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Arnau de Vilanova Über den Antichrist und die Reform der Christenheit

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Arnau de Vilanova

Über den Antichrist und die Reform der Christenheit

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Katalanische Literaturdes Mittelalters

herausgegeben von

Alexander Fidora(ICREA – Universitat Autònoma de Barcelona)

in Verbindung mit

Lola Badia, Germà Colón, Albert Hauf,Tomàs Martínez, Josep Massot, Josep Pujol,

Joan Santanach, Albert Soler,Josep Solervicens, Til Stegmann

und Guillem Usandizaga

Band 8

LITEDITORIAL BARCINO

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Arnau de Vilanova

Über den Antichristund die Reform der Christenheit

Aus dem Katalanischen übersetztund eingeleitet

vonAlexander Fidora

LITEDITORIAL BARCINO

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Umschlagbild:Meister von Soriguerola, Der heilige Michael wiegt die SeelenAus dem Altarbild der Kirche Sant Cristòfol de Toses (Ripollès),Anfang 14. Jh., Tempera auf Holz© Museu Nacional d’Art de Catalunya, Barcelona (2015)Foto: Calveras/Mérida/Sagristà

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-643-13148-5

©LIT VERLAG Dr.W. Hopf Berlin 2015

Verlagskontakt:Fresnostr. 2 D-48159 MünsterTel. +49 (0) 2 51-62 03 20 Fax +49 (0) 2 51-23 19 72E-Mail: [email protected] http://www.lit-verlag.de

Auslieferung:Deutschland: LIT Verlag Fresnostr. 2, D-48159 MünsterTel. +49 (0) 2 51-620 32 22, Fax +49 (0) 2 51-922 60 99, E-Mail: [email protected]

Österreich: Medienlogistik Pichler-ÖBZ, E-Mail: [email protected] sind erhältlich unter www.litwebshop.de

©EDITORIAL BARCINO, SAAcàcies 15. 08027 BarcelonaTel. +34 93 349 59 35www.editorialbarcino.cat

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Unserem Sohn Oriol

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Inhalt

Einführung 1Biographischer Abriss 1Das katalanische Œuvre 6Zu Text und Übersetzung 16Auswahlbibliographie 17

Bekenntnis von Barcelona 19

Vortrag zu Narbonne 37

Rede von Avignon 53

Geistliche Unterweisung für König Friedrich von Sizilien 81

Die zweite Unterweisung der Beginen 95

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Einführung

Biographischer Abriss

Wie bei vielen großen Gestalten des Mittelalters herrscht im Hinblick auf die Her-kunft des Arnau de Vilanova, lateinisch Arnaldus de Villanova, in der Geschichts-schreibung Uneinigkeit: Aragón, València und Okzitanien haben sich um den be-rühmten Sohn gestritten, der in den Dokumenten seiner Zeit als „catalanus“ apo-strophiert wird.1

Die Tatsache, dass Arnaus erste Spuren auf València weisen, wo auch seine Toch-ter zur Welt kommen sollte, und dass er und seine Frau Zeit ihres Lebens immerwieder von ihren Aufenthalten in Barcelona und Montpellier dorthin zurückkehrensollten, macht es wahrscheinlich, dass dies sein Geburtsort war. Auch sein Geburts-jahr lässt sich nur annäherungsweise bestimmen: da Arnau zwischen 1260 und 1270an der medizinischen Fakultät in Montpellier studierte, ist zu vermuten, dass er etwazwanzig Jahre zuvor, also um 1240, geboren wurde. Ob seine Familie jüdischen Ur-sprungs war, wie einer seiner späteren Kritiker, der Kanzler der Oxforder UniversitätHeinrich von Harclay, argwöhnte, ist ungewiss.

Die Universität von Montpellier war zu jener Zeit nicht nur die wichtigste aka-demische Referenz für die Intellektuellen der katalanischen Länder, wie etwa RamonLlull, vielmehr galt gerade ihre medizinische Fakultät europaweit als eines der füh-renden Zentren. Durch die Rezeption griechischen und arabischen Gedankengutserhielt die Medizin in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bahnbrechende prak-tische wie theoretische Impulse. Arnau partizipierte in Montpellier direkt an der Ver-wissenschaftlichung und Professionalisierung der Medizin, während er nach eigenerAussage zugleich ein Semester Theologie bei den dortigen Dominikanern hörte.

Nach Abschluss seines Studiums kehrte der magister medicinae mit seiner FrauAgnès Blasi, die er in Montpellier kennen gelernt hatte, nach València zurück, wodie beiden ab 1276 nachgewiesen sind und ihre Tochter Maria geboren wurde, die

1 Siehe für Arnaus Biographie neben der unten in der Auswahlbibliographie erwähnten Einführungvon Jaume Mensa nun auch die sehr hilfreiche Zusammenstellung zeitgenössischer Dokumente vonJosep Alanyà, „Diplomatari de Mestre Arnau de Vilanova. Avantprojecte. Regest de documents“,in: Josep Perarnau (Hrsg.), Actes de la III Trobada Internacional d’Estudis sobre Arnau de Vilanova,Barcelona: Institut d’Estudis Catalans, 2014, S. 69-170 (auch in Arxiu de Textos Catalans Antics 30[2011-2013], S. 69-170).

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2 Einleitung

1291 in das dortige Kloster Santa Magdalena des weiblichen Zweigs der Dominika-ner eintrat. In València praktizierte Arnau als Arzt, und zwar offenbar mit großemErfolg, denn bereits 1281 berief ihn der katalanische König Peter der Große zu sei-nem Leibarzt, unter der Bedingung, València zu verlassen, um an den BarceloninerHof zu kommen. Bis zu Peters Tod im Jahr 1285 behandelte Arnau den König, wo-bei er die Zeit in Barcelona zugleich nutzte, um seine Studien voranzutreiben. So legter in den 1280er Jahren einerseits wichtige Übersetzungen medizinischer Texte ausdem Arabischen vor, wie z.B. die Translatio Avicennae De viribus cordis und GalensDe rigore, tremore, iectigatione et spasmo sowie sein De interioribus. Besonders durchdie Übersetzungen Galens sollte Arnau einen entscheidenden Beitrag zur Geschichteder Medizin leisten.2 Andererseits vertiefte er seine theologischen Studien und hör-te die Vorlesungen des großen Semitisten Ramon Martí am Studium linguarum desDominikanerklosters Santa Caterina in Barcelona. Wie Arnau in seiner 1292 ver-fassten Tetragramm-Schrift erklärt, war es Ramon Martí, der in ihm die Liebe zurhebräischen Sprache entfachte.

Auch Peters’ Thronfolger, zuerst Alfons II. und später Jakob II., wussten dieDienste des hochgebildeten Arztes zu schätzen, dessen Bibliothek nahezu 300 Bän-de mit lateinischen, arabischen, griechischen und nicht zuletzt hebräischen Hand-schriften umfasste.3 Doch dispensierten sie ihn von der Residenzpflicht in Barcelona.Entsprechend verlagerte Arnau seinen Lebensmittelpunkt in den Jahren 1286-1291erneut nach València, bevor er einem Ruf an seine alma mater, die medizinische Fa-kultät der Universität Montpellier, Folge leistete. Hier entwickelte sich Arnau alsbaldzum hervorragendsten Exponenten einer neuen Generation von Medizinern: hattesich die Heilkunde in den Jahren zuvor vor allem auf die im 12. Jahrhundert aus demArabischen übersetzte kurze Textsammlung Articella gegründet, konnte Arnau nichtzuletzt dank seiner sprachlichen Kompetenzen mit vollen Händen aus der hippokrati-schen und galenischen Tradition schöpfen. Er schrieb nicht nur zahlreiche Kommen-tare zu den Werken dieser beiden Urväter der Medizin, allen voran zu Hippokrates’Aphorismen, sondern auch eine Reihe medizintheoretischer und -praktischer Trakta-te, wie das Speculum medicinae und seine beiden Regimina sanitatis, die allesamt bis indie Renaissance hinein hohes Ansehen genießen sollten. Nicht ohne Grund machtePapst Clemens V. Arnau zu seinem Ratgeber, als er 1309 das universitäre Curriculumvon Montpellier reformierte und die Kommentierung Galens zur Pflicht machte. Wie

2 Vgl. den grundlegenden Beitrag von Luis García Ballester, „Arnau de Vilanova (c. 1240-1311) y lareforma de los estudios médicos en Montpellier (1309): El Hipócrates latino y la introducción delnuevo Galeno“, in: Dynamis 2 (1982), S. 97-158.

3 Zu Arnaus Bücherschrank, der eine der bedeutendsten Gelehrtenbibliotheken des Mittelalters bein-haltete, siehe Roc Chabàs, „Inventario de los libros, ropas y demás efectos de Arnaldo de Villanueva(pergamino O.7430 del Archivo Metropolitano de Valencia)“, in: Revista de Archivos, Bibliotecas yMuseos, 3a época, 9 (1903), S. 189-203.

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Biographischer Abriss 3

schon während seiner Barceloniner Zeit, ließen Arnau seine theologischen Interessenauch in Montpellier nicht los; vielmehr verfasste er exegetisch-hermeneutische Wer-ke, wie die Einleitung zur pseudo-joachimitischen Schrift De semine scripturarum,pädagogische Einführungen ins Christentum, wie das Alphabetum catholicorum, so-wie den eschatologischen Traktat De consummatione saeculi.

Tatsächlich rückten Arnaus theologische Interessen im Laufe der Zeit immermehr in den Mittelpunkt seines Denkens und Wirkens – eine Entwicklung, dieschließlich in den dramatischen Ereignissen aus dem Jahr 1299 kulminierte. In die-sem Jahr beauftragte Jakob II., mit dem Arnau weiterhin in enger Verbindung stand,seinen Arzt mit einer diplomatischen Mission: er solle nach Paris reisen, um dort eineLösung im Konflikt zwischen ihm und Philipp dem Schönen bezüglich katalanisch-französischer Grenzfragen (Arantal) anzubahnen. Arnau folgte dem Wunsch seinesKönigs, doch benutzte er die diplomatische Mission zugleich, um sich an der PariserUniversität einzuführen, und dies nicht etwa als Arzt und Mediziner, sondern aus-gerechnet mit seinem eschatologischen Werk De consummatione saeculi, in dem erdas bevorstehende Ende der Welt prophezeite. Die Empörung der Pariser Theologenüber die kühne Vorhersage des Laien konnte größer kaum sein, und so wurde der Ka-talane auf Betreiben des Professorenkollegiums über Weihnachten festgesetzt.4 Nurdurch Hinterlegung einer hohen Kaution konnte er sich aus dieser ausgesprochenmisslichen Situation befreien. Damit waren die Weichen für die nächsten Jahre inArnaus Leben gestellt: von 1299 bis 1305 ging er erbittert gegen die professionellenTheologen vor, die er mit dem von ihm geprägten Kampfbegriff „thomatistae“ (al-so Thomisten) belegte.5 Zahlreiche Schriften stammen aus dieser Zeit, wie etwa derwichtige Traktat De tempore adventus Antichristi, mit dem Arnau De consummatio-ne saeculi fortschreibt, seine Denunziationen der Dominikaner von Girona und seineVerteidigungsschrift von Lleida, aber auch seine hier übersetzte Confessió de Barcelona(Bekenntnis von Barcelona), mit der sich die polemisch-apokalyptische Phase schließt.

Die Auseinandersetzung mit den theologi philosophantes ist eng verbunden mitArnaus Verhältnis zur päpstlichen Kurie. Denn von Beginn des Konfliktes an suchteer nicht nur den Kontakt zum französischen König, dem er die diplomatische Bri-sanz des Pariser Vorfalls vorwarf, sondern auch das entlastende Urteil der jeweiligenPäpste. Nur wenig Gehör fand Arnau zunächst bei Bonifaz VIII., der ihn bei seinerAnkunft in Anagni im Mai 1301 erst einmal in Haft nehmen ließ. Arnau musste

4 Eingehend beschäftigt hat sich mit diesem wichtigen Vorfall und seiner theologiegeschichtlichenInterpretation Manfred Gerwing, Vom Ende der Zeit. Der Traktat des Arnald von Villanova überdie Ankunft des Antichrist in der akademischen Auseinandersetzung zu Beginn des 14. Jahrhunderts,Münster i. W.: Aschendorff, 1996. Siehe auch seine zweisprachige Ausgabe von Johannes Quidortvon Paris, De Antichristo et de fine mundi – Vom Antichrist und vom Ende der Welt, Regensburg:Pustet, 2011, hier bes. S. 45-100.

5 Vgl. hierzu Franz Ehrle, „Arnaldo da Villanova ed i ‚Thomatiste‘. Contributo alla storia della scuolatomistica“, in: Gregorianum 1 (1920), S. 475-501.

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4 Einleitung

in der Folge zwar im geheimen Konsistorium seinen Thesen abschwören, im öffent-lichen jedoch war der Papst darum bemüht, den Pariser Ereignissen Bedeutung zunehmen. Vermutlich hing die zwiespältige Haltung des Papstes damit zusammen,dass Arnau während dieser Zeit Bonifaz’ Nierensteinleiden erfolgreich behandelte.In dieselbe Richtung weist auch der folgende, Bonifaz’ zugeschriebene Fingerzeig anseinen Leibarzt: „Intromitte te de medicina et non de theologiae et honorabimuste – Kümmere dich um die Medizin und nicht um die Theologie, so werden wirdich ehren.“ Dessen ungeachtet sehen wir Arnau jedoch schon im Sommer 1301in der päpstlichen Residenz in Sgurgola fieberhaft an seinem Tractatus de mysteriocymbalorum ecclesiae arbeiten, worin er seine Thesen von der Ankunft des Antichristbekräftigt und diese auf das Jahr 1376 datiert.

Auch als sich in den Jahren 1302 bis 1304 der Konflikt zuspitzte und Arnauvon den Dominikanern in Katalonien (Barcelona, Girona und Lleida) und der Pro-vence (Marseille) aufgrund seiner eschatologisch-apokalyptischen Ansichten heftigattackiert und diffamiert wurde, wandte er sich erneut an den Papst, nun an BenediktXI., dem er 1304 seine Reformpläne darlegte und das Kommen des Antichrist ankün-digte. Eine Antwort des Papstes blieb allerdings aus, ja der Kontakt mit Benedikt XI.erwies sich insgesamt als Sackgasse, da dieser noch im selben Jahr an der Ruhr sterbensollte. Nur legendarischen Wert besitzt die Nachricht, Arnau habe an einem Vergif-tungsattentat gegen den Papst mitgewirkt, das zu dessen Tod geführt hätte. Vielmehrscheint es, dass der medicus theologizans Benedikt XI. wie schon seinem Vorgängerals Arzt zur Seite stand. Nach dessen Tod in Perugia bat Arnau das dort versammelteKardinalskollegium um eine eingehende Prüfung seiner Schriften. Statt in Form dererhofften positiven Beurteilung der vorgelegten Werke erfolgte die Antwort der Ku-rie jedoch in einer erneuten Festsetzung Arnaus, wie dieser noch Jahre später in demhier übersetzten Raonament d’Avinyó (Rede von Avignon) mit Verärgerung berichtensollte. Die entscheidende Wende in diesem Hin und Her der päpstlichen Kurie zwi-schen geächtetem Theologen und geschätztem Mediziner brachte Bertrand de Got,der am 5. Juni 1305 unter dem Namen Clemens V. zum Papst gekrönt wurde. Cle-mens, der Arnau bereits aus seiner Zeit als Bischof von Bordeaux kannte und schätzte,bestätigte Arnau nicht nur als päpstlichen Arzt, sondern behielt sich das Urteil überdie Orthodoxie seiner Werke vor. In diesen Zusammenhang gehört die vatikanischeHandschrift Vat. lat. 3824, bei der es sich um eine von Arnau selbst dem Papst über-reichte Sammlung seiner Schriften handelt, die die mit Abstand wichtigste Quelle fürArnaus authentische Werke ist. In jedem Fall war mit der päpstlichen EntscheidungArnau de Vilanova zumindest für die Dauer von Clemens’ Pontifikat, und d.h. bis ansein Lebensende, formal aller Kritik kirchlicherseits enthoben.

Die folgenden Jahre bis an sein Lebensende verbrachte Arnau vor allem auf Rei-sen zwischen dem Hof Jakobs II., der Kurie in Avignon und dem König von SizilienFriedrich II. von Aragón. Diese privilegierte Dreieckskonstellation verwandte er vor

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Biographischer Abriss 5

allem dazu, die Laienbewegung der Beginen in Katalonien und der Provence zu un-terstützen und gegen Anfeindungen in Schutz zu nehmen und die beiden katalanisch-aragonesischen Herrscher für seine Reformideen zu begeistern. Beeinflusst von denFranziskanerspiritualen, die gegenüber der etablierten Kirche die absolute ArmutChristi als Richtschnur christlichen Lebens geltend machten, hatte sich in Katalo-nien und dem Languedoc eine eigene Form des Beginentums konstituiert, in derLaien des dritten Franziskanerordens ein gemeinschaftliches Leben in Andacht undArmut führten, dessen Mittelpunkt die kollektive Lektüre der Bibel in der Volksspra-che bildete.6 Tief enttäuscht von den etablierten kirchlichen Strukturen und Kräften,vor allem von den Dominikanern, sah Arnau genau hier den Keim des wahren Chris-tentums („ver crestianisme“)7 und somit das Potenzial einer radikalen Erneuerung derKirche „von unten“, für deren politische Umsetzung er auf die beiden Königsbrüdersetzte. Die Lliçó de Narbona (Vortrag zu Narbonne) und die auf Katalanisch verfassteAlia informatio beguinorum – beide hier übersetzt – bringen Arnaus in die Beginen ge-setzte Hoffnung in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Die beiden Königsbrüder galtenihm dabei als von Gott berufene Architekten der neuen christlichen Weltordnung,wie er ihnen (und auch sich selbst) in der Auslegung zweier Träume, die sie gehabthatten, versicherte. Als er allerdings 1309 seine Interpretatio de visionibus somniis . . . ,also die Auslegung eben dieser Träume, am päpstlichen Hof in Avignon vorstellte, ir-ritierte dies Jakob II. nicht wenig. Obwohl Arnau daraufhin nach Almería reiste, woder Monarch sich im Krieg gegen die Muslime befand, um diesem mit dem eigensdafür verfassten Raonament d’Avinyó Bericht zu erstatten, entzog Jakob ihm sein Ver-trauen (daran konnten diesmal auch seine medizinischen Dienste in Form des nachAndalusien mitgebrachten Regimen Almariae nichts ändern . . . ). Ganz anders seinBruder Friedrich, dem Arnau zum wichtigsten politischen Berater wurde. So sollteArnaus Informació espiritual , die Geistliche Unterweisung für Friedrich aus dem Jahr1310, direkten Eingang in die rechtlichen Bestimmungen der Constitutiones RegniTrinacriae finden und auch Siziliens gesellschaftliche Realität prägen: Hospitäler undSprachschulen wurden auf Sizilien gegründet, Beginen aufgenommen usw.

Mit dem Tod Arnaus, vermutlich im September 1311 auf See vor Genua, warder Traum eines insularen „Laienklosters“ Sizilien jedoch zu Ende. Und nicht nurdies, denn mit der Krönung Johannes XXII. im Jahr 1316 wehte ein neuer Wind ausAvignon, so dass es bereits gegen Ende des Jahres zur Verurteilung von Arnaus Lehrenin Tarragona kam.

6 Vgl. zum katalanischen und okzitanischen Beginentum u.a. Robert Lerner, „Writing and ResistanceAmong Beguins of Languedoc and Catalonia“, in: Peter Biller/Anne Hudson (Hrsg.), Heresy andLiteracy, 1000-1530, Cambridge: Cambridge University Press, 1994, S. 186-204.

7 Siehe Jaume Mensa, „Arnau de Vilanova i els beguins: fonaments antropològics del ‚ver crestia-nisme‘“, in: Josep Corcó u.a. (Hrsg.), Què és l’home? Reflexions antropològiques a la Corona d’Aragódurant l’Edat Mitjana, Cabrils (Barcelona): Prohom Edicions, 2004, S. 73-99.

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6 Einleitung

Das katalanische Œuvre

Die Confessió de Barcelona

Sieht man von einer kurzen juristischen Protestschrift aus dem Jahr 1300 ab (Protestaal justícia de València), so ist die so genannte Confessió de Barcelona Arnaus ersteskatalanisches Werk.8 Als letztes Zeugnis des polemischen Zyklus bietet es gleichsamdie Synthese der Auseinandersetzung mit den professionellen Theologen seiner Zeit.

Das am 11. Juli in Barcelona verlesene „Bekenntnis“ ist kein „Geständnis“, son-dern – wie die kurz zuvor verfasste Confessio Ilerdensis – die selbstbewusste und au-thentische Präsentation von Arnaus Kernthesen: vor König Jakob II. und weiterenBarceloniner Persönlichkeiten legt Arnau im Beisein eines Notars seine Lehren öf-fentlich dar, und zwar auf Katalanisch, so dass der König und sein gesamtes Volk sichvon der Unrechtmäßigkeit der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen überzeugenkönnen.

Zunächst zeigt Arnau das unfaire, weil heimtückische Vorgehen der Dominika-ner gegen ihn an, die die direkte Auseinandersetzung scheuten und – wie im Übri-gen schon während des Pariser Vorfalls geschehen – seine Lehren aus dem Kontextrissen und damit verfälschten. So wie er selbst mit dem vorliegenden Werk seineThesen noch einmal schriftlich fixieren und jedermann zugänglich machen will, sosollen seine Kritiker ihre Vorwürfe schriftlich an ihn richten, damit er ihnen ange-messen antworten kann. Nach diesen verfahrenstechnischen Bemerkungen beginntArnau mit einer klar strukturierten Darlegung seiner wesentlichen eschatologisch-apokalyptischen Thesen, die sich folgendermaßen resümieren lassen:

Erstens ist es nützlich, den Tag und die Stunde der Ankunft des Antichrist unddes Endes der Welt zu kennen, zumal für jene Generation, die diesen Tag erlebenwird; zweitens ist es möglich, diesen Zeitpunkt zu kennen, denn der Herr selbst hatdies eigens so gewollt und verfügt, indem er die entsprechende Information in derHeiligen Schrift und auch in späteren Prophezeiungen geoffenbart hat, aus denendeutlich hervorgeht, dass der Antichrist noch im laufenden Jahrhundert kommenwird; und drittens hat der Herr zudem in der Heiligen Schrift und den Prophezeiun-gen die Vorboten und Handlanger des Antichrist identifiziert, die versuchen werden,das Volk der Christen zu verwirren, damit es sich nicht gegen den Antichrist zurWehr setzt.

Den ersten dieser drei Punkte streift Arnau nur kurz, denn schließlich besitzt erim Horizont der christlichen Endzeiterwartung eine kaum zu leugnende Plausibilität.

8 Für eine Gesamtwürdigung der katalanischen Werke siehe neuerdings Jaume Mensa, „Arnau deVilanova“, in: Lola Badia (Hrsg.), Història de la literatura catalana: Literatura medieval (I): Delsorígens al segle XIV , Barcelona: Enciclopèdia Catalana/Editorial Barcino/Ajuntament de Barcelona,2013, S. 476-509.

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Das katalanische Œuvre 7

Ausführlicher befasst er sich mit dem zweiten Punkt. Hierzu führt er zahlreiche alt-und neutestamentliche ebenso wie außerbiblische Texte an, die zur Berechnung derAnkunft des Antichrist und des Endes der Welt dienen sollen, allen voran den auchin anderen Schriften wichtigen Vers 12,11 aus dem Buch Daniel: „Von der Zeit an,in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt, sindes zwölfhundertneunzig Tage.“ 1290 Tage, die nach Arnau als 1290 Jahre zu inter-pretieren sind (gemäß Ezechiel 4,6: „einen Tag für jedes Jahr“), welche zwischen demEnde des täglichen Opfers, also der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70n.Chr., und dem unheilvollen Gräuel der Ankunft des Antichrist vergehen werden.Arnau nutzt die Gelegenheit, um auf die Pariser Vorfälle zurückzukommen und zubetonen, dass die dortigen Theologen seine Vorhersage nicht etwa aufgrund ihres In-halts, sondern ihrer Kühnheit wegen verurteilt hätten. Das mit Abstand wichtigsteThema der Confessió de Barcelona schließt allerdings an den zuletzt genannten Punktan, denn Arnau will vor allem zeigen, dass die Vorboten und Handlanger des Anti-christ mit den Dominikanern identisch sind.

In diesem Zusammenhang greift er auf verschiedene Prophezeiungen bzw. Pri-vatoffenbarungen zurück, wie etwa das vermutlich gegen Ende des 13. Jahrhundertsentstandene Oraculum angelicum Cyrilli.9 Arnau hatte diesen Text bereits in der Con-fessio Ilerdensis zitiert; nun übersetzt er die dort übernommene Liste moralischer Ab-artigkeiten, die die Vorboten des Antichrist charakterisieren sollen, von denen es u.a.heißt, sie trügen schwarz-weiße Gewänder wie die Dominikaner. Unmittelbar hier-auf folgt ein langes Zitat im Text, die so genannte Offenbarung der Hildegard vonBingen, die Arnau als „heilige Nonne aus Deutschland“ würdigt. In Wahrheit han-delt es sich bei dem nach seinen Anfangsworten auch unter dem Titel Insurgent gentesbekannten Opuskel um eine sehr erfolgreiche antimendikantische Propagandaschriftaus dem Umfeld des Wilhelm von St. Amour (13. Jh.). Interessanterweise bietet Ar-nau pseudo-Hildegards Schrift, in der die Dominikaner u.a. als „neidische Freunde“,„Verkäufer der Vergebung“, „Händler des Ehesakraments“ usw. beschimpft werden,in einer zweisprachigen Ausgabe, d.h., er offeriert zunächst den lateinischen Text,dem er eine ausdrucksstarke katalanische Übersetzung folgen lässt. Gleich darauffährt Arnau fort, Passagen aus seiner Confessio Ilerdensis ins Katalanische zu über-setzen. Dabei denunziert er nicht nur die moralischen Verfehlungen der von ihm sogenannten „falschen Ordensmänner“, die mit „Huren“ verglichen werden, sondernauch ihre intellektuelle Orientierung, denn statt sich ins Studium der Bibel zu ver-tiefen, ergingen sie sich in logischen und naturphilosophischen Spekulationen, die

9 Zur Vernakularisierung prophetischer Texte in der Confessió de Barcelona vgl. Jaume Mensa, „Lavernacularització al català de textos profètics, bíblics i teològics en la Confessió de Barcelona d’Arnaude Vilanova“, in: Anna Alberni u.a. (Hrsg.), El saber i les llengües vernacles a l’època de Llull i Eixime-nis – Knowledge and Vernacular Languanges in the Age of Llull and Eiximenis, Barcelona: Publicacionsde l’Abadia de Montserrat, 2012, S. 44-56.

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8 Einleitung

nicht heilsrelevant seien – eine Kritik, die Arnau den Ruf des Anti-Scholastikers ein-gebracht hat.

Die Selbstübersetzung Arnaus, aber auch die hybride lateinisch-katalanischeTextgestalt kennzeichnen diesen ersten Versuch einer Vernakularisierung seines Den-kens, in dessen Verlauf er mit den „falschen Ordensmännern“ endgültig abrechnetund – nicht nur sprachlich – auf die Laien seiner Zeit, inklusive der weltlichen Herr-scher, setzt. Höchstens zehn Jahre, so Arnau zum Ende seiner seiner Schrift, werde esnoch dauern, bis die Dominikaner entmachtet und endgültig vertrieben seien.

Die Lliçó de Narbona

Dieser in Narbonne vorgetragene Text lässt sich nur schwer datieren: frühestens wur-de er in den ersten Monaten des Pontifikats Clemens’ V. im Jahre 1305 verfasst,spätestens aber gegen Ende des Jahres 1308, bevor Arnau nach Sizilien reiste. In je-dem Fall zählt die Schrift bereits zu den nach-polemischen Werken, in denen Arnauseine Idee des „vollkommenen Christen“ bzw. des „wahren Christentums“ auszu-arbeiten versucht. Adressaten sind, wie der alternative Titel des Werkes, Informatiobeguinorum, verrät, die Beginen, d.h. jene Gruppe von Laien, die sich der geistlichenFührung der Franziskanerspiritualen anvertraut hatten.

Die gerade im 13. Jahrhundert durch den blühenden Handel sehr intensive Ver-städterung war ohne Zweifel eine große Herausforderung für das christliche Lebensowohl der Ordensgemeinschaften als auch der christlichen Laien, die sich allesamtder sich wandelnden Lebenswelt stellen mussten. In dieser Situation wandten sichder spirituelle Franziskanismus eines Petrus Johannes Olivi10 und die sich auf ihnberufenden christlichen Laienbewegungen gegen eine progressive Akkomodation derchristlichen Botschaft an die neuen ökonomischen und sozialen Verhältnisse undforderten demgegenüber eine radikale Rückbesinnung auf fundamentale christlicheWerte.

Arnaus spirituelle Programmschrift für die Beginen ist Ausdruck dieser geist-lichen Rückbesinnung auf das christliche Fundament, d.h. auf die Botschaft JesuChristi, der – wie Arnau zu betonen nicht müde wird – all jene Werte vorgelebthat, die der Christ nachleben muss, wenn er ein wahrhaft gottgefälliges Leben führenund der christlichen Verheißung teilhaftig werden will. Entsprechend ist die Lliçó deNarbona ein pastoraler Traktat über die Tugenden Christi, die Arnau den Beginenaufgibt: Demut und Liebe verkörpert Jesus Christus, in dem Gott Mensch wurde;als armer unter Armen wollte er in einem Winkel eines öffentlichen Platzes zur Weltkommen; Geringschätzung weltlicher Ehren und Freuden; Geduld im Erleiden von

10 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Arnau und Olivi (ca. 1248-1298) einander in den letzten Jahren des13. Jahrhunderts in Montpellier begegneten.

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Das katalanische Œuvre 9

Schmach und Schmerz; und Hoffnung – all diese Tugenden hat Jesus für uns bei-spielhaft gelebt, auf dass wir ihm folgen. Ihm folgen, so Arnau, soll man nicht nur,um seinem Schöpfer Respekt zu zollen und des ewigen Lebens teilhaftig zu werden,sondern auch um Zeugnis von seinem Glauben abzulegen, vor allem aber weil dieVernunft es gebietet. Denn wer sein Denken und Wünschen allein auf die Imma-nenz dieser Welt abstellt, lebt und stirbt in steter Angst und Furcht: zuerst vor demVerlust der Ehren, Freuden und Güter der diesseitigen Welt, an die er sein Herz ge-hängt hat, und dann, wenn er diese an der Schwelle zum Tode loslassen muss, weil erin eins damit sein Heil verwirkt hat.

Arnaus Ausführungen sind klar und präzise. Wirkt die Confessió de Barcelonadurch ihre hypotaktischen Konstruktionen zuweilen etwas technisch, ist die Lliçó deNarbona in ihrem Ausdruck volksnäher. Dies gelingt Arnau zum einen durch seineanaloge Bildersprache, mit der er seine theologischen Kernthesen veranschaulicht.Besonders eindrücklich ist z.B. die Rede vom Fluss des Lebens, an dessen Ufern diefruchtbehangenen Äste von Feigenbäumen ins Wasser ragen; wer seine Hand zu weitnach den süßen Früchten ausstreckt und den Ast allzu dicht an sich heranzieht, gehtschließlich über Bord und ertrinkt. Er verliert alles, was er begehrte: das Boot, dieFeigen und sich selbst. Zum anderen ist der Text gespickt mit exempla oder Anekdo-ten und z.T. längeren Gleichnissen, die die Aussage des Textes narrativ umsetzen unddamit die Aufmerksamkeit des Lesers steigern. So z.B. die Geschichte der beiden Ka-meraden, die gemeinsam zum Studium geschickt werden und deren einer bei seinerRückkehr Hab und Gut spendet und in die Einsiedelei zieht, während der andereseinen Reichtum vermehrt. Als sie sich Jahre später wieder begegnen, ist es der armeEinsiedler, der, gerade weil er nichts hat, alles hat, nur eines nicht: Angst vor demTod.

Die chiliastische Vision Arnaus kommt in der Lliçó de Narbona nicht zur Sprache,dafür jedoch seine Kritik an der Amtskirche und den Ordensmännern. Allerdings istdiese Kritik, die wir hier nicht zu wiederholen brauchen, eingebunden in eine Kritikder Christenheit insgesamt. Alle, ganz gleich welchem Stand sie angehören, müssensich vor Faulheit einerseits und schädlicher Neugierde andererseits in Acht nehmen,sei sie hedonistischer, politischer, wissenschaftlicher oder anderer Natur. Denn dieseNeugierde zieht Aufmerksamkeit und Energie dort ab, wo sie am meisten Not tut:beim Studium des Wortes Gottes.

Besondere Erwähnung verdient schließlich Arnaus luzide Kritik am so genannten„soziologischen Christentum“, das in den urbanen Zentren seiner Zeit an Bedeutunggewann. So identifiziert und analysiert er eine Form des Christentums, die nicht Aus-druck eines religiösen Bekenntnisses, sondern Resultat einer sozial eingeübten Praxisist: Menschen, die aus „gewohnheitsmäßiger Pflichterfüllung“, so Arnau über diepsychologischen Beweggründe, die Messe hören und fasten, statt aus Frömmigkeit.

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Dies, so Arnau, seien Christen nur dem Namen nach, die den Namen Jesu Christizwar als Lippenbekenntis im Munde führten, jedoch nicht in ihren Herzen.

Arnaus flammendes Plädoyer für ein authentisches, nicht nur äußerliches, son-dern auch innerliches Bekenntnis zu Jesus als dem Christus sollte nicht nur die Be-ginen des Languedoc anleiten, sondern fand auch darüber hinaus seine Leserschaft.Dies bezeugt das weitere Geschick des katalanischen Textes, der schon früh nicht nurins Toskanische übersetzt wurde, sondern auch ins Griechische. Letztere Übersetzunghängt vermutlich mit Arnaus Beziehungen zu den Mönchen vom Berg Athos zusam-men, die ihn 1308 in Marseille aufsuchten und ihn um diplomatische Vermittlungzwischen sich und Jakob II. baten, welcher den Übergriffen katalanischer Söldner aufdie Mönche ein Ende bereiten sollte.

Das Raonament d’Avinyó

Die im Januar des Jahres 1310 in Almería vor Jakob II. gehaltene Ansprache ist dasvolkssprachliche Referat einer zuvor am päpstlichen Hof in Avignon gehaltenen Rede.In seiner ursprünglichen Rede im September 1309 wollte Arnau Clemens V. von derbesonderen Sendung Jakobs II. und seines Bruders überzeugen.

Anscheinend wurde Jakob II. aus Avignoner Kreisen zugetragen, Arnaus Vortraghabe an der Kurie Zweifel an des Königs Rechtgläubigkeit aufkommen lassen; ent-sprechend befahl dieser Arnau, umgehend nach Andalusien zu reisen, wo der Königund sein Heer die Muslime in Almería belagerten. Eilenden Fußes verließ Arnau am10. Januar 1310 Sizilien und begab sich binnen einer Woche nach Südspanien, umseinen Herrscher zu besänftigen. In Almería angekommen, versicherte er dem König,er habe in Avignon allein das vorgetragen, was er den beiden Königsbrüdern zuvorals Sprachrohr des Herrn verkündet habe, sowie das, was er nun als Bote der beidenzu verkünden habe.

Als Sprachrohr des Herrn aber habe er den Königen dreierlei dargelegt: Erstensdas nahende Ende der Welt, das sich, wie Arnau hier wiederholt, im laufenden Jahr-hundert ereignen solle. Zweitens den durch und durch verdorbenen Zustand derChristenheit; denn keine Religion sei so entartet wie das Christentum, ja die Chris-ten seien übler als die „Mohammedaner“. Letztere ergingen sich zwar in fleischlichenGenüssen und Exzessen, doch handelten sie dabei wenigstens in Übereinstimmungmit ihrem Bekenntnis zu Mohammed und seinem notorischen Hedonismus. DieChristen hingegen handelten genauso übel wie „Mohammedaner“, würden dabei al-lerdings noch keck behaupten, dem Vorbild Christi nachzueifern. Hier wird erneutArnaus Kritik am „soziologischen Christentum“ virulent: „Wucherer, Wechsler, Ehe-brecher, Hurer, Fresssäcke, Mörder, Verräter und alle möglichen Betrüger“ sind es,die schamlos auf den Kirchenbänken Platz nehmen. Drittens die besondere Verant-wortung der Führungsschichten für diesen traurigen Zustand; denn statt ihre Lei-

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tungsfunktion zu nutzen, um dem einfachen Volk ein Vorbild christlichen Lebenszu sein, tun sie das gerade Gegenteil. Detailliert schildert Arnau die Verirrungen derKirchenoberen, der Fürsten und der Ordensmänner.

Auf diese drei allgemeinen Punkte folgt, was Arnau dem Papst als Bote der Kö-nigsbrüder im Besonderen mitgeteilt habe. Beide seien von Gott berufen worden, dieWahrheit des Christentums auf der ganzen Welt ins Werk zu setzen, d.h. unter Chris-ten, Schismatikern und Heiden, ja auch unter Muslimen und Juden. Ihren Auftraghätten sie bereits begonnen: dies zeige sich nicht nur an ihrer sittlichen Integrität undStrenge, mit der sie sich und ihre Familie disziplinierten, sondern auch und beson-ders an ihren Taten, wie etwa an Jakobs Kreuzzug gegen die Muslime und FriedrichsProgramm zur Ausbildung fachlich geschulter Missionare.

Erzähltechnisch ist das Raonament d’Avinyó komplexer als die beiden bisher vor-gestellten Schriften. Es wird eingeleitet von einigen an König Jakob II. in Almeríagerichteten Worten, geht dann aber in eine Inszenierung der Avignoner Ansprachein direkter Rede über, die ihrerseits im Berichtsmodus auf das rekurriert, was Arnauden beiden Königen zuvor verkündet hatte, so dass letztlich drei Erzählebenen in-einander spielen: Arnau vor Jakob in Almería, Arnau vor dem Papst in Avignon undArnau zuvor vor den beiden Brüdern. Dadurch, dass Arnau als Haupterzählebenedie Avignoner Ansprache wählt, verleiht er seinem Text eine fast schon theatralischeLebendigkeit, deren herausragendes Kennzeichen die orale Färbung ist.

Die literarische Qualität zeigt sich darüber hinaus erneut in den sehr plasti-schen Abschweifungen, mit denen Arnau sein Thema ausmalt. Besonders evokativist sein Bericht über sommerliche Leichenüberführungen wohlgenährter Adliger ausder Grafschaft Urgell nach Poblet, die anders als Seemänner und einfache Arbeitereinen so beißenden Verwesungsgeruch ausströmten, dass sie vor ihrer letzten Reisegründlich eingekalkt werden mussten. Ja in der Provence sei es sogar vorgekommen,so unser viel gereister Autor, dass man einen Reichen in der Mitte eines Kirchenchorsbeigesetzt habe, der dermaßen erbärmlich zu stinken begann, dass im Gotteshauskeine Messen mehr gehalten werden konnten, bis der Körper exhumiert und auf denanliegenden Friedhof geschafft worden war.

Der Grund dafür – und hier meldet sich interessanterweise der Mediziner Arnauzu Wort – sei die Ernährung der Reichen, denn diese würden zu viel essen und mehrfeine und feuchte Speisen zu sich nehmen als andere Menschen, weshalb ihr Leibrascher verwese: „Mehr Säfte entstehen nämlich in ihnen als in denen, die wenigessen und trinken und trockene Speisen zu sich nehmen, wie Brot und Speck, Käse,Knoblauch und Zwieback; so wird ja auch ein Huhn oder eine Gans schneller undheftiger faulen und stinken als ein Kranich.“

Arnaus medizinische und religiöse Kompetenzen ergänzen sich indes häufiger:11

11 Zum systematischen Zusammenhang von Arnaus medizinischem und theologischem Denken siehe

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nicht nur, dass er König Jakob das Regimen Almariae, also ein Gesundheits- und Hy-gienevademecum für seine Truppen vor Ort mitbringt, auch in seinem aufschlussrei-chen Selbstporträt im Raonament d’Avinyó hebt er bewusst auf seinen Beruf als Arztab. So beschreibt er sich als einen lästigen Käfer, der, ganz wie der Arzt, im Kot Frem-der herumwühlt. Und doch, mag sein Stand auch noch so gering sein, beauftragt ihnGott selbst, durch die Welt zu fliegen, um den großen Männern mitten in ihre run-den Gesichter zu stechen. Auch wenn Arnau sich hier, wie auch sonst häufig, nichtwenig erniedrigt, spricht aus seinen wohl kalkulierten Worten ein ungebrochenesSendungsbewusstsein: er ist das Sprachrohr des Herrn, der seine schützende Handüber ihn hält, und Bote der Königsbrüder, von denen er nicht weniger erwartete.

Was den letzten Punkt angeht, hatte sich Arnau jedoch zumindest in Teilen ver-rechnet. Denn alle rhetorische Finesse half nichts. Jakob II. war erbost und blieb esauch, vor allem nachdem er aus Avignon das Original von Arnaus dortiger Anspracheerhalten hatte und mit dem Raonament d’Avinyó vergleichen konnte. Daran konntenweder die beschwichtigenden Worte Clemens’ V. etwas ändern, der der Angelegen-heit Brisanz nehmen wollte, noch die Fürsprache von Jakobs Bruder Friedrich.

Die Informació espiritual

In der Folge konzentrierten sich Arnaus Hoffnungen vor allem auf den sizilianischenKönig Friedrich II. von Aragón, für den er vermutlich im Sommer 1310 in Messinadie Informació espiritual verfasste, die analog zu seinen Informationes beguinorum einegeistliche Unterweisung für den Herrscher bieten will.

Der spirituelle Fürstenspiegel beinhaltet eine große Zahl an Weisungen, die Ar-nau in drei Kategorien einteilt: die Aufgaben des Königs als König, seine Aufgabenals christlicher König sowie schließlich Aufgaben, die ihm als König und als Christgleichermaßen zukommen.

Als König tout court obliegt es ihm, das Allgemeinwohl zu befördern, das er stetsüber seine eigenen Interessen stellen muss; so wie er ferner dafür Sorge zu tragenhat, dass alle – Reiche wie Arme, Mächtige wie Schwache – vor dem Gesetz gleichbehandelt werden.

Als christlicher König muss er sich darüber hinaus eifrig darum bemühen, imPrivaten wie in der Öffentlichkeit die Wahrheit des Christentums zu verwirklichen.Im Privaten bedeutet dies, dass er seine Familie in den christlichen Tugenden ein-üben soll, auf dass er, seine Gemahlin und seine Kinder allen ein leuchtendes Vorbildwerden. Dabei macht Arnau z.T. sehr konkrete Vorschläge; so soll der König seintägliches Mahl stets zusammen mit zwölf oder dreizehn Armen von der Straße zu

Joseph Ziegler, Medicine and Religion c. 1300: The Case of Arnau de Vilanova, Oxford: ClarendonPress, 1998, sowie neuerdings Jaume Mensa, Arnau de Vilanova i les teories medievals de l’amor,Barcelona: Ed. Cruïlla, 2012.

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sich nehmen; auch verbietet es ihm Arnau, sich sexuell der schwangeren Königin zunähern, denn – und wieder spricht der Arzt – das Kind könnte Schaden nehmen. Fürdie Königin hält Arnau ebenfalls eine Reihe von sehr präzisen Geboten und Verbotenbereit. Unter anderem soll sie mindestens viermal im Jahr mit ihren Kammerjung-fern Hospitäler besuchen und den Armen Brot und Trost spenden. Ihrem Gattengegenüber soll sie zwar gefällig sein, doch keinesfalls in einer Weise, die den Herrgottbeleidigen könnte. Was die Erziehung der schulpflichtigen Infanten anbelangt, sollalle Unterhaltungs- und schöngeistige Literatur aus dem Palast verbannt werden; al-lein die Bibel soll die Familie in volkssprachlichen Übersetzungen zur Hand nehmen.

Politisch relevanter sind freilich die Aufgaben, die Arnau dem christlichen Kö-nig in seinem öffentlichen Handeln ans Herz legt. Zauberer soll er aus seinem Reichvertreiben und für mehr Gastfreundschaft eintreten; vor allem aber soll er die Missi-on und Konversion der Andersgläubigen und die damit verbundenen oftmals nichthinreichend mitbedachten Folgeprobleme angehen. So muss der christliche Herr-scher nicht nur die geeigneten Voraussetzungen für den Übertritt von Juden undMuslimen zum Christentum schaffen, sondern später zugleich die materielle Lebens-grundlage der konvertierten Juden und Muslime sichern, die mit ihrem Übertrittzum Christentum auch sozial und vor allem beruflich einen Neuanfang wagen. Da-bei soll nicht verschwiegen werden, dass Arnau für die Juden sehr harte Worte findet:eine einjährige Frist sollen sie bekommen, um überzutreten oder das Land endgültigzu verlassen. Ferner soll es jüdischen Ärzten, denen Arnau durch seine eigene Profes-sion nicht fern stand, untersagt sein, Christen zu behandeln. Bei Zuwiderhandlungdrohen dem Arzt wie auch dem Patienten hohe Strafen. Als König und als Christschließlich hat Friedrich II. weiterhin die Pflicht, Wechsler, Glücksspieler, Piratenusw. aus seinem Hoheitsgebiet zu vertreiben.

Arnau setzt mithin in seinem Reformprojekt auf die Kombination aus dem Ex-empel des Regenten einerseits und der Implementierung der adäquaten gesellschaft-lichen Rahmenbedingungen der Christianisierung der Welt andererseits. Es ist genaudiese Mischung, die nach Arnau dazu führen wird, dass die bis dahin im Verborgenenlebenden wahren Christen, die Beginen, mit ihrem Licht in die Öffentlichkeit tretenwerden: „Die Freunde der Wahrheit des Christentums, die sich wegen der Masse undMacht seiner Feinde verbergen müssen – wie Perlen im Sand, kleine Vögelchen inder Brombeerhecke oder Turteltauben tief im Wald –, werden hervorkommen.“ Abernicht nur diese, denn auch die Muslime werden, wie Arnau beteuert, dem tugendhaf-ten Vorbild Friedrichs mit Bewunderung folgen und sich der von ihm reformiertenChristenheit anschließen.

Anders als in den zuvor behandelten Texten tritt in diesem Werk die ästhetischeDimension von Arnaus Prosa hinter seine pragmatische Absicht zurück, möglichstklare und eindeutige politische Handlungsanweisungen zu geben. So verzichtet erauf analoge oder gar äquivoke Ausdrucksformen, wie sie in den exempla und Bildern

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der anderen Werke vorkommen, und bedient sich stattdessen einer bewusst univokenSprache. Allein im Detailismus der jeweiligen Anweisungen scheint hier und dorteine auch literarische Facette des Textes auf.

Die euphorische Aufnahme der Informació espiritual seitens Friedrichs II. wirdnicht zuletzt dadurch bezeugt, dass der König sich zahlreiche Ideen Arnaus in seinernoch im Herbst des selben Jahres unter dem Titel Constitutiones Regni Trinacriae pro-mulgierten Gesetzessammlung zu Eigen machte, die u.a. die harte Haltung gegenüberden Juden widerspiegelt.

Die Alia informatio beguinorum

Lange Zeit galt die zweite Unterweisung der Beginen, von der man aus der Verurtei-lung von Arnaus Thesen im Jahre 1316 in Tarragona wusste,12 als verloren. In den70er Jahren des letzten Jahrhunderts gelang es Josep Perarnau jedoch, den katala-nischen Text zu identifizieren. Er ist in einem notariellen Dokument vom 15. Juli1312 überliefert, mit dem Guillem Martí, der Vorsteher der Beginen von Barcelona,sich über Anfeindungen kirchlicherseits beschwert und zugleich die Orthodoxie und-praxis der Laienbrüder verteidigt. Diese in das Dokument eingelassene Verteidigungist in Wirklichkeit Arnaus kurze Schrift, in der die Grundüberzeugungen der Beginenin einfachen, aber wirksamen Argumentationen entwickelt werden.

Auch wenn Arnau seinen Text nicht für diesen spezifischen Anlass geschriebenhaben kann, so ist doch klar, dass er bei der Redaktion der Schrift eine Situationvor Augen gehabt haben muss, in der die Beginen sich vor der Kirche und ihrenOrganen für ihre Lebensoption zu rechtfertigen hatten. Dies geht allein schon ausder sprachlichen Form hervor, denn das Werklein ist ganz in der zweiten Person desPlural, also aus der Perspektive der Beginen geschrieben: während Arnau in der erstenUnterweisung der Beginen, der Lliçó de Narbona, zu diesen spricht, artikuliert er hierfür diese ihre Überzeugungen.

Die neun Kernthesen betreffen Armut und Bettelstand, maßvolles und gezügel-tes Leben, Aufgabe allen Besitzes, Verachtung und Geringschätzung der Welt, Got-tesliebe und Gottgefälligkeit, Verzicht auf soziale Anerkennung, Stärke im gemein-schaftlichen Leben, Offenheit des Geistes für Gott und Verweigerung gegenüber demweltlichen Wissen. Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie Arnau diese Thesen for-mal begründet, nämlich mit Rückgriff auf den so genannten biblischen Syllogismus.So wird die Behandlung jeder dieser neun Thesen mit einer simplen, aber durchauseffektiven Schlussfolgerung eingeleitet, deren Obersatz i.d.R. in einer Aussage JesuChristi oder der Bibel allgemein besteht, während der Untersatz eine z.T. ebenfallsbiblisch untermauerte christliche Evidenz zum Ausdruck bringt. So wird etwa die12 Der Text der Verurteilung ist u.a. abgedruckt in Francesco Santi, Arnau de Vilanova: l’obra espiritual ,

València: Diputació Provincial, 1987, S. 283-289.

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absolute Armut der Beginen damit begründet, dass Jesus Christus der Bibel zufol-ge selbst ein armer Bettler war. Wer daher wie Christus sein will – und dies ist einechristliche Evidenz –, soll selbst ein armer Bettler sein.

Inhaltlich besonders aufschlussreich sind die Aussagen zum gemeinschaftlichenLeben der Beginen, die nicht nur einen Einblick in das Leben der Barceloniner Ge-meinschaft des frühen 14. Jahrhunderts gestatten, sondern für das Beginentum desMittelmeerraums insgesamt repräsentativ sein dürften. Offensichtlich war das Selbst-verständnis der Beginen nicht nur stark durch das Vorbild Jesu Christi geprägt, son-dern vor allem auch durch das Ideal des urkirchlichen Lebens. Denn aus Arnaus Wor-ten geht klar hervor, dass die Beginen sich in strikter Kontinuität zur Urkirche sahen.Im Zentrum ihres gemeinschaftlichen Lebens stand neben der gegenseitigen Hilfedurch Freundschaftsdienst und Trost die Lektüre des Wortes Gottes sowie andererprophetischer Texte. Diese Selbstbeschreibung stimmt mit anderen Wahrnehmun-gen und Berichten der Zeit überein. Der zeitgenössische südfranzösische InquisitorBernard Gui etwa hebt unter den verwerflichen Praktiken der Beginen vor allem dasgemeinsame Lesen bzw. Vorlesen volkssprachlicher Übersetzungen und Werke her-vor.13 Dabei waren die Beginen allerdings nicht völlig weltabgewandt, wie aus eineranderen Stelle des Opuskels hervorgeht: Schreiben, Malen, Weben und Nähen ge-hörten ebenso zu ihren täglichen Beschäftigungen.

Der versierte Diplomat Arnau beschließt seine Ausführungen mit einer demü-tigen Respektsbekundung gegenüber der Autorität der Mutter Kirche. So bittet erum Prüfung der vorgebrachten Thesen sowie um die Visitation der Laienbrüder und-schwestern, die in ihrem Selbstverständnis als integraler Teil der Christenheit nichtam Rande oder gar außerhalb, sondern gerade mitten in der Kirche stehen wollen.

Arnaus Apologie der Beginen sollte sich – wie schon die Lliçó de Narbona – einergewissen Popularität erfreuen. So liegt auch von dieser Schrift eine frühe italienische,genauerhin neapolitanische, Übersetzung vor, die die Rezeption des Werkes über denkatalanischsprachigen Raum hinaus dokumentiert.

***

Mit den fünf hier ihrem Inhalt und ihrer Form nach kurz vorgestellten Werken leis-tete Arnau de Vilanova nicht nur einen beachtlichen Beitrag zur Entwicklung derkatalanischen Sprache und Literatur zwischen Ramon Llull und Francesc Eiximenis.Er schrieb zugleich universale Literaturgeschichte, denn seine katalanischen Werkestellen einen frühen Höhepunkt religiösen Schrifttums in der Volkssprache dar, dassich gezielt an ein zu jener Zeit gerade entstehendes europäisches Laienpublikumrichtete.13 Vgl. Bernard Gui, Manuel de l’inquisiteur [= Practica inquisitionis], hrsg. von Guillaume Mollat, 2

Bde., Paris: Champion, 1926-1927, hier Bd. I, S. 110.

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16 Einleitung

Zu Text und Übersetzung

Textgrundlage für die Übersetzung der Confessió de Barcelona, der Lliçó de Narbona,des Raonament d’Avinyó sowie der Informació espiritual ist die von Miquel Batllori imJahr 1947 veröffentlichte Edition dieser Schriften.14 Philologisch problematisch sindvor allem die beiden zuerst genannten Texte, deren zwei Handschriften aus Morellawährend des Spanischen Bürgerkriegs verloren gingen. Entsprechend konnten bei-de Werke von Batllori allein auf der Basis einer früheren Transkription und Ausgabeediert werden. Wie in den Fußnoten zum Bekenntnis von Barcelona ausgewiesen, habeich Batlloris Text an mehreren Stellen korrigiert, da mir der Textsinn dies zu erfordernscheint. Auch im Falle des Vortrags zu Narbonne habe ich Korrekturen vornehmenmüssen, wobei ich mich hier auf die mittelalterliche toskanische (und griechische)Übersetzung des Textes berufen kann,15 die einen zum Teil besseren Wortlaut über-liefert als das verloren gegangene katalanische Manuskript bzw. die Edition. MeineÜbersetzungen der Rede von Avignon und der Geistlichen Unterweisung weisen gegen-über Batlloris Edition kaum Abweichungen auf. Die Zweite Unterweisung der Beginenfolgt dem katalanischen Text, den Josep Perarnau 1978 zusammen mit der mittelal-terlichen neapolitanischen Version des Werkes ediert hat.16 Für die Übersetzung derConfessió de Barcelona, der Lliçó de Narbona und des Raonament d’Avinyó wurde dieeinzig nennenswerte moderne Übersetzung Arnaus religiöser Schriften konsultiert,nämlich die Übertragung ins Portugiesische von Nachman Falbel.17 Da diese Über-tragung jedoch an schwierigen Stellen dazu tendiert, den katalanischen Text sprach-lich gleichsam nachzubilden statt zu übersetzten, war sie nur begrenzt von Nutzen.

Die Arbeit an der deutschen Übersetzung der hier vorgelegten Werke wurde imSommer 2014 während eines Forschungsaufenthaltes am Käte Hamburger Kolleg„Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Euro-pa“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg begonnen. Den dorti-gen Kolleginnen und Kollegen ebenso wie den Leitern des Kollegs, Michael Lacknerund Klaus Herbers, gebührt mein aufrichtiger Dank. Ferner danke ich meinem Kol-legen an der Universitat Autònoma de Barcelona Jaume Mensa, mit dem ich zahlrei-che dunkle Textstellen besprechen und so die Übersetzung – wie ich hoffe – deutlich

14 Arnau de Vilanova, Obres catalanes, vol. I: Escrits religiosos, hrsg. von Miquel Batllori, Barcelona:Editorial Barcino, 1947.

15 Vgl. Miquel Batllori, „Les versions italianes medievals d’obres religioses de mestre Arnau de Vilano-va“, in: Archivio Italiano per la Storia della Pietà 1 (1951), S. 395-462, hier S. 428-453, sowie JoanNadal, Arnaldi de Villanova tractatus octo in graecum sermonem versi (Petropolitanus graecus 113),Barcelona: Institut d’Estudis Catalans, 2002, S. 151-181.

16 Josep Perarnau, L’‚Alia informatio beguinorum‘ d’Arnau de Vilanova, Barcelona: Facultat de Teologiade Barcelona, 1978.

17 Nachman Falbel, Arnaldo de Vilanova, sua doutrina reformista e sua concepção escatológica, Disserta-tion, Universidade de São Paulo, 1977, S. 274-413.

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Auswahlbibliographie 17

präzisieren konnte. Schließlich hat mein Vater, Ulrich Fidora, die Übersetzung ge-gengelesen und ebenfalls zu ihrer Verbesserung beigetragen.

Auswahlbibliographie

Vollständige bibliographische Informationen zu Arnau de Vilanova und seinenSchriften bietet seit kurzem die von Sebastià Giralt und Jaume Mensa gepflegte „Ar-nau Datenbank“: http://grupsderecerca.uab.cat/arnau/

Das folgende Verzeichnis kann sich daher auf die verwendeten Ausgaben und ei-nige grundlegende Arbeiten beschränken. Daneben werden für den deutschsprachi-gen Leser nützliche, wenngleich z.T. bereits ältere Publikationen in deutscher Sprachemit berücksichtigt.

Katalanische Ausgaben:

Arnau de Vilanova, Obres catalanes, vol. I: Escrits religiosos, hrsg. von Miquel Batllori, Barce-lona: Editorial Barcino, 1947.

Perarnau, Josep, L’‚Alia informatio beguinorum‘ d’Arnau de Vilanova, Barcelona: Facultat deTeologia de Barcelona, 1978.

Mittelalterliche Übersetzungen:

Batllori, Miquel, „Les versions italianes medievals d’obres religioses de mestre Arnau de Vila-nova“, in: Archivio Italiano per la Storia della Pietà 1 (1951), S. 395-462.

Nadal, Joan, Arnaldi de Villanova tractatus octo in graecum sermonem versi (Petropolitanus grae-cus 113), Barcelona: Institut d’Estudis Catalans, 2002.

Ausgewählte Studien:

Batllori, Miquel, Arnau de Vilanova i l’arnaldisme, mit einem Prolog von Giuseppe Tavani,València: Tres i Quatre, 1994.

Diepgen, Paul, Arnald von Villanova als Politiker und Laientheologe von 1299 bis Herbst 1308,Berlin/Leipzig: Rothschild, 1909.

Finke, Heinrich, Aus den Tagen Bonifaz’ VIII., Münster i. W.: Aschendorff, 1902.—, Acta Aragonensia. Quellen zur deutschen, italienischen, französischen und spanischen, zur

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Gerwing, Manfred, Vom Ende der Zeit. Der Traktat des Arnald von Villanova über die An-kunft des Antichrist in der akademischen Auseinandersetzung zu Beginn des 14. Jahrhunderts,Münster i. W.: Aschendorff, 1996.

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