13
Matthias Stresow Erich Kästners in Dresden Auf den Spuren

Auf den Spurenmedia.ebook.de/shop/coverscans/233/23325352_LPROB.pdf · 2014. 11. 21. · Sommertheater, die großen Volksfeste auf der Vogelwiese, das Gondeln auf dem Carolasee, die

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Matthias Stresow

    Erich Kästnersin Dresden

    Auf den Spuren

  • Erich Kästnersin Dresden

    Auf den Spuren

    Matthias Stresow

    Sandstein Verlag

  • IchbineinDeutscher

    ausDresdeninSachsen.

    MichlässtdieHeimatnichtfort.

    IchbinwieeinBaum,

    der–inDeutschlandgewachsen–

    wenn’sseinmuss

    inDeutschlandverdorrt.

    ErichKästner

  • 5

    Das Dresden Erich Kästners

    Am 23. Februar 1899 kommt in Dresden-Antonstadt Erich Käst-

    ner zur Welt. Als Anfang der 1930er-Jahre seine Gedichte, Kin-

    derbücher und Romane über die deutschen Grenzen hinaus

    bekannt werden, ist Kästner bereits Berliner. Als Münchner

    lässt er 1957 einen Kindheitsroman erscheinen, der noch

    heute zu den beliebtesten seiner Bücher zählt. Gerade in seiner

    Geburtsstadt wird er besonders gern gelesen: »Als ich ein klei-

    ner Junge war«. Er ist ebenso eine Hymne auf seine Heimat-

    stadt wie eine kritische Sozialgeschichte. Dieses Buch soll uns

    auf unserem Gang durch die Stadt begleiten und helfen, Käst-

    ners Dresden im heutigen zu entdecken.

    Anfang des 20. Jahrhunderts zählte Dresden etwa eine

    halbe Million Einwohner und war damit die viertgrößte Stadt

    im Deutschen Reich. Dresden war Landeshauptstadt und Re-

    sidenz der sächsischen Könige, es hatte den Ruf einer europä-

    ischen Kunst- und Kulturmetropole und nutzte stolz den

    Namen »Elbflorenz«. Zur Jahrhundertwende regierte mit

    König Albert ein Wettiner, der sich als Ausnahme von der

    Regel auch auf dem Schlachtfeld Lorbeeren verdient hatte. Er

    war der Onkel des volksnahen späteren Königs Friedrich Au-

    gust III., den Kästner ausgiebig beschreibt. Als Albert 1902

    starb, nahmen Hunderttausende Trauernde Abschied vom

    König. Die Monarchie wurde noch akzeptiert.

    linksPlan der Neustadt mit ausgesuchten

    Adressen

    Seite 2Blick über den

    Albertplatz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

    Alaunplatz

    ElbeElbe

    Bischofsweg

    Louisenstraße

    Tieckstr.

    Alau

    nstra

    ße

    St. Pauli Friedhof

    Hec

    htst

    raße

    Albert-platz

    Köni

    gsbr

    ücke

    r Stra

    ße

    Han

    sast

    raße

    Stauffenbergallee

    200 m

    2930

    38

    48

    66

    Bautzner Straß

    e

    Bahnhof N eustadt

  • 6 7

    Die Dresdner galten damals wie heute als Freunde der Künste,

    doch auch als konservativ, nicht nur der Königstreue wegen.

    Neben Oper und Schauspiel liebten sie das volkstümliche

    Sommertheater, die großen Volksfeste auf der Vogelwiese, das

    Gondeln auf dem Carolasee, die Pferderennen auf der Seidnit-

    zer Galopprennbahn und die großen Ausstellungen im Aus-

    stellungspalast an der Stübelallee. Aber sie hatten, anders als

    die Leipziger, ein bisschen Scheu vor der Moderne. Sie waren

    brave Bürger, königstreu eben, Genießer und mit Vorliebe in

    den zahlreichen Cafés ihrem »Schälchn Heeßn« zugetan. Was

    Wunder, wenn die Industrie davon profitierte. In Dresden

    stand Deutschlands erste Zigarettenfabrik und hier war die

    Schokoladenherstellung zuhause. Kästner wuchs ganz in der

    Nähe von Jordan & Timaeus, einer bekannten Schokoladenfa-

    brik, auf. Die sächsische Metropole zählte zu den deutschen

    Bierstädten und besaß eine bedeutende Tabak- und Spirituo-

    senindustrie. Auch bei den Erfindungen spielte in Dresden der

    Genuss eine große Rolle. Der erste Kaffeefilter, der klassische

    Teebeutel, der erste Bierdeckel und die erste Milchschokolade

    kamen von hier – und nicht zuletzt die Kaffeehauskultur mit

    den traditionellen Produkten Eierschecke, Baumkuchen oder

    Stollen. Alles in allem war Dresden eine Stadt, in der man sich

    wohlfühlen konnte. Allerdings war es auch eine Zeit der poli-

    tischen Umbrüche. Die sozialen Spannungen nahmen zu und

    besonders die Menschen aus den Arbei ter vierteln wie der

    Friedrichstadt, der Wilsdruffer Vorstadt oder dem Hechtviertel

    hatten anderes im Sinn als Vergnügungen, Kultur oder Aus-

    stellungen. Häufig riefen die Führer der sächsischen Sozialde-

    mokratie zu Massenversammlungen auf. Viele Dresdner Ball-

    säle erlebten immer öfter feurige Reden gegen Ausbeutung

    oder Krieg, so im Reichsadler an der Königsbrücker oder im

    Orpheum an der Kamenzer Straße. Die heutige Äußere Neu-

    stadt und besonders die Königsbrücker Straße, in der die Käst-

    ners wohnten, war kein typisches Arbeiter wohngebiet. Hier

    findet man unter den damaligen Adressen neben Arbeiterfa-

    milien und Angestellten auch Offiziere und Besitzer von

    Handwerksbetrieben und kleineren Firmen.

    Die Stadt wuchs in rasantem Tempo, war Dresden doch

    wegen seiner industriellen Blüte ein willkommenes Ziel für

    Zuwanderer aus Sachsen, aber auch aus dem böhmischen und

    schlesischen Raum. Daraus ergab sich nicht nur wegen der

    teilweise schwierigen Wohnverhältnisse sozialer Zündstoff.

    Dennoch bevorzugten viele Dresden, aber wenige fanden so

    liebevolle Worte wie Kästner in seinem Buch »Als ich ein klei-

    ner Junge war« (10. Auflage der Ausgabe des Hellerau-Verlag

    Dresden 2012):

    Wenneszutreffensollte,daßichnichtnurweiß,wasschlimm

    undhäßlich,sondernauch,wasschönist,soverdankeichdiese

    GabedemGlück,inDresdenaufgewachsenzusein.Ichmußte,

    wasschönsei,nichterstausBüchernlernen.NichtinderSchule,

  • 8 9

    undnichtaufderUniversität.IchdurftedieSchönheiteinatmen

    wieFörsterkinderdieWaldluft.(S. 25)

    Wie wichtig und prägend die Stadt und das soziale Umfeld

    in der Antonstadt für ihn waren, verrät eine andere Stelle aus

    diesem Buch:

    Undichselberbin,wassonstichauchwurde,einesimmer

    geblieben:einKindderKönigsbrückerStraße.(S. 34)

    Interessant ist die räumliche Nähe zu anderen Schriftstel-

    lern aus Dresden, so zu dem 1889 geborenen und ebenfalls hier

    groß gewordenen Ludwig Renn (eigentlich Arnold Friedrich

    Vieth von Golßenau, gest. 1979 in Berlin), der allerdings aus

    dem sächsischen Uradel stammte und nach seiner Offiziers-

    laufbahn und Studienzeit Schriftsteller wurde. Er besuchte wie

    Kästner die IV. Bürgerschule und veröffentlichte wie Kästner

    1957 seine Autobiografie. Er gab ihr den Titel »Meine Kindheit

    und Jugend« und ließ sie mit dem Einzug ins Leibgrenadier-

    regiment enden. An Ludwig Renn erinnert heute unter ande-

    rem eine Gedenktafel auf der Arndtstraße 6.

    Etwa einhundert Jahre vor Kästner und Renn kam in der

    Dresdner Neustadt Gustav Nieritz (1795 – 1876) zur Welt. Der

    Lehrersohn hinterließ ein umfangreiches Werk, war erfolgrei-

    cher Maler und galt als Volksschriftsteller und Jugendautor.

    Ihm ist ein Denkmal an der Theresienstraße gewidmet.

    Kästner schreibt über ihn:

    […] andemGartentorwareinSchildangebracht.»Hierlebteund

    starbGustavNieritz«.ErwarLehrerundSchulinspektorgewesen,

    hatteviele,vieleKinderbüchergeschrieben,undichhattesiealle

    gelesen.ImJahre1876warerindemkleinenHausinderAnton-

    straßegestorben,nichtwenigerberühmtalsseinDresdnerZeit-

    genosse Ludwig Richter, der Zeichner und Maler. Den Ludwig

    Richterliebtundbewundertmanheutenoch.DenGustavNieritz

    kenntniemandmehr.DieZeitwähltaus,wasbleibenunddauern

    soll.Undmeistenshatsierecht,dieZeit.(S. 96)

    Weiterhin lebten und arbeiteten im näheren Umfeld Wil-

    helm von Kügelgen (1802 – 1867), der polnische Autor Jozef

    Ignacy Kraszewski (1812 – 1887) und Kurt Arnold Findeisen

    (1883 – 1963), deren Werke intensiv die Regionalgeschichte be-

    handelten.

  • 10 11

    In der Königsbrücker Straße 66 erblickte Erich Kästner das Licht der Welt.

    Die Stätten Kästners in Dresden

    Für Erich Kästner begann der Lebensweg in der Königsbrücker Strasse 66, unserer ersten Adresse des Rund-gangs. Dorthin waren seine Eltern Emil und Ida Kästner, 1895

    gezogen. Zuvor führten sie in Döbeln einen Laden mit Werk-

    statt, in welchem Emil Kästner seine selbst hergestellten Le-

    derwaren vertrieb. Die schlechte Geschäftslage zwang die El-

    tern zur Aufgabe und zum Umzug in die sächsische Metropole.

    Der Vater teilte das Schicksal vieler Handwerker. Arbeit fand er

    in einer Fabrik, der Dresdner Reiseutensilien- und Lederwaren-

    fabrik Lippold auf der Trinitatisstraße in der Johannstadt. Die

    Mutter arbeitete in Heimarbeit, um ein Zubrot zu verdienen.

    Emil Kästner entstammte einer Handwerkerfamilie, die

    im sächsischen Penig ansässig war, und erlernte das Sattler-

    und Tapezierhandwerk. Ida Kästner war eine geborene Augus-

    tin. Sie stammte aus Kleinpelsen bei Döbeln. Ihr Vater war

    Schmied und Pferdehändler. Der Pferdehandel wurde zur

    Tradition in der Familie und ließ zumindest zwei seiner Söhne

    zu Millionären werden. Ida Kästner war nach gutem Schulab-

    schluss »in Stellung gegangen«, eine »Ausbildung«, die sie in

    sämtlicher Hausarbeit schulte.

    Am 23. Februar 1899 kam nach siebenjähriger Ehe Erich

    Kästner in der Wohnung im obersten Geschoss des Hauses zur

    Welt. Er wird das einzige Kind der Familie bleiben. Eine 1981

  • 12 13

    an der Einfahrt angebrachte Gedenktafel von Martin Hänisch

    erinnert an Kästners Geburtsort.

    Etwa zur Zeit der Enthüllung dieser Tafel wurde ein Lebens-

    umstand Kästners publik, der bis heute als umstritten gilt. Der

    eigentliche Vater von Erich Kästner soll nicht der der Mutter

    angetraute Emil Kästner, sondern der Hausarzt Dr. Emil Zim-

    mermann gewesen sein. Der Arzt war nicht nur Hausarzt, son-

    dern auch ein Freund der Familie. Er wohnte auf der Radeberger

    Straße und war eingetragenes Mitglied der jüdischen Gemeinde.

    Während des Dritten Reiches emigrierte er nach Südamerika,

    wo er 1953 starb. Wenn Kästner über die vermeintliche Vater-

    schaft Bescheid wusste, wäre dies eine Erklärung für die zahl-

    reichen Briefe an die Mutter, bei denen Emil Kästner gerade so

    einen Gruß wert ist, häufig sogar keine Erwähnung findet.

    Die Königsbrücker Strasse 48 war die erste Adresse seiner Kindheit, die Kästner bewusst wahrnahm. Das Haus

    (Baujahr 1899 – wie über der Tür zu lesen ist) war zur Zeit des

    Einzugs der Familie ein Neubau. Häufige Umzüge waren da-

    mals üblich. Zum einen war ein Umzug kein so großer Aufwand

    wie heutzutage. Man nahm den Leiterwagen für den vergleichs-

    weise wenigen Hausrat. Zum anderen gab es bei Erstbezug häu-

    fig Mietnachlass für das sogenannte Trockenwohnen und das

    war Grund genug, einen Umzug auf sich zu nehmen. Im Dresd-

    ner Adressbuch von 1901 werden Kästners erstmals unter dieser

    Adresse erwähnt, was einen Umzug im Jahr 1900 voraussetzt.

    Die zweite Adresse Erich Kästners,

    nur wenige Häuser entfernt

    Gedenktafel

  • 14 15

    Für Kinder war neben dem Hof auch die Straße Spielplatz – bei

    dem heutigen Verkehr kaum vorstellbar.

    Im »kleinen Jungen« schreibt Kästner aber auch von den Spie-

    len und »Schlachten« seiner Spielzeugsoldaten im Treppenhaus:

    UmsobessererinnereichmichandasHausmitderNummer

    48.AndenHausflur.AndasFensterbrett,woichsaßundindie

    Hinterhöfeblickte.AndieTreppenstufen,aufdenenichspielte.

    DenndieTreppewarmeinSpielplatz.[…]UndderBriefträgerund

    diekleineFrauWilkeausderviertenEtagemußtenRiesenschritte

    machen,wiedieStörcheimSalat,umSiegundNiederlagenicht

    zugefährden.(S. 34 – 36)

    Die Post wurde noch in die einzelnen Etagen gebracht.

    Alte Wohnungstüren mit den Schlitzen für Post und Zeitungen

    erinnern an diesen vergessenen Service.

    Als die Mutter wegen der Geräuschbelästigung für das auf-

    wachsende Kind das Nähen einstellen musste, bot sich als

    Alternative zur Aufbesserung des Etats das Vermieten an.

    Kästner erzählt vom Lehrer Franke als Untermieter, der

    ein lustiger junger Mann war und erwähnt als Nachfolgerin

    eine Französischlehrerin aus Genf. Der folgende Untermieter,

    der Lehrer Schurig, beeinflusste Kästner besonders und war

    für ihn eine Art Onkel. Als Freund und Berater der Familie war

    er wahrscheinlich einflussreich genug, um Kästners Berufs-

    wunsch, Lehrer zu werden, zu fördern. Schurig wusste aus

    eigener Erfahrung, dass es für begabte Kinder seiner Herkunft

    kaum bessere Aufstiegsmöglichkeiten gab, da die Lehreraus-

    bildung vom sächsischen Staat mitfinanziert wurde. Er zog spä-

    ter sogar mit der Familie in die neue Wohnung Königsbrücker

    Straße 38 um. Kästner durfte mit dem Untermieter in dessen

    Heimat reisen. Von dieser Reise schrieb er erstmals. Ansprech-

    partner war dabei seine Mutter. Selten bezog er den Vater ein.

    Noch ein wichtiges und prägendes Erlebnis verbindet

    Kästner mit dem Haus Nr. 48. Er litt, gerade zu Weihnachten,

    unter dem Konkurrenzkampf der Eltern um seine Gunst. Ob-

    wohl der Vater liebevoll mit ihm umging und wochenlang für

    ihn bastelte (er hatte darin großes Talent), blieb die den Sohn

    fanatisch liebende Mutter dominant und verstieß den Vater.

    Der sensible (und sicher auch verwöhnte) Erich Kästner

    beschreibt als weiteres bewegendes Erlebnis das »Malheur«

    vom Abbrechen der Zuckertütenspitze:

    MeineMutteröffnetedieTür.Ichstieg,dieZuckertütemitder

    seidnenSchleifevormGesicht,dieLadenstufehinauf,stolperte,da

    ichvorlauterSchleifeundTütenichtssehenkonnte,unddabei

    brach die Tütenspitze ab! Ich erstarrte zur Salzsäule. Zu einer

    Salzsäule,dieeineZuckertüteumklammert.Esrieselteundpur-

    zelteundraschelteübermeineSchnürstiefel.IchhobdieTüteso

    hoch,wieichirgendkonnte.Daswarnichtschwer,dennsiewurde

    immerleichter.SchließlichhieltichnurnocheinenbuntenKegel-

    stumpfausPappeindenHänden,ließihnsinkenundblicktezu

    Boden.IchstandbisandieKnöchelinBonbons,Pralinen,Datteln,

  • 16 17

    Osterhasen,Feigen,Apfelsinen,Törtchen,Waffelnundgoldenen

    Maikäfern.DieKinderkreischten.MeineMutterhieltdieHände

    vorsGesicht.FräuleinHauboldhieltsichanderLadentafelfest.

    WelcheinÜberfluß!Undichstandmittendrin. (S. 52)

    Die Osterhasen in der Zuckertüte erinnern daran, dass da-

    mals noch zu Ostern eingeschult wurde.

    Im gleichen Haus firmierte der »Friseurladen«, der Mut-

    ter. Der Schuljunge Kästner half ihr nicht nur im Geschäft,

    sondern begleitete sie auch oft auf dem Weg zu den Kunden.

    Das Erlebte reflektierte Kästner auch in seinem Kinderbuch-

    erfolg »Emil und die Detektive«. Wir lernen die alleinstehende

    Mutter, Frau Tischbein, und deren Sohn Emil kennen. Frisiert

    wird die Bäckersfrau Wirth. Das sind Figuren aus seinem

    Leben, auch wenn sich die alleinstehende Mutter, typisch für

    viele Kinderbücher Kästners, scheinbar nicht mit seiner Mut-

    ter in Einklang bringen lässt. Es scheint eher ein Hinweis auf

    das gestörte Mutter-Vater- und Vater-Sohn-Verhältnis zu sein.

    Die Geschäftskarte der Mutter lautete:

    Frau Ida KästnerFriseuseDresden-N., Königsbrückerstr. 48 III.empfiehlt sich zur Ausführungder einfachsten bis elegantestenTages-, Ball- u. Braut-Frisuren.Ondulation. Kopfwaschen.Gleichzeitig Ausübung der Gesichtsmassage.

    Die finanzielle Notlage der Familie zwang Ida Kästner, mit

    über 30 Jahren noch eine Berufsausbildung auf sich zu neh-

    men, um die berufliche Laufbahn des einzigen Sohnes finan-

    ziell unterstützen zu können. Nach bestandener Prüfung und

    erteilter Genehmigung zur Ausübung des Berufes in der

    Wohnung stand eine zünftige Feier ins Haus. Für Kästner be-

    deutete das, einen Krug Bier aus dem früheren Restaurant

    Sibyllen ort Königsbrücker Straße, Ecke Jordanstraße zu holen. Der Name der Gaststätte bezog sich auf Schloss Sibyl-

    lenort in Schlesien, welches im Besitz des Hauses Wettin war.

    Hier starb 1902 König Albert und 1932 der letzte sächsische

    König Friedrich August III., der nach seiner Abdankung 1918

    im Schloss lebte.

    In unmittelbarer Nähe der Gaststätte finden wir das Haus

    Königsbrücker Strasse 38, Kästners letzte Adresse in Dresden. Im Adressbuch von 1910 sind die Kästners noch

    unter der Königsbrücker Straße 48 verzeichnet, während sie in

    der Ausgabe von 1911 unter der 38 stehen. Diese Adresse erin-

    nert Kästner an interessante Stunden mit Schurig und auch an

    seine vergeblichen Versuche, das Klavierspiel zu erlernen. In

    dieser Wohnung erlebten die Eltern auch die Angriffe auf Dres-

    den. Sie wurde nur leicht beschädigt, Tante Idas Haus am Al-

    bertplatz dagegen war ausgebrannt, erfährt Kästner durch die

    Post der Familie.

    Auch heute ist das damalige Restaurant »Sibyllenort« noch

    eine Gaststätte.

  • 18 19

    Erst 1946 konnte Kästner die Eltern dort wieder besuchen.

    Nach der Einweisung der Mutter in eine Klinik musste Emil

    Kästner die Wohnung im Dezember 1947 verlassen. Er zog, ge-

    meinsam mit der Untermieterin, nach Dresden-Kleinpestitz

    auf die Berner Straße 7. Dadurch wohnte er ganz in der Nähe

    der Klinik, in der seine Frau Patientin war. Liebevoll kümmerte

    er sich um sie, die nun sichtlich verwirrt war. Sogar ihren ge-

    liebten Sohn Erich erkannte sie nicht mehr. Sie starb im Mai

    1951. Emil Kästner, zu dem Erich jetzt engen Kontakt hielt,

    starb Silvester 1957 in Dresden.

    Natürlich war das Umfeld in der Neustadt für Kästner eine

    Fundgrube und Lebensschule. Die Bäckerei Wirth (heute Feinbäckerei und Café Holger Thielemann) Königsbrücker

    Straße, Ecke Louisenstraße war eines der vielen Geschäfte in

    der Neustadt, die Kästner – auch in anderen Büchern – nennt.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bäckerei eine der

    Adressen, zu denen Kästner Briefkontakt hielt. Im Mai 1971

    schrieb er nach Dresden, wie sehr ihn der Tod der Bäckersfrau

    Wirth berührt hat:

    DasAblebenIhrerGroßmuttergehtmirnahe,dasieinmeiner

    gesamtenKindheitmitihremBäckerladen,aberauchalsKundin

    meinerMuttereinegroßeRollegespielthat.

    Neben der Bäckerei nennt er im »kleinen Jungen« unter

    anderem das Volkswohl mit der Volksküche, den Fotografen,

    den Gemüsehändler, die Filiale der stadtbekannten Färberei

    Die letzte Dresdner Adresse ist für

    Kästner die Königs-brücker Straße 38.

  • 20 21

    Märksch (Königsbrücker Straße 48), den Konsumverein sowie

    den Blumenladen Stammnitz auf der Louisenstraße, der noch heute als solcher existiert.

    Dieser Laden taucht auch im Kinderbuch »Emil und die De-

    tektive« auf. Da überreicht Emil die bei Stammnitzens gekauften

    Blumen der Großmutter in Berlin. Durch die Jagd nach dem Dieb

    waren sie allerdings nicht mehr frisch. Im »kleinen Jungen«

    bringt er den Laden ins Spiel, als er einen Unfall beschreibt:

    Ichwar,aneinemSonnabend,imTurnvereingewesen,hatte

    aufdemHeimwegbeiderklitzekleinenFrauStam[m]nitzein

    paarSonntagsblumenbesorgtundhörte,alsichdenHausflur

    Die Bäckerei Wirth, heute in neuem Besitz, spielte eine wichtige Rolle in Kästners Leben.

    »Blumen Stammnitz« ist noch heute ein etabliertes

    Floristikgeschäft.

    betrat,wieeinpaarStockwerkehöherdieTreppenmitderWur-

    zelbürstegescheuertwurden.Daichwußte,daßmeineMutter,

    lautHausordnung,amScheuernwar,sprangichdreiStufenauf

    einmal nehmend, treppauf, rief laut und fröhlich: »Mama«,

    rutschteausundfiel,nochimRufenunddeshalbmitoffenen

    Mund,aufsKinn.DieTreppenstufenwarenausGranit.Meine

    Zungenicht.EswareinegräßlicheGeschichte.Ichhattemirdie

    Zungenränderdurchgebissen.NähereskonnteSanitätsratZim-

    mermann,der freundlicheHausarztmitdemKnebelbart,zu-

    nächstnichtsagen,denndieZungewardickgeschwollenund

    fülltedieMundhöhlewieeinKloß.(S. 58)

  • 64

    Bekanntester Dresdner, einer der meistgele-

    senen deutschsprachigen Autoren, Moralist,

    Anwalt der Kinder. Viele Titel verdient Erich

    Kästner, der 1899 in Dresden zur Welt kam.

    Als junger Erwachsener verließ er seine

    Geburtsstadt, um in Leipzig zu studieren.

    Mit Berlin fand er eine neue Heimat. Er er-

    lebte den aufkommenden Nationalsozia-

    lismus und wurde eins seiner zahlreichen

    Opfer. Seine Bücher landeten als undeutsche

    Literatur auf dem Scheiterhaufen und

    eine Inhaftierung war täglich zu erwarten.

    Die Nachkriegswirren machten ihn zum

    Münchner. Während dieser Zeit erschien

    sein Kindheitsroman »Als ich ein kleiner

    Junge war«, eine Hymne auf »sein« Dresden,

    aber auch eine kritische Sozialgeschichte.

    Als 75-Jähriger starb er in München, wo er

    auch beigesetzt wurde.

    SandSte in