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  WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011 30 Politische Tei lhabe ist ein zentraler Bestandteil jeder Demokratie. Dabei geht es nicht um Beliebiges, sondern um freiheitlich ausgestaltete und gesicherte Par- tizipation in einem pluralistischen Wettbewerb. Gleichzeitig muss die Freiheit durch politische Beteiligungsrech te gegen Übergriffe in Form paternalistischer Bevormundu ng oder autoritärer Einschränk ungen abgesichert werden. Jürgen Habermas hat dies als die normative wie funktionale Gleichursprünglichkeit von politisch-partizipativen und freiheitlichen Rechten bezeichnet. Ein subs- tanzieller und nicht nur formaler Demokratiebegriff muss neben der bloß theo- retischen Gewährung dieser Rechte auch die praktische Wirklichkeit dieser Rechte in den Blick nehmen. Diese Wirklichkeit ist in den meisten westlichen Demokratien gegenw ärtig geprägt durch nachlas sende und asymmetrische Par- tizipation wie Repräsentati on: Die Wahlbeteil igung geht zurück – dies gefährdet den partizi pativen K ern der Demokratie. Die soziale Selektivi tät der Beteiligung nimm t zu – dies verletzt das demokra- tische Gleichheitsprinzip. – Die Wahlergebnisse der Volksparteien erodieren und vermindern damit die politische Integra tionsfähigk eit just in einer Zeit, in der die heterogener ge- wordenen Gesellschaften V olksparteien besonders bedürfen. – Die Parteien verlieren Mitglieder und damit die V erankerung in der Gesellschaft. Gegen diese Krisenerscheinungen wurden in den vergangenen Jahren etliche Gegenmittel vorgeschlagen. Wir wollen vier Reformvorschläge etwas näher in den Blick nehmen. 1. Die Zivilgesellschaft stärken? Der Rückgang konventioneller politischer Beteiligung (sprich: Wahlen) kann prinzipiell auch in repräsentat iven Demokratien durch Elemente direkter Parti- zipation ausgeglichen werden. Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerbewe- gungen, zivilgesellschaftl iche Assoziationen, Petitionen und andere Unterschrif- tenaktionen sowie Demonstrationen sind Beispiele für alternative und ergänzende Formen politischer Partizipation; der Boykott bestimmter Produkte oder ein kritisches Konsumverhalten im Allgemeinen sind Beispiele für ein weiter gefasstes V erständnis alternativer Partizipationsformen.  Auf de m W eg zur Zweid ri ttel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise  Alex ander Petring und Wolfgang Merkel Summary: Political participation in developed democracies is steadily decreasing. Voter turnout is in decline, social selecti- vity of political participation is on the rise. The major political parties face th e challenge of dwindling membership. Strengthening elements of direct democracy or fostering al- ternative methods of political involvement are insufficient. On the contrary, these forms of participation are even more pro- ne to exclude the poor and less well educated. What is needed is a broad range of preventive social, f iscal and educational policies which counteract social exclusion of a sig nificant part of the population. Kurzgefasst: Die aktive T eilnahme am politischen Prozess nimmt kontinuierlich ab: Die Wahlbeteiligung geht zurück, die soziale Selektivität der Partizipation verschärft sich, die Volks- parteien verlieren an Bindungskraft und beklagen seit Jahren einen massiven Mitgliederschwund. Die Stärkung direkt-de- mokratischer Elemen te oder alternativer pol itischer Betäti- gungsformen wären keine probaten Gegenmittel. Im Gegenteil – diese Beteiligungsformen sind noch stärker einer sozialen Selektion unterworfen. Wichtig wäre – neben einer deutl iche- ren Profilierung der Parteien - eine breit gefächerte präven ti- ve Politik, d ie der dauerhaften sozialen Exklusion großer Be- völkerungsteile entgegenwirkt.

Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise

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Participation Crisis

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7/18/2019 Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise

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Politische Teilhabe ist ein zentraler Bestandteil jeder Demokratie. Dabei geht esnicht um Beliebiges, sondern um freiheitlich ausgestaltete und gesicherte Par-tizipation in einem pluralistischen Wettbewerb. Gleichzeitig muss die Freiheitdurch politische Beteiligungsrechte gegen Übergriffe in Form paternalistischerBevormundung oder autoritärer Einschränkungen abgesichert werden. JürgenHabermas hat dies als die normative wie funktionale Gleichursprünglichkeitvon politisch-partizipativen und freiheitlichen Rechten bezeichnet. Ein subs-tanzieller und nicht nur formaler Demokratiebegriff muss neben der bloß theo-retischen Gewährung dieser Rechte auch die praktische Wirklichkeit dieserRechte in den Blick nehmen. Diese Wirklichkeit ist in den meisten westlichenDemokratien gegenwärtig geprägt durch nachlassende und asymmetrische Par-tizipation wie Repräsentation:

Di W hlb t ili ht ü k di fäh d t d ti i ti K d

 Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise Alexander Petring und Wolfgang Merkel

Summary: Political participation in developed democracies issteadily decreasing. Voter turnout is in decline, social selecti-vity of political participation is on the rise. The major politicalparties face the challenge of dwindling membership.Strengthening elements of direct democracy or fostering al-ternative methods of political involvement are insufficient. Onthe contrary, these forms of participation are even more pro-ne to exclude the poor and less well educated. What is neededis a broad range of preventive social, fiscal and educationalpolicies which counteract social exclusion of a significant partof the population.

Kurzgefasst: Die aktive Teilnahme am politischen Prozessnimmt kontinuierlich ab: Die Wahlbeteiligung geht zurück, diesoziale Selektivität der Partizipation verschärft sich, die Volks-parteien verlieren an Bindungskraft und beklagen seit Jahreneinen massiven Mitgliederschwund. Die Stärkung direkt-de-mokratischer Elemente oder alternativer politischer Betäti-gungsformen wären keine probaten Gegenmittel. Im Gegenteil– diese Beteiligungsformen sind noch stärker einer sozialenSelektion unterworfen. Wichtig wäre – neben einer deutliche-ren Profilierung der Parteien - eine breit gefächerte präventi-ve Politik, die der dauerhaften sozialen Exklusion großer Be-völkerungsteile entgegenwirkt.

7/18/2019 Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise

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Doch es zeigt sich, dass die soziale Selektivität bei den alternativen Partizipati-onsformen noch wesentlich stärker ausgeprägt ist als bei der Wahl als konven-tioneller Form der politischen Partizipation. Allein aus diesem Grund könnenzivilgesellschaftliche Assoziationen und Initiativen nie die demokratischen Aus-fallbürgen niedergehender (Volks-)Parteien sein. Trotz aller positiven Partizipa-tionsimpulse, die von der Zivilgesellschaft ausgehen können, verstärken diesein aller Regel die Tendenz der Exklusion unterer Schichten aus der politischenSphäre. Während sich bei allgemeinen Wahlen die mittleren und höheren Ein-kommensschichten noch in vergleichsweise geringem Maße stärker beteiligen,weisen andere zivilgesellschaftliche Aktivitäten eine sichtbar stärkere Asym-metrie der Beteiligung zuungunsten der unteren Klassen auf. Bezieht man zu-sätzlich die erdrückende Dominanz gut gebildeter junger Menschen in denNichtregierungsorganisationen in die Partizipationsbilanz ein, verstärkt sichdie soziale Schieflage (siehe auch den Beitrag von Sebastian Bödeker, S. 26-29,und die Grafiken auf S. 27 dieses Hefts). Zugespitzt formuliert: Die zunehmendenzivilgesellschaftlichen Aktivitäten verschärfen gerade jene Exklusionskrank-heit unserer Demokratie, die sie eigentlich heilen sollen. ZivilgesellschaftlicheOrganisationen können kein Ersatz für starke Volksparteien und Gewerkschaf-ten sein.

2. Mehr direkte Demokratie wagen?

Sind die Hoffnungen auf die direkte Demokratie gerechtfertigt? Die direkte De-mokratie gibt dazu in der Realität wenig Anlass. Volksabstimmungen haben einegrößere soziale Schieflage als allgemeine Wahlen. Es sind die wohlhabenderenund die besser gebildeten Bürger, die das „Volk“ in Referenden vertreten. Ver-treter einer elitären Demokratie könnten argumentieren, dass dies durchauswünschenswert sei, da dadurch auf gleichsam „natürliche“ Weise unvernünftigeEntscheidungen „unvernünftiger“ Bevölkerungsschichten unwahrscheinlichwürden. Dass dies ein substanzloses Argument ist, liegt auf der Hand. Fachkom-petenz bedeutet schließlich nicht notwendigerweise Gemeinwohlorientierung.Die besser Gebildeten vertreten ebenso ihre partikularen Interessen, wie diesdie weniger gebildeten Wähler tun.

Es soll kein Zweifel aufkommen: Referenden können eine sinnvolle Ergänzungin repräsentativen Demokratien sein. Ihre legitimierende Funktion soll nichtverschwiegen werden. Doch die Probleme der sozialen Selektivität des demo-kratischen Systems lassen sich mit direktdemokratischen Verfahren keinesfallslösen.

[Foto: David Ausserhofer]

 Alexander Petring ist seit 2004 wissenschaftlicher

Mitarbeiter der Abteilung Demokratie: Strukturen,Leistungsprofil und Herausforderungen. In seinerDissertation analysierte er die Reformtätigkeit vonWohlfahrtsstaaten. Von März 2011 bis Juni 2012forscht er als A.SK-Fellow in Buenos Aires (Argenti-nien).

7/18/2019 Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise

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distanziert gegenüberstanden, sind gezwungen, sich Gedanken darüber zu ma-chen, welche Partei sie wählen sollen. Damit ist die Wahlpflicht auch eine Maß-nahme der politischen Bildung. Und ganz grundsätzlich lässt sich argumentie-ren, dass eine der Grundideen des proportionalen Wahlsystems – das Parlamentals repräsentatives Abbild der Volksmeinung zusammenzusetzen – nur dannverwirklicht wird, wenn auch tatsächlich möglichst alle Bürger gewählt habenund nicht nur ein bestimmter Teil, der die Bevölkerungsstruktur lediglich ver-zerrt widerspiegelt.

Es gibt jedoch auch Argumente gegen die Einführung einer Wahlpflicht. Dasvielleicht stärkste Gegenargument ist der mit der Wahlpflicht verbundene Ein-griff in die individuellen Freiheitsrechte. Auch wenn dieser Eingriff minimal ist,kann man die Problematik nicht völlig von der Hand weisen. Bevor man aller-dings den durch die Einführung der Wahlpflicht induzierten Untergang der frei-heitlichen Demokratie postuliert, lohnt es, den tatsächlichen Freiheitsverlustund die damit verbundenen Gefahren zu benennen. Denn auch bei einer Wahl-pflicht haben alle Bürger natürlich weiterhin die Gelegenheit, keine Partei zuwählen oder den Stimmzettel ungültig zu machen. In einigen Ländern gibt odergab es auf Wahlzetteln bereits die Kategorie „none of the above“ („keine/r dergenannten Parteien oder Kandidaten“).

Der tatsächliche Freiheitsverlust reduzierte sich durch die Einführung einersolchen Wahloption dann lediglich auf die Zeit (30 bis 60 Minuten), die der Wahl-gang bzw. die Beantragung und Ausführung der Briefwahl kosten. Diese Frei-heitskosten scheinen deutlich hinter dem zurückzubleiben, was durch eineWahlpflicht an demokratischer Gleichheit und Qualität hinzugewonnen werdenkann. Der demokratietheoretische Gütertausch heißt: minimale Freiheitsein-schränkung gegen beachtliche Gleichheitsgewinne. Gleichwohl sollte eine sol-che die Freiheit einschränkende Maßnahme nur nach einem intensiven öffent-lichen Diskurs beschlossen werden.

4. Klare programmatische Konturen schaffen?

Die vierte Option setzt anders als die zuvor genannten nicht an den Institutio-nen und Verfahren an, sondern richtet sich auf die Angebotsseite des politi-schen Systems: die Parteien. Studien haben gezeigt, dass die Ausdifferenzierungdes programmatischen Angebots der zur Wahl stehenden Parteien einen positi-ven Einfluss auf den Mobilisierungsgrad der Wähler hat. Je deutlicher die Partei-en unterscheidbar sind, umso höher ist die Wahlbeteiligung. In den vergange-

d i bi i J h h t h b i h di kl i h K ähl h ft

[Foto: David Ausserhofer]

Wolfgang Merkel ist seit 2004 Direktor der Abtei-

lung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil undHerausforderungen und Professor für VergleichendePolitikwissenschaft und Demokratieforschung ander Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für So-zialwissenschaften. Zu seinen Forschungsthemengehören unter anderem Demokratie und Demokra-tisierung, politische Regime, Sozialdemokratie undsoziale [email protected]

7/18/2019 Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie Wege aus der Partizipationskrise

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Möglicherweise ist die Formulierung und Durchsetzung entsprechender Vorha-ben wesentlich wirkungsvoller als alle rechtlichen und organisationellen Refor-men der demokratischen Kerninstitutionen. Diese Vermutung läge zumindestdann nahe, wenn die partizipatorische Schieflage lediglich die Konsequenz derimmer tiefer gewordenen Kluft zwischen Arm und Reich, prekär und gesichertBeschäftigten, gut gebildeten und wenig gebildeten Bürgern wäre. Anstatt sich

also im hoffnungslosen Kampf gegen die Symptome aufzureiben, müssten dieUrsachen angegangen werden. Diese Ursachenbekämpfung wäre dann zualler-erst die Aufgabe einer veränderten Bildungs-, Sozial-, Steuer- und Wirtschafts-politik. Der Beweis, dass Politik auch heute noch in der Lage ist, Ungleichheitenzu reduzieren, Märkte zu domestizieren und demokratischer Kontrolle zu unter-werfen – kurzum: dass Politik die ökonomischen Verhältnisse gestaltet undnicht umgekehrt –, könnte auch jenen Teil der Bürgerschaft wieder dazu moti-vieren, sich politisch zu beteiligen, der sich momentan frustriert und hoff-nungslos von ihr abgewendet hat.

 Literatur  Merkel, Wolfgang/Petring, Alexander: „Partizipation und Inklusion“. In: Friedrich Ebert Stiftung (Hg.): Demokratie in Deutschland 2011. Berlin: Friedrich Ebert Stif-tung 2011 (im Erscheinen).