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Matthias Stresow
Erich Kästnersin Dresden
Auf den Spuren
Erich Kästnersin Dresden
Auf den Spuren
Matthias Stresow
Sandstein Verlag
IchbineinDeutscher
ausDresdeninSachsen.
MichlässtdieHeimatnichtfort.
IchbinwieeinBaum,
der–inDeutschlandgewachsen–
wenn’sseinmuss
inDeutschlandverdorrt.
ErichKästner
5
Das Dresden Erich Kästners
Am 23. Februar 1899 kommt in Dresden-Antonstadt Erich Käst-
ner zur Welt. Als Anfang der 1930er-Jahre seine Gedichte, Kin-
derbücher und Romane über die deutschen Grenzen hinaus
bekannt werden, ist Kästner bereits Berliner. Als Münchner
lässt er 1957 einen Kindheitsroman erscheinen, der noch
heute zu den beliebtesten seiner Bücher zählt. Gerade in seiner
Geburtsstadt wird er besonders gern gelesen: »Als ich ein klei-
ner Junge war«. Er ist ebenso eine Hymne auf seine Heimat-
stadt wie eine kritische Sozialgeschichte. Dieses Buch soll uns
auf unserem Gang durch die Stadt begleiten und helfen, Käst-
ners Dresden im heutigen zu entdecken.
Anfang des 20. Jahrhunderts zählte Dresden etwa eine
halbe Million Einwohner und war damit die viertgrößte Stadt
im Deutschen Reich. Dresden war Landeshauptstadt und Re-
sidenz der sächsischen Könige, es hatte den Ruf einer europä-
ischen Kunst- und Kulturmetropole und nutzte stolz den
Namen »Elbflorenz«. Zur Jahrhundertwende regierte mit
König Albert ein Wettiner, der sich als Ausnahme von der
Regel auch auf dem Schlachtfeld Lorbeeren verdient hatte. Er
war der Onkel des volksnahen späteren Königs Friedrich Au-
gust III., den Kästner ausgiebig beschreibt. Als Albert 1902
starb, nahmen Hunderttausende Trauernde Abschied vom
König. Die Monarchie wurde noch akzeptiert.
linksPlan der Neustadt mit ausgesuchten
Adressen
Seite 2Blick über den
Albertplatz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Alaunplatz
ElbeElbe
Bischofsweg
Louisenstraße
Tieckstr.
Alau
nstra
ße
St. Pauli Friedhof
Hec
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Albert-platz
Köni
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raße
Stauffenbergallee
200 m
2930
38
48
66
Bautzner Straß
e
Bahnhof N eustadt
6 7
Die Dresdner galten damals wie heute als Freunde der Künste,
doch auch als konservativ, nicht nur der Königstreue wegen.
Neben Oper und Schauspiel liebten sie das volkstümliche
Sommertheater, die großen Volksfeste auf der Vogelwiese, das
Gondeln auf dem Carolasee, die Pferderennen auf der Seidnit-
zer Galopprennbahn und die großen Ausstellungen im Aus-
stellungspalast an der Stübelallee. Aber sie hatten, anders als
die Leipziger, ein bisschen Scheu vor der Moderne. Sie waren
brave Bürger, königstreu eben, Genießer und mit Vorliebe in
den zahlreichen Cafés ihrem »Schälchn Heeßn« zugetan. Was
Wunder, wenn die Industrie davon profitierte. In Dresden
stand Deutschlands erste Zigarettenfabrik und hier war die
Schokoladenherstellung zuhause. Kästner wuchs ganz in der
Nähe von Jordan & Timaeus, einer bekannten Schokoladenfa-
brik, auf. Die sächsische Metropole zählte zu den deutschen
Bierstädten und besaß eine bedeutende Tabak- und Spirituo-
senindustrie. Auch bei den Erfindungen spielte in Dresden der
Genuss eine große Rolle. Der erste Kaffeefilter, der klassische
Teebeutel, der erste Bierdeckel und die erste Milchschokolade
kamen von hier – und nicht zuletzt die Kaffeehauskultur mit
den traditionellen Produkten Eierschecke, Baumkuchen oder
Stollen. Alles in allem war Dresden eine Stadt, in der man sich
wohlfühlen konnte. Allerdings war es auch eine Zeit der poli-
tischen Umbrüche. Die sozialen Spannungen nahmen zu und
besonders die Menschen aus den Arbei ter vierteln wie der
Friedrichstadt, der Wilsdruffer Vorstadt oder dem Hechtviertel
hatten anderes im Sinn als Vergnügungen, Kultur oder Aus-
stellungen. Häufig riefen die Führer der sächsischen Sozialde-
mokratie zu Massenversammlungen auf. Viele Dresdner Ball-
säle erlebten immer öfter feurige Reden gegen Ausbeutung
oder Krieg, so im Reichsadler an der Königsbrücker oder im
Orpheum an der Kamenzer Straße. Die heutige Äußere Neu-
stadt und besonders die Königsbrücker Straße, in der die Käst-
ners wohnten, war kein typisches Arbeiter wohngebiet. Hier
findet man unter den damaligen Adressen neben Arbeiterfa-
milien und Angestellten auch Offiziere und Besitzer von
Handwerksbetrieben und kleineren Firmen.
Die Stadt wuchs in rasantem Tempo, war Dresden doch
wegen seiner industriellen Blüte ein willkommenes Ziel für
Zuwanderer aus Sachsen, aber auch aus dem böhmischen und
schlesischen Raum. Daraus ergab sich nicht nur wegen der
teilweise schwierigen Wohnverhältnisse sozialer Zündstoff.
Dennoch bevorzugten viele Dresden, aber wenige fanden so
liebevolle Worte wie Kästner in seinem Buch »Als ich ein klei-
ner Junge war« (10. Auflage der Ausgabe des Hellerau-Verlag
Dresden 2012):
Wenneszutreffensollte,daßichnichtnurweiß,wasschlimm
undhäßlich,sondernauch,wasschönist,soverdankeichdiese
GabedemGlück,inDresdenaufgewachsenzusein.Ichmußte,
wasschönsei,nichterstausBüchernlernen.NichtinderSchule,
8 9
undnichtaufderUniversität.IchdurftedieSchönheiteinatmen
wieFörsterkinderdieWaldluft.(S. 25)
Wie wichtig und prägend die Stadt und das soziale Umfeld
in der Antonstadt für ihn waren, verrät eine andere Stelle aus
diesem Buch:
Undichselberbin,wassonstichauchwurde,einesimmer
geblieben:einKindderKönigsbrückerStraße.(S. 34)
Interessant ist die räumliche Nähe zu anderen Schriftstel-
lern aus Dresden, so zu dem 1889 geborenen und ebenfalls hier
groß gewordenen Ludwig Renn (eigentlich Arnold Friedrich
Vieth von Golßenau, gest. 1979 in Berlin), der allerdings aus
dem sächsischen Uradel stammte und nach seiner Offiziers-
laufbahn und Studienzeit Schriftsteller wurde. Er besuchte wie
Kästner die IV. Bürgerschule und veröffentlichte wie Kästner
1957 seine Autobiografie. Er gab ihr den Titel »Meine Kindheit
und Jugend« und ließ sie mit dem Einzug ins Leibgrenadier-
regiment enden. An Ludwig Renn erinnert heute unter ande-
rem eine Gedenktafel auf der Arndtstraße 6.
Etwa einhundert Jahre vor Kästner und Renn kam in der
Dresdner Neustadt Gustav Nieritz (1795 – 1876) zur Welt. Der
Lehrersohn hinterließ ein umfangreiches Werk, war erfolgrei-
cher Maler und galt als Volksschriftsteller und Jugendautor.
Ihm ist ein Denkmal an der Theresienstraße gewidmet.
Kästner schreibt über ihn:
[…] andemGartentorwareinSchildangebracht.»Hierlebteund
starbGustavNieritz«.ErwarLehrerundSchulinspektorgewesen,
hatteviele,vieleKinderbüchergeschrieben,undichhattesiealle
gelesen.ImJahre1876warerindemkleinenHausinderAnton-
straßegestorben,nichtwenigerberühmtalsseinDresdnerZeit-
genosse Ludwig Richter, der Zeichner und Maler. Den Ludwig
Richterliebtundbewundertmanheutenoch.DenGustavNieritz
kenntniemandmehr.DieZeitwähltaus,wasbleibenunddauern
soll.Undmeistenshatsierecht,dieZeit.(S. 96)
Weiterhin lebten und arbeiteten im näheren Umfeld Wil-
helm von Kügelgen (1802 – 1867), der polnische Autor Jozef
Ignacy Kraszewski (1812 – 1887) und Kurt Arnold Findeisen
(1883 – 1963), deren Werke intensiv die Regionalgeschichte be-
handelten.
10 11
In der Königsbrücker Straße 66 erblickte Erich Kästner das Licht der Welt.
Die Stätten Kästners in Dresden
Für Erich Kästner begann der Lebensweg in der Königsbrücker Strasse 66, unserer ersten Adresse des Rund-gangs. Dorthin waren seine Eltern Emil und Ida Kästner, 1895
gezogen. Zuvor führten sie in Döbeln einen Laden mit Werk-
statt, in welchem Emil Kästner seine selbst hergestellten Le-
derwaren vertrieb. Die schlechte Geschäftslage zwang die El-
tern zur Aufgabe und zum Umzug in die sächsische Metropole.
Der Vater teilte das Schicksal vieler Handwerker. Arbeit fand er
in einer Fabrik, der Dresdner Reiseutensilien- und Lederwaren-
fabrik Lippold auf der Trinitatisstraße in der Johannstadt. Die
Mutter arbeitete in Heimarbeit, um ein Zubrot zu verdienen.
Emil Kästner entstammte einer Handwerkerfamilie, die
im sächsischen Penig ansässig war, und erlernte das Sattler-
und Tapezierhandwerk. Ida Kästner war eine geborene Augus-
tin. Sie stammte aus Kleinpelsen bei Döbeln. Ihr Vater war
Schmied und Pferdehändler. Der Pferdehandel wurde zur
Tradition in der Familie und ließ zumindest zwei seiner Söhne
zu Millionären werden. Ida Kästner war nach gutem Schulab-
schluss »in Stellung gegangen«, eine »Ausbildung«, die sie in
sämtlicher Hausarbeit schulte.
Am 23. Februar 1899 kam nach siebenjähriger Ehe Erich
Kästner in der Wohnung im obersten Geschoss des Hauses zur
Welt. Er wird das einzige Kind der Familie bleiben. Eine 1981
12 13
an der Einfahrt angebrachte Gedenktafel von Martin Hänisch
erinnert an Kästners Geburtsort.
Etwa zur Zeit der Enthüllung dieser Tafel wurde ein Lebens-
umstand Kästners publik, der bis heute als umstritten gilt. Der
eigentliche Vater von Erich Kästner soll nicht der der Mutter
angetraute Emil Kästner, sondern der Hausarzt Dr. Emil Zim-
mermann gewesen sein. Der Arzt war nicht nur Hausarzt, son-
dern auch ein Freund der Familie. Er wohnte auf der Radeberger
Straße und war eingetragenes Mitglied der jüdischen Gemeinde.
Während des Dritten Reiches emigrierte er nach Südamerika,
wo er 1953 starb. Wenn Kästner über die vermeintliche Vater-
schaft Bescheid wusste, wäre dies eine Erklärung für die zahl-
reichen Briefe an die Mutter, bei denen Emil Kästner gerade so
einen Gruß wert ist, häufig sogar keine Erwähnung findet.
Die Königsbrücker Strasse 48 war die erste Adresse seiner Kindheit, die Kästner bewusst wahrnahm. Das Haus
(Baujahr 1899 – wie über der Tür zu lesen ist) war zur Zeit des
Einzugs der Familie ein Neubau. Häufige Umzüge waren da-
mals üblich. Zum einen war ein Umzug kein so großer Aufwand
wie heutzutage. Man nahm den Leiterwagen für den vergleichs-
weise wenigen Hausrat. Zum anderen gab es bei Erstbezug häu-
fig Mietnachlass für das sogenannte Trockenwohnen und das
war Grund genug, einen Umzug auf sich zu nehmen. Im Dresd-
ner Adressbuch von 1901 werden Kästners erstmals unter dieser
Adresse erwähnt, was einen Umzug im Jahr 1900 voraussetzt.
Die zweite Adresse Erich Kästners,
nur wenige Häuser entfernt
Gedenktafel
14 15
Für Kinder war neben dem Hof auch die Straße Spielplatz – bei
dem heutigen Verkehr kaum vorstellbar.
Im »kleinen Jungen« schreibt Kästner aber auch von den Spie-
len und »Schlachten« seiner Spielzeugsoldaten im Treppenhaus:
UmsobessererinnereichmichandasHausmitderNummer
48.AndenHausflur.AndasFensterbrett,woichsaßundindie
Hinterhöfeblickte.AndieTreppenstufen,aufdenenichspielte.
DenndieTreppewarmeinSpielplatz.[…]UndderBriefträgerund
diekleineFrauWilkeausderviertenEtagemußtenRiesenschritte
machen,wiedieStörcheimSalat,umSiegundNiederlagenicht
zugefährden.(S. 34 – 36)
Die Post wurde noch in die einzelnen Etagen gebracht.
Alte Wohnungstüren mit den Schlitzen für Post und Zeitungen
erinnern an diesen vergessenen Service.
Als die Mutter wegen der Geräuschbelästigung für das auf-
wachsende Kind das Nähen einstellen musste, bot sich als
Alternative zur Aufbesserung des Etats das Vermieten an.
Kästner erzählt vom Lehrer Franke als Untermieter, der
ein lustiger junger Mann war und erwähnt als Nachfolgerin
eine Französischlehrerin aus Genf. Der folgende Untermieter,
der Lehrer Schurig, beeinflusste Kästner besonders und war
für ihn eine Art Onkel. Als Freund und Berater der Familie war
er wahrscheinlich einflussreich genug, um Kästners Berufs-
wunsch, Lehrer zu werden, zu fördern. Schurig wusste aus
eigener Erfahrung, dass es für begabte Kinder seiner Herkunft
kaum bessere Aufstiegsmöglichkeiten gab, da die Lehreraus-
bildung vom sächsischen Staat mitfinanziert wurde. Er zog spä-
ter sogar mit der Familie in die neue Wohnung Königsbrücker
Straße 38 um. Kästner durfte mit dem Untermieter in dessen
Heimat reisen. Von dieser Reise schrieb er erstmals. Ansprech-
partner war dabei seine Mutter. Selten bezog er den Vater ein.
Noch ein wichtiges und prägendes Erlebnis verbindet
Kästner mit dem Haus Nr. 48. Er litt, gerade zu Weihnachten,
unter dem Konkurrenzkampf der Eltern um seine Gunst. Ob-
wohl der Vater liebevoll mit ihm umging und wochenlang für
ihn bastelte (er hatte darin großes Talent), blieb die den Sohn
fanatisch liebende Mutter dominant und verstieß den Vater.
Der sensible (und sicher auch verwöhnte) Erich Kästner
beschreibt als weiteres bewegendes Erlebnis das »Malheur«
vom Abbrechen der Zuckertütenspitze:
MeineMutteröffnetedieTür.Ichstieg,dieZuckertütemitder
seidnenSchleifevormGesicht,dieLadenstufehinauf,stolperte,da
ichvorlauterSchleifeundTütenichtssehenkonnte,unddabei
brach die Tütenspitze ab! Ich erstarrte zur Salzsäule. Zu einer
Salzsäule,dieeineZuckertüteumklammert.Esrieselteundpur-
zelteundraschelteübermeineSchnürstiefel.IchhobdieTüteso
hoch,wieichirgendkonnte.Daswarnichtschwer,dennsiewurde
immerleichter.SchließlichhieltichnurnocheinenbuntenKegel-
stumpfausPappeindenHänden,ließihnsinkenundblicktezu
Boden.IchstandbisandieKnöchelinBonbons,Pralinen,Datteln,
16 17
Osterhasen,Feigen,Apfelsinen,Törtchen,Waffelnundgoldenen
Maikäfern.DieKinderkreischten.MeineMutterhieltdieHände
vorsGesicht.FräuleinHauboldhieltsichanderLadentafelfest.
WelcheinÜberfluß!Undichstandmittendrin. (S. 52)
Die Osterhasen in der Zuckertüte erinnern daran, dass da-
mals noch zu Ostern eingeschult wurde.
Im gleichen Haus firmierte der »Friseurladen«, der Mut-
ter. Der Schuljunge Kästner half ihr nicht nur im Geschäft,
sondern begleitete sie auch oft auf dem Weg zu den Kunden.
Das Erlebte reflektierte Kästner auch in seinem Kinderbuch-
erfolg »Emil und die Detektive«. Wir lernen die alleinstehende
Mutter, Frau Tischbein, und deren Sohn Emil kennen. Frisiert
wird die Bäckersfrau Wirth. Das sind Figuren aus seinem
Leben, auch wenn sich die alleinstehende Mutter, typisch für
viele Kinderbücher Kästners, scheinbar nicht mit seiner Mut-
ter in Einklang bringen lässt. Es scheint eher ein Hinweis auf
das gestörte Mutter-Vater- und Vater-Sohn-Verhältnis zu sein.
Die Geschäftskarte der Mutter lautete:
Frau Ida KästnerFriseuseDresden-N., Königsbrückerstr. 48 III.empfiehlt sich zur Ausführungder einfachsten bis elegantestenTages-, Ball- u. Braut-Frisuren.Ondulation. Kopfwaschen.Gleichzeitig Ausübung der Gesichtsmassage.
Die finanzielle Notlage der Familie zwang Ida Kästner, mit
über 30 Jahren noch eine Berufsausbildung auf sich zu neh-
men, um die berufliche Laufbahn des einzigen Sohnes finan-
ziell unterstützen zu können. Nach bestandener Prüfung und
erteilter Genehmigung zur Ausübung des Berufes in der
Wohnung stand eine zünftige Feier ins Haus. Für Kästner be-
deutete das, einen Krug Bier aus dem früheren Restaurant
Sibyllen ort Königsbrücker Straße, Ecke Jordanstraße zu holen. Der Name der Gaststätte bezog sich auf Schloss Sibyl-
lenort in Schlesien, welches im Besitz des Hauses Wettin war.
Hier starb 1902 König Albert und 1932 der letzte sächsische
König Friedrich August III., der nach seiner Abdankung 1918
im Schloss lebte.
In unmittelbarer Nähe der Gaststätte finden wir das Haus
Königsbrücker Strasse 38, Kästners letzte Adresse in Dresden. Im Adressbuch von 1910 sind die Kästners noch
unter der Königsbrücker Straße 48 verzeichnet, während sie in
der Ausgabe von 1911 unter der 38 stehen. Diese Adresse erin-
nert Kästner an interessante Stunden mit Schurig und auch an
seine vergeblichen Versuche, das Klavierspiel zu erlernen. In
dieser Wohnung erlebten die Eltern auch die Angriffe auf Dres-
den. Sie wurde nur leicht beschädigt, Tante Idas Haus am Al-
bertplatz dagegen war ausgebrannt, erfährt Kästner durch die
Post der Familie.
Auch heute ist das damalige Restaurant »Sibyllenort« noch
eine Gaststätte.
18 19
Erst 1946 konnte Kästner die Eltern dort wieder besuchen.
Nach der Einweisung der Mutter in eine Klinik musste Emil
Kästner die Wohnung im Dezember 1947 verlassen. Er zog, ge-
meinsam mit der Untermieterin, nach Dresden-Kleinpestitz
auf die Berner Straße 7. Dadurch wohnte er ganz in der Nähe
der Klinik, in der seine Frau Patientin war. Liebevoll kümmerte
er sich um sie, die nun sichtlich verwirrt war. Sogar ihren ge-
liebten Sohn Erich erkannte sie nicht mehr. Sie starb im Mai
1951. Emil Kästner, zu dem Erich jetzt engen Kontakt hielt,
starb Silvester 1957 in Dresden.
Natürlich war das Umfeld in der Neustadt für Kästner eine
Fundgrube und Lebensschule. Die Bäckerei Wirth (heute Feinbäckerei und Café Holger Thielemann) Königsbrücker
Straße, Ecke Louisenstraße war eines der vielen Geschäfte in
der Neustadt, die Kästner – auch in anderen Büchern – nennt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bäckerei eine der
Adressen, zu denen Kästner Briefkontakt hielt. Im Mai 1971
schrieb er nach Dresden, wie sehr ihn der Tod der Bäckersfrau
Wirth berührt hat:
DasAblebenIhrerGroßmuttergehtmirnahe,dasieinmeiner
gesamtenKindheitmitihremBäckerladen,aberauchalsKundin
meinerMuttereinegroßeRollegespielthat.
Neben der Bäckerei nennt er im »kleinen Jungen« unter
anderem das Volkswohl mit der Volksküche, den Fotografen,
den Gemüsehändler, die Filiale der stadtbekannten Färberei
Die letzte Dresdner Adresse ist für
Kästner die Königs-brücker Straße 38.
20 21
Märksch (Königsbrücker Straße 48), den Konsumverein sowie
den Blumenladen Stammnitz auf der Louisenstraße, der noch heute als solcher existiert.
Dieser Laden taucht auch im Kinderbuch »Emil und die De-
tektive« auf. Da überreicht Emil die bei Stammnitzens gekauften
Blumen der Großmutter in Berlin. Durch die Jagd nach dem Dieb
waren sie allerdings nicht mehr frisch. Im »kleinen Jungen«
bringt er den Laden ins Spiel, als er einen Unfall beschreibt:
Ichwar,aneinemSonnabend,imTurnvereingewesen,hatte
aufdemHeimwegbeiderklitzekleinenFrauStam[m]nitzein
paarSonntagsblumenbesorgtundhörte,alsichdenHausflur
Die Bäckerei Wirth, heute in neuem Besitz, spielte eine wichtige Rolle in Kästners Leben.
»Blumen Stammnitz« ist noch heute ein etabliertes
Floristikgeschäft.
betrat,wieeinpaarStockwerkehöherdieTreppenmitderWur-
zelbürstegescheuertwurden.Daichwußte,daßmeineMutter,
lautHausordnung,amScheuernwar,sprangichdreiStufenauf
einmal nehmend, treppauf, rief laut und fröhlich: »Mama«,
rutschteausundfiel,nochimRufenunddeshalbmitoffenen
Mund,aufsKinn.DieTreppenstufenwarenausGranit.Meine
Zungenicht.EswareinegräßlicheGeschichte.Ichhattemirdie
Zungenränderdurchgebissen.NähereskonnteSanitätsratZim-
mermann,der freundlicheHausarztmitdemKnebelbart,zu-
nächstnichtsagen,denndieZungewardickgeschwollenund
fülltedieMundhöhlewieeinKloß.(S. 58)
64
Bekanntester Dresdner, einer der meistgele-
senen deutschsprachigen Autoren, Moralist,
Anwalt der Kinder. Viele Titel verdient Erich
Kästner, der 1899 in Dresden zur Welt kam.
Als junger Erwachsener verließ er seine
Geburtsstadt, um in Leipzig zu studieren.
Mit Berlin fand er eine neue Heimat. Er er-
lebte den aufkommenden Nationalsozia-
lismus und wurde eins seiner zahlreichen
Opfer. Seine Bücher landeten als undeutsche
Literatur auf dem Scheiterhaufen und
eine Inhaftierung war täglich zu erwarten.
Die Nachkriegswirren machten ihn zum
Münchner. Während dieser Zeit erschien
sein Kindheitsroman »Als ich ein kleiner
Junge war«, eine Hymne auf »sein« Dresden,
aber auch eine kritische Sozialgeschichte.
Als 75-Jähriger starb er in München, wo er
auch beigesetzt wurde.
SandSte in