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VIL Zum Stand der neueren Forschung Es ist ein Gemeinplatz, dass das Interesse an der philosophischen Rhetorik in den letzten Jahrzehnten (seit dem Erscheinen der Werke von Perelman, Toulmin u. a.) stetig gestiegen ist. Was die Aristotelische Rhetorik angeht, so wurde diese Schrift von Seiten der Aristoteles-Forschung allerdings weiter- hin nur wenig beachtet; die Kontinuität zu den grundlegenden Werken des 19. Jahrhunderts (Spengel, Cope u. a.) oder im 20. Jahrhundert zu den Arbei- ten Solmsens war weitgehend unterbrochen. Wie sehr die Rhetorik von die- ser Seite her vernachlässigt wurde, zeigt sich daran, dass im 20. Jahrhundert keine originelle Einzelkommentierung erschienen ist. Auch die Beiträge zu dem im Jahr 1990 in Princeton abgehaltenen Symposium Aristotelicum mit dem Thema Rhetorik1 haben zu einem guten Teil eher .entdeckenden' Cha- rakter und dokumentieren dadurch, dass sich die Aristoteles-Forschung die- ser Schrift erst wieder von Neuem zuwenden müsste. In dieser Situation ha- ben die Anhänger der Neuen Rhetorik die Auswertung der Aristotelischen Schrift selbst in die Hand genommen. Im Zuge dieser Bemühung entstanden rhetorische Fachjournale2, in denen regelmäßig Abhandlungen zur Aristote- lischen Rhetorik erscheinen, neue Übersetzungen oder Neuausgaben alter Übersetzungen3, eine als .Kommentar' titulierte Paraphrase4 und weiteres. Auf diese Weise entstanden zwei parallele Forschungsforen5: das Forum der Aristoteles-Forscher, die die Rhetorik vor dem Hintergrund seiner Haupt- schriften interpretieren, und das Forum der Rhetorik-Forscher, die den Aristotelischen Text aufgrund systematischer Fragen der neueren Rhetorik- Forschung untersuchen. Durch diese Situation scheint der Forschungsstand 1 Vgl. Furley/Nehamas (1994). 2 Besonders Rhetoric and Philosophy. 3 Ruelle (1991). 4 Arnhart (1981). 5 Selbstverständlich fällt bei einigen Autoren die Zuordnung zum einen oder anderen Lager schwer. Der Tendenz nach gilt aber auch für die viel beachtete Ausgabe von Kennedy (1991), dass sie eher durch die Rhetorik-Kenntnisse des Autors geprägt ist. Die Arbeiten Grimaldis verraten zumindest, dass der Autor anderen Schriften des Aristoteles nur insoweit Beachtung schenkt, als sie die Rhetorik zu erläutern versprechen. Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 09.08.13 11:12

ARISTOTELES - RHETORIK - Anm.7.pdf

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  • VIL Zum Stand der neueren Forschung

    Es ist ein Gemeinplatz, dass das Interesse an der philosophischen Rhetorikin den letzten Jahrzehnten (seit dem Erscheinen der Werke von Perelman,Toulmin u. a.) stetig gestiegen ist. Was die Aristotelische Rhetorik angeht, sowurde diese Schrift von Seiten der Aristoteles-Forschung allerdings weiter-hin nur wenig beachtet; die Kontinuitt zu den grundlegenden Werken des19. Jahrhunderts (Spengel, Cope u. a.) oder im 20. Jahrhundert zu den Arbei-ten Solmsens war weitgehend unterbrochen. Wie sehr die Rhetorik von die-ser Seite her vernachlssigt wurde, zeigt sich daran, dass im 20. Jahrhundertkeine originelle Einzelkommentierung erschienen ist. Auch die Beitrge zudem im Jahr 1990 in Princeton abgehaltenen Symposium Aristotelicum mitdem Thema Rhetorik1 haben zu einem guten Teil eher .entdeckenden' Cha-rakter und dokumentieren dadurch, dass sich die Aristoteles-Forschung die-ser Schrift erst wieder von Neuem zuwenden msste. In dieser Situation ha-ben die Anhnger der Neuen Rhetorik die Auswertung der AristotelischenSchrift selbst in die Hand genommen. Im Zuge dieser Bemhung entstandenrhetorische Fachjournale2, in denen regelmig Abhandlungen zur Aristote-lischen Rhetorik erscheinen, neue bersetzungen oder Neuausgaben alterbersetzungen3, eine als .Kommentar' titulierte Paraphrase4 und weiteres.Auf diese Weise entstanden zwei parallele Forschungsforen5: das Forum derAristoteles-Forscher, die die Rhetorik vor dem Hintergrund seiner Haupt-schriften interpretieren, und das Forum der Rhetorik-Forscher, die denAristotelischen Text aufgrund systematischer Fragen der neueren Rhetorik-Forschung untersuchen. Durch diese Situation scheint der Forschungsstand

    1 Vgl. Furley/Nehamas (1994).2 Besonders Rhetoric and Philosophy.3 Ruelle (1991).4 Arnhart (1981).5 Selbstverstndlich fllt bei einigen Autoren die Zuordnung zum einen oder anderen Lager

    schwer. Der Tendenz nach gilt aber auch fr die viel beachtete Ausgabe von Kennedy (1991),dass sie eher durch die Rhetorik-Kenntnisse des Autors geprgt ist. Die Arbeiten Grimaldisverraten zumindest, dass der Autor anderen Schriften des Aristoteles nur insoweit Beachtungschenkt, als sie die Rhetorik zu erlutern versprechen.

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  • 310 VIL Zum Stand der neueren Forschunghinsichtlich der Rhetorik disparater als bei anderen Bereichen der Aristoteli-schen Philosophie. Nicht zuletzt unterliegt auch das Niveau der For-schungsliteratur strkeren Schwankungen als bei anderen Schriften.

    1. EinzelkommentierungDie drei Namen ,Petrus Victorius, Spengel, Cope' kennzeichnen die wichti-gen Stationen fr die Einzelkommentierung der Rhetorik. In die damit ver-tretenen Jahrhunderte, nmlich in das 16. und das 19. Jahrhundert, fallenauch tatschlich die grten Fortschritte bei der detaillierten Kommentie-rung der Schrift. Dass dabei der zuletzt genannte Beitrag aus dem Jahr 1877datiert, veranschaulicht einerseits, dass mit diesen drei Kommentatoren einebestimmte Art von Kommentierungsbedarf tatschlich weitgehend erflltwar, andererseits, wie wenig Interesse

    -

    verglichen mit den meisten anderenAristotelischen Schriften

    -

    fr die Weiterentwicklung des aus dem 19. Jahr-hundert bernommenen Kommentierungsstands aufgebracht wurde.

    Gemessen an ihrem Kommentierungsziel haben Spengel und vor allemCope eine vollstndige Kommentierung vorgelegt, die nur noch sporadi-scher Ergnzungen bedarf. Dass man heute und aus Sicht der Aristoteles-Forschung andere Fragen gerne kommentiert sehen mchte, spiegelt somitkein Versumnis dieser Kommentatoren, sondern vor allem eine vernderteFragestellung wider. Nachdem in den letzten Jahrzehnten die Auslegung derphilosophischen Schriften erhebliche Fortschritte gemacht hat, scheint eineKommentierung wnschenswert, die auch die Rhetorik an den Kenntnis-stand der allgemeinen Aristoteles-Forschung heranfhrt und diese Schriftkonsequent vor dem Hintergrund des philosophischen Werks des Aristote-les (und nicht als Quelle der Schulrhetorik) erlutert.6

    Der einzige Vorsto zu einer detaillierten Neukommentierung im20. Jahrhundert ist mit den beiden 1980 und 1988 erschienenen Kommentar-Bnden von Grimaldi zu Rhet. I und II gegeben. Grimaldis Kommentar gibteine ntzliche Auswahl der bei Cope berbordenden Parallelstellen. Wie vielNutzen man aus Grimaldis emsiger Anfhrung von Beispielen, Parallelenund vermeintlichen Beispielen und Parallelen aus den berlieferten Redenattischer Rhetoren (auch solcher, die Aristoteles selbst gar nicht zur Kennt-nis genommen hat und auch in Kapiteln, in denen sich Aristoteles nicht imMindesten von historischen Beispielen leiten lsst) zieht, wird von der Inte-ressenlage des einzelnen Benutzers abhngen. Trotz hilfreicher Diskussio-nen kontroverser Passagen ist der Beitrag von Grimaldis Werk zur Einzel-

    6 Vgl. dazu die Vorbemerkung zum Kommentar.

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  • 1. Einzelkommentierung 311kommentierung jedoch aus folgenden Grnden eher zurckhaltend zu beur-teilen:

    (i.) Im Hintergrund der Kommentierung stets prsent sind die Thesen ausGrimaldis Monographie von 1972, von denen sich insbesondere die Erkl-rung des Enthymems, des Jxioxtc-Begriffs und der Funktionsteilung zwi-schen spezifischen und allgemeinen Topen in der Forschung nie habendurchsetzen knnen.7

    (ii.) An vielen Stellen bescheidet sich der Kommentar damit, eine Art di-daktisch motivierte Lesehilfe zu geben, indem etwa ein sprachliches Phno-men durch die Anfhrung einer Paragraphennummer in der griechischenSchulgrammatik erlutert8 oder indem der Leser dazu ermuntert wird, sichber Begriffe wie ,Mnzprgung, griechische' mit Hilfe des Oxford ClassicalDictionary zu informieren.9(iii.) Die Standardkommentierung einzelner Stellen besteht bei Grimaldidarin, den Text der so genannten fnf Editoren Roemer, Dufour, Tovar, Rossund Kassel und der so genannten beiden Kommentatoren Spengel und Copemiteinander zu vergleichen und dann die eigenen Prferenzen zu begrndenoder zu nennen. Das ist schon deshalb ein merkwrdiges Verfahren, weiletwa Copes Ausgabe berhaupt keine textkritischen Ambitionen verfolgtund die Ausgaben von Dufour und Tovar, was die Kenntnis der berliefe-rungslage angeht, vollstndig von der Roemer-Ausgabe abhngig sind.10 Dieletzteren beiden Editoren sind aufgrund von Einzelvorschlgen zwar inter-essant (Dufour mehr als Tovar), brauchen deswegen aber nicht wie unabhn-gige Autoritten stndig angefhrt zu werden. Der Vergleich der verschiede-nen Editionen setzt den Leser nur ber deren Prferenzen in Kenntnis, ohnedass dadurch der Blick auf die berlieferungslage selbst frei wrde. DieTextgestaltung von Kassel stt vor allem im ersten Band auffallend hufigauf Grimaldis Kritik; bei der Editionen-vergleichenden Diskussion des Kas-sel'schen Textes wird aber bisweilen nicht deutlich, dass sich Grimaldi wirk-lich des Unterschieds zwischen einer Entscheidung fr die bestbezeugteLesart und einer von den Editoren

    -

    gegen die zuverlssigste berlieferungoder in Unkenntnis derselben

    -

    vorgeschlagenen Verbesserung bewusstwre. Dass Grimaldi auerdem in Kenntnis der Ross'schen und der Kas-

    7 Zur Kritik verschiedener Grimaldi-Thesen vgl. im Kommentar beispielsweise die Anmerkun-gen zu 1354al5, die 1. Nachbemerkung zu Kap. I 1, Abs. 2 sowie Anm. (3.) zu 1356al-20,Anm. (2.)zul391b23-28.

    8 Vgl. auch die Selbstbeschreibung in Grimaldi (1980, viii): One of the objectives of this com-mentary, as I said, is to make Aristotle's statements about rhetoric accessible and understan-dable to scholars working in the field of rhetorical studies but not actively engaged with theGreek language or classical scholarship ..."

    9 Vgl. Grimaldi (I 111).0 Vgl. dazu in der Einleitung Kap. 6, Abs. 4.

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  • 312 VIL Zum Stand der neueren Forschungsel'schen Editionen daran festhlt, den Roemer-Text zugrunde zu legen11,drfte eine nur schwer begrndbare Entscheidung sein.

    -

    Obschon sichdaher Grimaldis Kommentar zu groen Teilen mit textkritischen Fragen ab-gibt, ist er gerade in textkritischer Hinsicht nur von geringem Interesse.(iv.) Grimaldi erlutert zahlreiche Stellen durch Zitate aus Cicero, Quinti-lian und anderen antiken Rhetoriklehrern. Solche Parallelen sind sicherlichvon einem gewissen Rhetorik-geschichtlichen Interesse; bei Grimaldi hatman aber des fteren den Eindruck, dass solchen Bemerkungen auch einexegetischer Wert beigemessen wird oder zumindest dass diese Zitate eine ei-gene Erluterung ersetzen sollen. Dass hinter dieser Praxis auch eine gewisseLeichtglubigkeit ber den interpretatorischen Wert der rhetorischen Tradi-tion mit Blick auf Aristoteles steckt, zeigt sich etwa dann, wenn ein Aus-druck wie iavoia (Gedanke)" einfach in Anlehnung an die CiceronischeTheorie als

    process of invention" bersetzt wird.12(v.) Die Kommentierung leidet bei den theoretisch entscheidenden Stellenan einer begrifflichen Ungenauigkeit, wie sie sich ein Aristoteles-Kommen-tator generell nicht erlauben kann. Beispiel: Bei der ersten Erwhnung desAusdrucks ouAoyiolio;" kommentiert Grimaldi,13 dies sei eine Schluss-form, welche aus zwei Propositionen bestehe, nmlich den Prmissen undder Konklusion (was Anlass zu der Frage gibt, ob der Autor von zwei odervon mehreren Propositionen spricht). Abgesehen davon, dass Aristotelesden on^OYiOLto nirgendwo so definiert, fhrt Grimaldi dann gleich einBeispiel mit drei Propositionen an. Aristoteles betone stets die Identitt desEnthymems mit dem avWoyto^ (dabei bleibt unklar, ob nach GrimaldisAnsicht das Enthymem immer die Definition des ouAoYtO(io erfllt, oderob er glaubt, dass es immer aus zwei

    -

    oder vielmehr drei-

    Propositionenbesteht). Im nchsten Satz aber bemerkt er, man drfte hier nicht an einestrenge wissenschaftliche Demonstration des absolut Wahren denken. Darandenkt aber ohnehin niemand, weil bisher die Rede vom avr\koyto\iz alsovon Logik, und nicht von der ^oei|i, also von epistemologischen Fra-gen, war.(vi.) Grimaldis Aristoteles-Kenntnis erweist sich

    -

    so viel kann man zu-mindest sagen

    -

    als stark Rhetorik-zentriert. Zwar werden von Grimaldizahlreiche Stellen aus dem nicht-rhetorischen Restwerk des Stagiriten ange-fhrt, doch verfehlen diese oft den zu erluternden Zusammenhang. An die-sen Missgriffen zeigt sich, dass die zur Untersttzung herangezogenen Pa-rallelstellen dem Kommentator selbst nicht hinreichend klar sind. /. Beispiel:A. does not appear to believe that reason will by itself and necessarily per-11 Vgl. Grimaldi (I vi).12 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (2.) zu 1403a34-b2.Vgl. Grimaldi (121 f.).

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  • 1. Einzelkommentierung 313suade anyone. See De an. 433a Iff. and EN 1139a 35-6: .Intellect by itselfmoves nothing.'"14 Zu erlutern wre gewesen die These, dass das vernnf-tige Argument allein noch nicht berzeugt. Was er anfhrt, ist die davonvllig unabhngige These, dass die Vernunft allein nicht gengen wrde, umdie intentionale Ortsbewegung von Lebewesen zu erklren. 2. Beispiel: ZurErluterung des Ausdrucks xqvcov" meint Grimaldi15: A decision orjudgement is always the result of deliberation, which is completed by an actor choice, JtQoaQEOic." Das ist schon merkwrdig gesagt, denn dann wredas XQVEiv in jedem Fall eine JtQoaQEOi (denn: ,xqveiv = result of delibe-ration', completion of deliberation = JtQoaQEOi', daher ,xqveiv =JtQoaQEOic' wenn completion of deliberation = result of deliberation').Weil die JtQoaQEOi den appetitiven Seelenteil involviere, folgert Grimaldi:Therefore in all acts of deciding (xqveiv) the rational and appetitive partsof man come into action. If this is so, then once again we see that discoursemust of necessity be concerned with tjIo and Jtaffo, as well as with rea-son."Xb Mit solchen Deutungen befindet sich Grimaldi in der Nhe einigereinflussreicher Strmungen der neueren Rhetorikforschung;17 seine Argu-mentation ist aber eine Hufung von Fehlschlssen und Fehlinterpretatio-nen. Nachdem er erst xqveiv und jiqocqeoic flschlicherweise identifi-ziert, dann durch diese Identifikation die Beteiligung des appetitiven Seelen-teils in jedem Akt des Urteilens nachweist, assoziiert er das Urteilen berden Begriff des Strebens mit f)f>o und Jtdoc (was natrlich unaristotelischist: es gibt auch nicht-emotionales Streben) und unterschlgt dabei beilufig,dass Aristoteles mit der Behandlung von fjffo und itffo in der Rhetoriketwas zum Prozess des berzeugens und nicht zur Analyse des Urteils bei-tragen wollte. Mit etwas bersicht ber die Aristotelische Terminologiewre es dagegen ein Leichtes zu sehen, dass etwa ein Richter, der ber einzurckliegendes Verbrechen urteilen soll, darber berhaupt keineJtQoaQEOi fllen kann, und dass sich deswegen sein Strebevermgen garnicht am Urteilsprozess beteiligen muss, und dass deswegen weder der Cha-rakter noch die Emotionen des Urteilenden fr das zu fllende Urteil irgend-eine Rolle spielen mssen und dass die berzeugungsmethode des Aristote-les ohnehin nur ber die Charakterdarstellung des Redners und nicht berden Charakter des Urteilenden handelt.

    Grimaldis Kommentierung ist somit ein gutes Beispiel fr das oben schonbeschriebene Phnomen, dass sich aufgrund der Vernachlssigung der Rhe-torik durch die Aristoteles-Forschung ein Forum bildete, auf dem die Rheto-

    '4 Vgl. Grimaldi (I 28).15 Vgl. Grimaldi (181).16 Vgl. Grimaldi (a.a.O.).17 Vgl. dazu etwa Garver (1994a, Kap. V und VI).

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  • 314 VII. Zum Stand der neueren Forschungrik weitgehend unabhngig vom Gesamtwerk des Aristoteles ausgelegt wirdvon Autoren, die sich eher fr Fragen der Rhetorik als fr die AristotelischePhilosophie insgesamt interessieren. Zwar finden sich auch bei Autoren wieGrimaldi Bekenntnisse zur Bedeutung der Aristotelischen Psychologie undEthik fr die Auslegung der Rhetorik, jedoch fhren die Ethik- und Psycho-logie-Exkurse

    -

    wie eben demonstriert-

    oft nur zu der diffusen General-these

    .Nicht auf den Verstand allein kommt es an, Charakter und Emotionensind auch irgendwie sehr wichtig'. Vor diesem Hintergrund besteht der Bei-trag von Grimaldis Kommentar am ehesten darin, den Text der Rhetorik frLeser zu erlutern, denen die Benutzung des lateinischen Spengel-Kommen-tars und des durch die Materialmenge etwas unbersichtlich geratenen Co-pe-Kommentars vermeintlich nicht zumutbar ist. Dieselbe Aufgabe, nmlichdie Rhetorik fr eher anwendungsorientierte Benutzer zu erschlieen, erflltin noch hherem Mae der so genannte Kommentar von Arnhart.18 Der Bei-trag, den die Kommentare von Grimaldi und Arnhart fr das Anliegen leis-ten, die Rhetorik vor dem Hintergrund des Aristotelischen Gesamtwerks zuerlutern und umkehrt Rckschlsse von der Rhetorik auf die AristotelischePhilosophie zu ziehen, ist aus den genannten Grnden eher gering.

    2. Verschiedene Entstehungsphasen?Das Werk von Werner Jaeger19 (1923) hat die Aristoteles-Forschung frlange Zeit mit Fragen der philosophischen Entwicklung des Aristoteles be-schftigt.20 Als sich die Voraussetzungen des Jaegerschen Projekts immerdeutlicher als problematisch erwiesen und sich das erhoffte Einvernehmenhinsichtlich der Entwicklungsfrage und der damit verbundenen Werkchro-nologie nicht einstellte, formierte sich gegen den Entwicklungsgedanken vie-lerorts eine ,neo-unitarische' Reaktion, die Fragen der Einheit und der Ent-wicklungsphasen weitgehend aus der Literatur zu verbannen versuchte. Wasdie Rhetorik betrifft, so entstanden einerseits die ersten Versuche, verschie-dene Phasen oder Eingriffe unautorisierter Redaktoren nachzuweisen schonlange vor Jaeger, und die wichtigsten entwicklungsgeschichtlichen Beitrgeknnen unabhngig vom Jaegerschen Entwicklungsschema gewrdigt wer-den. Andererseits schlug die ,neo-unitarische' Reaktion auf den Niedergangder entwicklungsgeschichtlichen Aristoteles-Deutung voll auf die Rhetorikdurch und veranlasste emphatische Stellungnahmen gegen den Nachweis18 Vgl. Arnhart (1981).19 Vgl. Jaeger (1923); vgl. dazu auch in der Einleitung Kap. I, Abs. 3c).20 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Jaegers Ansatz vgl. Dirlmeier (1950), sowie Wieland(1970, 23-28).

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  • 2. Verschiedene Entstehungsphasen? 315von Brchen und eventuellen Entwicklungen als Forschungsziel der Rheto-rik-Interpretation.

    Nachdem im Einzelnen schon lange versucht worden war, durch Tilgun-gen und Umstellen die grbsten Ungereimtheiten der Rhetorik auszumer-zen, wartete Roemer mit einer globalen Theorie fr die vermeintlichen Br-che des Textes auf: Die Scholiasten und Quintilian htten ein ausfhrlicheresExemplar benutzt, whrend Dionysios von Halikarnassos ein krzeresExemplar benutzt haben soll. Aus diesen beiden Versionen sei die uns erhal-tene Rhetorik zusammengestellt worden.21 Marx nimmt u.a. die von Roe-mer beobachteten Brche zum Anlass fr die noch radikalere Auffassung,

    dass uns in der gesamten Rhetorik nicht ein Originalwerk des Aristoteles,sondern die von ungeschickter Hand ausgefhrte Bearbeitung der Nach-schriften einzelner Vorlesungen des Meisters ber die Rhetorik erhaltenist."22

    Einzelne Unstimmigkeiten knnen nun mit diesem Ansatz so erklrt wer-den, dass die Schler den von ihnen mitgeschriebenen Stoff noch nicht rich-tig verstanden haben.23

    Einen ambitionierten entwicklungsgeschichtlichen Ansatz entwickeltKantelhardt24, der schon verschiedene

    -

    von Aristoteles selbst, nicht voneinem Schler verfasste

    -

    Schichten der Rhetorik zu unterscheiden versuchtund die vermeintlich unpassende Zusammenstellung dieser verschiedenenWerkteile zu der berlieferten Schrift einem inkompetenten Redaktor zu-schreibt:

    non igitur habemus-

    quod Marxius volebat-

    schedas a discpulo quodammale conscriptas, sed Aristotelis ipsius hypomnemata. is tarnen, qui ex Aris-totelis hereditate rhetorica edidit, libros compositos et perfectos non inve-nit, sed partes tantum, quarum artis rhetoricae tractatio quam diversa esset,eum fugisse videtur. qui alteram artem aut potius partes eius cum priore quopacto potuit coniunxit, quod ut faceret Aristotelea suis additamentis depra-vavit."25

    Damit erklrt Kantelhardt auch schon den vermeintlichen Bruch zwischendem Kapitel I 1 und der in Kapitel I 2 entwickelten Lehre von den dreiberzeugungsmitteln durch die ungerechtfertigte Zusammenfgung zweierunvereinbarer Entwrfe.26

    21 Vgl. Roemer (1898, XL-CII).22 Marx (1900, 241).23 Vgl. etwa Marx (a.a.O., 289).24 Vgl. Kantelhardt (1911).25 Kantelhardt (a.a.O.).26 Vgl. Kantelhardt (a.a.O., 37-40).

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  • 316 VII. Zum Stand der neueren ForschungSolmsen ist der wichtigste Exponent der entwicklungsgeschichtlichen

    Aristoteles-Deutung la Jaeger27 im Bereich der Aristotelischen Logik undRhetorik.28 Fr ihn ist die Rhetorik sowohl Ausgangspunkt einer allgemei-nen These zur Entwicklung der Aristotelischen Logik als auch ein Anwen-dungs- und Bewhrungsfeld fr dieselbe. Von grundlegender Bedeutung"fr sein Projekt ist nmlich die Gegenberstellung von Syllogismen, die auseinzelwissenschaftlichen Prmissen gebildet werden, und solchen, fr wel-che die TJtoi gelten sollen."29 Diese Beobachtung veranlasst ihn, zwischeneiner vor-syllogistischen, dem Topen-Enthymem entsprechenden Entste-hungsphase, und einer nach-syllogistischen, dem Protasen-Enthymem ent-sprechenden, Entstehungsphase zu unterscheiden. Genau genommen, mussSolmsen vier Stadien annehmen, von denen sich nur drei in der Rhetorik desAristoteles wiederfinden, whrend die erste seiner (der Rhetorik gegenbervermeintlich ablehnenden) Haltung in dem Dialog Gryllos entspricht.30 Diefrheste in der Rhetorik konservierte Schicht (reprsentiert durch I 1,1354al-1355b24, II 23-24) kennt nur das Topos-Enthymem. In diesem Sta-dium fehle auch noch die Behandlung der Emotionen, die schon in Formvon Protasen abgehandelt sei.31 In der zweiten Phase (besonders reprsen-tiert durch I 2, 1358a2-35) treten daneben die Enthymeme aus Protasen(Prmissen), die dieselbe Rolle spielen wie die wissenschaftlichen Prinzipienin den Einzelwissenschaften. Dieses Entwicklungsstadium setzt die Syllogis-tik und Apodeiktik bereits voraus. Die allerletzte berarbeitung der Rheto-rik sei ganz an der Ersten Analytik orientiert, die Solmsen fr spter hlt alsdie Zweite Analytik?1 Diese letzte berarbeitung zeige sich systematischdarin, dass jetzt gar keine Topen mehr bercksichtigt werden, wie Solmsenden Passagen I 2, 1357a22-b36, und II 25, 1402bl2-1403al6, entnehmen zuknnen glaubt.33 Kritisiert wurde Solmsens These mit Blick auf die Rhe-

    27 Der gelufige Hinweis auf das .Lehrer-Schler-Verhltnis' zwischen Jaeger und Solmsen darfnicht darber hinwegtuschen, dass Solmsens entwicklungsgeschichtliche Interpretation derAristotelischen Logik und Rhetorik weitaus plausibler ist als Jaegers psychologisierendesVorgehen.

    28 Vgl. Solmsen (1929).29 Solmsen (a.a.O., 17).30 Vgl. dazu in der Einleitung Kap. IV, Abs. 3.31 Vgl. Solmsen (a.a.O., 212).32 Darin wurde ihm von Ross widersprochen; vgl. dazu Ross (1939) und Solmsen (1941); die

    nchste Runde wurde eingeleitet durch W. D. Ross, Aristotle's Prior and Posterior Analytics,Oxford 1949, 6-23, worauf Solmsen in einer Rezension mit dem Titel Aristotle's Syllogismand its Platonic Background", in Philosophical Review 60 (1951), 563-571, antwortete. Einedifferenziertere Annherung an Solmsens Standpunkt versucht Barnes (1981); vgl. zu dieserDiskussion auch Detel (1993,1 110-114).

    33 Eine gute bersicht zu Solmsens Entwicklungsschema gibt Stocks (1933).

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  • 2. Verschiedene Entstehungsphasen? 317torik schon in den Dreiigerjahren, u.a. von Throm34, spter z.B. von Ra-phael35.

    Inzwischen eher in der Rubrik der Kuriosa einzuordnen ist das Entwick-lungsmodell von Gohlke, der in seiner bersetzung36 verschiedene Schich-ten durch das Druckbild hervorhebt. Wie Solmsen lehnt er gegenber frhe-ren Arbeiten die These eines Redaktors ab, hlt jedoch auch die Rhetorik frAlexander fr echt.37 So meint er, die frheste Fassung der AristotelischenRhetorik in der Theodekteiais gefunden zu haben, die nchste Stufe sei dieRhetorik fr Alexander, die jedoch noch keine Syllogistik kenne. Die nchsteFassung sei verloren und bilde die Vorlage fr die letzten Kapitel (II 23 ff.)der Ersten Analytik (die aus dem frhesten Entwurf dieser Schrift stammensollen) und ein Manuskript, aus dessen berarbeitung die berlieferte Rhe-torik entstanden sei.39

    Temers Arbeit ist der vorlufig letzte Versuch einer umfassenden schich-tenanalytischen Behandlung der Rhetorik.40 Sie muss fr ihre Erklrung im-merhin schon vier Schichten und einen Redaktor annehmen. Die ersteSchicht A zeichne sich durch die Unterteilung von kunstfremden und kunst-gemen berzeugungsmitteln sowie die Lehre von den drei kunstgemenberzeugungsmitteln aus. In ihr kommen die Begriffe Enthymem, Syllogis-mos und Paradeigma in noch anfnglicher Bedeutung" vor.41 Zu dieserEinteilung stand die in B vertretene Auffassung ber die Bestandteile einerrhetorischen x%vr\ in scharfem Gegensatz. Hier wurden gerade solche rhe-torischen Mittel wie Erregung von Affekten bei den Hrern und alle sons-tige Beeinflussung des Hrers, die auerhalb der reinen Argumentationliegt, streng verurteilt."42 Hiermit stellt sich Temer gegen die bliche Auf-fassung, der Standpunkt des Kapitels I 1 stamme, wenn man ihn als inkonsis-tent mit der Schrift ansehen will, aus einer besonders frhen Bearbeitung desrhetorischen Stoffes. Weil die Kluft zwischen den Schichten A und B un-berbrckbar sei, msse es ein Redaktor gewesen sein, der diese Schichtenzusammengefasst hat. Schicht C sei durch das Merkmal des technischen syl-logismos im Sinne der (vermeintlich) spten Teile43 der Topik geprgt, die

    34 Vgl. Throm (1932, 46 ff.); vgl. auch P. Wilpert, Die Lage der Aristotelesforschung, in: Zeit-schrift fr philosophische Forschung 1 (1946/47), 123ff.

    35 Vgl. Raphael (1974).36 Vgl. Gohlke (1959).37 Vgl. Gohlke (a.a.O., 5 f.)38 Vgl. dazu in der Einleitung Kap. IV, Abs. 1.39 Vgl. Gohlke (1944, 143).40 Vgl. Temer (1957).41 Temer (1957, 162).42 Temer (1957, 159).43 Gegen die Annahme solcher Unterschiede innerhalb der Topik vgl. Braun (1959).

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  • 318 VII. Zum Stand der neueren Forschungletzte Schicht D durch die Theorie der Zeichen-Schlsse, wie sie erst in derErsten Analytik entwickelt worden sei.

    Die Divergenz der Ergebnisse aus der entwicklungsgeschichtlichen Inter-pretation der Rhetorik hat dann bei Interpreten zu zunehmend verdrossenenReaktionen gefhrt, die zum Teil nicht zu Unrecht eine Rckkehr zu einereher sachbezogenen Auseinandersetzung forderten.44 Allerdings sind mitdem Einvernehmen ber die Fruchtlosigkeit dieser Projekte noch nicht die-jenigen Unstimmigkeiten behoben, die die schichtenanalytischen Interpre-ten

    -

    unabhngig von der sich verselbststndigenden Freude an der Vermeh-rung von Schichten und Bearbeitern

    -

    ursprnglich zu ihren Projekten ver-anlasst haben. Ein falscher Schluss aus dem unbefriedigenden Ergebnis dergenannten Positionen wre es daher, wenn man, um Datierungs- und Ent-wicklungsfragen auszuschlieen, inkonsistente Aussagen und Begriffsver-wendungen bergehen oder voreilig harmonisieren wollte. Die Lehren ausder Auseinandersetzung mit dem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz soll-ten daher eher den Umgang mit der Beobachtung der tatschlich bestehen-den Inkonsistenzen und nicht die Unterdrckung derselben betreffen:(i.) Die Zuordnung zu verschiedenen Entstehungsphasen allein erklrtnichts; daher ist die temporale Redeweise von .Schichten', .Phasen' usw. zuersetzen durch die Beschreibung begrifflicher Abhngigkeiten, durch die Er-hebung und Zuordnung zu unterschiedlichen Hintergrundstheorien usw.(ii.) Nicht nur sind die Erfolgsaussichten des Versuchs, die ganze Rhetorikin bestimmte Entstehungsabschnitte zu unterteilen, zurckhaltend zu beur-teilen, vielmehr scheint es fraglich, ob es sich dabei um ein erstrebenswertesForschungsziel handelt; Unstimmigkeiten sind dort zu klren, wo sie auftre-ten; die Erprobung eines bergreifenden Entwicklungsplans fr die ganzeSchrift ist demgegenber von nachgeordnetem Interesse.(iii.) Die Probleme des schichtenanalytischen Vorgehens rhren nicht un-wesentlich daher, dass die Inkonsistenzen durch die Annahme eines Ent-wicklungsmotivs, wie Piatonnhe, Entdeckung der Syllogistik, Ablehnungder auersachlichen Rhetorik, usw., erklrt werden sollen. Dies fhrte zusimplifizierenden Modellen, weil die Anzahl der eingesetzten Motive natr-lich klein gehalten werden msste. Tatschlich ist bei einem vielfach berar-beiteten Text wie der Rhetorik mit einer Vielzahl von solchen Motiven undEinflssen zu rechnen. Das Beweisziel, diese Komplexitt auf eine mglichstbersichtliche Anzahl solcher Motive zu verengen, sollte daher gegenberder Einzelfallanalyse zurckgestellt werden.

    Zu kritischen Stellungnahmen gegen die entwicklungsgeschichtliche Rhetorik-Deutung vgl.u.a. Grimaldi (1972, 18-52), Hellwig (1973, 20f.), Lossau (1981, 3, Fun. 11), Sprute (1982,23-27), Wrner (1990, 26-29).

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  • 3. Aufgabe und Zweck der Schrift 319(iv.) Unstimmigkeiten rhren bei Aristoteles oft daher, dass er bei unter-

    schiedlichen Problemstellungen Begriffe unterschiedlich verwendet unddann zu Lsungen gelangt, die ber diesen Problemzusammenhang hinausnicht verallgemeinert werden sollten. Auerdem folgt er in vielen Passagender Methode der fortschreitenden Problemklrung, wobei schon erlangteErgebnisse unter einem neuen Gesichtspunkt nochmals problematisiert undeiner modifizierten Lsung zugefhrt werden. Dieses Vorgehen fhrt zu ei-ner Art von Inkonsistenz, die nicht durch Entwicklungsmodelle zu erklrenist; von diesem Erklrungsmuster sollte daher nur uerst zurckhaltendGebrauch gemacht werden.(v.) Bei einem redaktionell offenbar nur schlecht aufbereiteten Text wieder Rhetorik ist nicht jede Unstimmigkeit zwischen Ankndigung undDurchfhrung, nicht jede ungenaue Verwendung von Zitaten, usw., woraufAutoren wie Marx und Kantelhardt ihr besonderes Augenmerk richteten,von Interesse.45 Dass ein Text nicht wirklich homogenisiert wurde, ist dieeine Sache, eine ganz andere Sache ist, ob sich tatschlich unvereinbare Kon-zeptionen unter dem Dach einer einzigen Schrift finden lassen, wie in derRhetorik der vermeintliche Bruch zwischen der Vorgngerkritik in Kap. I 1und dem Rest der Schrift46, oder die von Solmsen behauptete Unvereinbar-keit zweier Enthymem-Konzeptionen47. Nur dies letztere ist ein For-schungsbereich, der unabhngig von der Erforschung der Entstehensbedin-gungen von Interesse ist.

    3. Aufgabe und Zweck der SchriftDie Einschtzungen zu der Frage, welche Aufgabe berhaupt die Aristoteli-sche Rhetorik verfolge, gehen schon deshalb extrem weit auseinander, weilsich darin theoriebedingte Erwartungen an die Disziplin der Rhetorik ber-haupt widerspiegeln. Zur Breite des Meinungsspektrums in dieser Frage hatdaher vor allem der Umstand beigetragen, dass das in den letzten Jahrzehn-ten von verschiedenen Seiten aus neu erwachte Interesse an der Rhetorik sichstets auch in Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Schrift zu artiku-lieren versuchte.

    Eine traditionelle und einfache Stellungnahme zur Aufgabe der Rhetorikfindet sich etwa bei Allan:

    45 Vgl. dazu in der Einleitung Kap. I, Abs. 3c).46 Vgl. dazu die 1. Nachbemerkung zu Kap. I 1.47 Vgl. dazu die 2. Nachbemerkung zu Kap. I 2.

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  • 320 VIL Zum Stand der neueren Forschungthe object of Aristotle's own handbook is, of course, a practical one, toshow how to compose a good speech."48

    Nur geringfgige Variationen dieser Handbuch-Theorie kommen zustande,wenn man Rhetorik ausschlielich als die Kommunikation der politischenElite mit der Masse" betrachtet.49 Allgemein sind diese reinen Handbuch-Theorien eher unter Beschuss. Die Wertneutralitt der Rhetorik als solcherbetonend, zieht auch Sprute den politischen Rahmen hinzu, in dem die Ver-wendung der Rhetorik gesehen werden muss:

    Eine Rhetorik, die wie die aristotelische vom Gesichtspunkt der Wirkungder rednerischen Mittel aus konzipiert ist, entspricht auch durchaus der In-tention, die Aristoteles mit seinen politischen Untersuchungen verfolgt. ...Fr den praktischen Politiker bedeutet dies, unvollkommene Verhltnissein weniger unvollkommene Verhltnisse umzuwandeln, wobei der Grad dermglichen Verbesserung von den bestehenden Verhltnissen abhngt. Es istklar, dass hierzu nur eine Rhetorik dienlich sein kann, die sich auf die realenpolitischen und sozialen Verhltnisse einstellt. Je entschiedener eine solcheRhetorik die rednerischen Mittel im Hinblick auf ihre Wirkung auswhlt,desto eher wird sie als Hilfsdisziplin der politischen Wissenschaft in derLage sein, ihrem Zweck zu entsprechen, nmlich berzeugungen, dieEJtQa^a ermglichen oder befrdern."50

    Von Arnim meint, Aristoteles zerschlage das sophistische Bildungsideal da-durch, dass er die Rhetorik von der Philosophie abtrenne.51 Kullmann dage-gen spricht von ,,Anstze[n] des Aristoteles, zu allgemeinmenschlichenStrukturen sprachlicher Kommunikation dadurch vorzustoen, dass er etwadie private Kommunikation einbezieht und die Kommunikation zwischenden Angehrigen verschiedener Altersstufen reflektiert." Zuraten/Abraten,Anklagen/Verteidigen, Loben/Tadeln seien Grundformen menschlicherKommunikation berhaupt. Auf sie lassen sich alle anderen Formen zurck-fhren; z.B. knnen Belehrung und Information als Sonderformen des Zu-ratens/Abratens verstanden werden."52

    Eine noch strkere These scheint Grimaldi mit folgender Bemerkung zuvertreten:

    The object of Aristotle's treatise on rhetoric is ultimately an analysis of thenature of human discourse in all areas of knowledge."53

    48 D. J. Allan, The Philosophy of Aristotle, London 1952, 201.49 Vgl. Lord (1981, 334).50 Sprute (1982, 41).51 Vgl. v. Arnim (1898, 68-72).52 Vgl. Kullmann (1998, 456). Zu Hinweisen auf eine gleichsam anthropologische Fundierung

    der Rhetorik vgl. im Kommentar die Anm. (6.3) zu 1355a20-b7.53 Grimaldi (1972, 1).

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  • 3. Aufgabe und Zweck der Schrift 321hnlich uert sich Garver:

    Deliberation about things that can be otherwise can only be carried onrhetorically; therefore deliberation above all is part of the function of rheto-ric."54

    To call it philosophic is to insist, first of all, that the Rhetoric be read as apiece of philosophic inquiry, and judged by philosophic standards."55

    Ebenfalls in dieser Richtung gehen die Einlassungen Arnharts:Is rhetoric some form of rational discourse about the intelligible reality ofpolitics, or is it merely a means for verbally manipulating people throughfallacious arguments and appeals to irrational impulses?"56

    Setzt man ein Mindestma an Aufgeschlossenheit gegenber dem Phnomendes Rhetorischen voraus, ist die Gefahr, dass sich der angesprochene Leserfr die zweite Option entscheidet, vergleichsweise gering; aber was handelter sich mit der verbleibenden ersten Option ein? That the true art of rheto-ric is essentially a mode of reasoning."57 hnlich starke Behauptungen berdie Aufgabe der Rhetorik vertritt Ptassek:

    In der Aristotelischen Rhetorik steht aber nicht deren Charakter alsKunstlehre der berredung im Vordergrund, sondern deren Verankerungin Praxisstrukturen, die sie als Medium derpraktischen Reflexion gleichzei-tig aufhellt und transparent macht."58

    Hoffe sieht den Unterschied der Aristotelischen Rhetorik zur traditionellenRedekunst durch die Ausrichtung auf das menschliche Glck gegeben:

    Unter Rhetorik versteht man oft nur die Kunst der wohlformuliertenRede, gelegentlich sogar jene bloe Technik des berredens, die sich aufunsachliche Argumente, sogar auf eine zynische Orientierung blo am Ge-fhl einlsst. Aristoteles verpflichtet die Rede in praktischer Hinsicht aufdas Leitziel des Menschen, das Glck ..., und in kognitiver Hinsicht auf dasjeweils Glaubhafte ,.."59

    Russo wendet sich gegen die Auffassung, die Rhetorik sei nur eine Schriftmit einem praktischen Zweck und ohne moralische Lehre. Demgegenbermchte er selbst bei Aristoteles den ioc QqxoQixc als eine gleichsam meta-physische Kategorie erkennen.6054 Garver (1989, 140).55 Garver (1994a, 3).56 Arnhart (1981, 3).57 Arnhart (1981, 4).58 Ptassek (1993, 58); Hervorhebung vom Verf.39 Hoffe (1999, 62).60 Vgl. Russo (1962).

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  • 322 VIL Zum Stand der neueren Forschung4. Verfolgt der Redner ein moralisches Anliegen?

    Dasselbe Meinungsspektrum wie hinsichtlich der Aufgabe der Schrift Rhe-torik spannt sich bei der Frage auf, ob der Aristotelische Redner ein morali-sches Anliegen verfolge. Am einen Ende dieses Meinungsspektrums stehenAutoren, die wie Wrner eine Art moderner vir-bonus-Lehre vertreten: DieRhetorik sei

    ein dem Gegenstandsbereich menschlichen Handelns angemessenes In-strumentar zu[r] Findung des Guten, Vortrefflichen und Gerechten .. ."61

    Auf der anderen Seite dieses Spektrums befindet sich etwa Oates:The most striking characteristic of Aristotle's Rhetoric, from our point ofview, is its ambivalence. On the one hand, it attempts to tie itself in withAristotelian logic, ethics, and politics, while on the other it is a practicalhandbook for the instruction of public speakers in all the techniques andtricks of the trade. So far as the question of value is concerned, we can see inthe Rhetoric, when the author has foremost in his mind his thought in logic,ethics, and politics, a reflection of the views expressed therein towards mat-ters of value. But when he is in the mood of an author of a practical hand-book, any concern for value seems in some places to vanish, leaving us in arealm of amoralism, if not immoralism."62

    Viele Autoren bemhen sich dagegen um eine differenzierte Auffassung, diesowohl der Wertneutralitt der Aristotelischen Rhetorik als Anleitung desberzeugens als auch dem ethischen Kontext Rechnung zu tragen versucht;eine in dieser Hinsicht gelungene Analyse gibt Engberg-Pedersen.63 Eineschlichtere, und daher weitest verbreitete Strategie, um den Vorwurf desAmoralismus abzuwehren, findet sich etwa bei Gohlke:

    Darum lehrt sie (die Rhetorik; A. Verf.) auch alle Schliche und unsachli-chen Hilfsmittel der gangbaren Redeanleitungen, nicht damit der Schlersie benutze, sondern damit er sie durchschaue."64

    5. Verhltnis zu PiatonDie meisten Autoren, die sich mit dem Verhltnis der Aristotelischen Rheto-rik zu Lehren Piatons befassen, stellen einen Vergleich mit dem Phaidros in

    61 Wrner (1990, 282); Hervorhebung und Einfgung v. Verf.62 Oates (1963, 335).63 Vgl. Engberg-Pedersen (1996).64 P. Gohlke, Aristoteles und sein Werk, Paderborn 1948, 72.

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  • 6. Das Enthymem 323den Mittelpunkt ihrer berlegungen. Dabei gibt es seit der Renaissance eineAuslegungstradition, die die Abhngigkeiten der Rhetorik von diesem Dia-log sehr stark betont:

    Die Bearbeitung der Rhetorik nach diesen (im Phaidros explizierten, d.Verf.) Grundstzen blieb dem Aristoteles brig; wer sollte auch in dessenausfhrlicher Lehre der Jtdn und fj-fh] II 1-17 die tjiii/aYCDYa des Piatonverkennen? In welcher er die Menschen nach Alter und Stand sondert unddas Eigentmliche bei jedem hervorhebt, die Affekte aber nicht blo nach-weist, wodurch sie entstehen, sondern auch wie der Mensch dazu kommtund gegen wen er sie uert. Die Erkenntnis des Gegenstandes aber ist aufdie von Piaton genannten Ideen, das xaXv, ctYCxdv, ixaiov, zurckge-fhrt, deren Topik ausfhrlich nachgewiesen und damit das geleistet, wasPiaton gefordert hatte."65

    Einen umfassenden Vergleich zwischen Piatons rhetorischen' DialogenGorgias und Phaidros mit Aristoteles' Rhetorik hat Hellwig66 durchgefhrt.Abhngigkeiten der Rhetorik von der Politischen Philosophie Piatons, vorallem von den Nomoi weist Schtrumpf67 nach. D. Frede68 hat darauf hinge-wiesen, dass Aristoteles in Rhet. Ill Theorieelemente aus Piatons Philebosverwendet.69 Dabei bernimmt Aristoteles nicht nur die Platonische Kon-zeption der Lust, die er in der Nikomachischen Ethik ausdrcklich zurck-weist, sondern erklrt zumindest einige Emotionen in Anschluss an PiatonsTheorie, dass solche Emotionen Mischungen aus Lust und Schmerz darstell-ten.

    6. Das EnthymemDie Ausgangslage fr die Auseinandersetzung der modernen Forschung mitdem Enthymembegriff bildet die berlieferte Syllogismus-truncatus-Lehre,nach der das Enthymem als ein Syllogismus definiert wird, dem eine Propo-sition, in der Regel eine Prmisse, fehlt.70 Im 20. Jahrhundert wchst die Un-zufriedenheit mit dieser Lehre, vor allem unter solchen Freunden der Rheto-rik, die sich unter einer Enthymemtheorie etwas weniger Geistloses verspre-chen. Eine hierbei weit verbreitete Strategie besteht jedoch darin, dass dieGrundzge der Syllogismus-truncatus-Lehre beibehalten werden, whrend

    65 Spengel (1851, 466 f.).66 Vgl. Hellwig (1973).67 Vgl. Schtrumpf (1994).68 Vgl. D.Frede (1996).69 Vgl. dazu im Kommentar die Anmerkungen zu 1369b33-35.70 Vgl. dazu im Kommentar die Anmerkungen zu 1357a7-22.

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  • 324 VIL Zum Stand der neueren Forschungman nur die Bedeutung dieser formalen Beschreibung herabspielt

    -

    entwe-der indem man betont, dass es auf das pragmatische Ziel ankomme, fr dasdie formale Unvollstndigkeit nur das Mittel sei, oder indem man weitereMerkmale in den Vordergrund rckt, etwa die angebliche Beteiligung desHrers oder die vermeintliche Aufgabe des Enthymems, die berzeugungs-mittel Charakter, Emotion und Sache zusammenzubringen.(i.) Reaffirmation der Syllogismus-truncatus-Lehre durch Cope: Der Rhe-torik-Kommentator Cope scheint sich durchaus darber im Klaren gewesenzu sein, dass sich eine Definition des Enthymems, die die Unterdrckungeiner Prmisse als Wesensmerkmal des Enthymems festschreibt, so in derRhetorik nicht findet; deshalb sucht er ausdrcklich nach einer anderen Dif-ferenz zwischen dem nicht-rhetorisch gebrauchten Syllogismus und demEnthymem:

    So that it appears from this, as from Anal. Pr. II. 27, that the only essentialdifference between the two is that the one leads to a necessary and universal,the other only to a probable conclusion."71

    Dennoch hlt er aufgrund der Beispiele fr Enthymeme als auch aufgrundder Anleitung aus Kap. I 2 und II 22, das Enthymem msse aus wenigerenPrmissen bestehen, im Grunde an der Syllogismus-truncatus-Lehre fest,mit dem Unterschied, dass er das Fehlen einer Prmisse nicht zum Wesens-merkmal erklren will:

    Still the suppression of one or other of the premisses or of the conclusionis so invariably attendant upon its ordinary use, that it may at least be regar-ded as what Aristotle would have called a oi)Lier|xc xccF afjt, an in-separable accident" of the enthymeme."72As the enthymeme is an imperfect syllogism, so is the example an imper-fect induction: the former omits either premiss or the conclusion .. ."73

    Zwar betont Cope, dass die Auslassung einer Prmisse im Enthymem keinSelbstzweck sei, sondern dazu diene, die Wiederholung von schon Bekann-tem zu vermeiden, jedoch bleibt er damit im Wesentlichen auf einem Stand-punkt, den schon die Kommentatoren der Renaissance eingenommen haben;indem er die Aristotelische Formulierung, ein Enthymem sei oft" aus weni-ger Prmissen gebildet als ein gewhnlicher Syllogismus,74 mit immer"wiedergibt, fllt er in diesem Punkt sogar an den Diskussionsstand dieserZeit zurck:

    71 Cope (1867, 102).72 Cope (1867, 103).73 Cope (1867, 105).74 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1357al7'.

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  • 6. Das Enthymem 325The enthyme[m]e is deduced from few premisses (is a syllogism whosemajor premiss is so evident that it needs little or no previous proof. Schra-der.), and often (always, I believe; else what remains to distinguish it fromthe dialectical syllogism?) consists of fewer propositions (including the con-clusion) than the primary or normal syllogism (the syllogism of the first fi-gure: or, the typical, normal, original syllogism of which all the rest are onlyvarieties): because if any of these is already well known

    -

    and the propositi-ons of the rhetorician are well known, being popular and current maximsand opinions, and generally accepted rules and principles, which he uses forthe major premisses of his arguments

    -

    there is no occasion to state it at all;the listener will supply it for himself."75

    (ii.) Abgekrzte Syllogismen ohne Syllogismus-truncatus-Lehre: Copes Stra-tegie, einerseits die Syllogismus-truncatus-Lehre abzulehnen, insofern diesebeansprucht, eine Definition des Enthymems zu geben, und andererseits dieEnthymeme in grtmglicher Anlehnung an diese Lehre zu interpretieren,wurde von vielen Autoren bernommen. Damit kann man einerseits demUmstand Rechnung tragen, dass sich keine Stelle finden lsst, die das Enthy-mem tatschlich im Sinn dieser Lehre definiert, und braucht sich andererseitsnach keinem neuen Interpretationsrahmen umzusehen. Vgl. etwa De Quin-cey und McBurney:

    The enthymeme differs from the syllogism, not in the accident of suppres-sing one of its propositions; either may do this or neither; the difference isessential, and in the nature of the matter; that of the syllogism proper beingcertain and apodeicitic; that of the enthymeme simply probable, and drawnfrom the province of opinion."76as a matter of fact, I think we can safely interpret Aristotle to mean that theenthymeme usually lacks one or more of the propositions of a complete syl-logism. On the other hand, it seems equally clear that there is no justifica-tion in interpreting him to mean that this is a necessary characteristic of theenthymeme. A syllogism drawn from probable causes and signs is an enthy-meme without regard to the omission of proposition."77

    Manche Autoren weichen in dieser Situation auf die Definition des Enthy-mems aus An. pr. II 27 aus, wonach das Enthymem ein Syllogismus aus Zei-chen oder wahrscheinlichen Prmissen sei; so z.B. Madden:

    It is true that the word ,often' prevents the truncated aspect from being anecessary condition of an enthymeme; therefore Aristotle does not define

    75 Cope (1867, 157f.).76 Thomas De Quincey, Essays on Style, Rhetoric and Language, hg. v. F. N. Scott, Boston 1893,

    145 f.77 McBurney (1936; ND 1974, 131 f.).

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  • 326 VIL Zum Stand der neueren Forschungthe enthymeme as a truncated syllogism. But he does indicate that fre-quently arguments ought to be truncated in order the better to persuade un-instructed people who cannot follow complicated reasoning but neverthe-less do not have to be belabored by the obvious. Clearly, then, the truncatedsyllogism element occurs in Aristotle's view of the enthymeme but it doesnot refer to or come into conflict with his official definition of the enthy-meme as an argument from signs and likelihoods because the two concepti-ons are entirely different kinds."78

    Derselbe Autor weist zu Recht darauf hin, dass es einen wichtigen Unter-schied bedeutet, ob man die Aufforderung, eine Prmisse wegzulassen, alseine rein logische Beschreibung versteht oder als eine optionale Regel, wieman die berzeugung des Adressaten erreichen kann:

    When the enthymeme is characterized as a truncated syllogism there is noabstraction from the users of a language as there is when one considers a pu-rely logical doctrine because it designates how arguments are to be used inrelation to purposive behavior."79The truncated syllogism view of the enthymeme is a statement of a means-end relationship which connects persuasion and the rhetorical device ofsuppression. As a hypothetical statement it asserts what one must do as ameans to achieve a rhetorical goal, persuasion, which has been acceptedevery time one employs an argument. Thus the truncated syllogism view isa rule of procedure, a recipe for achieving results, and is not a proposition, astatement which is true or false, at all."80(iii.) Alternative Definitionsversuche: Wie im letzten Zitat eine rein logi-

    sche Beschreibung der Prmissenaussparung beim Enthymem angegriffenwurde, so wurde mit der Ablehnung der Syllogismus-truncatus-Lehre ber-haupt fraglich, ob das Enthymem angemessen in rein logischen Kategorienbeschrieben werden knne oder ob es dazu nicht vielmehr psychologischer,pragmatischer oder stilistischer Kriterien bedarf. Ein in der Rhetorik-For-schung oft zitierter Versuch in dieser Richtung ist der von Bitzer, der den78 Madden (1952, 375f.). Schon Seaton (1914, 118f.) erklrt den fr diese Stelle in einer Hand-

    schrift berlieferten Ausdruck xeXrj (unvollkommen, unvollstndig)", der einer der wich-tigsten Belege fr die Syllogismus-truncatus-Lehre darstellt, zur Interpolation: [it] was pro-bably an interpolation, but an early one, and may have been inserted by some one quite wellversed in Aristotelian phraseology. According to Aristotle the syllogism is only .perfect,'tXio. when it is of the first figure, because he looked on that as a peculiarly evident andcogent form of argument. The second and third figures of the syllogism he considered to be.imperfect' because they are not immediately evident by the dictum de omni et nullo. A scri-ber might therefore very well insert the word xEXfj after ov"k~koy\.a\ii>, in as much as theenthymeme, being .from likelihoods or signs' would never form a ouXAoyiauoc, xXeioexcept in the case of a sign being also a proof (xxn.r|Qiov)."

    79 Madden (1952, 373).80 Madden (a.a.O., 374).

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  • 6. Das Enthymem 327aktiven Beitrag des Adressaten als notwendiges Merkmal des Enthymemsauszuweisen versucht; nach Bitzer sei das Enthymem:

    ...a syllogism based on probabilities, signs, and examples, whose function

    is rhetorical persuasion. Its successful construction is accomplished throughthe joint efforts ofspeaker and audience, and this is its essential character."81The point to be emphasized, then, is that enthymemes occur only whenspeaker and audience jointly produce them. Because they are jointly produ-ced, enthymemes intimately unite speaker and audience and provide thestrongest possible proofs. The aim of rhetorical discourse is persuasion;since rhetorical arguments, or enthymemes, are formed out of premisessupplied by the audience, they have the virtue of being self-persuasive.Owing to the skill of the speaker, the audience itself helps construct theproofs by which it is persuaded."82Whrend sich Bitzers Definitionsversuch auf eine Evidenzbasis, die nicht

    einmal eine vollstndige Textzeile (1357al8f.) lang ist und auerdem als De-finition denkbar ungeeignet erscheint, sttzen muss, scheint Cronkhite aufeinem mehr versprechenden Weg zu sein: Er stellt zunchst fest, dass es fnfMerkmale des Enthymems gibt, die alle normalerweise zutreffen, jedochnicht notwendig sind:83 (1) Enthymeme beruhen normalerweise nur aufwahrscheinlichen Prmissen. (2) Enthymeme knnen formal ungltig sein,und gelten dennoch als Beweis. (3) Enthymeme sind normalerweise kon-krete Argumente. (4) Enthymeme sind oft abgekrzte Schlsse. (5) Enthy-meme nehmen ihre Prmissen idealerweise von den berzeugungen der Zu-hrer. Muss man aus dem Umstand, dass keines dieser Merkmale immer aufEnthymeme zutrifft und keines immer in nicht-rhetorischen Syllogismenfehlt, schlieen, dass es keine Unterscheidungsmglichkeit gibt? Cronkhiteverneint diese Frage und weist zu Recht darauf hin, dass Enthymeme durchden rhetorischen Gebrauch von anderen Syllogismen unterschieden sind:

    The enthymeme is any form of deductive rhetorical argument, adapted inwhatever way the speaker deems necessary to accomplish the purpose ofpersuasion."84Those who search the Rhetoric for distinctions in form and subject matterwhich will allow them to identify enthymemes and dialectical syllogisms,then, are likely to continue to be disappointed, for there are no such diffe-rences; indeed, it is probable that at times the rhetorical syllogism may be a

    81 Bitzer (1959; ND 1974, 151 f.); Hervorhebung v. Verf.82 Bitzer (a.a.O., 151).83 Vgl. Cronkhite (1966, 132).84 Vgl. Cronkhite (a.a.O., 133).

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  • 328 VII. Zum Stand der neueren Forschungdialectical syllogism, if the speaker deems that the most persuasive form inwhich the argument can be expressed."85(iv.) 1st das Enthymem ein Syllogismus im Sinne der Syllogistik? Die tradi-

    tionelle Auffassung ist die, dass Aristoteles, wenn er das Enthymem als eineArt von au)JtOYiaLic, definiert, es als Syllogismus im Sinne der Syllogistikaus An. pr. bestimmen mchte.86 Dies ist auch eine Voraussetzung der Syllo-gismus-truncatus-Lehre, denn ohne den syllogistischen Hintergrund bliebeunklar, warum es sich beim Enthymem um einen Schluss handeln sollte, demgenau eine von drei Propositionen fehlt. Eine der wichtigsten Arbeiten berdas Aristotelische Enthymem, die luzide Studie von Sprute87, macht dieAbhngigkeit der Rhetorik von der syllogistischen Theorie und somit desEnthymems von dem Syllogismus der An. pr. zur Voraussetzung.88 Enthy-meme haben nach Sprute eine erkennbar syllogistische Struktur, von derallerdings aus bestimmten Grnden nicht alle Elemente sprachlich zum Aus-druck gebracht werden".89 Oder anders gesagt:

    Das Enthymem hat man daher nach Aristoteles wohl als einen Syllogismuszu verstehen, dessen Struktur zwar in der Art der Formulierung bereits an-gedeutet werden muss, ohne dass dabei aber eine solche Vollstndigkeit undbersichtlichkeit erforderlich oder auch nur vorteilhaft wre wie bei derFormulierung wissenschaftlicher Syllogismen."90

    Was die hier angedeuteten Unterschiede hinsichtlich der Formulierung einesEnthymems und eines nicht-rhetorisch gebrauchten Syllogismus angeht, sospricht zwar auch Sprute davon, dass die selbstverstndliche Prmisse un-ausgesprochen bleibt; jedoch betont er, dass dies logisch irrelevant sei, dadie Hrer, indem sie das Enthymem verstehen und seine Conclusio akzep-tieren, diese Prmisse bercksichtigen und auf geschicktes Befragen hin inder Regel wohl auch ergnzen knnten. Die Form einer enthymematischenArgumentation bleibt deshalb ein Syllogismus, ob alle Glieder dieser Argu-mentation ausformuliert sind oder nicht."91 Diese Beschreibung scheint imWesentlichen alle Bestimmungen der Syllogismus-truncatus-Lehre zu erfl-len, dennoch gibt sich Sprute dieser gegenber kritisch: Es sei vllig irre-fhrend", wenn man wie Heinrich Maier von einem verstmmelten Syllo-

    85 Vgl. Cronkhite (a.a.O., 133 f.).86 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a3-20.87 Vgl. Sprute (1982).88 Vgl. Sprute (a.a.O., 68): so setzt die aristotelische Theorie des Enthymems die Syllogistik

    voraus."89 Sprute (a.a.O., 69).90 Sprute (a.a.O., 131).91 Sprute (a.a.O., 132).

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  • 6. Das Enthymem 329gismus" spreche.92 Der hier gescholtene Maier bersetzt mit .verstmmelt'jedoch nur das traditionelle Syllogismus truncatus", und dass die Verstm-melung nicht der syllogistischen Hintergrundsstruktur, sondern nur der ab-gekrzten Formulierung gilt, war eigentlich Konsens.

    Ein Problem fr die ,syllogistische' Auffassung sind die Topen der Rheto-rik, wenn man davon ausgeht, dass die Anwendung eines Topos die gleich-zeitige Anwendung der syllogistischen Logik irgendwie ausschliet; dahermuss auch Sprute Enthymeme ohne syllogistische Struktur"93 einrumen,nmlich solche, die aus allgemeinen Topen konstruiert werden. Damit mussSprute einen grundstzlichen Bruch innerhalb des Enthymembegriffs (derzwischen topischen und syllogistischen Topen) zugestehen, auch wenn ersolche Entwicklungs- und Konsistenzfragen in Absetzung von Solmsen eheran den Rand drngen mchte. Probleme bereitet den ,Syllogistikern' auch,dass Aristoteles nach ihrer Auffassung im ersten Buch der Rhetorik Prmis-sen formulieren msste, die dann als Obersatz in einem Syllogismus verwen-det werden knnten. Tatschlich bezeichnet aber Aristoteles diese vermeint-lichen Oberstze nicht nur ausdrcklich als

    .spezifische Topen , sondern sieweisen auch eine Struktur auf, die ber die erwarteten Oberstze weit hin-ausgeht.94

    Gegen eine syllogistische Interpretation des Enthymems wenden sich Au-toren, die die Rhetorik eher vor dem Hintergrund der Schrift Topik zu inter-pretieren versuchen, oder solche, die die Rhetorik einer vor-syllogistischenEntwicklungsstufe der Aristotelischen Logik zurechnen oder einfach einenBegriff des ou^oyiotto annehmen, der weiter ist als der der Syllogistik ausAn. pr. 95(v.) Ist das Enthymem eine Deduktion? Fr die .syllogistischen' Interpre-ten ist in der Regel klar, dass es sich bei einem Enthymem um ein deduktivesArgument oder eine Deduktion handelt; denn jeder gltige Syllogismus isteine gltige Deduktion, aber umgekehrt ist nicht jede Deduktion ein Syllo-gismus. (Wenn es so, wie es steht, kein gltiges Argument ist, dann liege das92 Sprute (a.a.O., 132).93 Sprute (a.a.O., 140).94 Vgl. dazu im Kommentar die 1. Vorbemerkung zu Kap. I 4-14.93 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a3-20. Eine analoge Debatte wird fr das Ver-

    hltnis von Syllogistik und wissenschaftlicher Demonstration (JtoEi^i) gefhrt: Zwarwird die Demonstration als au^oyiono bestimmt, in der Topik jedoch, die die Syllogistiknoch nicht kennt, findet sich schon eine Definition der Demonstration (I 1, 100a27-29); Bar-nes (1981, 52) folgert daher: The Apodeictic theory which the Posterior Analytics presents ismarried to Syllogistic; but here is reason to believe that, before the wedding, Apodeictic liveda virginal life, untouched by the Syllogism." hnlich, knnte man sagen, ist das Verhltnisvon Enthymemtheorie und Syllogistik: Auch zwischen ihnen hat eine spte Heirat" stattge-funden (nmlich bei der Behandlung des Enthymems in der Ersten Analytik und

    -

    vielleicht-bei einer nach-syllogistischen Durchsicht der Rhetorik), doch fhrte die Enthymematik im

    Unterschied zur Apodeiktik eine Josephsehe.

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  • 330 VI. Zum Stand der neueren Forschungnur daran, dass eine erforderliche Prmisse vom Redner verschwiegen, bzw.vom Zuhrer ergnzt wird.) Andere interpreten, wie z. B. Wrner96, Ryan97,Burnyeat98, bestreiten dagegen, dass das Enthymem eine Deduktion oderdeduktives Argument sei. Diese These reicht viel weiter als diejenige, die be-streitet, dass das Enthymem ein Syllogismus sei, denn auch wenn das Enthy-mem kein Syllogismus ist, lsst es sich etwa aufgrund eines nicht-terminolo-gischen Deduktionsbegriffs oder aufgrund des in der Topik gebrauchten De-duktionsbegriffs als eine Deduktion verstehen. Diese nicht-deduktivistischeAuffassung scheint zunchst schon deshalb eine schwer belegbare zu sein,weil Aristoteles das Enthymem als eine Art von syllogismos (ovXXoyio\icxt) bestimmt und er diesen Begriff deutlich im Sinne unseres Deduktions-begriffs definiert. Dennoch lassen sich fr die nicht-deduktivistische Inter-pretation folgende (vermeintliche) Belege anfhren:-

    Aristoteles spricht einmal davon, dass man strenger oder lockerer de-duzieren (tiv xe cixQieaxeoov civ xe paX.axcoxeQov cnA.oyii",cov-xai) knne."99

    -

    Wenn Aristoteles das Enthymem als ovKKoyio\xo, xt" bestimmt,muss das nicht notwendig heien, dass es sich um eine^lrf von syllogis-mos handelt, sondern es kann auch bedeuten, dass es sich um 50 etwaswie ein syllogismos handelt.100

    -

    Die Beispiele, die Aristoteles fr Enthymeme anfhrt, stellen so gutwie nie logisch gltige Deduktionen dar.101

    -

    Wenn Aristoteles bei der Definition des Enthymems in Rhet. I 2 die all-gemeine Definition des syllogismos auf das Enthymem anwendet, n-dert er das gewhnliche Definitionsschema ab, indem er nicht von einernotwendigen Folge spricht, sondern davon, dass etwas allgemein oderin der Regel folge.102

    -

    Eine Art des Enthymems ist das Zeichen-Enthymem; von diesem abersagt Aristoteles ausdrcklich, dass es kein syllogismos sei.103

    -

    Eine Art des Enthymems benutzt Prmissen, die nicht notwendig, son-dern nur wahrscheinlich sind, aus wahrscheinlichen Prmissen lassensich aber keine zwingenden Schlsse ziehen.104

    96 Vgl. Wrner (1990).97 Vgl. Ryan (1984).98 Vgl. Burnyeat (1994).99 Vgl. dazu Burnyeat (a.a.O., 15ff.).

    -

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1396a34-bl.100 Vgl. dazu Burnyeat (a.a.O., 13-15).

    -

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (3.) zu 1355a3-20.101 Vgl. Ryan (a.a.O., 29 ff.).102 Vgl. Burnyeat (a.a.O., 19-21), Wrner (a.a.O., 352-357), Rapp (1996a, 208-210) (mit fal-

    schen Folgerungen).-

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (3.) zu 1356bl0-26.103 Vgl. Burnyeat (a.a.O., 35ff.).

    -

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (5.) zu 1357bl-25.104 Vgl. Raphael (1974, 160), Burnyeat (a.a.O., 24-30).

    -

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (5.)zu 1357a22-bl.

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  • 6. Das Enthymem 331(vi.) Irrelevanz der Unterscheidung von ,schlssig' und ,nicht-schlssig':

    Eine Konsequenz, die man aus der Aufgabe des deduktiven Modells fr En-thymeme ziehen kann, ist die, dass die Unterscheidung zwischen .schlssig'und ,nicht-schlssig' irrelevant wird. An deren Stelle tritt die Unterschie-dung zwischen .berzeugend' und .nicht berzeugend', .erfolgreich' und.nicht erfolgreich':

    We would like to know under what conditions it is appropriate for a spea-ker to advance, and for the audience to accept, a sign argument that is de-ductively invalid. The only answer we get from the rhetoric is: when it isconvincing."105

    Denselben Schluss, den Burnyeat hier fr die nicht-notwendigen Zeichen-Enthymeme zieht, zieht Ryan fr jede Art von Enthymem:

    If it is not the case that the enthymeme is merely an abridged syllogism butis essentially different form other syllogisms, then it may not make sense toask whether enthymemes are valid or invalid ... It would follow from thisthat some enthymemes are valid while others are invalid, but it does not re-ally matter whether they are the one or the other. ... A genuine enthymemeis one that succeeds in its task of .the producing of opinion'.. ."106(vii.) Einebnung des Unterschieds von echten und nur scheinbaren Enthy-

    memen: Es gibt noch eine weitere Konsequenz aus der Ablehnung des de-duktivistischen Modells, die jedoch nicht alle Nicht-Deduktivisten zu zie-hen bereit sind. Wenn es keinen Unterschied zwischen gltigen und nicht-gltigen Enthymemen gibt, warum sollte man dann noch zwischen echtenund nur scheinbaren Enthymemen unterscheiden (wie es Aristoteles in II 23und 24 tut)? Wenn fr die Bewertung des Enthymems nur das Akzeptiert-werden zhlt, dann ist auch dieser Unterschied hinfllig:

    Many commentators think Aristotle rejected .apparent' enthymemes inBk. II Ch. 24 because they are logical misdemeanours or .fallacies,'... Thesecommentators all seem unable to believe that the pioneer of logic would at-tempt to sort out arguments on some basis other than the soundness or un-soundness or their reasoning their validity or invalidity."107

    Die Interpretation Garvers setzt die Einebnung dieses Unterschieds bereitsvoraus:

    105 Burnyeat (a.a.O., 38).i6 Ryan (a.a.O., 32 f.).i7 Ryan (a.a.O., 31 f.).

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  • 332 VIL Zum Stand der neueren ForschungConsidered purely logically, all rhetorical arguments are invalid; amonginvalid arguments it is hard to find a further distinction between real andapparent enthymemes".108

    Die Rolle der rhetorischen Argumentation verndert sich unter diesen Vo-raussetzungen gegenber der klassischen .syllogistischen' Auffassung radi-kal. So zieht der erwhnte Garver den Schluss:

    Argument will persuade to the extent that it makes us believe and trust thespeaker. Reason does and should persuade as it serves character and trust."Aristotle's purpose ... is to show that even when rhetorical reason looksmost logical and most independent of purpose, it is still persuasive only asevidence of phronsis and character."109(viii.) Kontaminierung des Enthymems mit nicht-logischen berzeu-

    gungsmitteln: Die zuletzt genannte Konsequenz Garvers, die Wirkung desEnthymems auf eines der nicht-logischen oder nicht-argumentativen ber-zeugungsmittel zu beziehen, hat eine Entsprechung in den verschiedenenVariationen der Auffassung, das Enthymem sei gar nicht ohne den Bezug aufEmotionen und Charakter zu bestimmen bzw. vereine geradezu die ver-schiedenartigen berzeugungsmittel. Zum Teil kann diese Tendenz in derEnthymemforschung auf die oben geschilderte Unzufriedenheit mit den reinlogischen Beschreibungen des Enthymems zurckgefhrt werden; soschreibt schon McBurney:

    A careful analysis of Aristotle's system will reveal the superficiality of at-tempting to separate the enthymeme from these non-logical" methods ofpersuasion. ... In other words, Aristotle presents what he has to say aboutboth ethical and pathetical persuasion in the form of topics, and we are ex-plicitly told that these topics are the sources to which we may turn for thepropositions to compose our enthymemes."110

    Theorien, die das Enthymem unmittelbar mit den Emotionen und dem Cha-rakter, also mit den so genannten ,nicht-logischen' berzeugungsmittelnkombinieren, sind in den letzten Jahren populr und verbreitet geworden.111

    108 Garver (1994a, 163).109 Garver (1994a, 146 f.).110 McBurney (1936; ND 1974, 128).111 Vgl. z.B. Johnstone (1980), Wrner (1990, 361). Auch Nachschlagewerke zur Geschichte derRhetorik haben sich diese Auffassung angeeignet, vgl. Ueding/Steinbrink (1986, 26): Ist das

    enthymema nun das .Kernstck des berzeugens1, so ist mit ihm nicht nur die rationaleberzeugung, die durch den Syllogismus hervorgerufen werden kann, gemeint, sondernauch die emotionale: So hat man nicht nur darauf zu sehen, dass die Rede beweisend undberzeugend sei, sondern man muss auch sorgen, sich selbst und den Beurteiler in eine be-stimmte Verfassung zu bringen ..." Der Teufel steckt auch hier im Detail, denn an der vonUeding/Steinbrink zitierten Stelle ist vom .Enthymem' gar nicht die Rede.

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  • 6. Das Enthymem 333Die bekannteste, oft kopierte Version ist die von Grimaldi; fr ihn ist dasEnthymem

    the container, that which incorporates, or embodies, the pistis: ethos, pa-thos, pragma (sic! d. Verf.), imposing form upon them so that they may beused most effectively in rhetorical demonstration."112

    Gemessen an dem Umstand, dass Aristoteles in aller Klarheit drei berzeu-gungsmittel unterscheidet und das Enthymem als Teil einer dieser drei ber-zeugungsmittel, nmlich des so genannten .beweisenden' lokalisiert, gehrtdie Hartnckigkeit, mit der sich diese Interpretationsfamilie breit macht, zuden staunenswerten Aspekten der neueren Rhetorik-Forschung. Es soll da-her auch mit einer weiteren Variante dieser These sein Bewenden haben:

    The enthymeme is a matter of heart and feeling, not intellect and demons-tration, and the content of the functioning of the effective component of theenthymeme is nonlogical."113

    Die Autoren dieser These begrnden ihre Auffassung u. a. durch die Etymo-logie des Wortes .vrfuprma': v + fhjpo" bedeute ,in der Seele', und dortsitzen die Gefhle. Das erinnert an einen modernen deutschen Aristoteles-bersetzer, der in selber etymologisierender Weise das Wort ,vfLupr|pa'durch ,Wendung ans Gefhl' bersetzt.114(ix.) Die Solmsen-These: Die zwischen (v.) und (viii.) beschriebenen Posi-tionen stellten auf unterschiedliche Weise Konsequenzen aus der Abkehrvom syllogistischen Erklrungsmodell dar. Mit der vorliegenden Positionkehren wir nochmals zu Problemen zurck, die sich aus dem Versuch erge-ben, eine einheitlich syllogistische oder einheitlich vor-syllogistische Enthy-memtheorie zu erheben. Nach Solmsen ist so etwas nicht mglich, es gebenmlich zwei inkompatible Theorien des Enthymems in der Rhetorik: diesyllogistische und die topische. Der Grund fr diese Inkonsequenz ist der,dass verschiedene Teile der uns berlieferten Rhetorik zu ganz unterschiedli-chen Zeitpunkten entstanden sind: wesentliche Teile vor der Entwicklungder Syllogistik, andere Teile nach der Erfindung der Syllogistik. TopischeEnthymeme werden aus Topen gebildet, Protasen-Enthymeme setzen dieLogik der Syllogistik voraus; mit der Logik der Syllogistik ausgestattet, be-darf das Protasen-Enthymem jeweils nur noch eines Obersatzes, durch dases gebildet wird; Topen werden dadurch irrelevant. Daher nimmt Solmsen

    112 Grimaldi (1957, 192).-

    Vgl. zu dieser These im Kommentar die Anm. zu 1354al5 und dieAnm. (3.) zu 1356al-26. Zu der von Aristoteles tatschlich empfohlenen Trennung der dreiberzeugungsmittel vgl. die Anm. (1.1) und (1.2) zu 1418al2-17.

    113 Miller and Bee (1972, 211).114 Aristoteles, Organon, herausgegeben, bersetzt, mit Einleitung und Anmerkung versehen

    von H. G. Zekl, 3 Bde., Hamburg 1997-1998.

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  • 334 VIL Zum Stand der neueren Forschung(wie die Syllogistiker: siehe oben, Rubrik (iv.)) an, Aufgabe der Topen in I4-14 sei es lediglich, solche Oberstze bereitzustellen. Die syllogistischenProtasen-Enthymeme sieht Solmsen immer dann gegeben, wenn Aristotelesdavon spricht, Enthymeme wrden aus Wahrscheinlichem und aus Zeichengebildet. 115(x.) Die SB-(Solmsen/Burnyeat)These: Die beiden Textstcke, in denendie Behandlung der Zeichen-Enthymeme

    -

    unter anderem-

    enthalten sind(12, 1357a22-1358a2 und II 25, 1402bl3-1403al6), halten Solmsen116 undBurnyeat117 fr sptere Einschbe. Aus der gesamten Solmsen-These lsstsich daher genau der Teil als gesonderte These isolieren, der behauptet, dassmglicherweise die gesamte Enthymemtheorie des Aristoteles vor-syllogis-tisch ist, whrend nur die Behandlung der Zeichen-Enthymeme bzw. diePassagen, in denen diese Behandlung erfolgt, nach-syllogistisch sei.(xi.) Solmsens Erbe': Solmsens Entwicklungsthese wurde oft kritisiertund scheint heute von der Mehrzahl der Autoren abgelehnt zu werden,118der sachliche Kern seiner Enthymeminterpretation jedoch, der sich von derEntwicklungsthese trennen lsst, nmlich dass die Rhetorik einerseits Prota-sen- und andererseits Topen-Enthymeme kenne, hielt sich bei vielen Inter-preten. Vor allem populr-wissenschaftliche Darstellungen und Lexikon-Ar-tikel setzen die Zweiteilung der Enthymeme als Gemeingut voraus; vgl. etwadie Darstellung von Sieveke:

    die Enthymeme x tjicjv (sie stellen die Verbindung der Rhetorik zurTopik Aar und sind vielfach aus der Topik unter Herausarbeitung ihres vonder Rhetorik bedingten Praxisbezugs entlehnt) und die Enthymeme xjtQOToEcov (hier macht sich der Einfluss der Analytik auf die Rhetorik be-merkbar), also aus Prmissen, die nicht notwendig sind. Aristoteles selbstbehandelt die Protasen-Enthymeme in Rhet. I 4-14, whrend er die Topen-Enthymeme in Rhet. II 22-24 vorstellt. Die Protasen-Enthymeme erhaltenihre Beweiskraft aus der Reduktion der Enthymeme auf syllogistische Figu-ren, wobei auch der Charakter des Enthymems als eines unvollstndigenSchlusses zum Ausdruck kommt. Im Sinne der publikumswirksamen Pra-xisbezogenheit der Rhetorik liegt gerade in der Unvollstndigkeit ein Ele-ment der jtioTi (Glaubwrdigkeit) erzeugenden Wirksamkeit."119

    115 Fr weitere Details und Belege vgl. die Darstellung von Solmsens These oben, im selbenKapitel, Abs. 2.

    116 Vgl. Solmsen (1929, 13-27 und 27-31).117 Vgl. Burnyeat (1994, 31-38).

    -

    Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (3.2) zu 1357bl-15.118 Vgl. die Darstellung von Solmsens These oben, im selben Kapitel, Abs. 2.119 Sieveke (299, Endn. 5). Auch Kraus (1994) macht in seinem (gleichwohl sehr ntzlichen)

    Artikel in Historisches Wrterbuch der Rhetorik fr Aristoteles den Unterschied zwischenProtasen- und Topen-Enthymemen.

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  • 7. Die Topen 335(xii.) Verwechslung von Induktion und Deduktion bei Aristoteles: Eine

    radikale nicht-deduktivistische Interpretation vertritt Raphael120. Wie dieoben (in Rubrik (v.)) genannten nicht-deduktivistischen Interpreten, ist sieder Auffassung, dass die Enthymeme in der Regel keine Deduktionen seien,jedoch fhrt Raphael dies nicht auf Aristoteles' Einsicht in die Erfordernisseder Rhetorik zurck, sondern auf eine grundlegende Konfusion bei der Ver-wendung der Ausdrcke .Induktion' und .Deduktion'. Aristoteles' Fehlersei, dass er bei der Behandlung von Enthymemen berhaupt mit der Vorstel-lung von Deduktionen operiere, da Argumente aus Wahrscheinlichem undaus Zeichen nie deduktiv gltig seien:

    It follows that an enthymeme, i.e. a syllogism from probabilities and signs,is very rarely a deductive argument. An argument from probability (i.e. onewhich starts off from a generally true major premise) is never logically con-clusive, and an argument from signs is conclusive only if the sign is a neces-sary one."121

    7. Die TopenWas die Erforschung der Aristotelischen Topen angeht, so stammen dieimmer noch wichtigsten Arbeiten von Brunschwig und de Pater.122 ber diehierzu einschlgigen Ergebnisse und Kontroversen informiert der Kommen-tar.123 Allerdings bleiben hierbei die Topen der Rhetorik im Schatten desInteresses fr die Topik, was nicht zuletzt mit der heterogenen Natur derverschiedenen Topen in der Rhetorik zu tun haben mag. Einen ntzlichenberblick zu den rhetorischen Topen gibt Sprute124, wenngleich dessenAnalyse daran leidet, dass er von einer syllogistischen Hintergrundstheorieder Rhetorik ausgeht, durch die er Schwierigkeiten hat, allen Topen einenangemessenen Rahmen einzurumen.

    Hinsichtlich der Topen der Rhetorik im Besonderen finden sich in derLiteratur vor allem Diskussionen zur Unterscheidung der gemeinsamen undder spezifischen Topen. Whrend Solmsen die spezifischen Topen als Pr-missen verstanden hatte und daher einen Unterschied zwischen Topen- undPrmissenenthymemen annahm,125 sticht unter den blichen Einordnungs-

    '2 Vgl. Raphael (1974).121 Raphael (a.a.O., 160).i22 Vgl. Brunschwig (1967) und de Pater (1965) und (1968).123 Vgl. dazu im Kommentar die 2. Vorbemerkung zu Kap. I 4-14, Abs. 2.2.>24 Vgl. Sprute (1982, 147ff.).

  • 336 VIL Zum Stand der neueren ForschungVersuchungen die Auffassung hervor, spezifische und gemeinsame Topenmssten zur Bildung eines Enthymems zusammenwirken:

    In summary, then, we may say that whereas the speaker goes to the specialor general topics for his premises, he may call upon these lines of argu-ment" for his mode of reasoning. The premises and the line of argument se-lected will together constitute an enthymeme. If the enthymeme combinesthese elements in such a way as to constitute a ratio essendi, it is then anelxc; if it combines them in such a way as to constitute a ratio cognos-cendi, it is then an argument from sign, which may, as we have seen, appearin the first, second, or third figure of the syllogism."126

    Auch nach Grimaldi liefern die eigentmlichen Topen Material fr proposi-tionale Prmissen,127 ein Schluss ergibt sich aber erst, wenn auf dieses Mate-rial die gemeinsamen Topen angewandt werden, denn letztere stellen allge-meine Schlussformen dar (forms of inference", modes of reasoning"128).

    8. Die Rolle der EmotionenAristoteles benutzt die Emotionen in der Rhetorik, weil sie die Urteile mo-difizieren knnen. Dies scheint einigen Autoren aber ein zu schlichter Sinnzu sein, so dass sie sich nach anspruchsvolleren Aufgaben fr die Emotionenin der Rhetorik umsehen. Dabei werden bisweilen diejenigen Funktionender Emotionen herangezogen, die sie in anderen Disziplinen, wie der Trag-dientheorie oder der Ethik, spielen:

    Die Emotionen mssen fr die berzeugungsarbeit genau deswegen he-rangezogen werden, weil sie, wie Aristoteles sowohl in den Ethiken alsauch in der Rhetorik bemerkt, dem Prozess der Urteilsbildung wesentlichangehren ... Und insofern die Disposition und die Fhigkeit, solche Ur-teile zu bilden, konstitutive Teile der moralischen Tugend sind, hat guteRhetorik die Funktion, die Bildung und Ausbung von Tugenden zu befr-dern."129

    Einen hnlichen Weg schlgt z.B. Blettner130 ein, indem sie Grimaldis Dik-tum the very essence of the rhetorical art is constituted by an intimate fu-sion of the intellectual and appetitive elements in man" (1972, 24) einen ein-deutigen Sinn zu geben versucht. Sie setzt dazu bei der Aussage der Aristo-

    126 McBurney (1936; ND 1974, 127).127 Vgl. Grimaldi (1972, 124, 125 f.).128 Grimaldi (1972, 134 f.).'29 Johnstone (1980, 8 f.).130 Vgl. Blettner (1983).

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  • telischen Ethik an, der arationale Seelenteil msse dem rationalen gehorchenund werde vom rationalen Seelenteil irgendwie berzeugt/berredet. DieseBedingungen der tugendhaften Seele nimmt sie zum Ausgangspunkt fr fol-gende Argumentation: (i.) The repeated success of such persuasion entailsthe attainment of moral virtue; (ii.) for then the soul's desirous portion habi-tually hearkens to the portion possessing reasoning, so that by the power oflogos, both are harmoniously bound as one (NE 1102b25-28). (iii.) this har-mony may be wrought not only by the habitual cultivation of virtue, butalso by the art of rhetoric, when rightly conceived, (iv.) The Aristotelian ver-sion of this art seeks to engender such concord by the disparate nature of itsproofs (logos, ethos and pathos), whose own artful union corresponds to theharmonious unification of the soul."131 Whrend (i.) und (ii.) unproblemati-sche Beschreibungen des Prozesses der moralischen Habitualisierung dar-stellen, bleiben (iii.) und (iv.) unbegrndet, (iii.) widerspricht fast wrtlichder zentralen These von EN X 10, die Rede von einer artful union" der ver-schiedenen berzeugungsmittel in (iv.) bedient sich eines emphatischen Ein-heitsbegriffs, der sich in der Rhetorik mit Blick auf die berzeugungsmittelnirgendwo findet, und die Entsprechung zwischen der Einheit der berzeu-gungsmittel und der Harmonie der Seele bleibt schon deswegen eine hin-kende Konstruktion, weil nicht einmal die einzelnen Elemente in diesem an-genommenen Entsprechungsverhltnis einander zugeordnet werden kn-nen.

    131 Blettner (1983, 49f.); Untergliederung vom Verf.

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