 96

(96)

127,31

03 Bekleidung, Schuhe 100 (89) 34,24 04 Wohnung, Energie,

Wohnungsinstandhaltung 8

(8)

25,79

05 Innenausstattung, Haus-haltsgeräte

91

(87)

24,65

06 Gesundheitspflege 71 (64) 12,67 07 Verkehr 26 (37) 15,43 08 Nachrichtenübermittlung 75 (64) 30,25 09 Freizeit, Unterhaltung,

Kultur 55

(42)

39,25

11 Beherbungs- und Gast-stättenleistung

29

(30)

8,17

12 Andere Waren- und Dienstleistungen

67

(65)

26,77

344,52 Summe ungerundet Summe gerundet 345,00

Die »Überprüfung und Weiterentwicklung der Regelsätze« auf der Grundlage der EVS 2003 bestätigt somit das bis-herige Ergebnis in Höhe des (Eck-) Regelsatzes von 345 Euro. Die Überprüfung der Regelsätze anhand der EVS 2003 hat zu keiner Erhöhung, aber auch (wie im Vorfeld befürchtet)5 zu keiner direkten Kürzung der Regelsätze geführt.

Wäre die alte Bemessungsmethode beibehalten worden, hätte dies nach Aussage des zuständigen Parlamentarischen Staatssekretärs Franz Thönnes eine Absenkung des (Eck-) Regelsatzes auf 339 Euro (West) und 325 Euro (Ost) be-gründet.6 Ein Ergebnis, das Kenner der Materie freilich 4 Gerundeter Anteil. Kleinere Abweichungen gegenüber den Aufwand-

beträgen im »Statistik-Warenkorb 2006« erklären sich durch die Rundungen.

5 Vgl. z.B. »Der Bund zahlt zuviel Arbeitslosengeld II - Der Regelsatz ist vermutlich zu hoch/Müntefering: Entscheidung erst im Laufe des Jahres«. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.3.2006

6 Pressemitteilung 17.5.2006, www.n-tv.de/668684.html

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238 info also 5/2006

nicht überrascht, weil in einer konstanten »Einkommens-klasse« (wie den untersten 20 % der Haushalte) im histori-schen Zeitverlauf der »elastische« (kompensierbare Bedarf, wie z.B. Nahrungsmittel, Kleidung) gegenüber dem »star-ren« (nicht kompensierbaren) Bedarf (wie z.B. Wohnungs-mieten, Energie) zurückgedrängt wird. Steigende Aufwen-dungen für Miete und Energie können nur durch niedrigere Ausgaben bei den anderen Positionen des privaten und regelsatzrelevanten Verbrauchs kompensiert werden.

Offensichtlich wollte man aber auf politischer Ebene bei der Regelsatzbemessung durch das »Zurechtrücken« der Daten (zumindest) den Status quo aufrechterhalten. Eine direkte Kürzung der Regelsätze hätte freilich auch einen in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaligen Vorgang bedeutet und zweifelsohne einen über die Betroffenen und Wohlfahrtsverbände hinausreichenden »Aufschrei« der Wissenschaft und Politik bewirkt.

Die Berechnung der Regelsätze auf der Grundlage des »Statistik-Modells« wirft auf der normativen, statistischen und rechtlichen Ebene eine Vielzahl von grundsätzlichen Fragen und Problemen auf.7 Im Zusammengang mit der Bemessung der Regelsätze auf der Grundlage der Einkom-mens- und Verbrauchsstichprobe 2003 stellt sich aktuell die Frage, ob die Ableitung rechtlichen Maßstäben genügt.

Nach der gesetzlichen Vorgabe »berücksichtigt« die Regel-satzbemessung »Stand und Entwicklung von Nettoein-kommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkom-mensgruppen. Datengrundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe« (§ 28 Abs. 3 SGB XII).

7 Eine eingehendere Erörterung über die Berechnungsgrundlage der

Regelsätze ist für eines der nächsten Hefte geplant.

Bei der Bemessung der Regelsätze sind somit »Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten« zu »berücksichtigen«. Anhand der Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) kann jedoch nur das »Verbraucherverhalten« abgele-sen werden. Die Daten der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe können jedoch nicht (und wollen auch nicht) eine Auskunft über die Entwicklung des Nettoeinkommens und der Preisentwicklung geben. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe stellt lediglich eine »Datengrundla-ge« für das »Verbraucherverhalten« dar.

Stand und Entwicklung des »Nettoeinkommens, des Ver-braucherverhaltens und der Lebenshaltungskosten« bilden bei der Regelsatzbemessung (gewissermaßen in Anlehnung an die Volkswirtschaftslehre) ein »magisches Dreieck«. Danach liegt ein Zielkonflikt vor, wenn ein zu findendes Ergebnis (wie die Regelsatzhöhe) dem Einfluss unter-schiedlicher oder widerstrebender Faktoren unterliegt und diese ausgewogen reguliert werden müssen. Zeigt sich bei der Regelsatzbemessung, dass sich gegenüber dem letzten Festsetzungszeitraum neben dem Verbraucherverhalten ebenfalls die Lebenshaltungskosten oder die Nettoeinkom-men veränderten,8 so sind diese bei der Regelsatzfestset-zung ebenfalls »zu berücksichtigen«, was aber offensicht-lich nicht geschehen ist.

Albert Hofmann

8 Von 2004 bis 2005 steigerte sich z.B. die Nettolohn- und Gehalts-

summe je beschäftigten Arbeitnehmer um 2,1 v.H. und der Verbrau-cherpreisindex um 3,6 v.H. (Statistisches Taschenbuch 2006, 1.14, 6.1.) Weitere Steigerungen bei den Nettolöhnen und Preisen dürften im Jahre 2006 eingetreten sein. Die Preissteigerung für Strom betrug von Januar 2003 bis September 2006 13,6 Prozent.

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info also 5/2006 239

Literaturschau

SGB -Nachlese

Der in Heft 2/2005 begonnene Literaturblick in die neue Welt des Sozialgesetzbuchs wird mit den folgenden Hin-weisen abgeschlossen.

Fichtner/Wenzel, Hrsg., Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl., Vahlen 2005, 1158 S., 84,– €.

Das schon zu BSHG-Zeiten erschienene Werk ist jetzt als »Kommentar zur Grundsicherung« herausgekommen, der über den Schwerpunkt SGB XII/Sozialhilfe hinaus auch das Asylbewerberleistungsgesetz umfasst sowie in Auszügen das SGB II (§§ 7-13, 19-35) und das BKGG (§ 6a: Kinder-zuschlag). Die Bearbeiter kommen aus dem gesamten Bereich des Grundsicherungsestablishments (Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung, Hochschulen, Wohl-fahrtsverbände), was Reiz und Ambivalenz dieser Veröf-fentlichung ausmacht. Sie rangiert zwischen Kurz- und Standardkommentierung unter Konzentration auf die Einbeziehung der wesentlichen Rechtsprechung, während auf die Literatur nur punktuell eingegangen wird. Hilfreich ist ein vorangestelltes Fundstellenverzeichnis der Recht-sprechung (nach dem Muster des BSHG-Kommentars von Schellhorn/Schellhorn).

Oestreicher, SGB XII/SGB II, herausgegeben von Decker, Loseblattkommentar, Beck 2005

Der ebenfalls zum BSHG von dem damaligen Präsidenten des Münchner Verwaltungsgerichts Ernst Oestreicher be-gründete Kommentar wird nun von einem Vorsitzenden Richter des gleichen Gerichts herausgegeben, der um sich ein Team aus bayerischen Richtern und Ministerialbeamten sowie einem baden-württembergischen Richter-Import versammelt hat. Mit der 47. Ergänzungslieferung (Stand Juni 2005, 610 S., 44 €; Grundwerk mit Fortsetzungsbezug 76 € und ohne 98 €) liegt eine Teilkommentierung vor (SGB XII §§ 1-3, 17-18, 23, 106-110, Vor §§ 130-135, SGB II §§ 1-13, vor §§ 19-28, 46, 64-66, AsylbLG §§ 1-13, SGB X §§ 102, 105, 107). Dabei fällt auf, wie unterschied-lich die von zwei Mitarbeitern des bayerischen Arbeits- und Sozialministeriums übernommenen Anspruchsvorausset-zungen des SGB II (§§ 7-13) behandelt werden. Während Jochen Schumacher als Freidenker eine von Rechtspre-chung und Literatur ziemlich ungetrübte Kommentierung der §§ 7-10 vorlegt, gibt Angelika Schmidt bei den §§ 11 und 12 nicht nur zu Beginn eine Übersicht über die Litera-tur, sondern bezieht diese und die Rechtsprechung auch gründlich in ihre Ausführungen ein. Dementsprechend ist der Kommentar sowohl in der Quantität als auch Qualität optimierungsbedürftig.

Estelmann, Hrsg., Kommentar zum SGB II, Loseblatt, Luchterhand 2005

Estelmann, Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Sachsen, charakterisiert in seinem Vorwort als Herausgeber das SGB II als eine bisher nicht bekannte Hybridform aus Sozialhilfe- und Arbeitsförderungsrecht, das ein erhebliches Umsetzungsvolumen habe, wobei permanente Novellierun-gen wahrscheinlich seien, weshalb ein Loseblattkommentar angeboten werde; folgerichtig wird neben der Kommentie-rung in Band 1 eine Textchronik in Band 2 beigefügt, die nicht nur alle Fassungen einer Vorschrift wiedergibt, son-dern auch die relevanten Gesetzesmaterialien umfasst (2 Ordner mit ca. 1400 Seiten, 98 € incl. CD-ROM, 4 Ergän-zungen pro Jahr zum Festpreis von jeweils 25 €). Die Kommentierung wird in drei Punkte gegliedert: A Zweck, B Struktur, C Erläuterungen. Mit der 1. Ergänzungsliefe-rung Juli 2005 sind die meisten Paragraphen erstkommen-tiert (Ausnahmen: §§ 31, 32, 34, 35, 36a, 40, 44b). Neben dem Herausgeber sind 14 weitere Bearbeiter beteiligt, die überwiegend aus dem Gerichts- und Trägerbereich kom-men. Die Intensität der Kommentierung ist unterschiedlich (z.B. zu § 7 Peters mit 63 Randziffern und Estelmann zu § 10 mit 147), wobei durchgehend das gelungene Bestreben zu erkennen ist, Rechtsdogmatik und Rechtspraxis zusam-menzuführen. Ein Glanzstück des Kommentars ist die Be-arbeitung der Vorschriften über Datenübermittlung und -schutz (§§ 50-52, O’Sullivan).

Gagel/Herausgeber/Sozialgesetzbuch III – Arbeitsförde-rung, Loseblattkommentar, Beck 2005

Der renommierte Großkommentar zum SGB II, herausge-geben von dem Vorsitzenden Richter am BSG a.D. Alexander Gagel, erweitert sich um eine Kommentierung zu den Kernvorschriften des SGB II. Mit der 25. Ergän-zungslieferung (Stand Oktober 2005, 720 S., 58 €; Grund-werk mit Fortsetzungsbezug 154 € und ohne 198 €) sind kommentiert die §§ 7-13 (Hänlein, Prof. Uni Kassel), 29 (Lauterbach, Richter LSG Niedersachsen-Bremen), 44a-45 (Hänlein), Vor §§ 50-52 (Lauterbach), 65 (Hünecke, Rich-terin SG Stralsund), 65c (Hänlein). Die Bearbeitung ist gewohnt zuverlässig, wenn auch größtenteils nicht so um-fassend wie im SGB III, was die Lesbarkeit erleichtert. Ein endgültiges Urteil wird erst möglich sein, wenn die Ge-samt(oder Teil?)kommentierung des SGB II vorliegt. Mög-lich ist nur ein Bezug des gesamten Kommentars, so dass er angesichts seines Preises sicher lediglich für Käufer in Be-tracht kommt, die intensiv mit dem SGB III zu tun haben.

Hauck/Noftz, SGB II, Bandherausgeber Voelzke, Lose-blattkommentar, Erich Schmidt 2005f.

Der als einer der ersten erschienene SGB II-Kommentar (s. die Literaturschau info also 2005, 190 ff.) zeigt sich mit seiner 5. Lieferung sehr zügig und zunehmend fundiert in

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240 info also 5/2006

seinen Nachlieferungen. Beispielhaft angeführt dafür seien die gründlichen Erläuterungen von Hengelhaupt zu § 9 und vor allem zu § 11, in denen ausführlich auf das Freibetrags-neuregelungsgesetz eingegangen wird.

Hauck/Noftz, SGB XII, Bandherausgeber Luthe, Lose-blattkommentar, Erich Schmid 2005 ff.

Gleiches wie für den SGB II-Kommentar gilt auch für den SGB XII-Kommentar (s. die Literaturschau info also 2005, 239 f.), der mit der 2. Ergänzungslieferung komplett ge-worden und nunmehr auf vier Ergänzungslieferungen an-gewachsen ist.

Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, Praxishand-buch zum SGB II und SGB XII, Loseblatt, Boorberg 2006, ca. 800 Seiten, 69,– €

Der Verfasser, ein Fachhochschullehrer, hat als Kommenta-tor zum SGB I, VIII und IX einen sehr guten Namen. Auch sein jetzt vorgelegtes Werk zum SGB II und SGB XII ist eine Fundgrube juristischer Auslegungskunst. Allerdings bleibt die Frage, wieso es als »Praxis«-»Handbuch« daher-kommt. Die Gliederung ist gewöhnungsbedürftig und der praktische Wert nicht so hoch wie der theoretische.

Hirschboeck, Thomas, Sozialhilfemissbrauch in Deutsch-land aus juristischer Sicht, Tenea 2004, 243 S., 26,– €

Roth, Rainer, Sozialhilfemissbrauch, Fachhochschulverlag 2004, 103 S., 5,80 €

Das durch den unsäglichen Report »Vorrang für die An-ständigen – Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedie-nung im Sozialstaat« des verdientermaßen abgelösten Ex-Ministers Clement hochgespielte Thema des Sozialhilfe-missbrauchs ist juristisch bislang wenig aufbereitet. Es ist deshalb ein Gewinn, dass Hirschboeck in seiner Freiburger Dissertation (Doktormutter Ursula Köbl) sich dieses The-mas zusammenhängend in gründlicher Weise angenommen hat, wobei er sich immerhin auf die verstreuten Zeitschrif-tenbeiträge von Dietrich Schoch stützen konnte. Ein unver-schuldetes Handicap seiner Arbeit besteht darin, dass sie auf der Rechtslage nach dem BSHG fußt und auf SGB II und XII lediglich im überarbeiteten letzten Teil »Maßnah-men zur Verbesserung der Verhinderung und Aufdeckung des Sozialhilfemissbrauchs« näher eingegangen wird.

Die Arbeit konzentriert sich auf den mindestens grob fahr-lässigen rechtswidrigen Leistungsbezug durch Hilfesuchen-de. Nachdem zunächst rechtstatsächlich die wirtschaftliche

und politische Dimension sowie Ursachen und Hintergrün-de dargestellt werden, stehen dann im Mittelpunkt der Un-tersuchung die bestehenden Instrumente zur Verhinderung und Aufdeckung des Sozialhilfemissbrauchs (automatisier-ter Datenabgleich, Ermittlungen durch Sozialämter und Polizei, Sanktionen der Sozialhilfeträger und etwas weiter hergeholt Pauschalierung), insbesondere der Einsatz soge-nannter Sozialdetektive. Diesbezüglich kommt Hirschboeck überzeugend zu dem Ergebnis, dass es an einer spezialge-setzlichen Befugnisnorm (sowohl im BSHG als auch im SGB II/XII und ebenso SGB X) für diese sich selbst im Fall des Einverständnisses als Grundrechtseingriff darstellende Maßnahme fehlt, so dass Hausbesuche verfassungswidrig sind. Hirschboeck sieht durchaus, dass es auch einen be-hördlichen Sozialleistungsmissbrauch durch bewussten Verstoß gegen geltendes Recht gibt. Er vernachlässigt aber diese Seite mit der zweifelhaften und nicht belegten These, dass er angesichts der zahlreichen Erscheinungsformen der rechtswidrigen Leistungsinanspruchnahme in den Hinter-grund trete.

In diese Lücke stößt der Frankfurter Sozialwissenschaftler Rainer Roth mit seinem »Schwarzbuch«, das den Untertitel »Wer missbraucht eigentlich wen?« trägt (er ist zusammen mit Harald Thomé von Tacheles Wuppertal – Autoren des hilfreichen »Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z«, 23. Aufl. 2005, 7,50 € – auch Opfer des Clement-Pamphlets, das sie als Betrüger zu disqualifizieren versucht). Roth nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er zu dem Schluss kommt, dass ein Missbrauch durch Hilfesuchende in erster Linie nicht einen Überfluss an Mitteln zeige, sondern einen deutlichen Mangel und Sozialhilfeberechtigte insoweit Betrogene seien, als die Träger trotz vorliegender Rechts-ansprüche gar keine oder zu wenig Leistungen auszahlten. Diesen »völlig im Dunkeln« liegenden Sozialhilfemiss-brauch hellt er durch 78 exemplarische Fälle etwas auf. Das sollte Anlass genug sein, auch dieser Seite einmal juristisch intensiv nachzugehen, was zugleich ein bedeutender Bei-trag zur Qualitätssicherung wäre.

Arbeitslosenprojekt TuWas (Herausgeber), Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, Fachhochschulverlag, 2. Auflage 2006, 638 Seiten, 11,– €

Das Beste zum Schluss: Der von dem Berliner Sozialrichter Udo Geiger verfasste »Leitfaden« ist schon nach kurzer Zeit in 3. Auflage erschienen. Er ist der Leitwolf zum SGB II, in Inhalt und Problembreite sowie im Preis-Leistungsverhältnis ein Spitzenprodukt (ganz im Gegensatz zu dem Gesetz, das er behandelt), und befindet sich auf dem Stand des Fortentwicklungsgesetzes.

Albrecht Brühl