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Freie Wohlfahrtspflege NRW Armen eine Stimme geben Gemeinsam für ein soziales Nordrhein-Westfalen „Hartz IV ist Armut.“ „Das Wichtigste für mich ist, dass ich keine Behörde brauche. Vor der hab ich immer Angst.“ „Als wir Hartz IV bekamen, mussten wir umziehen.“ „Das Jobcenter sagt, ich sei jetzt ausreichend qualifiziert. Dabei weiß doch jeder, dass man mit 60 wohl nichts mehr finden wird.“

Armen eine Stimme geben - Startseite · Vor der hab ich immer Angst.“ ... 2 5 Katrin Stenske (29) ... waren Sie hatte wohl das Erbe ihrer Mut-ter nicht mit ihrem Bruder geteilt

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Freie Wohlfahrtspfl ege NRW

Armen eine Stimme geben

Gemeinsam für ein soziales Nordrhein-Westfalen

„Hartz IV ist Armut.“

„Das Wichtigste für mich ist,

dass ich keine Behörde brauche.

Vor der hab ich immer Angst.“

„Als wir Hartz IV bekamen,

mussten wir umziehen.“

„Das Jobcenter sagt,

ich sei jetzt ausreichend qualifi ziert.

Dabei weiß doch jeder, dass man mit 60

wohl nichts mehr fi nden wird.“

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Inhalt

1 Armen eine Stimme geben����������������������������������������� 4

2 Lebensgeschichten ������������������������������������������������ 7

2�1 Michael Schöneberg (20)������������������������������������������� 7

2�2 Birgit Seidel (21)�������������������������������������������������� 11

2�3 Hanna Rosinski (42) ���������������������������������������������� 14

2�4 Oliver Küster (57) ������������������������������������������������ 18

2�5 Katrin Stenske (29) ����������������������������������������������� 21

2�6 Claudia Eichler (29) ����������������������������������������������� 24

2�7 Karina Petrowska (60) �������������������������������������������� 28

2�8 Kevin Ndur (20) �������������������������������������������������� 31

2�9 Marianne Hauser (Rentnerin) �������������������������������������� 34

2�10Saskia Jahn (33) ������������������������������������������������� 37

2�11Manja Weissler (28) ���������������������������������������������� 40

3 Und jetzt? Auseinandersetzung ist gefragt!������������������������������������ 44

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1 Armen eine Stimme geben

WeshalbbeschäftigtsichdieFreieWohl-fahrtspflege in Nordrhein-Westfalen miteinem Bundesgesetz und widmet die-semsogareineganzeBroschüre?Istdiesnicht Aufgabe der Spitzenverbände aufder Bundesebene oder den politischenVertreterninLandundBundvorbehalten?IstdennnichtmitderGrundsicherungdieArmutbekämpft?SokönntendieFragenan die Vertreter der Freien Wohlfahrts-pflegelauten�DieAntwortfindetsichinden Leitlinien der Arbeitsgemeinschaftder Spitzenverbände der Freien Wohl-fahrtspflege:

Lobby für sozial Benachteiligte„Die Arbeitgeber organisieren sich in Un-ternehmerverbänden, und die Interessen der Arbeitnehmer werden von den Ge-werkschaften vertreten. Aber welche Or-ganisation erhebt die Stimme für Arme, Kinder, Jugendliche, Familien, Langzeit-arbeitslose, junge Menschen ohne Arbeit oder Ausbildung, für Kranke, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige oder Flüchtlinge? Deren Stimme verstärkt die Freie Wohlfahrtspflege. Sie bietet in ihren Diensten nicht nur Beratung und Unter-stützung an, sondern vertritt auch sozial-anwaltschaftlich die Interessen benach-teiligter Menschen auf der lokalen Ebene und in der Landespolitik. Ziele sind dabei eine flächendeckende soziale Infrastruktur und gerechte Lebensverhältnisse für alle Menschen in NRW.

Seit dem 1. 1. 2005existiertdasneueSo-zialgesetzbuchII(landläufigalsHartzIVbekannt)�HintergrundhierfürwarendiesteigendenArbeitslosenzahlen,diedamitverbunde-nenhohenSozialkostenunddasZielderKostenreduzierungundderVerbesserungderVermittlung vonerwerbslosenMen-schenindenerstenArbeitsmarkt�EineunterPeterHartzeingesetzteKom-mission legte unter dem Titel: „Moder-ne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“13Modulevor,diezueinerVeränderungderSituationaufdemArbeitsmarktbei-tragen sollten� Umgesetzt wurden hier-von der Umbau der Bundesanstalt fürArbeitunddieZusammenlegungderAr-beitslosen-undSozialhilfe�„FordernundFördern“, „Hilfen aus einer Hand“ und„PauschalierungderLeistungenzumLe-bensunterhalt“ waren einige der Aussa-gen,dieeinpositivesBildüberdiedochsehr einschneidendenVeränderungen indenSozialleistungenvermittelnsollten�KritikvonWohlfahrts-undSozialverbän-den, Betroffenen und anderen AkteurenwurdeindenvergangenensechsJahrenimmer wieder eingebracht, aber nur zueinemsehrgeringenTeilaufgegriffen�

Mittlerweilegibtes37gesetzlicheVerän-derungenmitunzähligenArtikelverände-rungenzumSGBII,unddieszeigtauf,dassdie Grundsicherung für Arbeitsuchendevon Anfang an, schon allein handwerk-lich,einschlechtgemachtesGesetzist�

Vor Ort geschieht das auf vielfältige Art und Weise: durch Presse- und Öffentlich-keitsarbeit, durch eine enge Zusammen-arbeit mit den Ämtern von Kreisen und Kommunen, aber auch durch die Unter-stützung von Gruppen sozial Benachtei-ligter, die ihre Anliegen selber vertreten wollen. Auf Landesebene bringt die Freie Wohlfahrtspflege NRW in den Gesetzge-bungsverfahren die Interessen der Men-schen ein, die soziale oder gesundheit-liche Not leiden. In Fachtagungen und Aktionen weist sie auf vorbildliche Hilfe-möglichkeiten und auf soziale Problem-lagen hin. Sie erarbeitet eigene Vorschlä-ge zur Formulierung von Gesetzen und Konzepten. Sie entwickelt soziale Arbeit in konstruktiver Auseinandersetzung mit der Landesregierung und den politischen Parteien stetig weiter.“

VordiesemHintergrundbeschäftigtsichdieFreieWohlfahrtspflegemitdenkon-kretenAuswirkungenaufbetroffeneMen-schenundnimmtihreLobbyarbeiternst�MitdieserBroschürewilldieFreieWohl-fahrtspflegeNRW„ArmeneineStimme“geben–unddasmitNachdruck�Dieers-teBroschüredieserArt istbereits2007alseigenständigerBerichtsteilderFreienWohlfahrtspflegeindendamaligenSozi-alberichtdesLandesNRWeingeflossen�DerhiervorliegendeTextistaufdieglei-cheWeiseindenSozialbericht2012ein-gegangen�

1991erschieninNordrhein-Westfalendererste Landesbericht überdie sozialeSi-tuation von Menschen mit geringemEinkommen� Während es in den erstenJahrenBerichteüberZielgruppenwaren,wurde bei den letzten beiden Berichtender Lebenslagenansatz verfolgt und da-miteinebreiterePerspektivegeboten�Hierzu gehörte, im Sozialbericht NRW2007 erstmals auch anderen Akteurendie Gelegenheit zu geben, Sichtweisen,Problematiken und Lösungsvorschlägeeinzubringen�DieFreieWohlfahrtspflegeergriffdieseMöglichkeit, ineinemeige-nen Kapitel des LandessozialberichtesLobby fürarmeundausgegrenzteMen-schen zu sein und sich für veränderteRahmenbedingungen einzusetzen� Aus-gehendvonFallbeispielen,wurdeArmeneineStimmegegebenundwurdenderenvielfältigezubewältigendeProblemedar-gestellt�AufdieDarstellungvonZahlenwertenundTabellen aus eigenen Studien bzw� dieBewertungdervorliegendenDatenwur-debewusstverzichtet�SehrdeutlichwurdederZusammenhangzwischendenhandwerklichenFehlerndesSGBII,derUmstellungaufdieneueSozi-algesetzgebungunddersichhierausent-wickelndenArmutsfürsorgeaufgezeigt�DieFragedesEigenverschuldens,welchehäufigindenMedienundderPolitikauf-gegriffen wird und Menschen als sozialschwach oder selbst schuld abqualifi-ziert,wurdealsMärchenentlarvt�

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2 Lebensgeschichten

gemacht� Ich hab da einen guten Ein-druckhinterlassenundfreuemichaufdieAusbildung�Esgehtbergauf,sokannesweitergehen!“AusdemSGB-II-Bezug(SozialgesetzbuchII)möchteersobaldwiemöglich raus:„Ich will mein eigenes Geld verdienen�Aber im Moment hilft der Bezug mir, zu überleben. Das Geld ist sehr knapp, vor allem als Raucher. Mit einem Gang zur Suppenküche oder mal ’nem kos-tenlosen Essen reicht es gede so. Es

2.1 Michael Schöneberg (20)

Michael Schöneberg (20) hat seinenHauptschulabschluss mit einem Noten-durchschnitt von2,1absolviertund lebtinKölnineinemÜbergangshotel1� Erbe-ziehtseitSeptember2011Arbeitslosen-geldIIundhat374EurozurVerfügung�Der junge Mann startet bald eine Ein-stiegsqualifizierungundeineAusbildungalsSystemgastronombeiderDeutschenBahn,woerauchdiemittlereReifema-chenkann�„Ichhabmichbeworben,hat-te jaschonfrüherPraktikabeiderBahn

lichen Kontext� Wir verdeutlichen Miss-stände,Misserfolge,strukturelleSchwie-rigkeiten und Rahmenbedingungen undzeigen politische (Fehl-)Entscheidungenauf�AufdieerneuteDarstellungvonLösungs-ansätzenverzichtenwir,weilindenletz-ten Sozialberichten hierzu konkrete unddeutlicheVorschlägeundVerbesserungs-möglichkeiten aufgezeigt wurden, derenRealisierung größtenteils weiterhin an-steht�

Wirhoffen,dassdieaufgeführtenLebens-geschichten, diese Innenansichten vonBetroffenen, dazu anregen, mit uns ge-meinsamnachLösungenzusuchenundzueiner Veränderung der ausgrenzendenund scheinbar ausweglosen Situationenbeizutragen�DieLebensgeschichtensindanonymisiertbzw�NamenundOrtegeändertworden�

Ein ganz besonderer Dank gilt all jenenPersonen, die uns ihre Lebensgeschich-ten erzählt und damit diese Broschüreerstmöglichgemachthaben�

ArmutundsozialeAusgrenzungsindnichteinfachindividuellesVersagenoderdurchindividuelleHilfen,wiesiedieFreieWohl-fahrtspflegeanbietet,alleinzulösen,son-dern ein gesellschaftliches Phänomen,welchesdurchstrukturelleundgesetzli-cheRahmenbedingungenverschärftoderentschärftwerdenkann�Diese Broschüre enthält elf Lebensge-schichtenvonMenscheninNRW,dieinArmut lebenund/oder ausgegrenzt sindbzw� werden� Wie sich Menschen füh-len,dieSGB-II-Leistungenerhalten,wiesie sich im Kontext der SGB-II-Gesetz-gebung, im Geflecht von verschiedens-ten Behörden und anderen Institutionenerleben, sich durch die Anwendungs-praxis einzelner Sachbearbeiter/-innen,Fallmanager/-innen, Berater/-innen oderdurch andere konkrete Hilfen stigma-tisiert fühlen und wie sie ihr Leben vordiesemErfahrungshintergrundbewerten,könnenSieaufdenfolgendenSeitenle-sen�DieBeispielezeigenvielfältigeAusgren-zungserfahrungenaufundverdeutlichendie Bandbreite von Problemlagen undSelbstzweifeln betroffener junger Men-schen,AlleinerziehenderoderältererAr-beitsloser�

WirdokumentierendieLebensgeschich-ten der betroffenen Menschen in ihrenSelbstaussagen,kommentierenundver-deutlichenabschließenddas individuelleBildundbringenesindengesellschaft-

1Übergangshotel:DieserBegriffhatsichumgangssprachlicheingebürgert,obwohldamiteinegewerblicheUn-

terkunftgemeint ist�Notunterbringungsformen(Notunterkünfte,beschlagnahmteWohnungensowieHotelunter-

bringungen)sindalsvorübergehendeMaßnahmedurchdasOrdnungsbehördengesetzfürMenschengeregelt,die

überkeinenWohnraumverfügen�

Auszubildende mit Hauptschulabschluss

EinHauptschulabschlussmiteinemNotendurchschnittvon2,1hörtsichgutan,hataberinder

PraxislängstnichtsoeineBedeutungwieRealschul-oderAbiturabschlussnoten,daesHaupt-

schüler auch mit guten Abschlussnoten schwer haben, sich bei einem Überangebot von Be-

werbernandererSchulformenmitgleichenNotenzubehaupten�Dieszeigtauchdiefolgende

Übersicht:

DieAuszubildendenmitHauptschulabschlussbildenmit184815(33,0%)Meldungenbundes-

weitdiezweitstärksteGruppeunterdenAuszubildendenmitNeuabschluss�IhrAnteilistjedoch

imZeitverlaufeinerseitsdurchVeränderungenderSchulabgängerstrukturimZugederBildungs-

expansion,andererseitsaberauchdurchverschlechterteZugangschancenundberufsstrukturel-

leEntwicklungenstarkzurückgegangen(vgl�BIBB-Datenreport2009,KapitelA5�4;Uhly/Erbe

2007)�

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Schulden und Schule: Alles wuchs ihmschnellüberdenKopf� „Ichhab irgend-wanndieBriefeeinfachungeöffnetindieEcke geschmissen� Ich hab auch ver-sucht, Sozialhilfe zu beantragen, aber man wollte sie mir nicht bewilligen. Man schickte mich von einem Amt zum anderen, und ich wusste nicht, wo ich Hilfe herbekommen sollte. Ich war total verzweifelt. Man hätte mich da besser beraten müssen“,prangerteran�EinmalwurdeMichaelSchönebergvomJobcenterineineMaßnahmezumArbei-tenmitMetallundHolzvermittelt�„Eine handwerkliche Maßnahme bringt mir nichts, denn ich bin Grobmotoriker. Ich muss etwas mit Menschen machen. Als meine Leistungen nicht stimmten, stempelte man mich als Verweigerer ab, und ich wurde gesperrt.“ Schließ-lichverlierterdieWohnung,kommtspo-radisch bei Freunden unter� Bald landeteraberaufderStraße,lebtinHamburg,BerlinundKöln�„IchhabmichdamalsmitDrogenzugeballert�Ichwusstenichtwei-ter und hab lange in einer depressivenPhasegelebt� Irgendwannstand ich so-garaufderBrückeundwolltespringen�“

Michael Schöneberg entschied sich an-dersundgingfreiwilligindiePsychiatrie�„Der Klinikaufenthalt hat mir gutgetan,umzuschauen,wasichselbstbrauche�Ichnehmauch jetztnochMedikamenteund bin bei einem Therapeuten in Be-handlung�“AberdiePraxisgebührenund

ist schwer, die Freizeit gut auszufüllen,weilallesetwaskostet,auchdieMonats-karte�Wennetwaskaputtgeht,wie jetztmeinHandy,mussichmonatelangnochknausrigerleben,nurumeszuersetzen�Dasnervt�AberHauptsache,eswirdnichtwiedersoschlimm,wieeseinmalwar�“AlsMichaelSchöneberggerade18Jah-realtwar,verlorerseineMutter,derVa-ter war schon längere Zeit tot� Zu demZeitpunkt wohnte der Jugendliche inSchleswig-HolsteinundhattegeradedieBerufsfachschule Wirtschaft begonnen�DieSchulehaterabgebrochen:„DerTodmeinerMutteristschlimmgewesen�Vonheuteaufmorgenbistduganzalleinundkannstkeinenmehrfragen:Wiemachstdu das denn?“, erzählt er� „Ich konntenicht einmal das Geld für eine Beerdi-gung aufbringen� Das war hart, sterbenistteuer�EswardaseinzigeMal,dassichSchuldengemachthabe�“Daherstotterterheute4�000EuroBeerdigungskostenmitzehnEuroproMonatab�DanntratMichaelSchönebergdaskleineErbeseinerMutteran:500EuroaufdemKonto und etwas Goldschmuck� ZweiWochenspäterkamderersteBriefvomAnwalt:„MeineMutterhatte15�000Eu-roSchulden,dieaufmichübergegangenwaren�SiehattewohldasErbeihrerMut-ternichtmit ihremBrudergeteilt�DannkamPostvonderKrankenkasse,woauchnoch4�000Eurooffenwaren�Dasgingimmersoweiter,dashabichdochnichtgewusst�“ Anwälte, Behördenbesuche,

Zuzahlungen reißen ein großes Loch inseine Tasche� „Zwar muss ich im Be-zug nur bis 80 Euro selbst zahlen, aber trotzdem muss ich alles vorstrecken und bekomm es nur rückwirkend er-stattet.VielleichthabichGlückundwer-de als chronisch krank eingestuft, daswäreschonvielbesser�“NachKöln kamer,weil erhiergeborenist�AußerdemsolltedaderArbeitsmarktgut sein� Auch in Köln lebt er zunächstaufderStraße�Ererkundigtsich,womanHilfebekommtundstößtschnellaufdenB�O�J�E�-BusunddieOffroadKids2, de-renSozialarbeitersichumStraßenkinderkümmern� „Ich habe keine Sozialhilfe bekommen, weil ich mich nicht mehr zum Amt getraut habe. Ich hatte ja im-mer nur Ärger und Probleme und wuss-te nicht, was tun.“DieSozialarbeiterha-benihnunterstützt,wiederFußzufassenund Sozialhilfe zu beantragen� „Es hatgeklappt�Diehabenmirgesagt,wie ichetwasmachenkann�Ich kam mir trotz-dem auf manchen Ämtern sehr gegän-

gelt vor, weil ich Nachweise erbringen sollte, die ich nicht bekommen konn-te. Aber in den sozialen Einrichtungenhatmanmiralleserklärt�Damitkannichumgehen,dieSozialarbeiter leistensehrguteArbeit“,freutersichundfügthinzu:„Es ist schon erstaunlich, wie sehr et-was davon abhängt, welcher Sachbe-arbeiter dir gegenübersitzt. Oder wie schnell manches geht, wenn man mit dem Sozialgericht droht.“

Nachdem das mit dem Übergangshotelund der Ausbildungsstelle geklappt hat,sucht Michael Schöneberg eine festeBleibe�„WahrscheinlichbefasseichmichauchmiteinerPrivatinsolvenzwegenderSchulden�AuchwenndassehrvielZeitin Anspruch nimmt� Ich würde ja gernemal etwas sparen oder wieder mit demTauchenanfangen�Vielleichtwirdjaallesgut�MiristinletzterZeitsovielPositiveswiderfahren,daswarüberwältigend�“

2 B.O.J.E.=BeratungundOrientierungfürJugendlicheundjungeErwachseneisteinniedrigschwelligesKon-

takt-undBeratungsangebotfürjungeMenschenausdemBahnhofsmilieu;Off-Road-Kids=Hilfsorganisationfür

Straßenkinder,dieüberregional tätig ist�BeratungundHilfeaufderStraßestelltdaswesentlicheAngebotdes

Vereinsdar�

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2.2 Birgit Seidel (21)

Birgit Seidel (21) wohnt mit ihrer dreiJahrealtenTochterundihremLebensge-fährten in Moers� Sie hat weder Schul-abschlussnochAusbildungundbeziehtArbeitslosengeld II: 576 Euro für dreiPersonen sowie einen Mehrbedarf3 von50EuroimMonat,weilsieimdrittenMo-natschwangerist�DazukommenKinder-geldundUnterhaltfürdieersteTochter,diebereitsindenKindergartengeht�„MitdemGeldkommenwirgeradesohin�Im-mer am Anfang des Monats mache ichfür 150 Euro einenGroßeinkauf, da ha-benwirerstmalalles“,erläutertdiejungeFrau�„AufdieseWeisegebeichauchdasGeldnichtanderweitigaus�MeineToch-ter möchte doch immer etwas haben,unddaskaufe ich ihrsonst�DafürhabeichjetzteineSpardose,woimmeretwasreinkommt� Wenn am Monatsende keinGeldmehrda ist,plündernwirdie,undesgibteinkleinesGeschenk�“Die Wohnung der kleinen Familie liegtideal: „Ich bin schnell am Kindergarten,undauchÄrztegibteshier,fallsmalet-was ist�MeinBruder kommtabund zuund geht mit meiner Tochter auf denSpielplatz“,erzähltBirgitSeidel�Nachdem die Tochter geboren war, zog

die Jugendliche aus der Wohnung derMutter aus� „Als ich 18 wurde, bekamichgleicheineeigeneWohnunggestellt�Das war gut, ich hatte mehr FreiraumundkonntemitmeinerTochtermehrma-chen�“ Geld für die Erstausstattung derWohnung beantragte sie damals nicht,denn dort war eine Einbauküche vor-handen�„Ich dachte, mehr brauche ich nicht. Außerdem hab ich den Zuschuss nicht gewollt, weil ich glaubte, ich be-käme dann kein Hartz IV mehr“, sagtsie� „Die Erstausstattung für das zweiteBaby beantrage ich aber� Da helfen mirmeinFreundundmeineMutter�“

WennesumdieKommunikationmitdenBehörden geht, kommt die junge Fraualleinkaumzurecht�„Ich bin froh, dass mein Freund und meine Mutter mir beim Ausfüllen der Formulare helfen. Da stehen immer so komplizierte Sät-ze drin, das hochgestochene Deutsch versteh ich doch nicht.“ Den Umgangmit den Ämtern empfindet sie als sehranstrengend�„Dauernd muss man An-träge ausfüllen, auch wenn sich nichts geändert hat. Dann arbeiten die so langsam, dass die erste Rechnung

„Ich habe versucht, Sozialhilfe zu beantragen, aber man wollte sie mir nicht bewilligen. Man schickte mich von einem Amt zum an-deren, und ich wusste nicht, wo ich Hilfe herbekommen sollte. Ich war total verzweifelt. Man hätte mich da besser beraten müssen.“

„Eine handwerkliche Maßnahme bringt mir nichts, denn ich bin Grobmotoriker. Ich muss etwas mit Menschen machen. Als meine Leistungen nicht stimmten, stempelte man mich als Verweigerer ab, und ich wurde gesperrt.“

„Ich kam mir trotzdem auf manchen Ämtern sehr gegängelt vor, weil ich Nachweise erbringen sollte, die ich nicht bekommen konnte.“

3 Mehrbedarf:In§21SGBIIwerdendieMehrbedarfe,dienichtdurchdieRegelleistungenzurSicherungdes

Lebensunterhaltes nach §20SGB II abgedeckt sind, geregelt�Mehrbedarfe in unterschiedlicherHöhe können

beantragtwerdenvonSchwangeren,Alleinerziehenden,erwerbsfähigenBehindertenundvonMenschen,dieaus

medizinischenGründeneinerkostenaufwendigenErnährungbedürfen,sowiefürWarmwasserbereitung�

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Arbeit finden wird, weiß sie nicht� „IchseheChancen,aberesistsicherschwer�IchwürdegernMaleroderLackiererwer-den, aber auch putzen gehen� Wo ichmichbewerbensollte,weißichnicht�Ichdenkenicht,dassmirdasJobcenterdahelfenwürde�AberdasistinderZukunft,jetztbekommeicherstmalmeinzweitesBaby�Aufdasfreueichmichsehr�“

Ichfühlemichdabeiganzblöd“,erzähltdiejungeFrau�„Aberichmussdajahin,sonstbekomme icheineKürzung�Auchwennicheinen400-Euro-Jobhätte,be-kämeichfastallesabgezogen�DawilldieArge,dassmanarbeitet,undwennmandastut,wirdmandafürbestraft�Ichfindedasgemein�“WenndaszweiteKindausdem Gröbsten heraus ist, möchte diejunge Mutter richtig arbeiten� Ob sie je

sichallerdingsauchgutvorstellen�„Dannkönnte ich meiner Tochter mehr bieten�Vor allem das Förderspielzeug ist so teuer, aber sehr wichtig. Essensgeld aus dem Bildungspaket4 bekommen wir ja. Aber die Entwicklung des Kin-des könnte mehr gefördert werden. Ichmöchtedoch,dassmeineTochtereinmalmehrweißalsichundeineguteAusbil-dungmacht�“AlsJugendlichebesuchteBirgitSeideldieFörderschule:„Diehabeichabernichtabgeschlossen,weilichim-mersofrechundbösewar� Irgendwannhat mich der Schulleiter zu einem Jah-respraktikumalsMalerundLackierermit-genommen�Ichwusstenicht,dassichdameineAusbildunghättemachenkönnen�Dann wurde ich schwanger, habe nocheineandereSchuleversucht,aberalsdasKinddawar,wardasauchvorbei�“Jetzt befindet sie sich in einer hand-werklichenMaßnahmederJugendwerk-stattMonheim,wo sie jedenTag von8bis 14�30 Uhr malt oder Bilderrahmenzusammenbaut� Das macht ihr Spaß,aber:„Frühergabesda1,50Euro, jetztgibtesnichtmaleinTaschengelddafür�

vom Kindergarten kommt und es ist kein Geld da. Immer muss man dahin gehen, anrufen nützt ja nichts. Das ständige Um-Erlaubnis-Fragen und Betteln nervt.“ Zum Glück kommt ausdemprivaten sozialenNetzwerkweitereHilfe�Zuletzt inFormeinesgeschenktenGefrierschranks� „Endlich kann ich auchmaletwaseinfrieren,daserleichtertdenGroßeinkauf sehr� Und bald bekommenwireineSpülmaschine�Ich spüle immer in der Badewanne, denn die Spüle hat noch nie funktioniert. Mein Freund hat jetzt herausgefunden, dass sie nicht angeschlossen war.“AuchandereDingefindetdiejungeFraueherzufälligheraus�EtwadasssienichtbeijedemneuenArzt-besuch die Praxisgebühr zahlen muss�„DakannichmireineÜberweisungholenundsparedasGeld�MeinFrauenarzthatmirdasjetztersterzählt�“

Birgit Seidel wünscht sich eine Ausbil-dungundeinefesteArbeit�Siefindetesaber nicht schlimm, vom Jobcenter zuleben� Etwas unabhängiger zu sein undmehr Taschengeld zu haben, könne sie

4 Bildungs-undTeilhabepaket:ErgänzendzumRegelbedarfkönnenKinderundJugendlicheseitdem1�4�2011

LeistungenfürBildungundTeilhabebekommenbzw�beantragen�Geregeltistdiesim§28SGBII�DieLeistungen

betreffen:Klassenfahrten,Schul-undKitaausflüge,Schülerbeförderung,Lernförderung(invollerHöhe),Schulbe-

darf(100ejährlich),Mittagsverpflegung(Zuschussbei1eEigenanteil),monatlichesBudgetvon10efürMitglieds-

beiträgeoderUnterrichtinkünstlerischenFächern,fürsportlicheAktivitäten,FerienfreizeitenoderangeleiteteAkti-

vitätenderkulturellenBildung�DerzeitsindeinerseitsdiebürokratischenHürdenineinigenKommunensehrhoch,

andererseitssindvielfachdieLeistungenundModalitätendesBildungs-undTeilhabepaketsbeidenBetroffenen

nochunzureichendimBewusstsein�

„Ich bin froh, dass mein Freund und meine Mutter mir beim Aus-füllen der Formulare helfen. Da stehen immer so komplizierte Sätze drin, das hochgestochene Deutsch versteh ich doch nicht.“

„Dauernd muss man Anträge ausfüllen, auch wenn sich nichts geändert hat. Dann arbeiten die so langsam, dass die erste Rech-nung vom Kindergarten kommt und es ist kein Geld da. Immer muss man dahin gehen, anrufen nützt ja nichts. Das ständige Um-Erlaubnis-Fragen und Betteln nervt.“

„Vor allem das Förderspielzeug ist so teuer, aber sehr wichtig. Essensgeld aus dem Bildungspaket bekommen wir ja. Aber die Entwicklung des Kindes könnte mehr gefördert werden.“

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richtigkompliziert“,erzähltsie�„DasJob-centerfühltsichnichtfürmichzuständig,weilichnichtarbeitsfähigbin�DasSozi-alamtsagt,sieseiennurzuständig,wennich dauerhaft nicht arbeitsfähig bin� EinParadox,mankanneinfachnichtstun�“Irgendwann wurde die Räumungsklagefür das Haus eingeleitet� Die Bürokauf-frauhattezwarschonbeimWohnungs-amt einen Mietzuschuss beantragt� „DaabermeineMietefürdasHausüberderzulässigenGrenze liege, könnemanmirnichthelfen,hießes�Mehrnicht�“MitvielGlückhatte siedannendlich eineneue,bezahlbare Wohnung in Aussicht, aberkein Geld mehr für den Umzug� „Beim Wohnungsamt sagte man mir, für die Umzugshilfe sei mal das Sozialamt zuständig gewesen, das Amt gebe es aber jetzt nicht mehr. Ich müsse zum Jobcenter gehen, das sich ja auch nicht zuständig fühlte.“EineFehlinformation,wiesichspäterherausstellte,dasSozial-amt war nicht abgeschafft� Den UmzugindieneueWohnunghatHannaRosinskiirgendwie bewerkstelligt� „Wenigstens steigen meine Mietschulden nicht wei-ter, dafür habe ich mich mit dem Um-zug verschuldet“,kommentiertsieresi-gniert� Mittlerweile ist sie der Überzeu-gung, das Hinhalten und Rumschickenauf den Ämtern seien Taktik: „Ich bin gelernte Kauffrau, gebildet, freundlich und des Deutschen mächtig. Aber die-ser Bürokratieberg ist einfach nicht zu bewältigen. Die komplizierten Anträ-

mit dem Unterhalt bei meinem Mannläuft, weil er selbstständig ist� Wer solldasdennwissen,wennnichtdie?EsgabnirgendsHilfe�Wenn man nicht in die vorgefertigten Anträge passt, hat man verloren“, empört sich die Mutter� DasvorhandeneGeld reichtenichtweit�So-lange sie konnte, versuchte Hanna Ro-sinski, alle Rechnungen zu begleichen�„Aber irgendwann habe ich unser Geldeinfach zurückgehalten, damit wir we-nigstensEssenkaufenkonnten�“Dannhörtesieauchauf,Anträgeauszu-füllen�„Egalwas ich tat,eshalf jaallesnichts�“ Sie zog sich ins Haus zurück,schottetesichabundrutschteimmertie-ferineineDepression�„Es war ein elen-der Kreislauf. Jeder Behördengang war mit Schande verbunden, und immer bekam ich eins übergezogen. Ich ha-bedieseSituationeinfachnichtaufmichzukommensehen�Anwensollmansichdennwenden,wennallesagen,sieseiennichtzuständig?Den Alltag mit den Kin-dern konnte ich immer bewältigen, ich bin schlicht an den Ämtern geschei-tert. Da praktische Hilfe zu finden, war ein Ding der Unmöglichkeit.“

Medizinische Hilfe zu erhalten, war fürHannaRosinskidagegen relativeinfach:SiegingzumHausarzt,kamzumThera-peutenundNeurologen�WegenihrerDe-pressionwurdesievorübergehendnichtarbeitsfähig geschrieben und erhieltKrankengeld� „Das machte die Sache

türmten sich Schulden auf� „Der Unter-haltkam–wennüberhaupt–sehrunre-gelmäßig,alteForderungenmeinesMan-nestauchtenauf,GläubigerstandenbeiunsvorderTür,dasKontowurdegepfän-det�UnddieÄmtersagtennur:,Wirkön-nen nichts machen, Sie sind doch ver-heiratet�‘“AnfangshabesiealleAnträgenoch korrekt bedient und alle Anfragenbeantwortet,weil„ichdachte,dieSitua-tionistnunmalso,unddannbekommstduHilfe“�AbersiestießüberallaufPro-bleme: „Ich kam einfach nicht weiter�Mietzuschuss, Krankenkasse, Kinderbe-treuung,Unterhalt–manschicktemichvoneinemAmtzumanderen,undkeinerfühlte sich zuständig� Es wurde immerschlimmer,einrichtigerStrudel�“Siesaßvor Bergen von Anträgen, dazu kamenKorrespondenz mit dem Anwalt, Schei-dung, Unterhaltstitel, Finanzen� SiebenAktenordnerfülltesieinsechsMonaten�

Unter anderem beantragte die MutterGeld für die Kinderbetreuung und Un-terhaltsvorschuss� Allein beim Jugend-amthabesievierverschiedeneSachbe-arbeiter�Dassdiesichnichtuntereinan-deraustauschten,müssemanauchersteinmal lernen�„Diesind teilweiseselbstüberfordert� Man sagte mir, wenn ich nicht jede Woche anrufe, vergesse man mich vor lauter Fällen.Dannwie-derum wusste man dort nicht, wie das

2.3 Hanna Rosinski (42)

Hanna Rosinski (42) hat zwei Kinder,die neun und zwölf Jahre alt sind� DieMutterbezogArbeitslosengeldIundbe-kommt nun aufgrund ihrer DepressionKrankengeld�SielebtgetrenntvonihremMann,dieScheidungläuftnoch�Diege-lernte Bürokauffrau und Fachwirtin fürOnline-Marketing hat gerade mit ihrenKindern eine neue Wohnung bezogen�Zuvorwohntesienoch indemehemalsgemeinsamenHauszurMiete, „die ich irgendwann nicht mehr zahlen konnte. Ich musste Schulden machen, denn ich bin da einfach nicht weggekommen. Man gab mir keine andere Wohnung. Als Arbeitslose mit zwei Kindern ist man aufgeschmissen“,sagtsie�

IhrAlptraumfingvorzweiJahrenmitderTrennungan�„17Jahrewarenwirverhei-ratet�MeinMannistmitseinemBetriebimGartenbauselbstständig,unddamalshatteichnochArbeit�WirtrafeneineArtUnterhaltsvereinbarung, sodass ich dasHaushaltenkonnte“,erzähltdie42-Jäh-rige�EinJahrliefalleseinigermaßengut�Dann fusionierte das Unternehmen, indemsiearbeitete,ihreStellewurdeweg-rationalisiert, und sie bekamALG I�DerKampfmitdenÄmternundumdenLe-bensunterhalt begann: „Ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm wird. Das ALG I reichte für die Miete nicht.“DieerhaltemannurimALG-II-Bezug,undes

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rizont� „Durch die Maßnahme kommeichlangsamaufeinengrünenZweig�DieWohnungwareingroßerSchritt,auchdahatmeineBetreuerinmirsehrgeholfen�Ich fühlemichendlichbesser,undviel-leichtkannichmichbaldauchwiederumeineneueArbeitkümmern�“

Dienstaufsichtsbeschwerde hilft� Plötz-lich konnte ich mein Pfändungsschutz-konto7 problemlos einrichten� Früher war ich ein positiv denkender Mensch mit Gottvertrauen. Das ist mir völlig abhandengekommen, ich hab nur den Kopf eingezogen und auf den nächs-ten Schlag gewartet.“ Nun sieht die42-JährigeendlichwiederLichtamHo-

gewusst,ichhätteauchdieHilfebezahltundsofortinAnspruchgenommen�Die-seMaßnahmemussbekannterwerden“,ist die Mutter begeistert� Jetzt kommteinmalproWoche für1,5StundeneineBetreuerin des Arbeiter-Samariter-Bun-deszuihrundunterstütztsieimUmgangmitÄmtern,BankenoderbeidenFinan-zen�„DiehabenjaganzandereMöglich-keiten,eingroßesNetzwerkundbessereKenntnisse� Es gibt eine Schuldnerbe-ratung� Die wissen, wann und wie eine

ge und die langen Bearbeitungszeiten, damit wollen die Behörden einen nur loswerden und hoffen, dass man sich stattdessen an Freunde und Familie wendet. Das ist für die natürlich einfa-cher und billiger, aber das kann doch nicht angehen.“5

WasHannaRosinskiletztlichhalf,warihreNeurologin,diesieinsbetreuteWohnen6vermittelte�„DaswareinSegenundun-glaublichentlastend�Hätteichdasfrüher „Man sagte mir, wenn ich nicht jede Woche anrufe, vergesse man

mich vor lauter Fällen.“

„Wenn man nicht in die vorgefertigten Anträge passt, hat man verloren.“

„Es war ein elender Kreislauf. Jeder Behördengang war mit Schande verbunden, und immer bekam ich eins übergezogen.“

5 §1SGBIIAufgabeundZielderGrundsicherungfürArbeitsuchende:

(1)DieGrundsicherungfürArbeitsuchendesollesLeistungsberechtigtenermöglichen,einLebenzuführen,dasder

WürdedesMenschenentspricht�

(2)DieGrundsicherungfürArbeitsuchendesolldieEigenverantwortungvonerwerbsfähigenLeistungsberechtig-

tenundPersonen,diemitihnenineinerBedarfsgemeinschaftleben,stärkenunddazubeitragen,dasssieihren

LebensunterhaltunabhängigvonderGrundsicherungauseigenenMittelnundKräftenbestreitenkönnen�Siesoll

erwerbsfähigeLeistungsberechtigtebeiderAufnahmeoderBeibehaltungeinerErwerbstätigkeitunterstützenund

denLebensunterhaltsichern,soweitsieihnnichtaufandereWeisebestreitenkönnen�DieGleichstellungvonMän-

nernundFrauenistalsdurchgängigesPrinzipzuverfolgen�DieLeistungenderGrundsicherungsindinsbesondere

daraufauszurichten,dass

1�durcheineErwerbstätigkeitHilfebedürftigkeitvermiedenoderbeseitigt,dieDauerderHilfebedürftigkeitverkürzt

oderderUmfangderHilfebedürftigkeitverringertwird,

2�dieErwerbsfähigkeiteinerleistungsberechtigtenPersonerhalten,verbessertoderwiederhergestelltwird�

6 BetreutesWohnen:Wohnformen,indenenMenschenjenachLebenssituationspezifischeundindividuelleUn-

terstützungfinden�BetreutesWohnengibtesfürpsychischkranke,wohnungslose,suchtkrankeundbehinderte

MenschenallerAltersgruppen�

7 Pfändungsschutzkonto:DasPfändungsschutzkontosichertdiematerielleExistenzdesKontoinhabersunddes-

senunterhaltsrechtlicherAngehörigerdurcheinenpfändungsfreienGrundbetraginHöhevon1028,89e(füreine

Einzelperson)�DerSchuldnerwirdsoindieLageversetzt,lebensnotwendigeZahlungenweiterhinabzuwickeln,und

eskommtzukeinerKontosperrung�

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rer�“AuchseiseineWohnungnicht iso-liert,abererspareganzeinfachHeizkos-ten: „Man muss sich nur dick genug anziehen, dann friert man auch nicht.“

Ansonsten beschäftigt er sich mit derKunst:malen,Objektebasteln,Surrealis-mus�„DiemeistenSachensucheichmirausdemMüllundbastledarauskreativeObjekte�WennichmitderKunstbeschäf-tigtbin,dannistdieWeltummichganzstill�DieZeitgehtschnellvorbei“,erzähltOliver Küster� „Das ist ein gutes GefühlundberuhigtdieNerven�Ichmussdannnichtsovielnachdenken�“Etwadarüber,dassdie Banken einfach so mit Milliar-den gerettet werden. „Aber wenn der kleine Hartz-IV-Empfänger zehn Euro mehr bekommen soll, ist das ein Rie-sendrama. Das versteh ich nicht.Manmuss den Mund aufmachen und sichwehren� Alles wird doch immer teurer,undwirkönnenesnichtmehrzahlen�AmbestensolltederBezugzumindestderIn-flationsrateangepasstwerden,dasreichtmirschon�“9

SeineFreizeitverbringtOliverKüstervielan der frischen Luft, mit Fahrradfahren,amBadesee,LesenodereinwenigFern-sehen�„Halt mir allem, was kein Geld kostet. Ich bin nicht anspruchsvoll, man muss sich nur zu beschäftigen wissen. Ich habe sogar einen Compu-ter und kann damit umgehen. Aber der Internetanschluss, der ist mir zu teuer. Obwohl ich ja schon gern mal surfen würde, vielleicht findet man ja dort ei-nen Job.“Ein weiterer Wunsch wäre ein 125er-Roller� „Deswegen mach ich auch den1,50-Euro-Job� Dann wäre ich wiedermobil,dasfehltmir�IchkönntenochmalansMeerfahren,dakommeichher�Undmeinen Bruder in Papenburg besuchen,derwürdesichfreuen�EinAutoistmirzuteuer,abereinenRollerkannichbezahlenundauchselbstreparieren�“Außerdemwürdeder57-Jährigeirgend-wanngernineineandereWohnungzie-henimErdgeschoss�„SeitzwanzigJah-renwohneichineinemAltbauunterdemDachauf60Quadratmetern�DawirddasTreppensteigensicherdemnächstschwe-

ben seine Hoffnungen� Schon damalswolltendieUnternehmenihnnichtmehreinstellen:„Wasmansichdamanchmalanhören muss, ist eine Frechheit� ManwirdvomJobcentergezwungen,sichir-gendwovorzustellen,unddannheißtesda: ‚Mit Ihnen rede ich nicht�‘ Als älte-rer Mensch hört man in Unternehmen: ‚So was brauchen wir nicht.‘BeidenensolltedasJobcentermalSanktionen8er-heben,dadürftemankeineLeutemehrhinschicken“,ärgertsichder57-Jährige�„Das ist diskriminierend, und man fühlt sich wie der letzte Mensch.“Einerich-tigeArbeithätteOliverKüstergernewie-der,aber„dieVermittlungsvorschläge,dieich bekomme, sind meist Mist� Ich habjetztArthroseimBein,dakannichnichtmehr alles machen� Das hab ich denengesagt, und nun soll ich mich als Bau-helfer im Osten vorstellen� Ich hab das Gefühl, dass ich im Jobcenter nicht für voll genommen werde. Da wird man nur verwaltet und muss schauen, was man selbst draus macht.“

2.4 Oliver Küster (57)

Oliver Küster (57) istalleinstehendundkinderlos� Der gelernte Zweirad-Mecha-niker erhält seit 2002 ArbeitslosengeldII, von dem ihm nach Abzug aller Kos-ten 320 Euro zum Leben bleiben� „Dasist nicht üppig, aber ich bin froh, dass es den Sozialstaat gibt. Ich muss nicht hungern, hab ein Dach über dem Kopf und muss nicht kriminell werden.“Umsichetwasdazuzuverdienen,haterinei-ner Zweirad-Werkstatt einen 1,50-Euro-Job angenommen� Zwanzig Stunden inder Woche ist er dort beschäftigt: „Ichwollte wieder arbeiten und die neuenTechniken kennenlernen� Nur zu HausevormFernseherverblödetmandoch�IchmachdieArbeitgern,undmanistzufrie-denmitmir“,erzählter�„Nach den sechs Monaten dort möchte ich aber lieber als 400-Euro-Kraft und nicht nur für 1,50 Euro weiterarbeiten. Sonst wird die Arbeit doch nicht wertgeschätzt.“

SeitzehnJahrenbewirbtsichOliverKüs-terumeineneueFestanstellung�DieEr-fahrungen, die er dabei sammelte, trü-

8 Sanktionen:DadasSGBIInachderDevisedes„FördernundFordern“angelegtist,enthältesdementsprechend

auchRegelungen,wenneszu„Pflichtverletzungen“kommt,die inderPraxiszuvielfältigenKonsequenzenund

„Sanktionen“fürdieBetroffenen(insbesonderefürjungeMenschenunter25Jahren)führen�Anlässehierfürsind

z�B�MeldeversäumnisseoderdieÜbernahmevonzumutbarerArbeit�Geregeltistdiesinden§§31,31a,31b,32

desSGBII�Sokannz�B�eineKürzungdesRegelsatzesum10Prozenterfolgen,wennderLeistungsberechtigtesich

nichtbeiderDienststelledesAmtespersönlichmeldet,einenärztlichenUntersuchungsterminnichtwahrnimmt

oderanderenAufforderungennichtnachkommt��

9 AnpassungderRegelsätzeandieInflationsrate:Seitdem1�1�2011wirdim§28aSGBXIIgeregelt,dasseine

AnpassungderRegelsätzeandie„bundesdurchschnittlicheEntwicklungderPreisefürregelbedarfsrelevanteGüter

undDienstleistungensowiediebundesdurchschnittlicheEntwicklungderNettolöhneund-gehälter�“(Gesetzestext

§28aSGBXII)erfolgenmuss�

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aus sparen. Egal wohin ich schaue, ei-gentlich ist es so, dass ich das ganze Jahr damit beschäftigt bin, dem Geld hinterherzulaufen“,stelltdieMutterer-nüchtertfest�

Seit ihr Sohn in die Schule gekommenist, wird es mit dem Geld noch enger�„Das Bildungspaket reicht für die Ein-schulung nicht, da muss ein Tornister her, Bücher, spezielle Stifte sind vor-geschrieben. Da mache ich mir schon Gedanken, wie das weitergehen soll.“KatrinStenskewünschtsichbeimThemaBildung auch eine bessere InformationundmehrUnterstützungvomAmt,denn„dassmandasBildungspaketextrabean-tragenmussoderwelcheFristengelten,hatmirkeinergesagt�DaskamallesausdemBekanntenkreis�Irgendwiefühleichmichdasehralleingelassen�“SiebrauchejakeinAuto, siewollenurgutauskom-men�Eigentlichsollejaallessoberechnetsein,dassesgeradefürdasNötigsteaus-reicht�„Abernichteinmaldafürreichtes,und sobald etwas Unvorhergesehenespassiert,kipptalles�Hartz IV ist Armut. Der berechnete Bedarf reicht bei Wei-tem nicht, da leiden die Kinder drun-ter. Der Staat achtet zu wenig auf die Kinder und deren Bedürfnisse. Die Po-litiker sollten mal überprüfen, wie sie ihre Statistiken aufstellen. Da läuft et-was falsch.“

2.5 Katrin Stenske (29)Katrin Stenske (29) ist alleinerziehen-de Mutter und wohnt mit ihrem sechs-jährigenSohninDortmund�SiehatdenHauptschulabschluss und eine Berufs-ausbildungalsVerkäuferinimEinzelhan-del�SeitGeburt ihresSohnes2005be-ziehtsieHartzIV�Damalsliefihrbefriste-terArbeitsvertragaus,eineVerlängerunggabesnicht�„SobinichalsAlleinerzie-hende10gleichindasArbeitslosengeldIIgerutscht“,erzähltsie�DerleiblicheVaterzahlekeinenUnterhalt,dasGeld reiche vorneundhintennicht�„Etwa am Ende des Monats krank zu werden, ist ganz schlecht. Da überlege ich mir zweimal, ob ich zum Arzt gehe und Geld für Medikamente aufbringen kann.EigentlichsolltendieKrankenkas-sen das Hausarztprogramm wieder ein-führen,darüberhabeichoftwenigstensdieQuartalsgebührgespart�“Auch einen Sportvereinsplatz für denSohnkannsienichtbezahlen�ZumSpiel-platzgehensieoft,aber inderweiterenFreizeitgestaltungistermeistdaraufan-gewiesen,dassdieElternseinerFreundeihnmitnehmen�EsseiauchnichtimmerausreichendGeldda,umeinmalimJahrdieGroßelterninSachsen-Anhaltzube-suchen� „Wennwir dannmal dort sind,isteswierichtigerUrlaub�Aber meinem Kind so wenig bieten zu können, belas-tet mich schon sehr. Für ein Geschenk etwa muss ich ein halbes Jahr im Vor-

„Ich hab das Gefühl, dass ich im Jobcenter nicht für voll genom-men werde. Da wird man nur verwaltet und muss schauen, was man selbst draus macht.“

„Ich habe sogar einen Computer und kann damit umgehen. Aber der Internetanschluss, der ist mir zu teuer. Obwohl ich ja schon gern mal surfen würde, vielleicht findet man ja dort einen Job.“

„Als älterer Mensch hört man in Unternehmen: ‚So was brauchen wir nicht.‘ Das ist diskriminierend und man fühlt sich wie der letz-te Mensch.“

10 Alleinerziehende:DerFamilienreport2011(S�27–28)schildertdieSituationvonAlleinerziehendenwiefolgt:

„InDeutschlandistjedefünfteFamiliealleinerziehend�DahierjedochnurstatischzueinemZeitpunktaufdieaktu-

elleFamiliensituationgeschautwird,istdietatsächlicheZahlderMütterundVäter,dieinnerhalbihresLebensmin-

destenseinmalalleinerziehendsind,deutlichhöher�IneineraktuellenStudiewirddeutlich,dassAlleinerziehende

dieseFamilienformalsProzessundalsPhaseempfinden–mitoffenemAusgang�83ProzentderAlleinerziehenden

wünschensicheinePartnerschaft,undnurwenigeFrauensehenindieserFamilienformihrenLebensentwurfver-

wirklicht�AlleinerziehendebefindensichzudeminvielenFällenineinerFamilienphase,derandereFamilienformen

vorausgegangensind�SowarenfastzweiDrittelderAlleinerziehendenvorherverheiratet�Alleinerziehendenistes

wichtig,sozialeNetzwerkezupflegenundimAlltagaufmehrereAkteurezurückgreifenzukönnen(Freundinnen

bzw�Freunde,Nachbarinnenbzw�Nachbarn,Arbeitgeber,auchdieälterenKinder)�DiesgelingtFraueninländlichen

Regionendeutlichschwerer,dasiesichhinsichtlichvonsozialenVorurteilenundMobilitätbenachteiligtsehen�

ZudemhateinDritteleinefestePartnerschaft,wennauchkeinengemeinsamenHaushalt,undfürmehralsdrei

ViertelderAlleinerziehendengehörteineglücklichePartnerschaftzudenpersönlichwichtigenDingenimLeben�

EtwasmehralszweiDrittelderalleinerziehendenFrauenmitKindernunter18Jahrensinderwerbstätig,dassind

dreiProzentmehralsunterdenMütternausPaarfamilien�DieErwerbstätigkeitvonalleinerziehendenFrauenhängt

allerdingssehrstarkvomAlterderKinderab�“

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sitzen“� Sie macht für zwanzig Stundeneinen 1,50-Euro-Job� „Ich helfe im Al-tenwohnheimamEmpfang,beimTelefonoderbeiderPost�EsmachtzwarSpaß,aber man fühlt sich schon ausgenutztund fragt sich: Wozu habe ich eigent-lich eine Ausbildung gemacht? Aber esistbesseralsnichts,undeinkleinwenigGeldmehrhatmanauch�“DiejungeFrauistfroh,maleinenEinblickineineandereBerufsrichtung zu bekommen, denn alsVerkäuferin könne sie nichtmehr arbei-ten�„DasinddieArbeitszeitenganzun-praktisch� Ich kanndochnichtmorgensum sechs einfachmeinKind sitzen las-sen�“EineUmschulungzubekommen,istabernichteinfach,dennmitihrerAusbil-dungfindesiedochimmereinenJob,ar-gumentiertdasJobcenter�InfünfJahrenkannsichKatrinStenskevorstellen,wie-der Vollzeit zu arbeiten� Da sei ihr Kindaltgenug,auchmalamNachmittagalleinzubleiben�IhrWunsch:„Ichhoffe,dassdann alles besser wird und es wiederbergaufgeht�“

Was Katrin Stenske besonders ärgert,ist, dass es auch kein Geld für einenSchreibtisch gibt oder das JobcenterkeineNotwendigkeitfüreinenUmzugineinegrößereWohnungsieht�DieMutterundihrSohnbewohnenunterdemDach45 Quadratmeter: 2,5 Zimmer mit vie-len Schrägen� Kosten: 600 Euro warm�„Die Arge sagt, Hausaufgaben könne der Junge auch am Küchentisch ma-chen. Dass wir eine offene Wohnkü-che ohne Tür haben, fällt nicht ins Ge-wicht. Da hat er keine Ruhe, und ich kann in der Zeit nichts machen, ohne ihn zu stören.“AußerdemseidieWoh-nungineinemschlechtenZustand�„DieFenster sindundicht,wir habenDeckendavor,weilessokaltist�DieHeizkostensindenormhoch,eineIsolierunggibteswahrscheinlichnicht�AberdasseiSachedesVermietersundauchkeinGrundfüreinen Umzug, denn alles liege noch imRahmen“,istdieMutterempört�11

ImmerhinhatKatrinStenskegeradeAr-beit,und„ichmussnichtbloßzuHause

11 §22SGBII–KostenderUnterkunftundHeizung:

KostenderUnterkunftundHeizung:ZentralerInhaltdes§22SGBIIistdie„Angemessenheit“derKostenfürUn-

terkunftundHeizung�BeiderAuslegungdiesesBegriffsgibtesimmerwiederAbgrenzungsprobleme,dasichdie

AngemessenheitandenFamilienverhältnissen,demAlter,demGesundheitszustandderFamilienangehörigensowie

demWohnortauszurichtenhat�HierzumüssendieMiethöhe(imVerhältniszumörtlichenMietniveau),dieWoh-

nungsgrößeunddieMöglichkeit,einebilligereWohnunginderRegionzufinden,berücksichtigtwerden�

Umumziehenzukönnen,bedarfesderGenehmigungdesJobcenters�

„Egal wohin ich schaue, eigentlich ist es so, dass ich das ganze Jahr damit beschäftigt bin, dem Geld hinterherzulaufen.“

„Hartz IV ist Armut.“

„Der Staat achtet zu wenig auf die Kinder und deren Bedürfnisse.“

„Die Arge sagt, Hausaufgaben könne der Junge auch am Küchen-tisch machen. Dass wir eine offene Wohnküche ohne Tür haben, fällt nicht ins Gewicht. Da hat er keine Ruhe, und ich kann in der Zeit nichts machen, ohne ihn zu stören.“

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belastendfüruns�Als Spezialbetonher-steller hat er sich ein Jahr kaputtgear-beitet und so wenig verdient, dass wir dann doch zur Arge mussten.“13Seitsie imHartz-IV-Bezugist,mussdiejungeFamilieSchuldenmachen� „Es isteingroßerUnterschied,obmanzweiGe-hälterhatodervonHartzIVlebt�Wirha-benerstallesversuchtundkonntendochirgendwanndieRaten,etwafürdenKau-tionskredit,nichtzahlen�Am Anfang war es richtig peinlich. Mittlerweile ist es mir egal, ich kann es momentan ein-fach nicht ändern. Als Nächstes geheichzurSchuldnerberatung�“

DochnichtimmerwardasGeldsoknapp�Bevor Claudia Eichler das erste Malschwanger wurde, hatte sie ein Pferd,ein Auto, und das Paar richtete sich ei-neWohnungineinergutenGegendein�„JederhatteeinenJob,wirhattengenugGeld� ZumGlückhabenwir damals allewichtigen Elektrogeräte gekauft, davonprofitierenwir jetzt�“Dannkamdieers-teElternzeit,daszweiteWunschkind,dasElterngeld fiel weg� Zur Überbrückunggab es Wohngeld, und irgendwann lief

gen,aberdaswillichnicht�DasgibtnurmehrÄrger“,erklärtsie�„DahersucheichmirjetzteinenneuenArbeitsplatzalsVer-käuferin�Leidermussichdafürmeinunbe-fristetesArbeitsverhältnisaufgeben�AberzweiJahreohneGeld,dasgehteinfachnicht�“ Damit sie Vollzeit arbeiten kann,habendieElterneinenRollentauschver-einbart�ThomasEichlerwirdsolangezuHausebleiben,bisManuelindenKinder-gartengeht�DannwillerimZweifelaucheinen gering bezahlten Job annehmen�Claudia Eichler betont� „Jedes bisschenGeld zählt� Als Verkäuferin verdiene ichmehralsThomasineinemZeitarbeitsver-hältnis�AußerdemsindmeineArbeitszei-tenbesser�“IhrMannhat eineAusbildungalsAnla-genmechaniker und Versorgungstech-niker, wurde aber nicht übernommen�MangelsArbeitserfahrungfanderkeinenJob,weshalberinderZeitarbeitalsStap-lerfahreranfing�„ÜberzweiJahrehatersechs Tage die Woche Nachtschichtenübernommen, nur um etwas mehr Geldzubekommen�Eshatsichwederfinan-ziellgelohnt,nochhatmanihnübernom-men� Das war für ihn frustrierend und

nimmtdieArge�Dass es dafür ein Ex-tra-Paket gibt, das man zusätzlich be-antragen muss, wurde mir nie gesagt“, ärgert sich die Mutter. „Ich habe zu-fällig in einer Reportage im Fernsehen vom Bildungspaket gehört und sofort am nächsten Tag bei der Arge nach-gefragt, ob wir das auch bekommen.DaswardannvielOrganisationundGe-laufe,aberletztlichhatesgeklappt�“ProTagmüsstedieFamilienocheinenEuroselbstzahlen,„zumGlückübernimmtdasdieKirche�DaswareingroßzügigesAn-gebotvomDiakon,dersichauchmalumneueSchuheoderWeihnachtsgeschen-ke kümmert�“ Über die tatkräftige Un-terstützungistClaudiaEichlerfroh:„Mit konkreten Hilfen ist die Kirche besser als die Arge. Da weiß ich, dass mir im Notfall wenigstens unkompliziert und schnell geholfen wird.DasgibtmireinGefühlvonSicherheit�“

DiejungeFraumöchtegernewiederar-beiten,ummehrGeldzurVerfügungzuhaben� Aber ihr derzeitiger Arbeitgebergeht davon aus, dass sie zwei weitereJahreinElternzeitbleibt,obwohlsienureinJahrbeantragthat� „Ichkönntekla-

2.6 Claudia Eichler (29)

Claudia Eichler(29)istgelernteBäckerei-fachverkäuferin und wohnt mit ihremMannundzweiKindern ineinemHoch-haus�WährendTochterMia(4)bereitsindenKindergartengeht, istSohnManuel(1)nochzuHause�DerVaterThomasfin-det seit eineinhalb Jahren keine Arbeit�ClaudiaEichlerbefindetsichnochinun-bezahlterElternzeit�

DasEinkommenderFamiliebeläuftsichauf650EuroausdemSGBIIplus344Eu-roKindergeld�Davonmusssiemonatlich260EuroStromkostenzahlen,diehaupt-sächlichfürdiealteNachtspeicherheizunganfallen� „Als wir Hartz IV bekamen, mussten wir umziehen. Freiwillig wür- de ich nie mehr in eine Wohnung mit Nachtspeicherheizung ziehen: Die Stromkosten sind einfach zu hoch.“12 Dazukomme,dassschnell150EurofürWindeln, Tücher und Milch weg seien�„WennGeldkommt,gehenwirimmerzu-erstfürdenKleineneinkaufen�Wirmüs-sen irgendwiehinkommen�Wir rechnenviel,undmangewöhntsichdran“,erzähltClaudiaEichler�FürMiazahltdieFamilieEssensgeld imKindergarten� „Einen Teil davon über-

12 StromkostensindmiteinemAnteilvon8ProzentindenRegelbedarfenzurSicherungdesLebensunterhaltes

nachdemSGBIIinHöhevonca�29efüreinealleinstehendePersonenthalten�FüreineFamiliemitzweiErwach-

senenundzweiKindernimAltervonsechsbis13Jahrenmachtdies96eaus�

DieÜbernahmevonStromkostenfürNachtspeicherheizungenistimRahmenderHeizungskostengewährleistet�

13 WorkingPooroderAufstocker:DamitwerdenPersonenbezeichnet,derenEinkommendurchArbeitslosengeldII

aufdasNiveauderGrundsicherungfürArbeitsuchendeaufgestocktwird,weildaszuberücksichtigendeEinkom-

menunterhalbdieserLeistungenliegt�AufgestocktwerdenkannjedeArtvonEinkommen�EskannsichumArbeits-

einkommenauseinemBeschäftigungsverhältnis,umEinkünfteausselbstständigerTätigkeitoderumSozialleistun-

gen(Arbeitslosengeld,Krankengeld,Verletztengeld,Übergangsgeld,RentewegenteilweiserErwerbsminderung)

handeln�

BetroffenwarenhiervonimJuni20101,4MillionenMenscheninDeutschland�

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„Als wir Hartz IV bekamen, mussten wir umziehen. Freiwillig würde ich nie mehr in eine Wohnung mit Nachtspeicherheizung ziehen: Die Stromkosten sind einfach zu hoch.“

„Als Spezialbetonhersteller hat er sich ein Jahr kaputtgearbeitet und so wenig verdient, dass wir dann doch zur Arge mussten.“

„Nach dem Umzug mussten wir einen Lebensmittelgutschein be-antragen, weil das Geld in diesem Monat nicht reichte. Es wird dir im nächsten Monat wieder vom Bezug abgezogen, aber es war dringend nötig. Da stehst du dann mit dem knallroten Schein für 50 Euro an der Kasse, musst den Perso vorzeigen, und alle schau-en dich an – wie peinlich.“

schlimmsten an unserer Situation ist, dass man überall ausgebremst wird, vom Amt, vom Vermieter, vom Arbeit-geber. Wir kämpfen, aber man kommt einfach nicht vorwärts. Ich sehe kaum eine Chance.“ Man komme gerade sohin,passiereabermaletwasUngeplan-tes, dann sei es vorbei� Das ist für dieFamilie sehr anstrengend� „Manchmal weint mein Mann, weil er einfach nicht mehr kann. Das ist für mich besonders belastend. Wenn Mia dann noch fragt, was mit ihrem Papa los ist, weiß ich auch nicht mehr weiter.“AnNeuanschaffungen(beimUmzugzer-brach die Rückenlehne des Sofas) istnichtzudenken�Alsarmempfindensiesich trotzdem nicht: „Mein Mann be-sitzt momentan eine Jeans und eine Jogginghose, wir waren lange nicht mehr für uns einkaufen. Da sparen wir lieber für Essen und die Kinder. Armut ist, wenn man an den Kindern spa-ren muss und sie nicht ernähren kann�Reichtum ist, wenn meine Kinder glücklich sind.“ Noch haben die ElternHoffnung,dassalleswiederbesserwird– in zehn Jahren vielleicht� „Für meine Kinder wünsche ich mir jedenfalls eine gute Ausbildung. Und dass sie lernen, dass man arbeiten gehen muss – und es auch kann.“

ThomasEichlersletzterZeitarbeitsvertragaus�ErbekameinJahrArbeitslosengeldI,dann Hartz IV� „Wir mussten umziehen,und mit dem geringen Spielraum, deneinem die Arge bei der Miete lässt, istmansehreingeschränkt�Es ist unmög-lich, eine geeignete Wohnung in einem vernünftigen Viertel zu finden. Gab es eine, lehnte der Vermieter ab, weil wir im Hartz-IV-Bezug sind. Es ärgert mich, wenn man alle Hartz-IV-Empfänger in die gleiche Schublade steckt.“ JetztwohntdieFamilieimErdgeschosseinesalten Hochhauses� „Wie könnt ihr bloßhierhinziehen?“,fragtendieFreundesiedamals�„WirhabennochGlück,eskönn-te schlimmer sein, immerhin haben wirZugang zum Garten� Die Busanbindungistauchgut,esgibtGeschäfteundKin-derspielplätze“, betont Claudia Eichler�Der Umzug wurde schließlich zu teuer,und die Tafel nahm keine Neuzugängemehr an�„Nach dem Umzug mussten wir einen Lebensmittelgutschein bean-tragen, weil das Geld in diesem Monat nicht reichte. Es wird dir im nächsten Monat wieder vom Bezug abgezogen, aber es war dringend nötig. Da stehst du dann mit dem knallroten Schein für 50 Euro an der Kasse, musst den Per-so vorzeigen, und alle schauen dich an – wie peinlich.Dasgingeauchanders“,empörtsiesich�

DieMutterhofft,dassesmiteinerneuenArbeitsstelle wieder bergauf geht� „Am

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Ordnung,undwirkamengutmiteinanderaus� Die Idee des 1-Euro-Jobs ärgert mich allerdings sehr, denn ich kam mir damit richtiggehend ausgenutzt vor. Trotzdem gehe ich lieber dermaßen ge-ring entlohnt arbeiten, als langweilig zuHausezusitzen�“SieempfindetdieMaß-nahmefürsichauchdeswegennichtalserfolgreich,weiltrotzguterArbeitimAn-schlussnichteinmalGeld füreinweitergehendes, befristetes Arbeitsverhältnisvorhandenwar�

2009 schließlich fand Karina Petrowskaeine andere geförderte Stelle als „Hilfs-kraftfürLaden,BistroundVerkauf“�Sie

vornhereinvermiedenunddenMenschenbessergeholfenwerden�“

IhreArbeitssuchegestaltetsichnichtein-fach� Sie bewarb sich lange auf StellenausderZeitungoderdemInternet,diesiesich selbst zusammensuchte� „Egal woichmichbewarb, es gab–wennüber-haupt–nurAbsagen�AlsmirdasJob-centerirgendwannsagte,ichmüssejetzteinen1-Euro-Job14machen,habeichmirauchdieseStelleselbstorganisiert�“EinhalbesJahrarbeitetediestudierteInge-nieurinineinemSozialbüro,arbeitetemitPowerPoint,war imKundenkontaktundtatalles,wassoanfiel�„DerJobwar in

14 1-Euro-Job:FragenundAntwortenzumThemaArbeitsgelegenheitenmitMehraufwandsentschädigung(vgl�

www�arbeitsagentur�de):

„Was ist eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung?

EshandeltsichumeinesozialversicherungsfreieBeschäftigungbeieinemgeeignetenTräger�Dieauszuführenden

Arbeitenmüssenzusätzlich,imöffentlichenInteresseundwettbewerbsneutralsein�

Was wird gezahlt?

WährendderTeilnahmeerhältderTeilnehmeralsZuschusszumArbeitslosengeldIIeineAufwandsentschädigung,

zumBeispieleinenEuroproStunde�

DieKranken-undPflegeversicherungdesTeilnehmersistimRahmenderWeiterzahlungderGrundsicherungfür

Arbeitsuchendegewährleistet�DieUnfallversicherunghatderTrägersicherzustellen�

Besteht ein Anspruch auf eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung?

Nein:AufdieLeistungenbestehtkeinRechtsanspruch�Siedürfennurgewährtwerden,soweitHaushaltsmittelzur

Verfügungstehen�

Wo wird eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung beantragt?

DieLeistungensindvorBeginnderMaßnahmebeimJobcenterzubeantragen�

Wer informiert zu den Förderungsvoraussetzungen?

ÜberdieFörderungsvoraussetzungeninformiertdasJobcenter�ÜberdieFördervoraussetzungensowieIhreRechte

undPflichteninformiertSieIhrFallmanageroderpersönlicherAnsprechpartnerIhresJobcenters�

RechtsgrundlageistdasSozialgesetzbuchZweitesBuch–SGBII–§16dSatz2�“

so,dassessiewenigkostet�ImSommertrifft sie gern Freunde im Park oder amSee,ansonstenliestsieBücherodersiehteinen Film im Fernsehen� Darüber hin-ausistsieehrenamtlichtätig:„Umfitzubleiben,leiteicheineGymnastikgruppefürältereMenschen�DasmachtmirFreude,bringtmichunterLeute,undichbleibeak-tiv,wasmirsehrwichtigist�“Einesaller-dingsfehltder60-Jährigen:„Ich wünsch-te, ich könnte wieder eine bezahlte Ar-beit finden, um mehr Freude am Leben zu bekommen und nicht einfach so Geld vom Staat zu erhalten.“

Während Karina Petrowska eine neueStellesucht,engagiertsiesichweitereh-renamtlich: In einem Verein unterstütztsie russischstämmige Menschen dabei,AnträgefürÄmterauszufüllenoderBrie-fe zu verstehen� Sie weiß, wie schwerder Umgang mit Ämtern und Formblät-ternseinkann�AlssienachDeutschlandkam, halfen ihrer Familie Freunde undVerwandte, wofür sie sehr dankbar ist�„Nunkann ichmeinWissennutzenundbegleiteauchmaljemandenalsDolmet-scherinzumAmt�DieFormulareunddiespezielle Ämtersprache verstehen vielenicht, da geht leicht etwas schief�“ Da-herwünschtsiesicheinenDolmetschervorOrt,InformationenaufRussischoderinanderenSprachen�Sieistsichsicher:„SokönntenvieleMissverständnissevon

2.7 Karina Petrowska (60)

Karina PetrowskastammtausderUkra-ineundwohntmit ihremMann inOlpe�SiekamenvorelfJahrennachDeutsch-land, damit ihre Tochter in einem freienLand leben kann� Die heute 60-Jährigehat inderUkraine langeals Ingenieuringearbeitet� Sie schloss ein Studium anderFakultätfürMathematikundMecha-nikabundlernteanderUniversitätauchDeutsch�SeitihrerAnkunftEnde2000inDeutschlandsuchtsieArbeitundlebtvonArbeitslosengeld(ALG)II�

MitihrerLebenssituationistsiedennochweitestgehend zufrieden: „Mehr Geldist zwar immer schön, aber insgesamtkommen wir zurecht� Ich finde zu vielAnspruchsdenkennicht gut� Esmuss janichtdasneuesteHandysein,undmankann einen Computer auch gebrauchtkaufen�IchselbstachteimmeraufRabat-teundSonderangebote,besonderswennichfrischesEsseneinkaufe�Bio-Lebens-mittel kann ich mir leider nicht leisten,obwohldiesicherbesserfürdieGesund-heitwären“, erzähltdieArbeitsuchende�Sie fühlt sich trotz ALG-II-Bezugs nichtarm, denn „ichhabe eineWohnung, zuessenundbinnichtschäbigangezogen�Wir legenvonunseremGeldetwasbei-seite,fallseinElektrogerätkaputtgeht�Ab und zu gehen wir in die Philharmonie, es reicht dann für die billigen Stehplät-ze.“IhreFreizeitgestaltetdieaktiveFrau

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Vater,zogvonzuHauseausundineinebetreuteWohngemeinschaft�Erversuch-te den Realschulabschluss, brach denaberwegenzuvielerFehlstundenab�

HeutebereutKevindas: „Daswarblöd,ich hatte schon eineinhalb Jahre undhätte nicht mehr viel gebraucht� Gute Bildung bedeutet bessere Aussichten auf einen Job. Das ist sehr wichtig für mich, denn ich möchte von meinem ei-genen Lohn leben. Es ist peinlich, im-mer Geld vom Staat zu bekommen.“

Kevin Ndur ist in einer Maßnahme derArbeitsagentur in Kooperation mit demJugendausbildungszentrum(JAZ)16unter-gekommen:Bei„JobAct“werdenJugend-licheineinerschwierigenAusgangsposi-tionmitdenMittelndesTheatersaufdenArbeitsmarkt vorbereitet� „Das Theater-spielengibtmirSelbstbewusstsein,undichkommeausmirraus�Daskannichbei

2.8 Kevin Ndur (20)

Kevin Ndur (20) stammt gebürtig ausGambia� Er kam vor acht Jahren nachDeutschland, um bei seinem Vater zuwohnen, der seit zwanzig Jahren hierlebt�Der jungeMann erhoffte sich einebessere Ausbildung als in Gambia unddamit auch bessere Chancen auf einenArbeitsplatz� Er spricht Deutsch undEnglisch sowie drei der sieben in Gam-biagängigenSprachen�„Damitkannichhier leidernichtsanfangen,dasbrauchtkeiner“,sagterenttäuscht�Seinendeut-schen Hauptschulabschluss hat KevinNdur so gut gemeistert, dass er direktimAnschlussvonzweiBetriebeneinAn-gebotfüreinenAusbildungsplatzerhielt�DochdieAusbildungalsGas-/Wasserin-stallateurbracherab,ebensodieStellealsMaler: „Mirgefieldaseinfachnicht�AuchinderSchulewaresrichtigdoof�“DerJugendlicheging für sechsMonatezuseinerMutternachGambia�ZurückinDeutschland,zerstrittersichmitseinem

16 Jugendausbildungszentrum:DasJugendausbildungszentrum(JAZ)befindetsichinTrägerschaftdesörtlichen

CaritasverbandesundbietetvielfältigeHilfenan�„EsgibteineVielzahlunterschiedlicherProbleme,diedersozialen

undberuflichenIntegrationjugendlicherunderwachsenerMenschenimWegestehenkönnen�Umdieserbreitge-

fächertenSituationadäquatzubegegnen,bietetdasJAZeinsehrdetailliertesAngebots-Spektrum�

Diesreichtvonberufsvorbereitenden,ausbildendenundqualifizierendenMaßnahmenüberBeratungsangeboteund

WohnhilfenzurVerselbstständigungbishinzuProjektenimBereichderFlüchtlingshilfeundMöglichkeitenzum

nachträglichenErwerbeinesHauptschulabschlusses“(http://www�jaz-muenster�de/Angebote-Massnahmen)�

drin:EsfehltauchdortdasGeld,umsiealsvolleKraftanzustellen; jetztprofitiertdieNachfolgerinvonderFörderung�Sieselbst muss sich wieder auf neue Jobsbewerben, denn „das Jobcenter sagt, ich sei jetzt ausreichend qualifiziert, um auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dabei weiß doch da jeder, dass man mit 60 wohl nichts mehr fin-den wird. Es ist traurig, aber in meinem Alter sehe ich trotz der Ingenieursqua-lifikation keine Perspektive für mich auf dem Arbeitsmarkt.“15 Dennochsuchtsieweiter,wennauchohnegroßeHoffnung�„Diese Bewerbungen zu sch-reiben, empfinde ich als eher sinnlose Arbeit.Besserwärees,wennLeuteüber60sichnichtmehrzwingendbewerbenmüsstenunddafür imGegenzugauf ir-gendwelche Fördermaßnahmen verzich-ten�“

arbeitete in einer von Bürgern gegrün-deten Genossenschaft, die gebrauchteKleidung und Haushaltwaren zu fairenPreisenverkauft�DieseverfolgtauchdasZiel, Langzeitarbeitslosen eine sinnvolleBeschäftigungzubieten�„Ichwargernedort�Hilfskraftistallerdingsuntertrieben,dennichhabevonderWarenannahmefürden Secondhandladen, der Warenaus-zeichnungbishinzurKassenabrechnungundMonatsbuchhaltungallesgemacht�“Die vom Jobcenter geförderte Arbeits-zeitreichtefürdieanfallendeArbeitnichtaus,weshalbdieArbeitsuchendeehren-amtlichaufzwanzigStundeninderWo-cheaufstockte� ImSeptember2011 liefdie auf zwei Jahre befristete FörderungbeiderGenossenschaftdannaus�ImAn-schlusskonnteKarinaPetrowskaimmer-hinnochvierMonatealsgeringfügigBe-schäftigteweiterarbeiten�Mehrwarnicht

15 TrotzallergutenAbsichtenistesnichtgelungen,dieZahlderälterenArbeitslosenindenvergangenenJahren

signifikantzusenken,imGegenteil:ImMai2010waren28,7ProzentallerJobsuchenden50oderälter,2009waren

es26,9Prozent,2005:25,2Prozent�VondenälterenArbeitslosensuchtjederFünftemehralszweiJahrenachei-

nerneuenBeschäftigung(Quelle:Focusonline1�6�2010)�ImJuni2011waren40ProzentderLangzeitarbeitslosen

älterals50Jahre�

„Das Jobcenter sagt, ich sei jetzt ausreichend qualifiziert, um auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dabei weiß doch da je-der, dass man mit 60 wohl nichts mehr finden wird. Es ist traurig, aber in meinem Alter sehe ich trotz der Ingenieursqualifikation keine Perspektive für mich auf dem Arbeitsmarkt.“

„Diese Bewerbungen zu schreiben, empfinde ich als eher sinnlose Arbeit.“

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bleibtmirnichtsübrig,ichmussoptimis-tisch indieZukunft sehen, sonst klapptesnicht�“

ke, vielleicht bald ohne Wohnung zu sein, macht mir Angst. Ich kann mir nicht vorstellen, was dann kommt.Es

„Gute Bildung ist wichtig, denn sie bedeutet bessere Aussichten auf einen Job.“

„Den Beitrag von 60 Euro für ein halbes Jahr im Fußballverein kann ich mir nicht mehr leisten. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne Sport zu leben. Das ist mein Ausgleich gegen die Sorgen, und ich mache mir oft Gedanken, was ich besser machen kann.“

„Der Gedanke, vielleicht bald ohne Wohnung zu sein, macht mir Angst. Ich kann mir nicht vorstellen, was dann kommt.“

17 Das Spektrum der Hilfen sollte

immer alle Lebenslagenbereiche des

jeweiligen Menschen (siehe Schau-

bild) berücksichtigen, um Defizite in

einzelnen Bereichen auszugleichen

und eine generelle gesellschaftliche

Teilhabezuermöglichen�

Arbeit

Gesellschaftl.

Teilhabe

(Aus-)Bildung

Wohnen

Einkommen

Vermögen

Gesundheit

Mensch

garnichtsoeinfach,etwaszufinden�DieStudenten sind eine große Konkurrenz�IchhabeschonvieleWohnungengese-hen, aber es hat nie geklappt� Warum,weißichnicht�Inmanchewollteichauchnicht ziehen, da waren stinkige Löcherdabei�“ZweiMonatebleibenKevinnoch,biserdieÜbergangswohnungverlassenmuss�„Jetztbinichaufmichalleingestellt�Daist keiner mehr wie in der WG, der mirhelfenkann�Dasstrengtan�“EtwasUn-terstützung bei der Geldeinteilung undder Wohnungssuche bekommt er vonderDiakonieunddemJAZ�DasGeldistknapp, denn vom ALG II muss er auchSchulden zurückzahlen� Immerhin kanner90EuroimMonatzurücklegen,aber:„Den Beitrag von 60 Euro für ein hal-bes Jahr im Fußballverein kann ich mir nicht mehr leisten.Ichvermissees,Fußball ist das, was ich immer machenwollte� Ich möchte bald wieder in einerMannschaftspielen“,sagtKevin�Abundzu geht er bei einem Freund, der einenSandsack besitzt, ein wenig kickboxen�„Ichkannmirnichtvorstellen,ohneSportzu leben�Das istmeinAusgleichgegendie Sorgen, und ich mache mir oft Ge-danken,wasichbessermachenkann�“17

SollteKevinnicht rechtzeitig eineWoh-nungfinden,könnteerfüreinigeZeitbeiFreunden unterkommen� Wohl ist demjungen Mann dabei nicht, auch wegenderfehlendenPrivatsphäre�„Der Gedan-

Vorstellungsgesprächen gut brauchen“,erzähltderjungeArbeitsuchende�Einmalin der Woche haben die JugendlichenZeit, imBüronachJobs zu suchenundBewerbungenzuschreiben�Sieerhaltenaußerdem ein Bewerbungstraining undstellen mit den Betreuern eine Mappezusammen� „Jetzt würde ich jeden Jobannehmen,derkommt“,bekräftigtKevin�„AmliebstenimRohrleitungsbau,dashatmich voll angesprochen� Ich habe auchschon nach Bäcker- oder Malerstellengesucht� Es ist sehr schwer, vielleichtweilmeinHauptschulabschlussschonsolange her ist�“ Um bessere Chancen zuhaben,bewirbtKevin sich zusätzlich fürPraktika�„Dakannichmichbeweisenundhoffe,übernommenzuwerden�Ich weiß nicht, ob es klappt, aber mein Traum ist, dass ich in fünf Jahren so richtig als Festangestellter arbeiten kann.“

Die Sorgen um einen Ausbildungsplatzüberschneiden sich mit denen um eineWohnung�„OhneAusbildunggabeskei-nePerspektivefürmichinderbetreutenWohngemeinschaft� Ich musste auszie-hen�“KevinNdurwohntderzeitineinemkleinenVorort�ZwanzigMinutenbrauchtderBusbisinsZentrum�EinZimmer,Kü-cheundBadsindseinReich�„Es istsoruhighier,ichwürdegernlängerbleiben�Aberdas ist leidernureineÜbergangs-wohnungfürsechsMonate“,erzähltKe-vin� Daher sucht er neben einer Ausbil-dungsstelleaucheineneueBleibe�„Esist

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DamöchtemannichtzurLastfallen�“Da-herliestsieviel,löstKreuzworträtselundschautFernsehen�„Abererstab17�30Uhr,meistkommtehnichtsInteressantes�FürdiePolitikinteressiereichmichauchnichtmehr�Daärgere ichmichnur“,sagtdieRentnerin� „Es wird hier immer mehr wie in Amerika, das ist nicht gut. Für die Jugend tun die Politiker ja schon etwas, aber für die Älteren machen sie zu wenig. Das ganze Geld, was verpul-vert wird, könnte man viel besser nut-zen.“DasAlleinseinfälltMarianneHauserdannbesondersschwer,wennsiedocheinmalkrankwird�„IchnehmejaimmerTablet-tengegenBluthochdruckundwelchefürdenMagen�Ichweißnichtsogenau,wasdie alle machen� Ich dachte, es kommtvondenen,dassmir immer so komischist, und da ich habe die Tabletten nichtmehr genommen� Mir wurde schwinde-lig,undichmusstebrechen,esgingmirrichtig schlecht� Meine Nichte kommtfreitags immer, die hat gleichdenDok-torgerufen�IchbininsKrankenhausge-kommen,unddaistalleswiederneuein-gestelltworden�“Danachhabesiedannsehr starken Durchfall bekommen� MitleiserStimmeundunterTränensagtsie:

mitdemGeld,undsokommeichschonhin�Kleiderkaufe ichkeine,diehab ichnochgenug�Unddasbisschen,wasichesse–50 Euro habe ich zum Einkau-fen. 19 Ich koche mir Kohlrabi und Kar-toffeln, Linseneintopf oder Milchsup-pe, das reicht schon. Manchmal, wieanWeihnachten,leisteichmireinStückEntenbrust mit Rotkohl und Klößen da-zu�Ganzwiefrüher�“Früherseisiealler-dingsnochvielinsTheatergegangenundgernmitihremMannverreist�MiteinemStrahlenimGesichterzähltsie:„Wirwa-renimmerdreiWocheninÖsterreichundauchanderSee,aufHelgolandoder inHusum�Ach,ichwürdejasehrgernnochmalandieSeefahren�“Abermanmüs-sejaimmersovielmitnehmenund:„Mitwemsollichdennverreisen?Ichvermis-semeinenMannsehr�DahatmanimmerUnterhaltung gehabt, das habe ich nunnichtmehr�“

Manchmal telefoniert sie mit der Fami-lie,ihrerSchwester,CousineoderNichte�BesuchemitdemBussindzuumständ-lich,einTaxiistaufgrundderEntfernungzu teuer� „Früher waren wir viel zusam-men�AberdiehabenjaaucheineeigeneFamilieundProblemeundandereszutun�

19 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) Artikel 25.1:

„JederhatdasRechtaufeinenLebensstandard,derseineundseinerFamilieGesundheitundWohleinschließlich

Nahrung,Kleidung,Wohnung,ärztlicheVersorgungundnotwendigesozialeLeistungengewährleistet,sowiedas

RechtaufSicherheitimFallevonArbeitslosigkeit,Krankheit,InvaliditätoderVerwitwung,imAltersowiebeiander-

weitigemVerlustseinerUnterhaltsmitteldurchunverschuldeteUmstände�“

doch sehr nach den Ausgaben gucken, das ist keine leichte Aufgabe.“ Alleindie Beerdigung habe sie 6�000 Eurogekostet, dann ging die Waschmaschi-ne kaputt� „Das war alles teuer� Anderekönnen das bei der Fürsorge beantra-gen,ichabernicht�Ichwarnochniebeider Fürsorge�Das Wichtigste für mich ist, dass ich keine Behörde brauche, vor der hab ich immer Angst. Die fra-gen mich ja doch nur, warum ich nicht mehr gearbeitet habe und warum ich nicht genug für die Rente vorgesorgt habe.Nein,dasmöchteichnicht,ichge-henichtbetteln�“18

Wenn doch einmal Schriftverkehr, etwamit dem Stromversorger, anfällt, unter-stütztsieeinNeffe�MarianneHauseristfroh,dassihrMannfürsievorgesorgthatundsichauchumihrenSchwerbehinder-tenausweis (Schwerhörigkeit, Sehhilfen)gekümmerthat� „Undwenneshartaufhartkommt,habe ichaucheinePflege-stufe�Bestimmt“, ist sie fest überzeugt�Aber beantragt hat sie bislang nichts,denn:„Ichhabenochetwasaufderho-henKante� IchbrauchekeineHilfen, ichmache alles allein, bin immer sparsam

Marianne Hauser, seit einigen JahrenRentnerin,istverwitwetundwohntalleinzur Miete� Die gebürtige Gelsenkirche-nerinhatkeineKinder�Ihre52-Quadrat-meter-WohnungliegtzentralimParterre�Alle notwendigen Geschäfte sind in derNähe, das Stadtzentrum erreicht sie inzehnMinutenzuFuß�DieRentneringehtselbsteinkaufenundmachtdenHaushaltnochallein� IhrMann,densie langege-pflegthat,istvorvierJahrenverstorben�

MarianneHauserlebthauptsächlichvonderRenteihresMannessowievoneinereigenen kleinen Rente� „Mit 14 bin ichdamalsausderSchulegekommen,dannwarKrieg�EinenBerufgabesnicht, ichhabeÖfenundGulaschkanonengemacht,und später haben sie mich an großeMaschinen gestellt� Insgesamt habe ichvielleicht fünf bis sechs Jahre gearbei-tet,dannhabeichgeheiratetundmuss-te nicht mehr arbeiten� Mein Mann hatgenug verdient�“ Von der Rente bleibenihr nach Abzug von Miete und Strom450EurozumLeben�„Dasistnichtviel�Aber ich komm schon zurecht“, erzähltsie und ergänzt: „Na ja, ein Hunderter mehr wäre mir schon lieber. Man muss

2.9 Marianne Hauser (Rentnerin)

18 Bei den Rentenzugängen2010indenaltenBundesländernbeliefensichdieRentenauf857EurobeiMännern

undauf479EurobeiFrauen(aus:StatistikderDeutschenRentenversicherung,AktuelleDaten2011)�

Umdieaktuelle„Männerdurchschnittsrente“zuerhalten,musseinePerson45JahrelangfüreinenStundenlohn

vonmindestens9Euroarbeiten(aus:BetriebsinformationderCDA,März2009)�

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ren, ich hätte gern mehr Farbe und Ge-mütlichkeit hier drin“,erzähltdieFrau�„Es sollte dafür wieder die Darlehen vom Amt geben, das wäre hilfreich.“Saskia Jahn bezieht SGB-II-Leistungen,hat im Monat 335 Euro zur Verfügungund wird seit 2009 von einer Rechtli-chenBetreuerin20unterstützt�Siebesitzteinen Sonderschulabschluss, wechseltewegenKonzentrationsstörungenvonderHauptschulezueinerSchulefürLernbe-hinderte� „Danach habe ich zuerst eineLehre als Köchin begonnen, die mussteichaberwegenAllergienabbrechen�DasBerufskolleg,woichNäherinlernte,habeichwegenMobbingundeinerSchwan-gerschaftnichtbeendet�MeinKindhabeichverloren“,erzähltsie�DreiKinderbe-

2.10 Saskia Jahn (33)

Saskia Jahn (33) lebt in Bielefeld� Ihre48 Quadratmeter große Wohnung liegtruhig, hat eine Schlafecke sowie einWohnzimmer,daseherspartanischein-gerichtet ist: Es gibt ein mehrfarbigesSofa mit Couchtisch und Sessel, einenwackeligenSchrank,vondemdasFurnierabblättert,daraufstehteinalterRöhren-fernseher,dernichtmehrganzfunktions-tüchtigist�TageslichtflutetdasZimmer,wasdievomVormieterverwohntenWän-deumsomehrindenVordergrundrückt�Auf dem Boden liegt Linoleum, einengemütlichen Teppich gibt es nicht� „ImSommer 2011 bin ich hier eingezogen,meineBeziehunggingdamalsindieBrü-che�HiersolleinNeuanfangsein�Aller-dings habe ich kein Geld zum Renovie-

20 DasBetreuungsgerichtbestellteinenRechtlichen Betreuer,wenneinvolljährigerMenschmiteinergeistigen,

seelischenoderkörperlichenBehinderungodermiteinerpsychischenErkrankungseinerechtlichenAngelegenhei-

tenaufgrundderBehinderungteilweiseoderganznichtmehrselbstregelnkann(§1896ff�BGB–Betreuungs-

gesetz)�BeiderBestellungeinesgeeignetenBetreuersmussdasGerichtdenWünschendesBetroffenenfolgen�

VorrangigsolleinehrenamtlicherBetreuerausdempersönlichenoderfamiliärenUmfeldbestelltwerden�Wirdhier

keingeeigneterBetreuergefunden,wirdeinBerufsbetreuerbestellt�DieRechtlicheBetreuungumfasstausschließ-

lichnurdiejenigenAufgabenkreise,indenenderBetroffeneinderDurchsetzungseinerAnsprücheUnterstützung

benötigt�DiessindbeispielsweisedieGesundheitssorge,dieVermögenssorgeoderauchBehörden-oderWoh-

nungsangelegenheitenu�v�m�DieRechtlicheBetreuungumfasstausdrücklichnichtdenAuftragzurErziehungdes

Betreutenunddientnichtdazu,gesellschaftlicheWertmaßstäbegegendenWillendesBetroffenendurchzusetzen�

DieAufgabeumfasstvielmehralleTätigkeiten,dienotwendigsind,umdieAngelegenheitenrechtlichnachdem

WunschunddemWillendesBetreutenzuregelnundzudessenWohlunddabeialleerforderlichenMaßnahmen

undHilfenzuermöglichen,dieesdemBetroffenenermöglichen,dieFolgenderBehinderungoderErkrankungzu

lindernoderVerschlimmerungenzuvermeiden,unddiedazugeeignetsind,verbliebeneFähigkeitendesBetreuten

zufördern�

siertwerden�„Ichbinschonlangedabei�Wir singenund spielen, und ichbin alsBezirksfrau engagiert�“ Sie kassiert Bei-träge, besuchtMitglieder undhilft dort,woesnötigist�„Dakommeichraus,sotrifftmanLeute,undichhabeUnterhal-tung“,erklärtsie�„Wassoll ichdennal-lein zu Hause hocken? Vom Fernsehenwirdmannurbekloppt�“

„Das war schlimm, ich konnte einfachnichtmehr�Hach, wenn man alles allein machen muss, waschen und bügeln, und dann krank ist, dann wird einem das doch manchmal zu viel.“ Sie istwiedergesundgewordenundgehtregel-mäßigzumArzt,derdenBlutdruckkon-trolliert�Außerdemgehtsiealle14TagezudenTreffenderFrauenhilfe,dievonderevangelischen Kirchengemeinde organi-

„Das Wichtigste für mich ist, dass ich keine Behörde brauche. Vor der hab ich immer Angst. Die fragen mich ja doch nur, warum ich nicht mehr gearbeitet habe und warum ich nicht genug für die Rente vorgesorgt habe.“

„Hach, wenn man alles allein machen muss, waschen und bügeln und dann krank ist, dann wird einem das doch manchmal zu viel.“

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Familie ein Thema, und die Untersu-chungen sind zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten, und ich fühle mich schlecht dabei, denn ich möchte doch alt werden und sehen, wie meine Kin-der groß werden.“21

GemüseschonmaldurchDosengemüseersetztwird,weildasGeldfehlt�„IchgeheauchnurzumArzt,wennNotamMannist,Kleinigkeitenkuriereichselbstaus�Sospare ichmirdieQuartalsgebühr�Man-che Vorsorgeuntersuchungen kann ich mir nicht leisten. Krebs ist in unserer

„Ich hatte immer das Gefühl, das Jobcenter versucht zwar, jeman-den zu vermitteln, aber die kümmern sich nicht richtig um die Per-son. Man wird überall hingeschickt, auch wenn man sagt: Ich darf nicht körperlich schwer arbeiten. Wenn man sich nicht bewirbt, gibt es Sanktionen.“

„Ich gehe nur zum Arzt, wenn Not am Mann ist, Kleinigkeiten ku-riere ich selbst aus. So spare ich mir die Quartalsgebühr.“

„Manche Vorsorgeuntersuchungen kann ich mir nicht leisten. Krebs ist in unserer Familie ein Thema, aber die Untersuchungen sind zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten, und ich fühle mich schlecht dabei, denn ich möchte doch alt werden und sehen, wie meine Kinder groß werden.“

21 „DieVersichertendergesetzlichenKrankenversicherunghabensichandenKostenbestimmterLeistungenzu

beteiligen�DerEigenanteilsollbewirken,dassdieVersichertenimRahmenihrerMöglichkeitenaufeinekostenbe-

wussteundverantwortungsvolleInanspruchnahmevonLeistungenWertlegen�GrundsätzlichzahlenVersicherte

ZuzahlungeninHöhevon10Prozent,mindestensjedoch5Euroundhöchstens10Euro�Essindjedochniemehrals

dieKostendesjeweiligenMittelszuentrichten�ZudemhabenVersichertejeQuartalbeijedemerstenArztbesuch

eineZuzahlunginHöhevon10Euro,diesogenanntePraxisgebühr,zuentrichten�

BesondereZuzahlungsregelungenbestehenfürdieBereichederstationärenBehandlung(stationäreVorsorge-und

Rehabilitationsleistungen sowieKrankenhausbehandlungeinschließlichAnschlussheilbehandlung) undderHeil-

mittel,beihäuslicherKrankenpflegesowiebeidenFahrkosten�Belastungsgrenzensorgendafür,dasskrankeund

behinderteMenschendiemedizinischeVersorgunginvollemUmfangerhaltenunddurchdiegesetzlichenZuzah-

lungennichtunzumutbarbelastetwerden“(vgl�www�bmg�bund�de)�

sucht�„Ich hatte immer das Gefühl, das Jobcenter versucht zwar, jemanden zu vermitteln, aber die kümmern sich nicht richtig um die Person. Man wird überall hingeschickt, auch wenn man sagt: Ich darf nicht körperlich schwer arbeiten. Wenn man sich nicht be-wirbt, gibt es Sanktionen.ErstwirddieLeistungum10Prozentgekürztundjetztsogarum50Prozent�“Wiedaskam?Siehabeda einenTermin verpasst,weil siekrankwar�AußerdemfehltedasGeld,umdasPrepaidhandyaufzuladen,undeinenFestnetzanschlussoderInternetkönnesiesichnichtleisten�„Daswarblöd,aberichhabjaimmergesagt,ichbinnichtbehin-dert�Eshat langegedauert,bis ichver-standenhabe,dassessonichtist�MeineRechtlicheBetreuerinhatmirdaserklärt�“WegenihrerKonzentrationsschwächeistSaskia Jahn nun eine 30-prozentigeBehinderunganerkanntworden,undsiewechselte den Sachbearbeiter� „JetztkommeichinsoeineReha-Maßnahme,dasollichmichvorstellen�UndvielleichtgibtesdagleicheinenJobfürmich,dakannichdannvolldurchstarten�“

SiefreutsichschonaufdenTermin,denndieLeereinihrerWohnungmachtihrzuschaffen� „Dauernd zu Hause rumzu-sitzen, macht seelisch krank. Außer-dem kann ich so nichts für die Zukunft sparen, das gibt mir sehr zu denken.“Ansonsten versucht Saskia Jahn, sichgesundzuernähren,auchwennfrisches

kamdiejungeFraudannaberdochnoch�„Ich war hauptsächlich Hausfrau, habefrühermalimPiercing-Shopodersoge-jobbt,abereshatniefürlängergereicht,undfestangestelltwarichauchnie�“Siewürdegernerichtigarbeitengehen,denn„das gibt mir mehr Selbstbestätigung�Ichmagesnicht,nurvomStaatzuleben,und dann könnte ich meinen Kindernauch mal etwas bieten oder mir etwasmehrleisten�“IhredreiKinderlebenbeimVater,sodasssiesienuraneinigenWo-chenendensieht�„IchhättegernmehrvonmeinenKindern�Abersiekönnensehrwildsein,daswirdmanchmalganzschönan-strengend,unddenStresskannichnichtimmeraushalten“,gibtdieMutterzu�

AuchdasmitderArbeitistnichtsoein-fach, denn mit knapp über zwanzig be-kam sie ein Hirnaneurysma� „Das wargefährlich,meineMutterhattedasauch�Jetztmussichaufpassenunddarfnichtmehrschwerarbeiten,vieleStellenfallendadurchweg� Ichkannmichauchnichtso langekonzentrieren,dasmachtmichfertig�“Einmalbekamsieeinen1,50-Eu-ro-Jobvermittelt,beidemsiedenSüd-parkvonBlätternundMüllbefreiteoderKrötenzäuneaufbaute�„Daswartoll, ichwaranderfrischenLuftundhatteBewe-gung,undeshatmirauchnichtsausge-macht, dass es um sieben Uhr losging�LeidergabeskeineVerlängerung,dawarich traurig�“ Sie hat trotz ihrer Schwä-chen weiter beim Jobcenter Arbeit ge-

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zulegen. Ich weiß nie, ob es reicht und fühle mich wie eine Rabenmutter.“ManchmalgebeesauchProbleme,dennMattheoseinichtsosozialstark� „Letz-tensisterinderSchuleaggressivgewor-den,weilandereihngeärgerthaben�Ich wäre so gern mehr für ihn da, gerade wo jetzt die Pubertät kommt. Er verän-dert sich sehr.UndeigentlichbräuchteMattheo eine Therapie wegen der trau-matischenErlebnissemitdemgewalttäti-genVater�Wieundwanndasgehensoll,weißichnochnicht�“22MitdenÄmternkommtManjaWeisslereinigermaßenklar�Nurdie langenBear-beitungszeitenärgernsieundderdauer-haft große Aufwand� Sie habe auf demAmt auch schon vor Verzweiflung ge-weint:„DerUmzugausdemFrauenhausstandan� Ich hatte aber kein Bargeld, weil mein Bezug noch nicht bewilligt war. Ich musste Essensgutscheine ho-lenundwollte ein kleinesGeschenk fürdieKinder� Ich war so hilflos, es lag ja nicht an mir, denn ich hatte alles ein-gereicht. Die Bewilligung hat ganze zwei Monate gedauert. Ich finde, da müsste man mehr Verständnis zeigen.“AuchbeimJugendamthatsievorgespro-chen,alssiefürchtete,ihrenKindernvor

versuche, allem gerecht zu werden, kann mich aber nicht vierteilen.Dannsammleichallesundbearbeiteesinei-nerNacht-und-Nebelaktion�OftmussicheineZahlungbiszurerstenMahnungauf-schieben�Ichweiß,dassesnichtgutist�Was soll ich denn sonstmachen,wennkeinGelddaist?“AuchdenDispohabesie komplett ausgereizt� „Eigentlich istdasnichterlaubt�AberesgibtMomente,daistmirdaseinfachegal�Ichbindannvollkommenüberfordert�“Einwenigspa-ren würde die junge Frau nur zu gerne:„Mehr als fünf Euro monatlich für die Altersvorsorge sind aber nicht drin. Da-bei ist das doch so wichtig. Ich bekom-me ja wohl kaum noch eine Rente.“

Jammern liegt Manja Weissler jedochnicht, obwohl der Druck des Geldesenormaufihrlastet�Vorallem,wennesumdieKindergeht� „Immerhin sind fürMattheozweiEuroTaschengelddrin�Ersiehtaber,wassichandereKinderleistenkönnen,undmanmerktihman,dasserenttäuschtist�Dasistimmereinschwie-riges Thema�“ Auch wer sich eine Ge-burtstagsfeiernichtleistenkönne,gerateschnell ins Abseits� „Jedes Jahr fange ich lange vorher an, Geld dafür beiseite-

22 §4SGBII(2):„Dienach§6zuständigenTräger(Jobcenter)wirkendaraufhin,dasserwerbsfähigeLeistungs-

berechtigteunddiemit ihnen ineinerBedarfsgemeinschaft lebendenPersonendieerforderlicheBeratungund

HilfeandererTräger,insbesonderederKranken-undRentenversicherung,erhalten�…dassKinderundJugendliche

ZugangzugeeignetenvorhandenenAngebotendergesellschaftlichenTeilhabeerhalten�DasbeinhalteteineKoope-

rationmitallenEinrichtungen,Trägern,mitÄrzten,Therapeutenu�a�“

Verlängerunggibt,weißsienicht�„Blei-benwürdeichsehrgern,daswirdleiderimmerkurzfristigentschieden�Bisheristeszweimalgutgegangen�Aberichfreuemichimmererst,wennichetwasSchwarzauf Weiß habe“, betont die 28-Jährige�DieArbeiterlebtsiealswillkommeneAb-wechslungvomAlltag�„Das ist wie ein Zufluchtsort, denn da habe ich keine Zeit, mir Sorgen zu machen. Ich bin in-tellektuell anders gefordert, habe posi-tives Feedback und Anerkennung. Das tut mir gut.“

UmnochetwasmehrGeldindieKassezubekommen, übernimmt Manja WeisslerzusätzlichdieReinigungsaufgabenindemHaus, wo die Familie zur Miete wohnt�JederEuro istwichtig:Neben368EuroKindergeldund133EuroUnterhaltsvor-schussfürJulianerhältsieergänzendfürbeideKinderArbeitslosengeldII�760Eu-ronettoverdientsie,dazukommen100Euro fürdieHausreinigung�„Das klingt nach viel Geld, aber es reicht nie“,sagt sie resigniert�DieBAföG-Schuldenschiebt sie vor sichher, undmanchmalbleibtauchetwasliegen�„Wenn zu den Rechnungen noch Anträge für die Äm-ter dazukommen, verliere ich schon mal den Überblick. Ich habe ja kaum Zeit für solche Sachen. Haushalt, Job, ständige Behördengänge und dazu die Kinder, das ist zu anstrengend. Ich

2.11 Manja Weissler (28)

Manja Weissler(28)wohntineinerKel-lerwohnungmitzweiZimmernundistal-leinerziehendeMutterzweierSöhne:Ju-lian ist viereinhalb, Mattheo zehn Jahrealt�Sielebtgetrennt�DamalsgingsiemitdenKinderninsFrauenhaus,umvonih-remgewalttätigenMannwegzukommen�Die Scheidung zieht sich hin: Ihr MannhältdieEhenichtfürgescheitert,waseingroßerStressfaktorfürdiejungeFrauist�

ManjaWeisslerhatAbiturundeineAusbil-dungalsFachangestelltefürMedienundInformation absolviert� Eigentlich wolltesie auf Lehramt studieren, bekam aberwährenddesAbitursihrerstesKind�DiejungeMutterversuchteestrotzdem:„Ichhabe nachts gekellnert und BAföG be-kommen�AbereswarmitdemKindnichtzuschaffen�DahabeichabgebrochenunddieAusbildunggemacht�“Seit2010ar-beitetdiejungeFraununzwanzigStun-denproWoche ineinerElternzeitvertre-tungundpendelttäglichnachBonn�Pünkt-lichum15UhrmusssieJulianausdemKindergartenholen,Mattheokommtspä-teralleinnachHause�„DerGroßekannzumGlückjedenTagdieAngebotederGanz-tagsgrundschule nutzen“, freut sich dieMutter�AbendsbleibtZeitfüreingemein-samesEssen,dieWäsche,Hausaufgaben,Korrespondenz�„MeistfalleichumhalbneunmitdenKinderntodmüdeinsBett�“IhrArbeitsvertragistbefristet,obeseine

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sie,träumtabergleichweiter:„Einesta-bile Partnerschaft wäre wieder schön,verlässliche Verhältnisse für die Kinder�Eine gesicherte Zukunft, finanziell und emotional, damit die Kinder gesund aufwachsen. Und für mich wünsche ich mir, einfach mal ein bisschen unbe-schwerter ins Leben schauen zu kön-nen.“

DennochsiehtManjaWeisslereinerea-listischePerspektivefürsich�SiehatdieHoffnung, mit dem Job ihre Schulden-situation zu verringern und vielleicht ei-negrößereWohnungzubekommen,dienicht imKeller liegt�Am meisten stört sie, dass sie alles allein machen muss. „Jede Entscheidung belastet, und ich stoße so schnell an meine Grenzen. Das kann kein Amt auffangen“,erklärt

„Das klingt nach viel Geld, aber es reicht nie. Wenn zu den Rech-nungen noch Anträge für die Ämter dazukommen, verliere ich schon mal den Überblick. Ich habe ja kaum Zeit für solche Sachen. Haushalt, Job, ständige Behördengänge und dazu die Kinder, das ist zu anstrengend. Ich versuche, allem gerecht zu werden, kann mich aber nicht vierteilen.“

„Ich hatte aber kein Bargeld, weil mein Bezug noch nicht bewilligt war. Ich war so hilflos, es lag ja nicht an mir, denn ich hatte alles eingereicht. Die Bewilligung hat ganze zwei Monate gedauert. Ich finde, da müsste man mehr Verständnis zeigen.“

„Ich fühle mich zerrissen und schleppe mich nur noch von Termin zu Termin. Ich merke, wie meine Konzentrationsfähigkeit leidet, wie mir schwindelig wird. Ich habe Angst, wieder in eine Depres-sion zu verfallen und zusammenzubrechen.“

„Ich darf nur viermal im Jahr fehlen, sonst ist der Job in Gefahr. Ich muss jedes Mal abwägen, ob ich Julian in den Kindergarten gebe, wenn er sich schlapp fühlt. Meist tue ich es trotzdem. Wie kann ich das einem Kind erklären? Das ist eine hohe nervliche Belastung und auch eine für das Gewissen.“

mir schwindelig wird. Ich habe Angst, wieder in eine Depression zu verfal-len und zusammenzubrechen.Aberal-leVerantwortung liegtalleinaufmeinenSchultern� Ichmuss funktionieren, dennvon mir allein hängt die Zukunft zweierKinder ab� Auf meine Gesundheit kannichdakeineRücksichtnehmen�“23Krankmelden wird sie sich nicht, denndannistvielleichtderJobinGefahr�NurviermalimJahrdarfsiewegenderKinderfehlen:MattheohatteschonzweimaleineLungenentzündung,JulianhatBronchial-AsthmaundleidetunterFieberkrämpfen�„DasersteMalwussteichnicht,wieichdamit umgehen soll� Er hat einfach ge-krampft, lilaLippenbekommenunddasBewusstseinverloren�“Esistallesgutge-gangen, denn zufällig war ihre Freundinmit einer Ausbildung zur Rettungsas-sistentin dabei, die die Situation gema-nagthat�„Ich darf nur viermal im Jahr fehlen, sonst ist der Job in Gefahr. Ich muss jedes Mal abwägen, ob ich Ju-lian in den Kindergarten gebe, wenn er sich schlapp fühlt. Meist tue ich es trotzdem. Wie kann ich das einem Kind erklären? Das ist eine hohe nerv-liche Belastung und auch eine für das Gewissen.“

Überforderung etwas anzutun� SeitdemkommteinmalproWocheein Familien-helfer. „Das ist eine große Hilfe. Dann habe ich das Gefühl, wenigstens sechs Stunden nicht mit allem allein zu sein. Von ihm erfahre ich auch, dass es so etwas wie das Bildungspaket gibt und bekomme Tipps, wie ich mir selbst hel-fen kann.“

Geld ist das beherrschende Thema inManjaWeisslersLeben�„Ich komme mir vor wie ein verzweifelter Krake, der sich abstrampelt, nur um von überall her ein wenig Geld zu bekommen. Für mich mache ich fast gar nichts mehr. Es bleibt so wenig von einem selbst übrig, das ist erschreckend.“ Ausge-henseiseltenmöglich,aucheinenklei-nenAusflugsparesiesichvomMundab�Warmes Essen gönnt sich die Mutter nur am Wochenende, wenn sie auch für die Kinder kocht. „Wenn es mir zu sehr fehlt, mache ich mir schon mal ei-ne Tütensuppe, das muss reichen.“Die ständigen Sorgen schlagen ihr aufdieGesundheit�„Ich fühle mich zerris-sen und schleppe mich nur noch von Termin zu Termin. Ich merke, wie mei-ne Konzentrationsfähigkeit leidet, wie

23 Armutmachtkrank�DerRegelsatzfürLeistungsempfängernachdemSGBIIoderXIIistnichtdaraufausge-

richtet,eineausreichendeundausgewogeneErnährungentsprechenddenRegelnderDeutschenGesellschaftfür

Ernährungzuermöglichen�4,14efüreinenJugendlichenimAltervon15bis18JahrensollenfürEssenundTrinken

amTagausreichendsein,fürGesundheitspflege12,34e�DieSuizidquotevonlangzeitarbeitslosenMenschenist

20-fachhöheralsbeiErwerbstätigen�

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3. Und jetzt?

AufEinzelfälleodereinzelneMitarbeitendederJobcentersinddieunterschiedli-chenAuslegungendesGesetzes,diestarrenHaltungenunddievielenKlagen24zudenLeistungenimSGBIInichtzurückzuführen�

Essindmehrals16Seitenauszufüllen,umLeistungennachdemSGBIIzube-antragen�WerdieBetroffenenfragt,wieesihnenmitderzunehmendenBürokratiegeht,hörtimmerwieder,dassdieseWut,Ohnmacht,Frustrationauslöst�AufderanderenSeitedesTischessitzenMitarbeitende,diesichaufgrunddervielenVer-änderungenundVorschriften,derKennzahlenunddesControllingsnichttrauen,ErmessensspielräumeauszulotenoderkonstruktiveGesprächezuführen�Diete-lefonischeund/oderpersönlicheNichterreichbarkeitdesSachbearbeitersbzw�derSachbearbeiterinträgtdazubei,dassFragenzuBescheidenoderSanktionennichtzeitnahundimKontaktgeklärtwerdenkönnen�

•Schnittstellenthemen,diesichdurchangrenzendeGesetzewiedasSGBIII,SGBVIII,SGBIX,Kindergeldgesetz,Wohngeldusw�ergeben,sindzuerkennenundanzu-gehen�

•DieSpracheimGesetzunddieÜbermachtdesFordernsgegenüberdemFörderntragen dazu bei, dass Eingliederungsleistungen eher als Sanktionsmittel ange-wandtwerden�Vermittlungshemmnissemüssengesehenundschnellbearbeitetwerden,umzurIntegrationinArbeitunddieGesellschaftbeizutragen�

•DerGedanke,dieStärkenundSchwächendeseinzelnenMenschenzuberücksich-tigen,musswiedermehrindenVordergrundrücken�

•Überall in NRW und darüber hinaus sind die Bescheide nicht zu verste-hen und nachzuvollziehen� Überall erreichen die Leistungsberechtigten dieSachbearbeiter der Jobcenter kaum� Häufig muss ein Vorantrag abgege-ben werden, damit der Antrag ausgefüllt werden kann� Dies erinnert ein we-nig an das Lied von Reinhard Mey, in dem er die Bürokratie wie folgt besingt:

24 ImJahr2011wurden144000KlagengegenLeistungsbescheidedesSGBIIbeidenSozialgerichteneinge-

reicht�HäufigsteStreitpunktewaren:BerechnungvonUnterkunftskosten,LeistungskürzungenwegenSanktionen,

Einkommensanrechnungen�CircadieHälftederKlagenwerdenzugunstenderLeistungsberechtigtenentschieden�

www�freiewohlfahrtspflege-nrw�de oderunterdenjeweiligenInternetadressenderWohlfahrtsverbände: Arbeiterwohlfahrt,Caritas,Diakonie,DeutschesRotesKreuz,Paritätischer,JüdischeKultusgemeinde�WirmöchtenzurAuseinandersetzungmitdenProblemenundSchwierigkeiten,diegeschildertwurdenunddiesichausderAnwendung des SGB II ergeben, einla-denundanregenunddarumbitten,IhreWertvorstellungen und Haltungen, IhreÜberlegungenundLösungsideen indenpolitischen Prozess einzubringen und/oder an das Redaktionsteam (Michaela�Hofmann@caritasnet�de)rückzumelden�

Auseinandersetzung ist gefragt!

Vieleerwarten jetzt sicherlich,dassnunForderungen, Lösungsvorschläge, eineZusammenfassungodereinAusblickdie-senBerichtsteilabschließen�Diesem Muster wird diesmal nicht ent-sprochen�LösungenundForderungenderFreien Wohlfahrtspflege nach einer be-darfsgerechten Berechnung der Regel-sätze,derAnpassungderLeistungendesAsylbewerberleistungsgesetzes an dasSGB II, lesbaren Bescheiden oder kei-ner Pauschalierung von Unterkunfts-und Heizungskosten können auf denWebsites der Wohlfahrtsverbände, inStellungnahmen und Positionspapierenzur Genüge nachgelesen werden unter

•DieseLebensgeschichten,dieeindrücklichschildern,mitwelchenProblemensichMenschenimSGBIIbeschäftigen,spiegelntrotzallerEinzigartigkeitdieProblemeundSchwierigkeitenvielerwider�

Siezeigen,dassdasSGBIIfürdieVielfältigkeitderLebenssituationenkeineUnterstützungbereithält�DiesbeginntbeiderPauschalierungderRegelsätze,derFestsetzungvonErwerbsfähigkeitbeieinermöglichenArbeitszeitvondreiStundentäglich,derZuweisungvonMenscheninMaßnahmenohnevorherigePrüfungderEignungmitderAnnahme,dassjedeArbeitbesseristalskeineusw�

•DasFördernvonMenschen,unddieswirdinallenLebensgeschichtensehrdeut-lich,hatkaumKulturundEntsprechunginderUmsetzungdesGesetzes�

SowiediesenelfPersonenundihrenFamiliengingesca�1,19MillionenSGB-II-BerechtigteninNRWimJahr2010(vgl�KurzanalyseMAIS2�11�Sozialindikatoren)�

Wichtig ist uns, auf Folgendes hinzuweisen:

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Impressum

Herausgeber:ArbeitsgemeinschaftderSpitzenverbändederFreienWohlfahrtspflegedesLandesNordrhein-Westfalenc/oParitätischerWohlfahrtsverbandNRW,LoherStraße7,42283Wuppertal,Tel�:02022822-420,E-Mail:koordination@freiewohlfahrtspflege-nrw�de,www�freiewohlfahrtspflege-nrw�de

Redaktion:ArbeitsausschussArmutundSozialberichterstattungc/oDr�FrankJohannesHensel,MichaelaHofmannDiözesan-CaritasverbandfürdasErzbistumKöln,Georgstr�7,50676Köln,Tel�:02212010-288,E-Mail:Michaela�Hofmann@caritasnet�de

Schlussredaktion und v. i. S. d. P.:SusanneMeimberg,PressesprecherinderFreienWohlfahrtspflegeNRW,c/oParitätischerWohlfahrtsverbandNRW,LoherStraße7,42283Wuppertal,Tel�:02022822-438,E-Mail:presse@freiewohlfahrtspflege-nrw�de

Dank an:BettinaFlitnerfürdieVerwendungdesTitelbildes�

AndreaNeuhoff,JournalistinundTexterin,fürdieDurchführungderInterviews�

UndganzbesondersherzlichanallePersonen,dieihreLebensgeschichtefürdieseBroschürezurVerfügunggestellthaben�

Titelfoto:BettinaFlitner(www�bettinaflitner�de)�ErschienenimBuch„Boatpeople”�

Layout:MatiasMöller(www�matiasmoeller�de)

Druck:OffsetCompany(www�offset-company�de)

BewirktwerdenkönnenundwerdenabereineAuseinandersetzungmitdenhand-werklichenFehlerndesSGBII,eineSensi-bilisierungfürdieSituationderbetroffen-enMenschenundeineDiskussionüberdieNotwendigkeit,gesellschaftlicheRahmen-bedingungen zu schaffen, die es denMenschen…

AuchderaktuelleSozialberichtdesLan-des NRW und der Beitrag der FreienWohlfahrtspflege werden auf die vielenFragen,Problemeundsich teilweisewi-dersprechenden Ansätze und Perspekti-venkeineschnellenundsofortigenAnt-wortenoderLösungengeben�

„Mein Verhältnis zu Behörden war nicht immer ungetrübt,was allein nur daran lag, dass man nicht kann, was man nicht übt.Heute geh ich weltmännisch auf allen Ämtern ein und aus.Schließlich bin ich auf den Dienstwegen schon so gut wie zu Haus.Seit dem Tag, an dem die Aktenhauptverwertungsstelle Nordmich per Einschreiben aufforderte: Schicken Sie uns sofort einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformularszur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars,dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt,zum Behuf der Vorlage beim zuständ’gen Erteilungsamt.“

•DasBildungs-undTeilhabepaketwirdzueinemBeantragungs-undNachweisma-rathon,derinkeinemVerhältnisvonAufwandundNutzensteht�DieGelderkom-menbeietlichenKindernundJugendlichennichtan,weilzuvieleStellenundInsti-tutionenbeteiligtsind,undnichtetwa,weilElterndiesihrenKindernvorenthalten25(vgl�Studie„WirksameWege…fürFamilienmitgeringemEinkommenimBraun-schweigerLand…gestalten“)�DiesesMärchenhältsichhartnäckigundkommttrotzgegenteiligerStudienleidernichtvom(Stamm-)Tisch�

„... ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht …“ (§1SGBII)

25 Vgl�Studie„WirksameWege…fürFamilienmitgeringemEinkommenimBraunschweigerLand…gestalten“�

DiakonischesWerkderEv�-luth�LandeskircheinBraunschweig�

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Freie Wohlfahrtspflege NRW

Gemeinsam für ein soziales Nordrhein-Westfalen

www.freiewohlfahrtspflege-nrw.de