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4 HMD 294 Frank Puscher Augmented Digitality Je enger »digital« und »analog« theoretisch ver- schmelzen können, umso mehr muss sich »digital« anstrengen, den Nutzer zur Nutzung zu verführen. Dafür reicht gute Usability längst nicht, der Schlüssel liegt im Mehrwert. Sonst wird auch Google Glass scheitern. Es mag fünf oder sechs Jahre her sein, als sich das Thema Augmented Reality anschickte, die nächste Evolutionsstufe in der Verknüpfung der analogen mit der digitalen Welt zu erklim- men. Berühmt geworden ist das Colors Magazine, eine provokante Publikation aus der italieni- schen Ideenschmiede Fabrica, einer Tochter des Benetton-Konzerns. Colors verlängerte das Le- seerlebnis seiner Leser mit Videoberichten und Interviews. Diese wurden virtuell in die Seiten des Magazins eingeprägt, wenn man das Heft vor eine Webcam hielt. Der Leser musste ei- gentlich nichts tun, außer einen Browser zu öff- nen, der ein aktuelles Flash-Plug-in besaß. Das Dumme nur: Wenn die Webcam am Monitor des Computers befestigt ist – und das ist bei je- dem Notebook der Fall –, verdeckt das davor ge- haltene Heft auch den Blick auf den Monitor, auf dem der soeben aufgerufene Inhalt er- scheint oder besser: erschienen sein könnte. Sechs Jahre später hat sich die Technikland- schaft weiterentwickelt. Tablets und Smartpho- nes besitzen Kameras auf der Rückseite, sodass der Bildschirm sichtbar bleibt, selbst wenn man ein Magazin scannt. Leider aber gibt es nie- mand, der den Versuch von Colors, eine moder- ne Form des Journalismus zu etablieren, fortge- setzt hat. Zu teuer sagen die meisten, zu wenig Mehrwert behauptet der Rest. Und außerdem ist ja auch das Flash-Plug-in Opfer des techni- schen Fortschritts geworden und somit haben die Browser keine Hilfstechnik mehr, die man zur Umsetzung solcher Ideen nutzen könnte. Aber dafür gibt es ja eine App. Es gibt Legionen von Projekten, die vor al- lem in den Marketingabteilungen erdacht wur- den, die sich das Thema Augmented Reality zu- nutze machen wollten. Tissot erlaubte seinen Kunden, Uhren auch außerhalb des Ladens an- zuprobieren. Sie mussten sich nur ein Papier- armband mit Tissot-Logo um den Arm schnal- len und diesen Arm vor eine Kamera halten. Schon erschien im daneben stehenden Monitor der Arm mit Uhr. Der französische Mischkon- zern Alstom ließ gar einen virtuellen Hochge- schwindigkeitszug durch eine Aktionärsver- sammlung brausen. Und man war sogar drauf und dran, digitale Garderoben zu programmie- ren, vor denen geneigte eCommerce-Kundin- nen ihr nächstes Abendkleid virtuell anprobie- ren sollten. Tatsächlich ist es aber sehr still geworden um das Thema Augmented Reality. Die Spiele- branche nutzt das noch gelegentlich, um virtu- elle Flugzeugschlachten in reale Stadtbilder zu verpflanzen. Das Ganze findet natürlich auf dem Smartphone und nicht auf dem PC statt. Eine Reihe von touristisch-fokussierten Apps versucht, über die Kamera Monumente und Se- henswürdigkeiten zu erkennen und mit Zusatz- informationen zu versehen. »Sie stehen gerade vor dem Eiffelturm.« Ach sag bloß. Tatsächlich hat Steve Jobs dem Thema den Garaus gemacht. Er erfand ein Gerät, das per se Augmented Reality ist. Und dafür braucht es nicht mal eine App. Die Verarbeitung von Positionsda- ten eines Smartphones kann schon genügen, um eine digitale Anreicherung des Standorts zu be- werkstelligen. Und wenn das nicht reicht, dann löst man via Siri oder Google Voice eine einfache Sprachsuche nach »Eiffelturm« aus und schon präsentiert der Browser nicht eine, sondern Tau- sende von Anreicherungsmöglichkeiten. Welche davon richtig ist, entscheidet der Nutzer selbst.

Augmented Digitality

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Frank Puscher

Augmented Digitality

Je enger »digital« und »analog« theoretisch ver-schmelzen können, umso mehr muss sich»digital« anstrengen, den Nutzer zur Nutzungzu verführen. Dafür reicht gute Usability längstnicht, der Schlüssel liegt im Mehrwert. Sonstwird auch Google Glass scheitern.

Es mag fünf oder sechs Jahre her sein, alssich das Thema Augmented Reality anschickte,die nächste Evolutionsstufe in der Verknüpfungder analogen mit der digitalen Welt zu erklim-men. Berühmt geworden ist das Colors Magazine,eine provokante Publikation aus der italieni-schen Ideenschmiede Fabrica, einer Tochter desBenetton-Konzerns. Colors verlängerte das Le-seerlebnis seiner Leser mit Videoberichten undInterviews. Diese wurden virtuell in die Seitendes Magazins eingeprägt, wenn man das Heftvor eine Webcam hielt. Der Leser musste ei-gentlich nichts tun, außer einen Browser zu öff-nen, der ein aktuelles Flash-Plug-in besaß. DasDumme nur: Wenn die Webcam am Monitordes Computers befestigt ist – und das ist bei je-dem Notebook der Fall –, verdeckt das davor ge-haltene Heft auch den Blick auf den Monitor,auf dem der soeben aufgerufene Inhalt er-scheint oder besser: erschienen sein könnte.

Sechs Jahre später hat sich die Technikland-schaft weiterentwickelt. Tablets und Smartpho-nes besitzen Kameras auf der Rückseite, sodassder Bildschirm sichtbar bleibt, selbst wenn manein Magazin scannt. Leider aber gibt es nie-mand, der den Versuch von Colors, eine moder-ne Form des Journalismus zu etablieren, fortge-setzt hat. Zu teuer sagen die meisten, zu wenigMehrwert behauptet der Rest. Und außerdemist ja auch das Flash-Plug-in Opfer des techni-schen Fortschritts geworden und somit habendie Browser keine Hilfstechnik mehr, die manzur Umsetzung solcher Ideen nutzen könnte.Aber dafür gibt es ja eine App.

Es gibt Legionen von Projekten, die vor al-lem in den Marketingabteilungen erdacht wur-den, die sich das Thema Augmented Reality zu-nutze machen wollten. Tissot erlaubte seinenKunden, Uhren auch außerhalb des Ladens an-zuprobieren. Sie mussten sich nur ein Papier-armband mit Tissot-Logo um den Arm schnal-len und diesen Arm vor eine Kamera halten.Schon erschien im daneben stehenden Monitorder Arm mit Uhr. Der französische Mischkon-zern Alstom ließ gar einen virtuellen Hochge-schwindigkeitszug durch eine Aktionärsver-sammlung brausen. Und man war sogar draufund dran, digitale Garderoben zu programmie-ren, vor denen geneigte eCommerce-Kundin-nen ihr nächstes Abendkleid virtuell anprobie-ren sollten.

Tatsächlich ist es aber sehr still gewordenum das Thema Augmented Reality. Die Spiele-branche nutzt das noch gelegentlich, um virtu-elle Flugzeugschlachten in reale Stadtbilder zuverpflanzen. Das Ganze findet natürlich aufdem Smartphone und nicht auf dem PC statt.Eine Reihe von touristisch-fokussierten Appsversucht, über die Kamera Monumente und Se-henswürdigkeiten zu erkennen und mit Zusatz-informationen zu versehen. »Sie stehen geradevor dem Eiffelturm.« Ach sag bloß.

Tatsächlich hat Steve Jobs dem Thema denGaraus gemacht. Er erfand ein Gerät, das per seAugmented Reality ist. Und dafür braucht es nichtmal eine App. Die Verarbeitung von Positionsda-ten eines Smartphones kann schon genügen, umeine digitale Anreicherung des Standorts zu be-werkstelligen. Und wenn das nicht reicht, dannlöst man via Siri oder Google Voice eine einfacheSprachsuche nach »Eiffelturm« aus und schonpräsentiert der Browser nicht eine, sondern Tau-sende von Anreicherungsmöglichkeiten. Welchedavon richtig ist, entscheidet der Nutzer selbst.

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Aber der entscheidende Grund für das Versa-gen von Augmented Reality liegt daran, dass esim Grunde der kompletten Digitalbranche nichtgelungen ist, das Thema wirklich in den Griff zukriegen. Die Techniker haben meistens viel zu auf-wendige – und somit datenschwere – Implemen-tierungen realisiert, die dem potenziellen Nutzerjeden Download verleideten. Die Browserherstel-ler haben die Technik nicht in den Browser inte-griert. Und die Marketingexperten, Produktent-wickler oder Kreativen haben es weder geschafft,die Usability der Anwendungen nutzerfreundlichzu gestalten noch – und das wiegt schwerer – denpotenziellen Nutzen für den User nicht nur zuillustrieren, sondern intensiv zu bewerben.

Genau in diese Falle ist IKEA vor einem Jahrgetappt. Man hat eine App entworfen, mit dersich Katalogseiten scannen ließen, und dannzeigte das Video, dass sich der im Katalog be-trachtete Schrank tatsächlich auch öffnen lässt.Zugegeben, bei IKEA-Möbeln muss man dasnicht unbedingt vermuten. Das Ganze wurdezusammen mit den digitalen Katalogdaten inein handliches 200-MB-Päckchen verpackt. Unddas im Zeitalter der Flatrate-Drosselung.

Doch IKEA hat gelernt. Und wie. Die neue App,die seit Sommer da ist, kommt mit 80 MB aus. Dereigentliche Katalog und die Videos können mitge-laden werden, müssen aber nicht. Und dann gibtes eine echte Mehrwertfunktion, nämlich einenvirtuellen Möbelpositionierer, der mittels Aug-mented Reality IKEA-Designstücke in das aktuelleKamerabild einbindet. Das ist echter Mehrwert.

Leider sind nicht alle Produkte zur virtuellenPositionierung vorgesehen. Das ist eigenartig.Leider kann man die Produkte nicht direkt bestel-len. Das ist merkwürdig. Und bei der »normalen«Augmented-Reality-Anwendung – die mit deneingescannten Katalogseiten – hat man die Hin-weise im Katalog so schön ins Design integriert,dass man sie übersieht. Na ja, man braucht haltnoch Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln.

Überträgt man nun die Lerneffekte von IKEAauf Google Glass, dann stellt sich die Frage, obdiese Form der Augmented Reality tatsächlich in

der Lage ist, andere Kundengruppen zu erschlie-ßen außer Technikfreaks, Innovationsjunkiesund Angeber. In den Werbevideos von Google istnichts zu sehen, was ein anständiges Smartphonenicht längst schon kann und meistens besser.Und auch die diversen Testberichte erzählen vonso revolutionären Tätigkeiten wie Fotografie,Navigation, Preisvergleich oder Fahrplanaus-kunft. Tatsächlich sind eben jene Werbevideosdas Armutszeugnis einer ganzen Industrie.

Wenn schon den Google-Marketers nichtsGutes einfällt, was man mit den Dingern mehroder besser oder gar ganz neu machen kann,dann stellt sich doch die Frage, ob es überhauptso etwas gibt. Bleibt da außer der verpönten Ge-sichtserkennung des Gesprächspartners nichtsübrig? Oder haben wir unseren analogen Alltagdank Smartphone und Tablet schon so stark digi-tal aufgeladen, dass es uns mitunter zu viel wird?Will ich beim Blick in den rotbunten Herbstwald,dass sich mein Twitterfeed ins Bild mischt?

Tatsächlich entwickelt sich bei uns zu Hauseeine Art Ritual. Wenn Wissensfragen auftau-chen, wie zum Beispiel die Frage nach der Höhedes Kilimandscharo, dann wäre früher vor allemunser Jüngster sofort zum iPad gerannt, um dasnachzuschlagen. Inzwischen verzögern wir dies.Wir bleiben sitzen, jeder gibt einen Tipp ab, wirdiskutieren diese kurz und erst dann lassen wiruns von Google helfen. Und manchmal findenwir die Antwort sogar selbst heraus. Ganz ana-log. Und das tut gut. Merke: lieber nachdenkenals nachschlagen. Denn eigentlich ist AugmentedReality ja eine Unterstützertechnik, die danneingesetzt wird, wenn »analog« alleine nichtgenügt. Oder eben dann, wenn »digital« einentollen Mehrwert liefert. Und der ist gar nicht soeinfach zu finden in diesen Tagen.

Frank PuscherVerlag spielfigurRödingsmarkt 1420459 [email protected]