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ZUSAMMENFASSUNG „Tutti i racconti moderni della guerra deceliana sono antiquati e da rifare", hatte De Sanctis gefordert, nachdem er richtig erkannt hatte, daß Dio- dor seinen Bericht über die Schlacht von Notion über die Vermittlung des Ephoros dem Autor der Hell. Oxy. verdankt. De Sanctis richtete sich gegen die früheren Darstellungen dieser Periode, die bisweilen konsequent, biswei- len weniger konsequent von der Erzählung Xenophons ausgegangen waren. Angesichts der Dürftigkeit des Quellenmaterials ist zweifellos zunächst die Versuchung groß, bei der Rekonstruktion der Geschichte des Dekeleischen Kriegs zumindest teilweise auf die äußerst detaillierte historiographische Alter- nativtradition zurückzugreifen. Ein vollständiger systematischer Vergleich zwi- schen Xenophon und der Darstellung der Alternativtradition spricht aber dafür, letzterer mit dem größten Mißtrauen zu begegnen. Betrachtet man nur einzelne isolierte Passagen - etwa den Bericht über eine einzige Schlacht - läßt sich die artifizielle Machart, in der in dieser Tradition eine detaillierte Geschichte des Dekeleischen Kriegs hergestellt worden ist, nicht zwingend nachweisen. In der vorliegenden Arbeit sind aber nicht nur alle Schlachtenbeschreibungen, sondern darüber hinaus im Laufe der Gesamtdarstellung der athenischen Politik so gut wie alle Abschnitte untersucht worden, in denen Xenophon und die Alter- nativtradition über die gleichen Inhalte berichten. Dabei konnte gezeigt werden, wie abweichende Angaben, die in der Alternativtradition etwa zu Parteiungen oder Kommandostrukturen zu finden sind, in gleicher Form wie die Schlacht- darstellungen als willkürliche, oft aus Xenophon gesponnene literarische Kon- struktionen erklärt werden können. Diese Arbeitsweise paßt genau zu den Hel- lenika Theopomps, den bereits die antike Literaturkritik als einen πολλά τοΟ Ξενοφώντος μετατιθείς entlarvt hatte. Gegenüber dem als ungenügend emp- fundenen Xenophon wollte Theopomp, der seine Hellenika im jugendlichen Alter schrieb, eine gleichrangige und im Maßstab gleichartige Fortsetzung des Klassikers Thukydides bieten. Dabei ging er von der Darstellung Xenophons aus, die er erweiterte oder zu der er Gegenversionen erfand bzw. aus anderem historiographischen Material konstruierte, das er als wandernder Rhetor sich ohne Schwierigkeiten aus der gesamten griechischen Staatenwelt besorgen Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 1/3/14 4:26 PM

Athens Weg in die Niederlage (Die letzten Jahre des Peloponnesischen Kriegs) || ZUSAMMENFASSUNG

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ZUSAMMENFASSUNG

„Tutti i racconti moderni della guerra deceliana sono antiquati e da rifare", hatte De Sanctis gefordert, nachdem er richtig erkannt hatte, daß Dio-dor seinen Bericht über die Schlacht von Notion über die Vermittlung des Ephoros dem Autor der Hell. Oxy. verdankt. De Sanctis richtete sich gegen die früheren Darstellungen dieser Periode, die bisweilen konsequent, biswei-len weniger konsequent von der Erzählung Xenophons ausgegangen waren. Angesichts der Dürftigkeit des Quellenmaterials ist zweifellos zunächst die Versuchung groß, bei der Rekonstruktion der Geschichte des Dekeleischen Kriegs zumindest teilweise auf die äußerst detaillierte historiographische Alter-nativtradition zurückzugreifen. Ein vollständiger systematischer Vergleich zwi-schen Xenophon und der Darstellung der Alternativtradition spricht aber dafür, letzterer mit dem größten Mißtrauen zu begegnen. Betrachtet man nur einzelne isolierte Passagen - etwa den Bericht über eine einzige Schlacht - läßt sich die artifizielle Machart, in der in dieser Tradition eine detaillierte Geschichte des Dekeleischen Kriegs hergestellt worden ist, nicht zwingend nachweisen. In der vorliegenden Arbeit sind aber nicht nur alle Schlachtenbeschreibungen, sondern darüber hinaus im Laufe der Gesamtdarstellung der athenischen Politik so gut wie alle Abschnitte untersucht worden, in denen Xenophon und die Alter-nativtradition über die gleichen Inhalte berichten. Dabei konnte gezeigt werden, wie abweichende Angaben, die in der Alternativtradition etwa zu Parteiungen oder Kommandostrukturen zu finden sind, in gleicher Form wie die Schlacht-darstellungen als willkürliche, oft aus Xenophon gesponnene literarische Kon-struktionen erklärt werden können. Diese Arbeitsweise paßt genau zu den Hel-lenika Theopomps, den bereits die antike Literaturkritik als einen πολλά τοΟ Ξενοφώντος μετατιθείς entlarvt hatte. Gegenüber dem als ungenügend emp-fundenen Xenophon wollte Theopomp, der seine Hellenika im jugendlichen Alter schrieb, eine gleichrangige und im Maßstab gleichartige Fortsetzung des Klassikers Thukydides bieten. Dabei ging er von der Darstellung Xenophons aus, die er erweiterte oder zu der er Gegenversionen erfand bzw. aus anderem historiographischen Material konstruierte, das er als wandernder Rhetor sich ohne Schwierigkeiten aus der gesamten griechischen Staatenwelt besorgen

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konnte. Daß der Autor der Hell. Oxy. mit diesem Profil durchaus in Über-einstimmung zu bringen ist, zeigt eine Analyse der Schlachten von Ephesos und Notion, läßt sich aber selbst anhand des Londoner Papyrus wahrscheinlich ma-chen. Wenn nun die Diodor vorliegende Tradition einen konstruierten und künstlichen Charakter hat und der Autor der Hell. Oxy. in den Origi-nalfragmenten kein davon grundsätzlich abweichendes Bild bietet, bleibt offen, ob es neben der Erzählung Xenophons eine zeitgenössische detailliertere Dar-stellung des Dekeleischen Kriegs überhaupt gab. Jedenfalls hat das Werk eines solchen jüngeren Zeitgenossen des Thukydides nirgends Spuren hinterlassen.

In dem einen oder anderen Detail - insbesondere zu Themen, über die Xenophon sich völlig ausschweigt, etwa zur Rückeroberung von Pylos oder zu der Schlacht an den Megara-Hügeln - mögen den Hell. Oxy. und der von ihnen abgeleiteten Tradition wertvolle zusätzliche Informationen zugrundeliegen, die in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts etwa in der atthidographischen Literatur oder in Spezialgeschichten wie den Persika des Ktesias ja durchaus zur Verfügung standen. Wo sich jedoch inhaltliche Überschneidungen mit Xeno-phon ergeben, besitzt Xenophon die höhere Dignität, und ist eine Harmoni-sierung beider Traditionen methodisch verfehlt. Eine solche Harmonisierung verfährt nämlich nur auf den ersten Blick behutsamer mit dem Überlieferungs-material, fuhrt in Wirklichkeit aber dazu, daß die authentischen Angaben eines gut informierten Zeitgenossen durch die Verbindung mit literarischen Kon-strukten verfälscht werden und daß man durch vorschnelles Hinzuziehen der Angaben der Altemativtradition den Gehalt der Angaben Xenophons nicht voll-ständig erfaßt. Nicht nur fur die kriegsentscheidenden Flottenoperationen des ausgehenden fünften Jahrhunderts vermittelt die Alternativtradition mit ihren dramatischen Beschreibungen von großen Kampfszenen (etwa bei Ephesos), von detailliert durchgeplanten Strategemen oder von angeblich planvoll koordi-nierten Aktionen athenischer Feldherrn ein völlig unrealistisches Bild. Auch die athenische Innenpolitik dieser Zeit wird - so weit es das Exzerpt Diodors erken-nen läßt - in tendenziösen, schematisierenden oder zumindest konstruierten Formen dargestellt. Es scheint daher ratsamer, auf den Beitrag der (meist nur noch bei Diodor faßbaren) Alternativtraditionen zu verzichten, wobei dieser Verzicht in jedem Einzelfall neu zu begründen ist. Ohne den Zwang, die oft

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diametral entgegengesetzten Versionen Xenophons und der Hell.Oxy. bzw. Di-odors miteinander vereinbaren zu müssen, verbessern sich die Voraussetzungen dafür erheblich, ein klares Bild der Geschichte Athens im Dekeleischen Krieg zu gewinnen.

Neben der kritischen Überprüfung der historiographischen Grundlagen erfordert eine Rekonstruktion der politischen Geschichte Athens auch eine Ent-scheidung in der heftig umstrittenen Chronologie. Eine Musterung der wich-tigsten Argumente, die zugunsten der Chronologie Dodwells und der Chro-nologie Haackes angeführt werden, fuhrt zu dem Ergebnis, daß der Chronologie Haackes der Vorzug zu geben ist. Auf der einen Seite zeigen nämlich Über-legungen zum zeitlichen Verhältnis zwischen der Ephesos-Expedition des Thra-syllos und den militärischen Aktionen im Hellespont, daß zwischen der Schlacht von Kyzikos und der Rückkehr des Alkibiades nach Athen nicht mehr als zwei Kriegswinter liegen können. Auf der anderen Seite bereitet die An-nahme keine Schwierigkeiten, daß nahezu die gleichen Strategen, die im Früh-jahr 407 an die Stelle des Alkibiades und seiner Kollegen gewählt wurden, auch über ein Jahr später zum Zeitpunkt der Arginusenschlacht tätig waren. Für die Rekonstruktion der Chronologie des Dekeleischen Kriegs ist dabei die jüngst durch den Kairoer Papyrus erneut bestätigte Annahme, daß Diodor seinen Stoff letztlich den Hell. Oxy. verdankt, durchaus von Nutzen. Angesichts der von Thukydides inspirierten Bemühungen um ein festes chronologisches Gerüst wird man vermuten, daß der Autor der Hell. Oxy. großen Wert darauflegte, die einzelnen militärischen Operationen und politischen Entscheidungen, über die er mit freien Variationen berichtete, in das richtige Kriegsjahr einzuordnen. Da-bei dürfte ihm Xenophon, der immerhin seinen Stoff nach Kriegsjahren dispo-niert und vielleicht in der ursprünglichen Fassung auf alle Jahreswechsel hin-gewiesen hat, eine gewisse Hilfe geboten haben. Aber auch wenn Xenophon selbst bereits einen Jahreswechsel übersprungen haben sollte, war eine exakte Ordnung der Kriegsjahre schon angesichts der vorhandenen, präzise datierenden atthidographischen Literatur kein allzu schwieriges Unterfangen. So können aus dem Kriegsjahrschema, wie es noch in dem Hell. Oxy.- Exzerpt Diodors durch-scheint, zusätzliche, methodisch durchaus abgesicherte Argumente für die Chronologie Haackes gewonnen werden.

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Erst nach dieser Klärung der quellenkritischen und chronologischen Voraussetzungen läßt sich eine Geschichte der Wechselwirkungen zwischen athenischer Innenpolitik und Kriegführung entwerfen. Die Grundlinien dieser Geschichte gibt dabei Thukydides vor, nämlich in seinem Nachruf auf Perikles. Ohne die Bedeutung des spartanisch-achämenidischen Bündnisses zu ignorie-ren, macht er in der Hauptsache das Versagen der militärisch-politischen Füh-rung Athens und die Zwistigkeiten der übereinander herfallenden Bürgerschaft für den Ausgang des Kriegs verantwortlich. Es läßt sich in der Tat zeigen, daß die Kriegführung der restaurierten Demokratie trotz zwischenzeitlich be-achtlicher Erfolge, die bei der Sicherung oder Wiedereroberung der Arche er-rungen wurden, durch die Desintegration der politischen Elite behindert wurde und daß kriegsentscheidende Fehler wie die dilettantischen Operationen von Aigospotamoi nur aus der innenpolitischen Konfrontation zu erklären sind.

Diese innenpolitischen Konflikte der restaurierten Demokratie sind, so erstaunlich dies nach dem oligarchischen Umsturz von 411 zunächst erscheinen mag, in der Hauptsache nicht durch ideologische Positionen geprägt. Zwar wa-ren 411 die seit jeher vorhandenen Interessenkonflikte zwischen den gesell-schaftlichen Großgruppen in der nahezu aussichtslosen Lage, die nach der Sizi-lien-Katastrophe und nach dem Abfall der wichtigsten Bündner herrschte, von den oligarchischen Verschwörern geschickt instrumentalisiert worden. Dem radikal-oligarchischen Experiment war aber keine Dauer beschieden, weil die Flotte die Verfassung der Vierhundert ablehnte und nur ein Teil der oligarchi-schen Führungsgruppe dazu entschlossen war, um des eigenen Machterhalts wegen den Frieden mit Sparta zu suchen, und zwar auch um den Preis der Ka-pitulation. Der andere Teil optierte gegen die Verständigung mit Sparta, weni-ger aus patriotischen Absichten, als vielmehr, um so die oligarchischen Rivalen auszuschalten. Unter dem Eindruck einer beinahe zum offenen Bürgerkrieg es-kalierenden Situation einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die von Anfang an in den Reformvorstellungen vorgesehene Primärversammlung der Fünftausend einzusetzen. Diese Versammlung wurde aber nach der Niederlage von Eretria, die die Position der radikalen Oligarchen weiter schwächte, nicht mehr gemäß den anfänglich erwogenen exklusiven Kriterien gebildet, sondern breiteren Kreisen geöffnet. In dieser Öffhungsphase ging es den Siegern in der

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inneroligarchischen Auseinandersetzung, d. h. Theramenes und seinen Freun-den, nicht mehr um die Durchsetzung der vor dem oligarchischen Umsturz von 411 diskutierten Reformvorstellungen, so daß auch für eine institutionelle Festi-gung der Fünftausend kaum Sorge getragen wurde. Nach den Flottensiegen im Hellespont ab dem Herbst 411 war dann die Reformbedürftigkeit der Demokra-tie ohnehin kein Thema mehr, und spätestens im zweiten Halbjahr 410 wurde selbst die Misthophorie wiedereingeführt.

In der ab 410 wiederhergestellten „radikalen" Demokratie gab es auf-grund der raschen Diskreditierung des oligarchischen Experiments keine poli-tisch einflußreiche „konservative" Gruppierung, die sich als Systemopposition formiert und in der tagespolitischen Auseinandersetzung auf die Reformbe-dürftigkeit der Demokratie verwiesen hätte. Ebensowenig wie um die Ver-fassungspolitik kam es hinsichtlich der außenpolitischen Ziele zu einer grund-sätzlichen programmatisch-inhaltlichen Auseinandersetzung, nachdem durch die Erfolge von Kynossema, Abydos und Kyzikos die athenische Überlegenheit zur See zurückgewonnen worden war. Solche Auseinandersetzungen hatte es zwar im ausgehenden Archidamischen Krieg und in der Zeit nach dem Nikias-Frieden gegeben, aber nur deshalb, weil tatsächlich mehrere außenpolitische Optionen zur Wahl standen. Dagegen war die Arche über den Ägäisraum bei allen Athenern eine nicht weiter diskutierte Existenznotwendigkeit, und standen daher auch alle hinter dem Ziel einer „Wiedergewinnung der früheren Macht-stellung" (Xen. Hell. I 4,20). Daß es 410 eine Konfrontation um das spartani-sche Friedensangebot nach Kyzikos gegeben haben soll, läßt sich mit guten Gründen ausschließen. Auch später, etwa bei den Auseinandersetzungen um die Person des Alkibiades oder im Arginusenprozeß, ging es nicht um programma-tische Konflikte zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei im Sinne Be-lochs. Noch in der letzten Kampagne von 406 bis 405 wurden selbst die radika-len Entscheidungen der Ekklesia, durch eine grausame Behandlung der Kriegs-gefangenen den Konflikt zu entscheiden, von einer großen Mehrheit getragen. Und selbst nach der Niederlage von Aigospotamoi wurde der Kriegskurs fast einmütig befürwortet, weil die Erhaltung der Langen Mauern als Schutz vor der drohenden Versklavung verstanden wurde.

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Gerade weil in verfassungs- und in außenpolitischer Hinsicht nach der Eliminierung der Oligarchen in der stadtathenischen Politik weitgehend Einig-keit bestand und abweichende programmatische Positionen weder in der Ekkle-sia noch in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurden, standen nun die Ri-valitäten zwischen den Personen im Vordergrund. Subjektiv mögen viele der an diesen Rivalitäten beteiligten Politiker der Ansicht gewesen sein, mit ihren per-sönlichen Initiativen in der Ekklesia zur Effizienz der von allen unterstützten Kriegführung beizutragen. Dies gilt vor allem für Kleophon, dessen „kriege-risches" Gebaren in der zeitgenössischen Komödie mehrfach karikiert wurde und der - insbesondere mit der Einführung der Diobelie - tatsächlich konstrukti-ve Maßnahmen veranlaßte, die es der stadtathenischen Bevölkerung erlaubten, die Dauer des Krieges durchzustehen. Auch Demophantos, dessen 410 einge-brachter Antrag zum Schutz der demokratischen Ordnung im wesentlichen eine nachträgliche Sanktionierung des Widerstands der demokratischen Flotte dar-stellte, mag der ehrlichen Überzeugung gewesen sein, durch seinen Gesetzes-vorschlag den Zusammenhalt von Stadt und Flotte zu stärken und damit zum Sieg beizutragen. Trotz dieser im Einzelfall für die Kriegführung förderlichen Initiativen begünstigten jedoch die persönlichen Rivalitäten, die die Demagogen untereinander in der Konkurrenz um die Volksgunst austrugen, ein innenpoliti-sches Klima, das die Durchsetzung des Gesamtziels behinderte, zumal sowohl Kleophon als auch Demophantos populistisch auf die Ausgrenzung angeblich kriegs- und demokratiefeindlicher Minderheiten setzten, um in der Ekklesia ei-nen großen Anhang mobilisieren zu können.

Letztlich hätten allerdings die stadtathenischen Demagogen trotz ihrer permanenten und desintegrierenden Rivalität um die Meinungsführerschaft al-lein die Stadt kaum zu Fall bringen können, da die Flotte nach ihren Erfolgen von 411 selbständig neben der stadtathenischen Ekklesia agierte und die wichti-gen Entscheidungen nun auf einer komplexeren Ebene getroffen wurden, in der Flotten-Ekklesia und stadtathenische Ekklesia miteinander in Beziehung stan-den. Auf dieser Ebene ging es kaum um programmatische Fragen, sondern dar-um, wer am ehesten geeignet war, das gemeinsame Kriegsziel zu erreichen, und wem deshalb die (informelle) Führung des demokratischen Gemeinwesens zu-kam. Daß eine Geschichte des Dekeleischen Krieges im wesentlichen eine Ge-

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schichte der prominenten Politiker Theramenes, Thrasybulos, Konon und vor allem Alkibiades ist, liegt daher keineswegs an einer bloßen personalistischen Reduktion der Historiographie des vierten Jahrhunderts, auch wenn es einen Unterschied macht, ob diese Personen heroisiert und idealisiert werden (wie in der Alternativtradition) oder schlicht ihre Aktionen dargestellt werden, aus de-nen man gegebenenfalls ihre politisch-persönlichen Motive rekonstruieren kann (wie bei Xenophon).

Daß Theramenes sich im inneroligarchischen Machtkampf von 411 hatte durchsetzen können, sicherte ihm nur kurze Zeit eine - allein auf Stadt-Athen beschränkte - führende Position. Mit der Option, Flotte und Stadt wieder zu ver-einen, fiel aber diese Führung an Alkibiades, eine Tatsache, die in der Alter-nativtradition durch die Legende von der gleichberechtigten Kooperation zwi-schen Theramenes und Alkibiades bewußt in Abrede gestellt wurde. In seiner Eigenschaft als ab 411 permanent wiedergewählter Stratege und Prostates der Flotten-Ekklesia dominierte Alkibiades über mehrere Jahre auch die politischen Entscheidungen in der Stadt. Die auf diese Weise gesicherte Kontinuität und Stabilität der militärischen und politischen Führung trug entscheidend zur Wie-derherstellung der athenischen Machtstellung bei. Eine dauerhafte Wahrung seines eigenen Einflusses in Flotte und Stadt war Alkibiades allerdings nur so-lange möglich, als der Erfolg seiner Kriegführung im Hellespont anhielt. Die Wiedereroberung von Byzanz gelang aber Alkibiades nur durch diplomatische Mittel, während nicht einmal mehr das benachbarte Kalchedon in die athenische Arche zurückkehrte. Vor allem hatte Alkibiades zwei Jahre nach Kyzikos im-mer noch nicht die Unterstützung der persischen Satrapen gewonnen, die allein ein schnelles Ende des Krieges versprach. Allmählich konnte die gegen Alki-biades orientierte Gruppe in Athen großen Einfluß gewinnen und 408 sogar sei-ne Wiederwahl zum Strategen gefährden, wobei nicht zuletzt die alten, seit 415 permanent wiederholten Bedenken wegen seiner angeblichen Verfehlungen gegen die Volksreligion geschickt instrumentalisiert wurden. Aus diesem Grun-de sah sich Alkibiades gezwungen, nach Athen zurückkehren. Diese Rückkehr brachte zunächst seine Gegner in dem allgemeinen Klima euphorischer Erwar-tungen vorübergehend zum Verstummen, und das Führungsproblem wurde er-neut in seinem Sinne entschieden, indem man auch in der Stadt anerkannte, daß

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er allein fähig war, die „frühere Machtstellung der Stadt wieder zurückzugewin-nen" (Xen. Hell. 14,20).

Gerade die hohen Erwartungen, mit denen Alkibiades von Athen aus nach Ionien geschickt worden war, bedrohten aber erneut dessen Position, weil jeder kleine Rückschlag die vorübergehend errungene, letztlich aber nicht auf wirklicher Popularität beruhende Mehrheit gefährden mußte. Die Tatsache, daß er in Notion das Kommando Antiochos überlassen hatte, wurde ihm von Dem-agogen nicht nur als Nachlässigkeit, sondern als bewußte Verletzung der demo-kratischen Spielregeln (ακράτεια) vorgeworfen, was in Verbindung mit den alten Vorwürfen demokratiefeindlicher Gesinnung dazu führte, daß er für das Jahr 407/406 nicht mehr zum Strategen gewählt wurde. Nach der militärisch notwendigen Auffrischung der Trierenmannschaften, die 408 bei seiner Rück-kehr nach Athen erfolgt war, hatte Alkibiades keine Möglichkeiten mehr, sich gegen diese stadtathenische Entscheidung zu wehren. Denn das alte, durch die gemeinsamen Erlebnisse ab 411 gefestigte Nahverhältnis zur Flotte war nicht mehr vorhanden, und die Schlappe von Notion hatte dazu gefuhrt, daß die Dis-kussionen um die Führungsleistung des Alkibiades auch in die Flotte hineinge-tragen wurden. Weil sich mit der Rückkehr des Alkibiades nach Athen die bi-polare Struktur des attischen Gemeinwesens aufgelöst hatte und die Flotten-Ekklesia keine selbständige, unabhängig von den stadtathenischen Konflikten agierende Einheit mehr darstellte, entfiel ein stabilisierender Faktor, der die Kontinuität des Kommandos garantiert hatte.

Nach der faktischen Abwahl des Alkibiades wurde vorübergehend Ko-non mit der Führung der Kernflotte beauftragt, die er wegen der massiven Ab-werbungen durch die Peloponnesier auf nur siebzig Trieren reduzieren mußte. Als er im Juni 406 mit der Flotte in Mytilene blockiert wurde, verhinderte man die unmittelbar bevorstehende Niederlage nur durch ein Notaufgebot, in dem die Stadt noch einmal die letzten Kräfte mobilisierte und zur Einheit zusammen-fand. Das durch das Versagen Konons erneut aufgeworfene Führungsproblem wurde nun dadurch gelöst, daß man alle acht Strategen mit einem gemeinsamen Kommando beauftragte. Wegen dieser gemeinsamen Verantwortung wurden dann auch alle Strategen nach Athen abberufen, als sie sich vor der Boule trotz des bei den Arginusen errungenen Sieges wegen der hohen Verluste an Mann-

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Schäften zu verantworten hatten. Diese Untersuchungen führten zu einer innen-politischen Katastrophe, weil gerade der skrupellose Theramenes während der Schlacht zu den mit der Rettung der Schiffbrüchigen beauftragten Trierarchen gehört hatte und so in die Arginusenäffare mit verwickelt war. Da er aufgrund seiner Rolle bei den Umstürzen von 411 bei einem Prozeß mit der Rache zahl-reicher persönlicher Feinde rechnen mußte, glaubte er sein physisches und poli-tisches Überleben nur durch einen Gegenangriff und durch die kollektive Ab-urteilung der Strategen garantieren zu können. Er ging dann zwar mit knapper Not als Sieger aus dem Arginusen-Prozeß hervor, der als ein auf Leben und Tod geführter Kampf zwischen zwei ad hoc gebildeten Gruppierungen und ihren jeweils zahlenmäßig stets schwankenden Anhängerschaften aufgefaßt werden muß. Aber aufgrund der starken Polarisierung während des Prozesses war er in der folgenden Zeit nicht fähig, die Stadt unter seiner politischen Führung zu einigen. Auf der anderen Seite gelang es freilich auch der während des Prozes-ses tief gespaltenen Anhängerschaft des Alkibiades nicht, sich nach der Besei-tigung der kollektiven Führungsgruppe der Arginusen-Strategen erneut zu for-mieren und die Rückberufung des Alkibiades durchzusetzen. Vielmehr ent-schloß sich die Volksversammlung trotz der bevorstehenden Entscheidungs-schlacht, die mit der Neuberufung des Lysandros unvermeidlich geworden war, und trotz der eigenen umfangreichen Aufrüstung von fast zweihundert Trieren erneut zu einem schwerfälligen kollektiven Kommando, indem für 405 neben Adeimantos, Philokles und Konon nur wenig profilierte Fachmilitärs zu Strate-gen gewählt wurden. Den Strategen gelang es nicht, die Einfahrt des Lysandros in den Hellespont zu verhindern, und beim Versuch, den Schaden zu begrenzen, gefährdeten sie die Flotte, indem sie über mehrere Tage vom ungünstigen Strand von Aigospotamoi aus die Flotte des Lysandros zu bekämpfen suchten. Als Alkibiades ihnen den Abzug in das sicherere Sestos empfahl, beharrten sie gerade aufgrund der Rivalität zum langjährigen charismatischen Führer der athenischen Flotte auf ihrer falschen Entscheidung.

Die Niederlage im Peloponnesischen Krieg ist der große Wendepunkt der griechischen Geschichte der klassische Zeit. Auch wenn die Athener einige Jahre später überraschend schnell wieder am Konzert der Mächte teilnahmen, war durch das Scheitern Athens die Chance einer dauerhaften Stabilisierung und

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Organisation der griechischen Staatenwelt verwirkt, die letztlich auch nicht von der makedonischen Monarchie zustande gebracht worden ist. Und auch die athenische Demokratie selbst veränderte durch den Verlust der Arche ihren Charakter, weil sie von nun an auf die glanzvolle Vergangenheit fixiert blieb und weil trotz aller kreativen Neuansätze und Weiterentwicklungen das „alte, colossale Athen" (Niebuhr) mit dem heroischen Zug naiv-selbstverständlichen „Könnens-Bewußtseins" (Meier) in der Tat nicht mehr existierte. Umso wichti-ger ist es, sich die Gründe dieser nicht nur für den Verlauf der politischen Ge-schichte, sondern auch für die Geistesgeschichte so entscheidenden Niederlage zu vergegenwärtigen. Diese Niederlage war in keiner Weise determiniert, etwa durch den hybriden „Geist der Politik", der bereits zur Sizilienexpedition ge-führt hatte (Heuss), oder durch die zunehmende Zügellosigkeit eines durch ra-dikale Politiker verführten Demos. Vielmehr kann gerade der Verlauf des Deke-leischen Kriegs durchaus als Beweis der Leistungsfähigkeit der athenischen Demokratie gewertet werden, der es im Zusammenwirken von Flotte und Stadt überraschend gelang, nach der gescheiterten Sizilien-Expedition und nach der Stasis von 411 die scheinbar unmittelbar bevorstehende Katastrophe zu verhin-dern. Die personalen Strukturen, die die Politik Athens prägten, nämlich die Konkurrenz führender Politiker und Militärs um die Führung des Gemeinwe-sens, machten aber in der extremen Situation des Kampfs um die Arche die vorübergehend erfolgreiche athenische Kriegführung in hohem Maße für kon-tingente Faktoren anfällig, etwa für Defizite in der Persönlichkeit führender Po-litiker. Die vielleicht übertriebene Bedeutung, die Thukydides dem Perikles als einem exemplarischem Glücksfall einer das gesamte Staatswesens integ-rierenden Persönlichkeit einräumt, erklärt sich vor dem Hintergrund der schwe-ren Niederlage von 405/404, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle herbeigeführt wurde und die durch eine gesamtverantwortliche Ein-stellung des Theramenes oder durch größere Bemühungen des Alkibiades um einen populären Rückhalt möglicherweise hätte verhindert werden können. Die Niederlage von 405/404 bietet damit einen Schlüssel zum Verständnis des thu-kydideischen Geschichtswerks, so wie umgekehrt der Weg in die Niederlage aufgrund der Andeutungen des Thukydides rekonstruiert werden muß.

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