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Mediendienst 13 9. Oktober 2014 Augenzeugenbericht zum Flüchtlingsdrama im Nordirak Die schwerste Last tragen die Kinder Fred Lauener Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

Augenzeugenbericht zum Flüchtlingsdrama im Nordirak

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Die schwerste Last tragen die Kinder (Fred Lauener) Mediendienst 13/2014 vom 9. Oktober 2014 http://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/mediendienst/

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Mediendienst 13 9. Oktober 2014

Augenzeugenbericht zum Flüchtlingsdrama im Nordirak

Die schwerste Last tragen die Kinder Fred Lauener

Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung.

Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

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Caritas Schweiz, Mediendienst 13, 9. Oktober 2014

Augenzeugenbericht zum Flüchtlingsdrama im Nordirak

Die schwerste Last tragen die Kinder

Zwei Millionen Menschen sind im Irak auf der Flucht. Viele haben in der autonomen Region

Kurdistan vorläufigen Schutz gefunden. Damit ist die Odyssee aber nicht zu Ende. Viele werden

aus ihren provisorischen Unterkünften bereits wieder weggewiesen. Am härtesten trifft das

Elend Kinder und Jugendliche.

Osman und Abu Bakhir schafften es gerade noch abzuhauen, als der Daesh im Januar ihre Stadt Fal-

ludscha, gut siebzig Kilometer westlich von Bagdad, eingenommen hatte. Osman ist 13, sein Bruder

Abu Bakhir 11 Jahre jung. Es spricht nur der Ältere. Mit dem Daesh sind die Milizen des IS gemeint,

die hier aber niemand so nennt. Die Brüder kamen mit ihrer Mutter und vier jüngeren Geschwistern in

der grossen Stadt Sulaymaniyah an, im kurdisch kontrollierten Norden Iraks. Vom Vater erfahre ich

nichts. Osman und Abu Bakhir sorgen für die Familie, sie verkaufen auf den Strassen der Innenstadt

Heftplaster und Plastiksäcklein an Passanten. Acht bis zehn Stunden täglich, sieben Tage in der Wo-

che; ein harter Job für Jungs, die eigentlich in die Schule gehören. Trotzdem haben die beiden Glück

gehabt. Zweimal am Tag machen sie Pause und steuern dazu das "City Drop In-Center" für Kinder

und Jugendliche im historischen Zentrum der Stadt an. Hier können sie eine Weile ausruhen und ab-

hängen, andere Jungs treffen, fernsehen, lesen und Tee trinken. Dazu gibt es Englischkurse und Mu-

sikunterricht. Es gibt Betreuer zum Reden und wer krank ist, dem wird geholfen. Einige der Jungs, die

im Lauf der Jahre von der Strasse hier angeschwemmt worden waren, fanden später wieder Anschluss

an eine Schule. Das betreute Zentrum ist ein Projekt von STEP. Seit 1998 setzt sich die Caritas-

Partnerorganisation in Sulaymaniyah für die Rechte und den Schutz von Strassenkindern ein. Rachel

Newton ist die Leiterin der Organisation. 2013 erhielt sie für ihr Engagement den Prix Caritas.

Bloss nicht ins Lager

Die in Kurdistan gestrandeten irakischen Vertriebenen gehören fast alle der christlichen, jesidischen

oder schiitischen Minderheit an. Sie leben in improvisierten Verschlägen, unter Blachen, in Baustellen

und Bauruinen, bei Moscheen, in Kirchen, Pfarrgärten und in allen möglichen öffentlichen Einrich-

tungen, hauptsächlich Schulen. Damit ist jetzt aber Schluss. Die Schulhäuser werden wieder für den

ordentlichen Unterricht gebraucht. Dagegen gibt es eigentlich auch nichts einzuwenden. Immer wieder

wurde der Schulbeginn nach den Sommerferien wegen des Flüchtlingsdramas hinausgeschoben. Die

ansässige Bevölkerung hatte Verständnis dafür. Doch jetzt wollen die Behörden die Geduld der Eltern

nicht länger strapazieren und den Kindern von Sulaymaniyah, Erbil, Dohuk und den anderen Städten

Kurdistans den normalen Schulalltag zurück geben. Viele der Vertriebenen, die nun ihre Unterkünfte

in den Schulhäusern verlassen müssen, haben nur eine Alternative: ein Zelt in einem der grossen

Flüchtlingslager ausserhalb der Städte. Genau davor fürchten sie sich am meisten. Die Schulhäuser

haben vier Wände und ein festes Dach. Sie sind sicher, stehen mitten in der Stadt, man kann raus, sich

frei bewegen und im Notfall ist Hilfe nicht weit. Die Flüchtlingslager aber stehen meist kilometerweit

vor der Stadt, im staubigen Ödland, wo es nichts als Skorpione und Schlangen gibt. Und Zäune. Man

ist eingesperrt und kann nicht fliehen, wenn man angegriffen wird. Dem Wachpersonal traut man nicht

zu, das Lager im Notfall schützen zu können.

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Caritas Schweiz, Mediendienst 13, 9. Oktober 2014

Nicht nur vor den Lagern fürchten sich die Vertriebenen. Angst und Ungewissheit sind allgegenwär-

tig. Niemand ist ungeschoren in den relativ sicheren Provinzen des kurdischen Nordirak angekommen.

Alle haben Menschen durch Gewalt sterben sehen, haben Angehörige, Freunde, Nachbarn verloren,

wurden selber verletzt und bekommen den ungeheuren Kampflärm nicht aus den Ohren und den

Schreck nicht aus den Gliedern, wenn ein Helikopter unvermittelt im Tiefflug über der Stadt auftaucht,

in der sie Schutz gefunden haben. Am meisten Angst aber haben sie vor der Zukunft und vor der

Rückkehr in ihre alten Dörfer und Städte. Auch wenn der Daesh hoffentlich bald von dort vertrieben

sein wird, werden sich die meisten nicht zurück getrauen. Was werden sie zuhause antreffen? Wer

wohnt jetzt in ihren Häusern? Was ist mit der zurück gelassenen Habe, die längst von Milizionären,

aber auch von Nachbarn behändigt wurde, die sich bei der Eroberung ihrer Orte als Kollaborateure

erwiesen hatten? Und welche Zukunft haben die Kinder?

Caritas-Hilfe: Perspektiven für Kinder und Jugendliche

Die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge und irakischen Vertriebenen sind Kinder und Jugendliche. Eine

ganze Million Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erlebnissen und einer schon bitterschweren

Vergangenheit. Dafür mit einer Zukunft, die an einem umso dünneren Faden hängt. Osman und Abu

Bakhir können als Strassenverkäufer zwar ihre Mutter und die Geschwister durchbringen. Aber was

wird später aus ihnen? Längst nicht alle Kids schaffen es, ihre traumatischen Erlebnisse selber zu

überwinden. Die Eltern, wenn es sie gibt, brauchen selber Unterstützung und können ihren Kindern oft

auch nicht helfen. Nicht überwundene Horrorerlebnisse führen zu anhaltenden Schädigungen. Im Irak

droht dies zurzeit einer ganzen Generation. Im Irak tragen die Kinder die schwerste Last.

Neben der Verteilung von Nahrungsmitteln, Decken und Hygienematerial konzentriert Caritas

Schweiz ihre Hilfe deshalb auf Kinder und Jugendliche. Zusammen mit Partnerorganisationen, die mit

den Verhältnissen vor Ort vertraut und auf die Kinder- und Jugendarbeit spezialisiert sind, betreibt

Caritas Schweiz in Sulaymaniyah zwei Drop-In Zentren sowie eine Kinder- und Jugendtagesstätte in

einem Camp für jesidische Flüchtlinge, die nebst animierten Aktivitäten auch psychologische Betreu-

ung anbieten. In den Provinz Erbil und Dohuk fördert Caritas den Zugang von Flüchtlingskindern zur

Schule und bildet Lehrpersonen für den Umgang mit traumageschädigten Schülerinnen und Schülern

aus. Und schliesslich unterstützt Caritas Schweiz auch die Mutter-Kind Zentren von Caritas Irak, die

seit den Neunziger Jahren mangelernährte Kinder versorgen und zurzeit in schwer zugänglichen Regi-

onen die Nothilfe für flüchtende Menschen organisieren.

Osman und Abu Bakhir warten noch auf einen Platz in einer Schulklasse. Im "City Drop In-Center"

von Sulaymaniyah ist man zuversichtlich, die beiden bald platzieren zu können. Und hofft, dass die

Welt all die andern Osmans und Abu Bakhirs, die auch auf Hilfe warten, nicht so schnell vergisst.

Fred Lauener, Konsulent für Humanitäre Hilfe, im Auftrag von Caritas Schweiz

E-Mail [email protected] oder [email protected], Tel. 078 686 57 77