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davon 1 für den/die Verkäufer/in 2 www.augustin.or.at NUMMER 200 11.4. –24.4.07 DIE ERSTE ÖSTERREICHISCHE BOULEVARDZEITUNG Bitte kaufen Sie nur bei AUGUSTIN- KolporteurInnen, die sichtbar ihren Ausweis tragen! SECRETA-SAMMLUNG IM RATHAUS GELÜFTET DIE PORNO-SUCHT DES HOFRATS BATSY AUF TV-KANAL OKTO AUGUSTIN-VERKÄUFERIN MARIAN IM PORTRÄT DIE LADY DER HERRENGASSE AUGUSTIN-VERKÄUFERIN MARIAN IM PORTRÄT DIE LADY DER HERRENGASSE

AUGUSTIN-VERKÄUFERIN MARIAN IM PORTRÄT DIE LADY DER file2 NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 AUFTAKT »SAND & ZEIT«-TAGEBUCH 3 FANPOST 4 Gustl 4 HEROES Kolporteurin Marian Die Lady der

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für den/die Verkäufer/in2

www.augustin.or.at NUMMER 200 11.4. –24.4.07

DIE ERSTE ÖSTERRE ICH ISCH E BOU L EVA RDZE ITUNG

Bitte kaufen Sie nur bei AUGUSTIN-KolporteurInnen,die sichtbar ihren Ausweis tragen!

SECRETA-SAMMLUNG IM RATHAUS GELÜFTET

DIE PORNO-SUCHT DES HOFRATS BATSY

AUF TV-KANALOKTO

AUGUSTIN-VERKÄUFERIN MARIAN IM PORTRÄT

DIE LADY DERHERRENGASSE

AUGUSTIN-VERKÄUFERIN MARIAN IM PORTRÄT

DIE LADY DERHERRENGASSE

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 AUFTAKT2

»SAND & ZEIT«-TAGEBUCH 3FANPOST 4

Gustl 4HEROES

Kolporteurin MarianDie Lady der Herrengasse 6

TUN & LASSEN

Magazin 8,9Die HeilsarmeeSuppe, Seife, Seelenheil 10Mehmet Emirs Briefe an den Vater 11Das Wiener Wirtshaus und die ObdachlosenJa zum Klimawandel 12Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (7)Stufe 2 angemessen … 14Argentiniens »Madres« als VolksbildnerinnenEine Uni gegen das Vergessen 16Augustin beobachtet die JustizAusgerastet 17Das spanische ModellDie geschwächten Geschworenen 18Freie MitarbeiterInnen über den AugustinBlattkritik 19

VORSTADT

Lokalmatador Karl Pisec»Reiner Idealismus« 21Steffen Hofmanns Augustin-ConnectionDer Ballredner 22Kick-Tipp 22Coaching-Zone 23Wiener Ausfahrten 69Wien 20. Allerhailigenplatz 24

StrawanzerIn, die Wien-Programmbeilage zum Herausnehmen.

KRAUT & RÜBEN

Kreuz & Wort 25Marktplatz 26

ART.IST.IN

MAGAZIN 27museumORTHHeimatmuseum remixed 28Über Schlurfkatzen, Zazous, Swings und PotapkiLust am Widerstand 30Secreta-Sammlung im Rathaus gelüftetDer pornosüchtige Hofrat 32Tricky Dicky's Skizzenblätter 33»Rechtsextreme Zeichen und Symbole in Wien«Die Stadt sauber machen 34Gazmed Italy mit »Alltag rein, Österreich raus«Austroalbanisches Kärntenbashing 36Musikarbeiter unterwegs –mit Good Enough For You ins FlucSatan & Soundcheck 37Anstiftung zum Wiederentdecken von Karl KrausKarl Kraus und die Juden 38Zu wenig Geld …Orpheus musste auswandern 40

LITERATUR-WERKSTATT

Engelbert:Berta Bicker 41Blitzsteins Donnergrollen 42Verena:Nur noch der nächste Schuss war wichtig 43Niki Sibitz:Sepperl kann nicht enträtselt werden 44Reinhard Wegerth:Gunstbeweis, eigenhändig 45Luvi:Der Raucher räumt auf 46Gottfried:Tagebuch eines Augustin-Verkäufers 47Magdalena Steiner:Der Mann ohne Eigenschaften 48

INHALT

Coverfoto von Mario Lang: Verkäuferin Marianaus Nigeria in der U3-Station Herrengasse

Seite 6

Herausgeber und Medieninhaber:Verein Sand & Zeit. Herausgabe und Vertrieb der Straßenzeitung AUGUSTIN. Vereinssitz: 1050 Wien, Schloßgasse 6–8

Internet:http://www.augustin.or.atupdating: Gabi Lempradl

Organisation(Vertrieb/ Kolporteure/ Vereinsangelegenheiten) Team: Andreas Hennefeld, Riki Parzer, Eva Rohrmoser1050 Wien, Schloßgasse 6-8Tel.: (01) 54 55 133Fax: (01) 54 55 [email protected]

Redaktion(Abos/ Schreibwerkstatt/Öffentlichkeitsarbeit):1040 Wien, Mostgasse 7/3Tel.: (01) 587 87 90Fax: (01) 587 87 90 – [email protected]

Redaktionsteam: Karl Berger, Robert Sommer (DW: 11) (Koordination und Gestaltung); Andreas Hennefeld, Mario Lang (DW: 13), ErikaParzer, Claudia Poppe, Eva Rohrmoser, Reinhold Schachner(DW: 12), Christina Steinle, Angela Traußnig (DW: 10), Aurelia Wusch

MitarbeiterInnen:Illustrationen: Anton Blitzstein, Thomas Kriebaum, JuliusMende, Carla Müller, OttaGringo, Magdalena Steiner. Fotos:Mehmet Emir, Bettina Frenzel, Walter Henisch, Florian Mül-ler, Museum Orth, Norbert Siegl, Christoph Witoszynskyj.Texte: Berta Bicker, Gottfried, Gerald Grassl, Mehmet Emir,Eva Kaplan, Rainer Krispel, Luvi, Uwe Mauch, Bärbel Men-de-Danneberg, Florian Müller, Christa Neubauer, HelmutNeundlinger, Erwin Riess, Martin Schenk, Richard Schub-erth, Werner Schuster, Niki Sibitz, Verena, Reinhard We-gerth. Kreuzworträtsel: Eva Wagner. Texterfassung: Luvi.Lektorat: Richard Schuberth.

StrawanzerIn:E-Mail: [email protected]

Radio AugustinVerantwortlich: Aurelia Wusch1040 Wien, Mostgasse 7/3Tel.: (01) 587 87 90 – [email protected]

TV AugustinVerantwortlich: Christina Steinle1040 Wien, Mostgasse 7/3Tel.: (01) 587 87 90 – [email protected]

Inserate (KEINE Kleinanzeigen! Für Gratis-Wort-anzeigen siehe Hinweis auf Seite 26):Gerda KolbTel.: 0 699 19 42 15 92E-Mail: [email protected]

Druck:Herold Druck- und Verlagsgesellschaft 1032 Wien, Faradaygasse 6

Verlagsort:Wien

Information:AUGUSTIN erscheint jeden zweiten Mittwoch Auflage dieser Nummer: 45.000

Mitglied des International Network of Street Papers

AUGUSTIN erhält keinerlei Subventionen

PSK, Blz 60.000, Nr. 92 051 517Bawag, Blz 14.000, Nr. 05 010 666 211

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07SAND & ZEIT 3

Das Verfassen des Editorials istin der Regel die Aufgabe derChefredakteurin oder des

Chefredakteurs. Da aber diese Stel-le beim Augustin nie installiert wor-den ist, sondern bloß die des koor-dinierenden Redakteurs, hat dieserauch die editoriale Aufgabe zu erfül-len. Die vorliegenden Zeilen stam-men aber nicht von ihm. Der koor-dinierende Redakteur Robert Som-mer überließ seinem adjektiv-losenKollegen das Editorial nicht ausGründen der Bescheidenheit. Erwollte damit auch keine nette Ges-te zeigen. Dahinter steckt schlichtund einfach Kalkül.

Vor Monaten gab es natürlich denPlan, mit der 200. Nummer eine»Jubiläumsausgabe« zu gestalten,worin die LeserInnen die Hochsund die Tiefs, die Hoppalas und un-serer Meinung nach konstruktivenBeiträge und Aktionen in homöopa-thischer Dosierung nachlesen könn-ten. Doch dieses Vorhaben wurderasch verworfen, denn solche Rück-blicke gibt es zuhauf und langweilendarüber hinaus in den meisten Fäl-len.

Die nächste Idee, diese Ausgabemit Frauenschwerpunkt zu gestal-ten, wurde von einigen Mitarbei-tern mit dem Argument der »Mut-tertagsfalle« strikt abgelehnt. Es hatzwar einmal der Kommunikations-wissenschafter Fritz Hausjell überden Augustin gemeint, er sei das so-ziale Gewissen der Stadt, doch da-

bei hat er das große Manko, die feh-lende Geschlechtersensibilität,nicht beachtet. Der in der Zeitunganzutreffende Phallozentrismuswurde in wissenschaftlicher Ausar-beitung von Elisabeth Holzinger at-testiert und wird auch häufig vonMitarbeiterinnen thematisiert. Unddiesen Schwachpunkt gilt es mittel-und längerfristig auszumerzen. Dasist viel wichtiger als eine Frauen-Ju-biläumsausgabe, die Gefahr liefe, alsKompensations- oder Alibiaktion,wie der Muttertag, herhalten zumüssen.

Zurück zum Editorial-Kalkül. DieWahl fiel auf mich, da ich im Ver-gleich mit meinen KollegInnen mitAbstand am kürzesten beim Augus-tin beschäftigt bin. Daher sollte beimir die Betriebsblindheit klein unddas Wissen um die Historie des Au-gustins dürftig sein – somit sollteauch das Risiko minimiert werden,im Editorial in Nostalgie zu schwel-gen. Also keine Nostalgie, sondernder Hinweis auf die anderen Augus-tin-Medien, die zu sehr im Schat-ten der Zeitung stehen. Anders aus-gedrückt der Wiener Öffentlichkeitist die Zeitung zumindest vom Blickher bekannt, doch ein beträchtli-cher Teil davon weiß über Radio Au-gustin und Augustin TV wenig bisgar nichts. Aurelia Wusch koordi-niert die beiden Radiosendungenmit insgesamt zwei Stunden Pro-gramm pro Woche auf Radio Oran-ge 94,0. Christina Steinle koordi-

niert drei Fernsehsendungen mitinsgesamt anderthalb Stunden proMonat, die auf dem relativ jungen,nicht-kommerziellen Kabelsender»OKTO« ausgestrahlt werden.

Ich kann es mir aber nicht ver-kneifen, abschließend wieder aufdie Zeitung und unser schizophre-nes Selbstverständnis zurückzukom-men. Auf der einen Seite ringen wirdarum, als ernst zu nehmendesBlatt wahrgenommen zu werden.Als politisch und ökonomisch unab-hängige Straßenzeitung, mit demgroßen Anliegen, eine Gegenöffent-lichkeit zu kolportieren, d. h. imSpeziellen in den Teilen HEROESund TUN&LASSEN, den sozialen,

ökonomischen und politischen My-then entgegenzuarbeiten, für dieVORSTADT die Beisln, Frisiersalonsund Fußballplätze dieser Stadt auf-zusuchen und in der STRAWANZE-RIN und ARTISTIN die freie Kunst-szene zu pushen.

Doch auf der anderen Seite hat esseinen Reiz, unter dem Etikett»Sandlerzeitung« oder »1. Österrei-chische Boulevardzeitung« zu arbei-ten, denn das erlaubt dem Augustindie vom slowenischen Philosophenund Kulturkritiker Slavoj Zizek fest-gehaltene Theorie der Hyperaffirma-tion, der Über-Identifizierung, an-zuwenden. Das hieße für den Au-gustin, darauf zu beharren, eine»SandlerInnenzeitung« zu sein undausschließlich die Themen, die fürdie so genannten VerliererInnenoder an den gesellschaftlichen RandGedrängten relevant und interes-sant sind, aufzugreifen: Das wärendann Bereiche wie Kultur, Soziales,Sport, Gesellschaftliches, Politik etc.– was sonst!

P.S.: Es liegt zwar ein Jubiläums-editorial vor Ihnen, aber bestimmtkeine Jubiläumsausgabe!

Reinhold Schachner

Der 200. Augustin ist keine Jubiläumsausgabe

TAGEBUCH

»brücken:schlag« im Volkskunde-MuseumFührung für den Augustin

Unzählbar sind die im Lauf der Geschichtegefallenen Denkmäler. Statuen wurdenund werden weggeräumt, sobald ein Dik-

tator gestürzt wurde oder eingreifende Regie-rungswechsel stattfinden. Oft schlägt man miss-liebig gewordenen Plastiken den Schädel ab –und setzt einen mit neuer Bedeutung drauf.Schlaue Politiker dekretierten schon einmal, dieSockel unbeschädigt zu lassen, für neugegossenenächste Repräsentanten der Macht. Eine klugeAusstellung zum breiten Thema der Bedeutungund Bedeutungsaufladung von Symbolen ist imVolkskunde-Museum zu sehen: »brücken:schlag– politische Symbole und neue Identitäten inEuropa«. Sie trifft einen Nerv unserer Welt der

Umbrüche, in welcher der Umgang mit Labels undpolitischen Symbolen virulent ist wie schon langenicht. Je zwei KünstlerInnen aus fünf Ländern the-matisierten ausgehend von der »Austria«-Statuevon Czernowitz die Vergänglichkeit, Wichtigkeit,Wertlosigkeit, Auswechselbarkeit von Symbolen.

Für LeserInnen und VerkäuferInnen des Augustin:Thomas Northoff führt durch die AusstellungDienstag, 24. April 2007Treffpunkt: 14 UhrÖsterreichisches Museum für VolkskundeLaudongasse 15–191080 WienUnkostenbeitrag: € 2,–

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FLANERIE ABSEITS DERTOURISMUSROUTEN

Es ist schon ein Jahr her (Nr. 179,April 2006), dass im Augustin überdas Asperner Flugfeld zu lesen war.Etwa zur gleichen Zeit gab es beiuns an der TU eine Diskussion da-rüber, ob die Universität auch in Zu-kunft rund um den Karlsplatz be-stehen solle, oder ob ein Neubauam Flugfeld nicht vielleicht sinnvol-ler wäre. Aus der Übersiedlungwurde (zum Glück?) nichts, abertrotzdem war mein Interesse andem Gelände geweckt. Ende März haben es drei Studien-kollegen und ich nun tatsächlich ge-schafft, in die Donaustadt zu fahrenund den einst so modernen Flugha-fen zu besuchen. Das Rollfeld, dieÄcker ringsum und die Rehe undKaninchen waren in der Tat ziem-lich beeindruckend, so etwas er-wartet man in einer Millionenstadtnicht. Irgendwie doch schade, dassdiese beeindruckende Ebene in einpaar Jahren in ein ganz gewöhnli-ches Stück Stadt verwandelt wer-den soll. Der frisch gepflanzte Ho-locaust-Gedenkwald nebenan hatunterdessen seine beste Zeit nochvor sich: Das »Gebüsch« kann fürmich keine Brücke zur Vergangen-heit schlagen. In einigen Jahrzehn-

ten freilich wird auch dieser Waldein richtiger Wald sein, in demman sinnend spazieren und auf dieSkyline des neuen Stadtteils blickenkann.

Karl Eichinger, St. Pölten

Augustin löst Diskussion aus

WIENERiNNEN ZUR STRASSENMUSIK

Die Lärmempfindlichkeit der Wie-ner ist manchmal schon absurdhoch. Mir fällt keine Stadt dieserGröße ein, die leiser ist. Ich lebteeine Zeit lang in Genua, meinSchlafzimmerfenster ging auf eineHauptverkehrsstraße (Dieselbusseohne erkennbare Schalldämpfungund Mopeds) und den daneben-liegenden Bahndamm der Streckenach Ventimiglia und Nizza. Als ichdann eine Woche auf »Heimatur-laub« war, dachte ich, ich hätte ei-nen Hörsturz, als ich mit dem Busfuhr und weder Motorengedröhnenoch Unterhaltungen hörte. Undam Abend jenes Tages sah ich in»Wien Heute«, dass sich Anrainerüber die lauten Geräusche der Wie-ner Busse in der Nacht bei den Wie-ner Linien beschwerten. Die nächs-ten 10 Minuten verbrachte ich la-chend am Boden.

*

Die Bürokratie in diesem Zusam-menhang ist absurd. Straßenmusi-kanten gehören zu einer Stadt dazu,wenn zwei Millionen Menschenauf einem Fleck sind, kann nicht

immer alles pscht, leise, grau undunauffällig sein. Allerdings: DasMusikverbot in den Verkehrsmit-teln sollte weiter aufrecht bleiben,denn Zwangsbeglückung solltenicht sein.

*

wien soll new york werden! ich habselbst mal an einen sommer langauf einigen plätzen der innenstadtgespielt. mühsamer erwerb der be-rechtigungskarte, polizisten, die fra-gen, ob man für den cd-verkauf einegewerbeberechtigung hätte, strikteregeln für wann wie wo. seitdemhat es mich nicht mehr gereizt, ob-wohl das spielen an sich eine span-nende erfahrung war. als ich letztesjahr in new york war, hab ich schönblöd gschaut, als ich in den u-bahnstationen immer wieder ganze

bands (!) spielen gesehen hab. mitoffiziellen transparenten mit band-name und u-bahn-logo! da weißman dann, in welcher provinz manin wien eigentlich lebt.

*

Aus welchen Köpfen entspringt es,Musik in der U-Bahn zu verbieten?Musik wäre das einzige, was diederzeit graue Meier-AtmosphäreWiens etwas auflockern und einbisschen Lebensfreude entfachenkönnte. Momentan haben die grau-en Männer bzw. die Schneemännergesiegt. Aber eines steht fest, wieein japanisches Sprichwort sagt:Wenn einmal wieder die Sonnekommt, werden die Schneemännerschmelzen.

*

Rätselauflösung für Heft 199

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Für die Musikhauptstadt Wienist es wahrlich eine Schande,wie leblos die Innenstadt mitt-lerweile ist!

*

Die ganzen Krämerseelen demTeufel, deren Anwälte hinter-her! Wenn ich am Stephans-platz in Gold lackierte »Panto-mimen« sehe, ringe ich mitTränen ... und erinnere michan Jahre, in denen durch dieCity die zarten Federn der Poe-sie wehten. Heute haben diegrauen Männer gesiegt, See-thaler wird immer noch ver-folgt, so wenig Musik gab'snoch nie. Und wo, bitte, ist dasStraßentheater geblieben??

*

Frau Stenzel: Wenn Sie aus derInnenstadt endlich einen ähn-lichen Bastard wie das heutigeCafé Museum gemacht haben,wird irgendwann gar keinermehr hingehen!! Friedhofsru-he – soll DAS vielleicht die Vi-sion für den 1. Bezirk sein?

*

Naja, als Passant kann ich ein-fach weitergehen, wenn mirdie Musik nicht gefällt – mirtun eher die VerkäuferInnenLeid, die nicht weggehen kön-nen, wenn sie stundenlang an-musiziert werden.

*

Sie lasen eine Auswahl von Le-serInnen-Beiträgen im Online-Standard. Der Standard vom 4.April hatte über eine Presse-konferenz des Augustin be-richtet. Anlass: Gemeinsam

mit dem Betreiber des Interna-tionalen Akkordeonsfestivals,Friedl Preisl, wird der Augus-tin im Rahmen des F13-Akti-onstages (13. April) in Aktio-nen und Konzerten die Strei-chung oder eine radikale Libe-ralisierung der Straßenmusiks-verordnung fordern. Der Stan-dard zitierte den Akkordeonis-ten Krzysztof Dobrek, der sei-ne Karriere als Straßenmusikerbegann und sechs Jahre langdie Pflaster europäischer Städ-te bespielte. »Anfang der1990er Jahre war die Konkur-renz auf der Kärntner Straßeenorm – eine Gruppe spieltebesser als die anderen«. Heutewerde die Straßenmusik eherals Lärmbelästigung denn alsKunst wahrgenommen. »Fürelf Zonen – vor allem in der In-nenstadt – sind kostenpflichti-ge Platzkarten nötig, mit derjeweils für ein Monat die Plät-ze und Zeiten zugeteilt wer-den – was Auftritte durchzie-hender Künstler erschwerenwürde, wie Dobrek meint«,heißt es im Standard, der auchdie Wiener Linien dazu be-fragte: »Ein striktes Musizier-verbot im U-Bahn-Bereich ma-che Sinn, heißt es vonseitender Wiener Linien, auch dieWiener Stadtverwaltung siehtkeinen Änderungsbedarf.Rund 40 Künstler pro Monaterhalten eine Platzkarte, dieZonen für zirka zehn zwei-stündige Auftritte werden perComputer verteilt. Auch wennes viele Beschwerden von derCity-Bezirksvorsteherin Ursu-la Stenzel (VP) gebe – laut Po-lizei gibt es im Großen undGanzen kein Problem.«

Mehr zum Thema Straßen-musikverordnung in dernächsten Ausgabe.

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07FANPOST 5

Aus Mehmet Emirs Fotoserie für eine Boulevardzeitung der anderen Art

DAS NACKTE LEBEN

EROTIKHOTLINE

0930 128 777 (39 cent/min)

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Die »family«scheint die Ni-gerianerin über-haupt sehr ins

Herz geschlossen zu haben.Marian jedenfalls hat nurdickes Lob für die Augus-tin-KäuferInnen parat, dieneben der Schokolade auchsonst einige Ideen haben,wie sie »ihrer Schwarzen«den Aufenthalt im fremdenLand erträglicher machenkönnten. »Einer bringt mirzum Beispiel fast jeden TagTee, weil ich mich – wie ersagt – gegen eine Erkältungschützen muss«, erzähltMarian. Wo sie verkauft, istkalte Zugluft tatsächlichmanchmal ein »Kranken-stands«-Grund. Auch habesie bereits zehn paar Hand-schuhe zuhause, weil dieLeute von Afrikanerinnenannehmen, sie seien weni-ger resistent gegen dieWinterkälte. Das größteGeschenk habe ihr eineLehrerin bereitet: Sie be-zahlt den Deutschkurs, derjeden dritten Abend statt-findet und in dem Marianderzeit um eine Verbesse-rung der Aussprachekämpft.

Nach all dem, was sie inder ersten Phase ihres Ös-terreich-Aufenthalts – sie-he unten – erlebt habe, seisie vom Ausmaß der Hilfs-bereitschaft gegenüber ei-ner schwarzen »Augusti-ne« überrascht worden,sagt Marian. Wichtig fürihre Seele seien aber nichtso sehr die materiellen undfinanziellen Zuwendungen,sondern die vielen »Howdo you do’s« und »Wiegeht´s dir’s«, die sie im Lau-fe ihrer Kolportage – in der

Regel an Werktagen von 6Uhr früh bis 11 Uhr – ern-ten könne. Ein Kunde, denein Blick auf Marians »La-gerkarte« belehrte, dass sieam selben Tag Geburtstaghatte wie er, lud sie zur Ge-burtstagsfete ein. »Selbstdie Polizisten grüßen michoft, wenn sie vorbeigehen.Wow!« Marian staunt, wasein vom Vertriebsbüro ges-tempelter VerkäuferInnen-Ausweis bewirkt. Immer-hin gilt der Respekt, denMarian entgegennehmenkann, einer papierlosen,entrechteten, bisher umihr Asylrecht betrogenenFrau. Ihr Aufenthalt in Ös-terreich ist von der Behör-de bloß geduldet.

Marian nimmt nicht nur,sie gibt auch viel. Sie hat jaeine feine Zeitung in derHand, sie schenkt Freund-lichkeit und sie heitert dieMenschen mit Gospelsongsauf – zu einer Zeit, in dersie diesen Balsam beson-ders nötig haben: bei denmorgendlichen Zwangswe-gen zu den Schreibtischender Ministerien und Ämterin der Umgebung der U3-Station. »Wenn du Schmer-zen im Herz hast, ist Musikdas beste Heilmittel«, sagtMarian. Und Herzschmer-zen seien unvermeidlich,»wenn du wo fremd bist,ohne deine Familie umdich«. Ob sie ihre Lust zusingen nicht »professiona-lisieren« wolle, fragen wirsie. Und wann wir sie aufeiner Bühne bewundernkönnten. »Kommt in dieHerrengasse, dann hört ihrmich«, antwortet Marian.Wenn sie musikalische Be-gleiter fände, könne sie

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Wenn du wüsstest, wie dünn ich war, als ich 2004 nach Österreich kam, lacht Marian, eine der beiden afrikanischen Verkäuferin-nen des Augustin. Dass sie heute »so fett« sei, habe sie ihren Kundinnen und Kunden zu verdanken, denen sie in der U3-StationHerrengasse die Straßenzeitung anbietet. So viel Schokolade könne sie gar nicht essen, wie sie von ihrer »family«, so nennt sie

den Stammkundenkreis, solidarisch verabreicht bekäme.

Lieber die Zeitung als den Körper verkaufen: Kolporteurin Marian

Die Lady der Herrengasse

»Nichtstun würde mich krank machen. Viele Asylwerber sind gezwungen zum Nichtstun. Der Augustin bewahrt mich davor«

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sich auch vorstellen, afrikanischeMusik zu machen. Vielleicht einmalfür ein Augustin-Fest …

Westbahnhof oder Prater –such´s dir aus

Denn dem Augustin verdanke sie al-les. Immer wieder bricht das aus Ma-rian heraus. Das Exilland Österreichzeigte sich zunächst von seiner übel-sten Seite. In einer Privatpension ineinem burgenländischen Dorf warsie der Willkür der Inhaberin ausge-setzt, die staatliches Geld dafür kas-sierte, 15 bis 20 AsylwerberInnnenzu beherbergen. Wenn der Chefinirgendwas nicht passte, wurde dasEssen gestrichen. Eingaben, die dieBetroffenen zur Caritas nach Eisen-stadt schickten, oder die Interventi-on eines lokalen Pfarrers, der dieDiktatorin auf die Zweckbestim-mung der staatlichen Gelder hin-wies, änderten an der Situation we-nig. Marian wartete die nächste Ge-legenheit ab, nach Wien zu kom-men. Doch Wien war abweisend wiedie Provinz. »Ich hungerte. Jeder,den ich fragte, wie man als schwar-ze Frau hier überleben könne, sagte

mir: Du hast zwei Möglichkeiten –Strich im Prater, Strich beim West-bahnhof. Aber meinen Körper zuverkaufen kam für mich nicht in Fra-ge«, erzählt Marian.

SozialarbeiterInnen, die Frauenunterstützen, die aus der Prostituti-on aussteigen wollen, halfen der Ni-gerianerin weiter. Marian kam in einCaritasheim im zehnten Bezirk, wosie inzwischen ein Kämmerchen fürsich hat. Sie erfuhr von einer Stra-ßenzeitung, die vor allem von Afrika-nern vertrieben wurde: von der»Bunten«. Der Stephansplatz wurdeihr Verkaufsplatz. Die »Bunte«, in-haltlich spezialisiert auf Themen wieMigration, Integration und Rassis-mus, war schlecht zu verkaufen, sagtMarian. Außerdem sei der Stephans-platz immer das Zentrum der Kon-kurrenzkonflikte der Straßenzei-tungsverkäufer gewesen. Der Wech-sel zum Augustin und das »Platz-recht«, das sie in der Herrengassegenießt, brachte eine Ahnung vonSicherheit in ihr prinzipiell unsiche-res Leben als Unerwünschte in ei-ner sich gegenüber Armen abschot-tenden Überflusswelt.

»Eigentlich verstehe ich nichtganz, warum es nur zwei afrikani-

sche Frauen beim Augustin gibt. DieFrauen sagen, sie genierten sich, bet-teln zu gehen. Als ob der Augustin-verkauf ein Betteln sei. Als Afrika-nerin ohne Papiere, ohne Arbeitser-laubnis, ohne Aufenthaltsrecht hastdu in Wien nur zwei Alternativen.Entweder du wirst Prostituierte oderdu verkaufst den Augustin.« Auchauf eine weitere Wirkung des Augus-tin weist Marian hin: »Asylwerbersind in Gefahr, crazy zu werdendurch Nichtstun. Hier im Caritas-heim bekommen wir 35 Euro Es-sensgeld pro Woche. Gut, vielleichtkann man damit überleben, aber dasHerumsitzen oder Herumliegenmacht dich unweigerlich krank. Mitdem Augustin bleibst du busy, in Be-wegung.« Sie würde gerne eine Aus-bildung als Krankenpflegerin ma-chen. Gott allein wisse, ob sich die-ser Wunsch je erfüllt.

Worüber Marian überhaupt nichtgern reden will, sind die Gründe ih-rer Flucht aus Nigeria. Aufgewach-sen in einer christlichen Yoruba-Fa-milie im Niger-Delta, die von Land-wirtschaft und Fischfang lebte, soll-te sie als Mädchen auf das Genitalbe-schneidungs-Ritual vorbereitet wer-den. Marian wusste, dass diese tradi-

tionelle Vaginaverstümmelung kei-ner Frau des Dorfes erspart bleibenwürde, und sie wusste, dass vieleMädchen an dem Eingriff starben.Mithilfe eines kritischen Journalis-ten konnte sie fliehen. »Die öster-reichischen Asylbehörden haben mirnicht geglaubt. Sie denken, ichlüge«, sagt Marian verbittert. Sie istkein Einzelfall. Die Story könnte hierleicht ins Politische rutschen. Abersie endet schon. Denn Marian ginges eigentlich nur um eine Hommagean die PassantInnen in der U3-Stati-on Herrengasse.

Robert Sommer

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07HEROES 7FO

TOS:

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Singend und tanzend – so kennen die PassantInnen ihre Kolporteurin Marian aus Nigeria

Wo Nigeriaführend ist …

Die weibliche Genitalverstüm-melung bedeutet das Heraus-schneiden der Klitoris sowie dergesamten inneren Schamlippenoder Teile davon. Neben denkörperlichen Schmerzen, wel-che durch diese Praxis selbst so-wie oft nachfolgende Infektio-nen verursacht werden, hat die-se Praxis auch eine traumatisie-rende Wirkung auf ihre Opfer.

Joy Keshi Ashibuogwu vonder Women Issues Communica-tion Services Agency (WISCA)aus Nigeria sagt, dass in Nigeriadie Hälfte aller genitalverstüm-melten Frauen Afrikas leben.

Laut der nigerianischen Frau-enrechtsaktivistin Hannah Ede-mikpong haben viele Politikerund politische Parteien in Nige-ria begonnen, diese Praxis rhe-torisch zu verurteilen – wegender Missbilligung dieser Praxisauf internationalen Ebenenund in internationalen Abkom-men. »Die Diskussion über Sexund Sexualität ist ein Tabu inder traditionellen afrikanischenGesellschaft, aber wir und an-dere Frauengruppen sind dabei,das Unheil zu durchbrechenund haben zusammen mit vie-len gebildeten Frauen vielDruck ausgeübt auf Mitgliedergesetzgebender Versammlun-gen. In der Tat gibt es einenDurchbruch in vielen Staaten inNigeria, in denen Gesetze ver-abschiedet werden, die Genital-verstümmelungen für illegal er-klären, aber das Problem ist,wie man dieser GesetzgebungGeltung verschafft. Selbst inEuropa, wo weibliche Genital-verstümmelung verboten ist,wird diese immer noch heimlichvon Afrikanern und Asiaten anihren Kindern vorgenommen.«

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Das »neunerHaus« ist sehr ak-tiv, um sich durch ein Spen-denprojekt teilzzufinanzie-

ren. Diesem Verein, der obdach-und wohnungslosen Menschen nie-derschwellig Zimmer und Wohnun-gen anbietet, sind hohe Spendenein-nahmen nur zu wünschen. Ein Pro-jekt ist die Kochbuchreihe »Hauben-küche zum Beislpreis« mit Rezeptenmundender Speisen, sogar von Sa-rah Wiener, deren Zutaten billig ein-zukaufen sind. Oder die Kunstauk-tionen, für die seit Jahren Künstle-rInnen ihre Werke zugunsten des»neunerHauses« versteigern lassen.Die letzte Kunstauktion brachteüber einhunderttausend Euro ein –bravo!

Im vergangen Februar ging in derZentrale des »neunerHauses« eineBenefizaktion mit und auch für ei-nen Politiker über die Bühne. Sozi-alminister Erwin Buchinger ließ sichdort im Rahmen eines PR-Auftrittes(es gilt die Unschuldsvermutung) ge-

gen Spenden für den Verein in derHöhe von 12.500 Euro eine neueFrisur verpassen. Das ist im doppel-ten Sinne des Wortes haarig, dennSozialexpertInnen sehen in Buchin-gers Politik einen Weg in Richtungdeutsches Hartz IV. Martin Schenkführte beispielsweise folgenden Kri-

tikpunkt zu Hartz IV im AugustinNr. 191 an: »Bei Hartz wurde dasvorgelagerte System der Arbeitslo-senversicherung in das nochschlechtere System der Sozialhilfeüberführt. Das ist die große Gefahrauch bei der aktuell (in Österreich,Anm.) geführten Debatte.« Des Sozi-

alministers Haare brin-gen einer Einrichtungfür Obdachlose eineMenge Geld, doch sei-ne Politik sieht bei ei-ner Menge ärmererMenschen noch weni-ger finanzielle Unter-stützung vor – echtschräg, seine alte Frisur;echt suspekt, seine dro-hende Politik.

Die aktuell laufen-de Benefizaktion des»neunerHaus« ist wie-der eine unpolitische,die ruhigen Gewissensans Herz und auch an

den Magen, gelegt werden kann.»neunerMenü« heißt das garantiertpolitfreie Gelderlukrierungsprojekt.In flüssiger Form kennt man diesschon von der Aktion »Bock aufBier«, bei der beteiligte Lokale proKrügerl 10 Cent an das Flüchtlings-projekt von Ute Bock weiterreich-ten. Beim »neunerMenü« werdenin Wirtshäusern Speisen aus obengenannter Kochbuchserie aufge-tischt, und von der Zech fallen dannein bis drei Euro für das »neuner-haus« ab.

reisch

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Was ist mit der Familie Er-hunwunsee in Bruck an derMur? Was ist mit Frau Be-

risha und ihren drei Kinder inVöcklabruck? Was ist mit HerrnSharifi mit Tochter in Leoben? Wasist mit der jungen Familie aus Ma-zedonien in Grein? Was ist mitdem Burschen aus Tschetschenienim Burgenland? Was ist mit HalitNuha in Linz-Kleinmünchen?

Sie alle sind seit Jahren da, ar-beiten, die Kinder gehen zur Schu-le – aber die Gesetze wollen sie ab-schieben. Und die Bevölkerung inBruck, Grein, Vöcklabruck, Le-oben, Grein, Linz-Kleinmünchenwehrt sich. Georg Stadler, Direktordes Gymnasiums in Leoben, hattedie Hilfe für seine Schülerin undderen Vater mit organisiert. Unter-schriften- und Mail-Aktionen, einePressekonferenz, ein Benefizkon-zert der Lehrerband waren nur ei-

nige der Maßnahmen gewesen,die man gesetzt hatte.

Das sind keine Einzelfälle.Der kleine Dominik Salmhofer

ist vor einer Woche geboren wor-den, seine Mutter, verheiratet mitChristian Salmhofer, soll ausgewie-sen werden. Frau Aigul Salmhofer,Flüchtling, hat in einer schwerenGeburt einen österreichischenStaatsbürger geboren. Der darfbleiben – beim Vater.

Afzaal Deewan, erfolgreicherGastwirt, lebt und arbeitet inWien, verheiratet mit Natalie, sollabgeschoben werden.

Das sind Ketten von Einzelfäl-len. Tausende. Von »unserem aus-gezeichneten Fremdengesetz« (In-nenminister) produziert.

Familie Erhunwunsee, Frau Be-risha und Kindern, Herrn Sharifi,Aigul Salmhofer, Afzaal Deewanwird ein bedeutendes Instrument

der Integration verweigert: Auf-enthaltsverfestigung. Die Sicher-heit des Aufenthalts als Familie,Ehepaar, als Kinder, ja als Babynach Jahren des Lebens in ihrerneuen Heimat. Integration be-ginnt mit der Geburt. »Aufent-haltsverfestigung« ist ein wichti-ges Instrument der Integration. Siekommt in den hiesigen Debattenkaum vor, obwohl sie zu den wirk-samsten und bedeutendsten Inte-grationsfaktoren gehört.

Stattdessen hat sich im Wind-schatten der neuen Fremdengeset-ze eine Bürokratie etablieren kön-nen, der »grenzenlose« Liebe ver-dächtig ist, die Babys hinterher-schnüffelt und die die Schönheitder Legistik dem realen Leben vonMenschen vorzieht. Ein großer Teilvon Menschenrechtsverletzungenwird stets von freundlichen Herrenin Anzug und Krawatte verübt.

Jetzt wurde gerade in den Nie-derlanden von der Regierung,auch einer großen Koalition, be-schlossen, AsylwerberInnen, dievor 2001 einen Asylantrag einge-bracht haben, ein Aufenthalts-recht zu gewähren.

Ähnliches wäre auch in Öster-reich möglich. Ein Bleiberechtnach beispielsweise fünf Jahrenkönnte der Innenminister auf demErlassweg beschließen; die Situati-on von Herrn Sharifi und seiner 14-jährigen Tochter wäre saniert.Und Ehepartnern soll wieder dieMöglichkeit eingeräumt werden,den Niederlassungsantrag im In-land zu stellen. Das würde die Exis-tenzangst von Azaal Deewan be-enden.

»Unsere ausgezeichneten Frem-dengesetze« machen Familien ka-putt. Diejenigen, die das an kon-kreten Menschen miterleben, fü-gen sich nicht mehr der Propagan-da in Politik und Medien. Bürge-rInnen aus Bruck an der Mur, Linz-Kleinmünchen, Vöcklabruck,Grein, Leoben und …?

Martin Schenk

Die Schönheit der GesetzeeingSCHENKt

Ministerielles Haar in der Armensuppe und Speisen für den guten Zweck

PROST, MAHLZEIT UND HARTZ IV

Die Liste der Gastronomiebetriebe,die ein »neunerMenü« anbieten, istunter der Webadresse www.neunerhaus.at/neunerhauswirte.htmzu finden. Bitte beachten Sie, anwelchen Tagen die Aktion im jewei-ligen Wirtshaus gilt. Einige servie-ren bis Ende April durchgehend Benefizmenüs, andere nur an wenigen Tagen.

I N F O

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Alle waren sie da: Michail Gor-batschow, Niklas Luhmann,Pierre Bourdieu, Jeremy Rif-

kin, Erika Weinzierl, Eva Reich,Ruth Klüger, Richard Sennett, Bi-schof Erwin Kräutler, Ernesto Car-denal, Marcel Reich-Ranicki, VictorFrankl, Christina von Braun, UtaRanke-Heinemann etc. HubertChristian Ehalt brachte sie alle nachWien. Zu den »Wiener Vorlesun-gen« nämlich, die heuer ihr 20-jäh-riges Bestehen feiern. Eine Art Volxuni hat Geburtstag. Nach altemösterreichischem Brauch ist sie nichtvon unten erkämpft, um auch durch-schnittlichen StadtbewohnerInnenZugang zu den aktuellen Debattender (vor allem geistes-)wissenschaft-lichen Welt zu verschaffen, sondernin einem dem Rathaus zugeordne-ten Büro konzipiert worden. Jedochzum selben Zweck. Initiator HubertChristian Ehalt, zuständig für dieWissenschafts- und Forschungsför-derung der Stadt Wien, ermöglicht500 HörerInnen (so viele kamen imSchnitt zu jeder der bisher 1000 Ver-anstaltungen), international wirken-den VordenkerInnen zu lauschenoder mit ihnen zu diskutieren. Kos-tenlos, wie es sich für eine Volxunigehört.

Es sei unendlich wichtig, mit wis-senschaftlichem Diskurs nicht nurin den virtuellen Welten eines Inter-netforums präsent zu sein, sondernauch Menschen physisch zusam-menzubringen. Schließlich sei zumAuftakt der Französischen Revoluti-on die Bastille auch nur deshalb er-obert worden, weil Menschen zu-sammengekommen seien. DiesenVergleich wagte Ehalt in einem offi-ziellen Statement zum 20. Geburts-tag. Weil es doch ein amtliches State-ment war, vergaß der Abteilungslei-ter (laut »Standard«) nicht auf eineberuhigende Anmerkung: WahreWissenschaft dämpfe die Affekte, dienotwendig seien, um eine staatlicheInstitution zu stürmen.

In den Gesprächen mit dem Au-gustin betont Hubert Christian Ehaltstets, dass er die Wiener Straßenzei-tung als »Bündnispartner« der »Wie-ner Vorlesungen« betrachte. DieVorlesungen könne man sich wieden Augustin »als kritisches Projektmit langem Atem vorstellen, das be-weist, dass es einen Interessens- undIdeenraum für eine kritische undkreative Auseinandersetzung mit derallgegenwärtigen neoliberalen ›Wal-ze‹ gibt«, sagte Ehalt. »Die Propo-nenten dieser ›Walze‹ versuchen ja

ständig, den Bürgerinnen undBürgern weiszumachen, dassdie Gesellschaften keine an-deren Möglichkeiten desÜberlebens haben als in ei-nem konsequenten Sozial-dumping, in dem im Hinblickz. B. auf Arbeitszeit schönlangsam die Frühindustriali-sierung wieder erreichtwird.«

Das Augustinteam sei einwunderbares Signal dafür,dass gesellschaftskritischeMenschen störend hand-lungsfähig bleiben können –auch in Zeiten der so genann-ten »Sachzwänge«. In einerSpezial-Veranstaltungsreiheneben den »Wiener Vorlesun-gen« will Ehalt ab Oktober2007 eine Auswahl jener Pro-jekte vorstellen, die »gegenden neoliberalistischenStrom« modellhaft Aktivitätenentfalten. Der Augustin dürfe dabeinicht fehlen.

Anlässlich des Jubiläums findetvon 16. April bis 25. Juni 2007 eineRingvorlesung statt. Der Besuch derinsgesamt sieben Veranstaltungenim Festsaal des Rathauses, bei denenmit namhaften Intellektuellen über

Quanten, Gene, Entropie, Zufall,Ethik, Energie etc. gestritten wer-den kann, ist wie immer gratis. Dasgenaue Programm ist auf www.wienervorlesungen.at nachzulesen.Eine Live-Übertragung der Jubilä-umsvorlesungen auf www.wien.atist in Planung. R. S.

Hubert C. Ehalt legt am 20. Geburtstag der Wiener Vorlesungen ein Schäuferl nach

»KRITISCHES PROJEKT MIT LANGEM ATEM«

Hubert C. Ehalt, Aufklärer

TUN & LASSENmagazin

GEHT’S MICH WAS AN?

»Herr D. aus Nigeria ist Asyl-werber. Er möchte einesAbends gemeinsam mit

seiner Freundin eine Diskothek be-suchen. Der Türsteher weist ihn je-doch mit folgender Bemerkung ab:›Du darfst heute nicht hinein, aberdeine Freundin lassen wir rein.‹ […]Herr D. sieht, dass bei anderen Gäs-ten, die aussehen, als wären sie ös-terreichischer Herkunft, solch einAusweis nicht verlangt wird, kannaber beobachten, dass ein weitererMann dunklerer Hautfarbe eben-falls aufgrund eines fehlenden Clu-bausweises nicht eingelassen wird[…] Am darauf folgenden Tagmöchte Herr D. in einem Geschäfteinen Anzug kaufen. Der Eigentü-mer des Ladens meint, er verkaufe

an »Scheiß-Drogennigger« nichtsund verweist ihn des Geschäfts. AlsHerr D. meint, das könne doch nichtsein Ernst sein, stößt ihn der Eigen-tümer aus dem Laden und versetztihm einen Tritt, der in einer sichtba-ren Prellung am Oberschenkel re-sultiert, die Herr D. im Krankenhausauch diagnostizieren lässt [Auszugaus: Rassismus Report 2006].«

Rassistisch motivierte Dienstleis-tungsverweigerung ist zwar verbo-ten, trotzdem zeigt der RassismusReport 2006 deutlich, dass es imUmgang mit KlientInnen, KundIn-nen und KonsumentInnen immernoch der Usus ist, Menschen aufGrund ihrer Hautfarbe, ethnischenHerkunft oder ihrer Religion ihreRechte zu verweigern.

Was kann Herr D. tun? In beidenFällen kann er gemäß Artikel IX Abs1 Z 3 EGVG und nach dem 3. Teildes Gleichbehandlungsgesetzes ge-gen den Türsteher, den/die Disko-thekbetreiberIn und den/die Eigen-tümerIn des Geschäftes vorgehen.

Artikel IXAbs 1 Z 3 EGVG ist eineziemlich versteckte Verwaltungs-strafbestimmung im so genannten»Einführungsgesetz zu den Verwal-tungsverfahrensgesetzen«, die be-sagt, dass jemand, der Personenaufgrund z. B. ihrer Hautfarbe, ih-rer ethnischen Herkunft oder ihresreligiösen Bekenntnisses unge-rechtfertigt benachteiligt oder amBetreten von Orten oder bei der In-anspruchnahme von Dienstleistun-gen hindert, eine Verwaltungsüber-

tretung begeht und eine Strafe vonbis zu 1.090 Euro erhalten kann.

Teil 3 des Gleichbehandlungsge-setzes sieht vor, dass Personen, diebeim Zugang zu Gütern und Dienst-leistungen auf Grund ihrer ethni-schen Zugehörigkeit diskriminiertwerden, sich zur Feststellung dieserDiskriminierung an die Gleichbe-handlungskommission wendenoder Schadenersatzansprüche vordem Zivilgericht geltend machenkönnen.

Mehr zu »Eigene Rechte ken-nen« im aktuellen Rassismus Report2006 von ZARA:

http://www.zara.or.at/materialien/rassismus-report/

Die eigenen Rechte kennen: Zugang zu Gütern und Dienstleistungen

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Und er hat gut zu tun. DieMöglichkeit, einen Kaffeezu trinken und das eineoder andere Gebäckstück

zu ergattern, wird jeden Freitag-nachmittag zwischen vier und sechsvon rund achtzig Besuchern ge-nutzt. Das weiß Stefan anhand dervom Hunderterpackerl übrig geblie-benen Plastikbecher. Auch Informa-tionsmaterial bringt er immer wie-der einmal unter die Leute. ÜberGottesdienste, das Männerwohn-heim im SalztorZentrum und übersein neues Fußball-Jugend-Projekt.Der ausgebildete Erzieher will Ju-

gendliche ab 14 ansprechen undversuchen, ihnen übers Ballesternein bisschen Lebensfreude zu ver-mitteln.

Sein Kaffee-Publikum kennt er:Obdachlose, Trinker, Junkies. Sel-ber seit vielen Jahren trockener Al-koholiker, kann er mitreden. »Die

Leute schätzen uns. Und wennwirklich einmal einer Stunk ma-chen würde, wird er von den ande-ren sofort gestoppt. Läuft sehr fried-lich ab hier.«

Apropos »friedlich« – was soll diekriegerische Aufschrift auf seiner Ja-cke? »Mit dem Blut ist das Blut

135 Jahre alt und immer noch barmherzig

Suppe, Seife, Seelenheil»Blut und Feuer« sagt die Auf-schrift auf seiner Jacke, under ist ein gstandenes Manns-bild. Fürchten muss eins sichtrotzdem nicht vor ihm. Ste-fan schenkt in der Opernpas-sage im Namen der Heilsar-mee Kaffee aus.

Was Sie schon immer über dieHeilsarmee wissen wollten …Gegründet 1865 als Zeltmissi-onsbewegung vom methodisti-schen Pfarrer William Booth,später umbenannt in ChristlicheMission und nach militärischemVorbild organisiert. Ab 1872 alsHeilsarmee (Salvation Army) be-kannt.

Catherine Booth: unterstütz-te ihren Mann, kämpfte für dieGleichstellung der Frau in allenBelangen, auch in der Kirche(Frauen haben die gleichenRechte und Möglichkeiten, siedürfen z. B. auch predigen undGeneral werden).

Glaube: im Wesentlichenevangelischer Mainstream, al-lerdings schaffte Booth für dieHeilsarmee die Sakramente ab.

Aufgabe und Ziel: Verbrei-tung des Evangeliums und »dieganze Welt unter die HerrschaftJesu stellen«. NiederschwelligeSozialarbeit. InternationalerPersonensuchdienst. Motto:Suppe, Seife, Seelenheil.

Aufbau: - General leitet internationa-

les Hauptquartier in London(derzeit: Shaw Clifton).

- Divisions-Offiziere leitenTerritorien und betreuen Korps-Offiziere (= Leiter der Ortsge-meinden).

- Heilssoldaten haben eine»Verpflichtung« abgelegt undsind uniformiert. Unter ihnenwerden Kandidaten für die Of-fizierslaufbahn rekrutiert.

In Österreich wirkt die Heils-armee seit 1926, hat 30 Mitglie-der und ist dem TerritoriumSchweiz angeschlossen.

Über die Zahl der Mitgliederweltweit gibt es unterschiedli-che Angaben: 1 bis 2 Millionen.Die Heilsarmee wirkt in 111Ländern und ist in der UNO miteinem Mandat vertreten.

www.heilsarmee.atKaffee für Arme jeden Freitag,16–18 Uhr, Opernpassage, AusgangElisabethstraße (neben McDonald)

Projekt »Fußball«:Stefan Sörensen: 0660 767 83 44oder über die Zentrale:(01) 214 48 30

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Hömal vom Augustin (links im Bild) im freiwilligen Einsatz

Niko, Janine und Norbert testen den Heilsarmee-Kaffee

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MEHMET EMIRS BRIEFE AN DEN VATER

Hallo Vater! Wie geht es dir?Wenn du nach meinem Befindenfragst, Gott sei Dank gut! Hier istdas Wetter wieder gut und schön.Obwohl es immer noch kalt fürmeine Verhältnisse ist, ziehen sichviele Leute, wie es eben in Öster-reich ist, schon sehr leichte, vorder Kälte nicht schützenden Klei-der an. Die Hauptsache: Es istschon Frühling. Seit einiger Zeithaben wir eine neue Regierung,wie du es weißt. Ich weiß nicht,ob du das schon weißt. Aber auchwenn du es nicht weißt, ist eswiederum egal. Weil sich nichtsGroßartiges verändert hat. Nurder Bundeskanzler heißt nichtmehr Schüssel, sondern Gusen-bauer (sogar das Schreibpro-gramm meines Computers er-kennt den Namen Gusenbauernicht und unterstreicht ihn mitRot). Noch was, der Darabos, derExzivildiener, ist Verteidigungsmi-nister geworden. Vor den Wah-len hat er versprochen, dass erden Eurofightervertrag auflösenwird. Diese Kriegsflugzeuge kos-ten über 19 Milliarden Euro. Ichglaube, der Schüssel wollte, dassder ehemalige Zivildiener Dara-bos mit auch mal, wie die frühe-ren Verteidigungsminister, dieseteuren Flugzeuge als Taxi inner-halb von Österreich in Anspruchnehmen kann und auf den Ge-schmack kommt, dass es sichlohnt, so viel Geld auszugeben.

Das erste Mal habe ich es ge-

schafft zu studieren, nach 25 Jah-ren Arbeit in Österreich, aber ichhabe die Altersgrenze für die Sti-pendien überschritten. Aber derGusi hat vor den Wahlen hochund heilig versprochen, die Studi-engebühren abzuschaffen. Er hates nicht geschafft. Am Anfanghat er gesagt, der Studierendekann sich, indem er in Sozialpro-jekten arbeitet, von den Studien-gebühren freikaufen. Sogar erselbst wollte den Anfang ma-chen, indem er in die Wohnun-gen der armen Menschen gehtund Nachhilfeunterricht gibt. Bisjetzt hat er das nicht gemacht. Erwollte immer Kanzler der Repu-blik werden. Und ist er auch ge-worden. Wenn die Familie guteteure Weine haben würde, binich mir sicher, er würde das Kindunterrichten. Ob sich eine solcheFamilie die Weine, die der Gusitrinkt, leisten kann?! Lieber einenLehrer für Nachhilfe! Höchstensbekäme er einen Doppler um 2Euro. In die türkischen Familienkönnte er überhaupt nicht rein-kommen, weil sie ihm aus religiö-sen Gründen keinen Wein anbie-ten können! Wenn er den ex-ju-goslawischen Familien seineNachhilfe-Qualitäten anbietenwürde, glaube ich nicht, dass erfür Regierungsarbeiten noch zuhaben wäre. Weil die Familienach dem Unterricht des Kindesoder der Kinder den Bundeskanz-ler ohne ein Glas Slibowitz nicht

rauslassen würde. Diesem einenGlas würden andere folgen. Aufdiese Art und Weise könnte ersich dem Wein entziehen undzum Schnapstrinker werden.Dann Kuttelflecksuppe, Cevapci-ci, Pljeskavica usw. Aus einemBundeskanzler kann sehr schnellein anderer Mensch werden. Lie-ber soll er keine Nachhilfe geben.Weil er selbst immer noch Nach-hilfe braucht! Sage ich mal so.

Die Ausländergesetze, die un-ter der schwarz-blauen Regie-rung ausgearbeitet worden sind,wurden nicht geändert. Vater,nach deinen 30 Jahren Arbeit inÖsterreich (für dich und Öster-reich), wenn du jetzt deinen schö-nen Weingarten verlassen wür-dest, um mich hier in Österreichzu besuchen, müsstest du in An-kara einen Antrag fürs Visumstellen. Wenn du da bist, um dei-ne Aufenthaltsgenehmigung zubekommen, musst du dich einemSprachtest unterziehen. Aberbleibe lieber zu Hause. Nicht dassich es nicht möchte, dass du nachWien kommst. Aber glaube mir,bleibe lieber zu Hause.

Heuer habe ich die ganze Ball-saison verpasst. Ganz bewusstwurde ich dieses Jahr nicht zumOpernball eingeladen, aber auchzum Rosenball nicht. Irgendeinersorgt immer dafür, dass ich nichtauf die Gästeliste komme. Ich ma-che es so wie viele Österreicher,indem ich das Ganze im Fernse-her und in den Zeitungen verfol-ge. Aber ich war wirklich belei-digt, dieses Jahr nicht zumOpernball eingeladen worden zusein. Vielleicht nächstes Jahr. Ichmöchte auch mal wissen, ob die-se Leute sich beim Tanzen so vielMühe geben wie meine türki-schen Arbeitskollegen im Tanzsa-lon Oberbayern. Das wird nichtKölnisch Wasser vermischt mitSchweiß sein, aber diese vielenParfüms, vermischt mit Schweiß,können sich zu etwas Unerträgli-chem entwickeln. Bei den Män-nern überhaupt, wenn sie dortauch die Geschäfte abwickelnwollen, mit ihren Stresshormo-nen …

Bis bald Dein Sohn Memo

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Slibowitz für den Kanzler

Christi gemeint und mit dem Feuerdas Feuer des Heiligen Geistes«,wiegelt Stefan ab. Aber er verteidigtseinen Status als »Heilssoldat« in-nerhalb einer armeeähnlich struk-turierten Organisation. Die militä-rischen Ränge und Symbole, mit de-nen in der Heilsarmee gearbeitetwird, sieht er nicht als unzeitge-mäß, sondern als Möglichkeit derIdentifikation mit den Ideen desGründers, William Booth. »Schondie Bibel bringt Beispiele und Ver-gleiche aus dem Krieg, wie den Be-griff ›Soldaten Gottes‹. Krieg wardamals die Alltagssituation und fürdie Menschen dadurch sehr an-schaulich.«

Und die Uniformen, besonders die– pardon! – unförmigen Hauben derFrauen? »Die dienen zur Unter-scheidung, als Schutz. Wenn unsereFrauen in St. Pauli auf der Reeper-bahn oder in anderen Rotlichtbezir-ken arbeiten, werden sie sofort er-kannt und nicht angemacht. So gibtes keinen Ärger.«

In St. Pauli hat auch Stefan gear-beitet, bis er bei einem Wien-Besuchvor einem Jahr den inneren Ruf hier-her erhielt. Also ist er geblieben. Au-gustin-Multitalent Hömal ist heuteebenfalls im Kaffee-Einsatz, undauch Helmut, der bereitwillig vonseiner »Befreiung« erzählt. Bei ei-nem seiner Aufenthalte im Otto-

Wagner-Spital erzählte ihm eine So-zialarbeiterin von der Heilsarmee.Seit fünf Jahren ist er selber dabei.»Ich bin psychisch krank, war sogareine Woche obdachlos und hab aufParkbänken geschlafen. Durch dieHeilsarmee habe ich zum Glaubengefunden, und jetzt habe ich meineKrankheit im Griff.«

Im Griff hat die Heilsarmee offen-sichtlich auch die Ausbildung ihrerSoldaten. Auf unbedarfte Fragen ha-ben alle die gleichen Antworten pa-rat, die im Groben übrigens auch aufder Website zu finden sind (auf derSuppe.Seife-Seelenheil durch »Gie-bel, Gabel, Gottvertrauen«) ersetztist.

Und wie sieht es mit der Stellungder Frau in der Heilsarmee aus?»Wir haben die gleichen Rechte wiedie Männer«, kommt das Statementvon Marianne wie aus der Pistolegeschossen, »wir dürfen predigenund können auch General werden«.Bisher haben allerdings nur zweiFrauen diese Möglichkeit genutzt,und die waren nicht verheiratet …

Marianne stammt aus Dänemarkund ist mit ihrer Familie vor achtJahren nach Wien gekommen. Siearbeitet »nur« ehrenamtlich mit.»Wenn mein Mann da wäre, wür-den wir auch singen. Mein Mannmacht viel mit Singen.«

Christa Neubauer

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Zum Verhältnis Wirtshaus-Sandler lassen sich keineallgemein gültigen Aussa-gen treffen. Das mythische

Figurenensemble »Wirt und Sand-ler« ist so sehr Konstante des folklo-ristischen Bildes der Wiener Gesell-schaft, dass man leicht in die Falledes Klischees geraten kann. Aber diesymbiotische Beziehung zwischenden beiden Sozialtypen (Vorstadt-)Wirt und Obdachloser ist ein roman-tisches Konstrukt.

Gleichwohl lebt das Klischee. Daserkennt man daran, dass die Witzedes Genres »Ein Sandler im Wirts-haus« so zahlreich sind, dass manvon einer speziellen Witze-Kategoriesprechen könnte. Der Sandler alsder sozial Schwächere ist in vielendieser Witze sympathischer als derWirt. Einer der sandlerfeindlichstenWitze, die derzeit in Wien grassie-ren, geht so … (Hier wird im Inte-resse des Katalog-Vertriebs der Textunterbrochen. Der Witz kann im Ka-talog nachgelesen werden, es seidenn, er ist auch dort einer Kürzungzum Opfer gefallen).

Ich verrate kein Geheimnis, wennich zugebe, dass auch die als »Ob-dachlosenzeitung« inzwischen flä-chendeckend bekannte Straßenzei-tung Augustin mit dem Klischeespielt. Schon der Name der Zeitunggreift die Legende vom liebsten Clo-chard der Stadt auf. Sogar dessenTrunksucht glorifiziert das Volk:Ohne diese hätte der Liebe Augustinja bekanntlich die Pestgrube nichtüberlebt. Thomas Kriebaums Comic-strip-Geschöpf »Gustl«, dessenAbenteuer die Straßenzeitung seitihrer ersten Ausgabe vor elf Jahrenbegleiten, drückt das Image des Blat-tes aus, nämlich eine Stimme desganz und gar undemütigen Sandler-tums zu sein, das trotz der ausweg-losen Lage den legendären WienerSchmäh nicht verloren hat. Eine ge-wisse Romantisierung des Straßenle-bens spielt dabei eine Rolle. Der ver-kaufsfördernde Aspekt dieser klei-nen Unkorrektheit liegt auf derHand.

Der Wiener Schmäh ist beim Car-toonisten vor allem in der Kommu-nikation zwischen Gustl und demWirten Kurti angelegt, bei dem derSandler Stammgast ist. »Aufwachn,Gustl, Sperrstund!«, redet der Wirtin einem der Strips auf den Sandlerein, der auf der Theke eingeschlafenist. Keine Brutalitätliegt in dieser Bot-schaft, denn derKunde ist hier trotzseiner Faxen gerngesehen. Gustl isttrotzdem heftig ausdem Schlaf gerissen,doch schon im Mo-ment der Konsterna-tion ist er ganz beisich: »Ein Schreck-achterl aufs Haus!«bestellt er, noch vorSchock zitternd.

Die LeserInnenahnen, wie der Wirtdarauf reagiert, dennim Augustin-Comic-strip darf das Wirt-Sandler-Verhältnisungebrochen in dermärchenhaften Formder symbiotischen,nur im Medium desSchmähs konkurrie-

renden Partnerschaft gezeichnetwerden.

Der Rausch als Gleichmacher

In der Realität tritt die InstitutionWirtshaus dem Obdachlosen abwei-send bis gastfreundlich gegenüber.Zwischen diesen Polen sind unend-liche Nuancen vorstellbar. Wer im-mer einen bestimmten Trend be-hauptet (zum Beispiel, das Sterbendes traditionellen Vorstadt-Wirtshau-ses oder des ebenso traditionellenWiener Kaffeehauses bedeute eineExklusion des Obdachlosen aus derGastronomie), liegt wohl falsch. Glo-balisierungsprozesse verändern dieWiener Lokalszene, aber auch dieStruktur des Milieus der Marginali-sierten. Der steigende Anteil der Be-nützer illegaler Drogen unter denObdachlosen sowie das Wachsendes Anteils der ArmutsmigrantInnensind ebenso aus dem Globalisie-rungs-»Fortschritt« herzuleiten wiedie Explosion von Lokalen mit mig-rantischem Hintergrund. Simpelausgedrückt: Der Wirt schaut andersaus, der Außenseiter schaut andersaus. Mit relativer Sicherheit lässtsich nur sagen, dass den »Säufern«unter den Marginalisierten die

Wirtshäuser weniger verschlossensind als den »Giftlern«. Der Zweckjeder Gastronomie, die die legaleDroge Alkohol vermarktet, ist derRausch des Kunden, also jener Zu-stand, in dem der »Normalgast« oh-nehin tendenziell zum Spiegelbilddes Sandlers mutiert.

Im Geiste lasse ich die Erzählun-gen der Obdachlosen aus dem Au-gustin-Umkreis Revue passieren.Wie ging und geht es ihnen in denWirtshäusern? Ich erinnere mich anden »Sandlerkönig« Smoky. WiensSandlern machte es wahrscheinlichwenig aus, dass Smoky sich selbstzu ihrem König erklärt hatte. Wirk-lich König war er nur in dem Sinn,dass ORF-Reporter u. Ä. nach seinerPfeife tanzten. Smoky kannte ihrenHunger nach Quoten bringenden,exotischen Originalen und pfiff sieherbei, wenn er wieder einmal ineiner Sendung vorkommen wollte:eine Symbiose zwischen der Hoch-stapelei eines Niedergesunkenenund der Niedertracht der Hochkul-tur, ein abgebrühtes Abkommenzwischen »Abschaum« und Absatz.Als Smoky vor sieben Jahren aus sei-nem Schlaf auf einer Sitzbank einesAlsergrunder Beisls nicht mehr er-wachte, war kein Nachfolger als Kö-nig von Wien in Sicht. Dafür schil-

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 TUN & LASSEN12Überlegungen zum Verhältnis Wiener Wirtshaus und Obdachlose

Ja zum KlimawandelAls Mythos rangiert das Wie-ner Wirtshaus hinter Kaffee-haus und Heurigem. Denndas Beisl ums Eck gilt alsselbstverständliche Normali-tät. Seine relative Ruhmlosig-keit ist ungerecht, denn dersprichwörtliche Stammtisch,an dem sich angeblich daspolitische Klima einer Gesell-schaft ablesen lässt, ist sozu-sagen der Altar des Wirtshau-ses. Und nicht etwa des Heu-rigen! »Im Wirtshaus« nenntsich die Ausstellung des WienMuseum am Karlsplatz, dienun auch dem Beisl kulturhis-torische Würde verleihen soll.Einen Beitrag zum Thema»aus der Sicht des Augustin«wünschte sich das Wien Mu-seum für den Ausstellungska-talog. Es gestattete den Vor-abdruck dieses Textes.

Wahltag. Foto von Walter Henisch

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lerten die möglichen Anwärter zuwenig. Nur seinem lädierten Körperund seiner Hassliebe zum Augustinwar es zu verdanken, dass Weltstrei-cher Smoky sich in den letzten Jah-ren seines Lebens sesshaft in Wienaufhielt. »lch habe einen Schwur ge-leistet, als ich die Bundeserziehungs-anstalt für Schwererziehbare über-lebt hatte«, sagte Smoky. Erstens:»Ich kehre nie mehr zurück ins Af-fenrennen« – so nannte er die neo-liberalistische Speed-Diktatur. Zwei-tens: »Besser in der Wildnis sterbenals ein Sklave sein.«

In gewisser Weise beendete ersein Dasein tatsächlich in der Wild-nis. Wohnungslos starb er friedlichin einem Lokal, dessen junger Be-treiber ihn nicht nur bis zur Sperr-stunde duldete, sondern auch auf ei-ner Sitzbank übernachten ließ. We-nig passt hier zum »Sandler-Wirt«-Klischee. Bei Smokys letzter Zu-fluchtstätte handelte es sich nichtum das mythologische Vorstadtbeisl,sondern um ein Lokal der jungenSzene, in dem allerdings nicht ihreschicke, sondern ihre nonkonformis-tische Fraktion präsent war. Für denWirten war das Entgegenkommennicht unriskant, aber eine Geste sei-ner Solidarität mit Ausgegrenzten.Der Vorstadtwirt aus dem Klischeehält sich zwar »seinen« Sandler,nicht einmal in der Legende jedochkann Letzterer im Wirtshaus über-nachten.

Die Verlockungen zum Spiel

Zum idealisierten Bild des Verhält-nisses von Wirt und Sandler passtauch nicht der Umstand, dass vieleder Ärmsten unter den Armen we-gen ihrer Spielsucht Lokale aufsu-chen. Ich weiß aus den Berichtender Augustin-VerkäuferInnen, dassviele Obdachlose große Teile ihrerSozialhilfe in die Spielautomatenwerfen. Spielsucht betrifft ohne Aus-nahme alle Bevölkerungsschichten,bestätigte auch der Filialleiter einesWett-Cafés dem Augustin. Er plau-derte sozusagen aus der Schule. BeiPferderennen, sagte er, könne manmit Informationen und Beobachtungdoch bis zu einem gewissen Graddas Glück in die eigene Hand neh-men. »Aber den Automaten kannkeiner überlisten. Manche schrei-ben sogar die Ergebnisse mit. Beiden Automaten ist man der absolu-ten Willkür der Software ausgelie-fert, und die kann mittlerweile sointelligent programmiert werden,

dass z. B. am Monatsende, wo es alleschon in der Geldbörse zwickt,mehr ausbezahlt wird, damit dieLeute am Monatsanfang zurückkom-men und das ausbezahlte Geld wie-der hineinstecken. Da kann man jamit der ärgsten Psychologie arbei-ten. Der Automat hat eine Vorgabe,sahnt so und so viel ab, und wenn erzu wenig Gewinn bringt, wird erkonfiguriert oder ausgetauscht. Indem System gibt es ja keine Lücken.Man könnte sogar den Spielflusssteuern. Ich weiß aber nicht, ob dasgemacht wird. Man ist eben einemunbestechlichen Gerät ausgeliefert.Die wenigsten, die sich zum Auto-maten setzen, sind sich dessen be-wusst. Die werden richtig zu Kin-dern, die verlieren sich in einer ei-genen Welt. Meistens endet es indem verzweifelten Versuch das Ver-lorene zurückzuholen, mit noch hö-heren Einsätzen, um den Ohn-machtsgefühlen, der Panikattacke zuentkommen – das ist ein tödlicherTeufelskreis.«

Ich zitiere so ausführlich, weil ichvermute, dass die Lokale, in denendieser Teufelskreis sich manifestiert,auch von immer mehr Armen fre-quentiert werden. Und weil der As-pekt der Spielsucht oft ausgeblendetbleibt, wenn es um das Thema

»Wirtshaus und Obdachlose« geht.Wirte und das gastronomische

Personal gehen mit Obdachlosenum, wie die Gesellschaft mit ihnenumgeht. Die Gesellschaft ist kompli-ziert geworden. Manchmal sind so-gar Individuen gespalten – und pen-deln zwischen Berührungsangst undSolidarität. Der Augustin ist angetre-ten, um viele »Fenster« zu erzeu-gen. Fenster, durch die (noch) nichtVerarmte in die Welt der »Überflüs-sigen«, der »Unerwünschten« bli-cken können, aber auch umgekehrt.Wirtshäuser sind Räume, die solcheFenstersituationen ermöglichen. Als»Fensterrahmenproduzent« will derAugustin einen Beitrag leisten, dassdie Wienerinnen und Wiener – undunter ihnen auch die Wirtinnen undWirten – eine größere Gelassenheitzeigen, wenn ihnen fremdes sozialesMilieu nahe kommt. Das käme ei-nem Klimawandel der positiven Artgleich.

Unser Traum ist, dass auch in denWirtshäusern »Gleich-Gültigkeit«herrscht, im positiven Sinn des Wor-tes. In dem Sinn, dass jeder Menschgleich gilt. Es gibt Gaststätten, wodiese Utopie verwirklicht erscheint.Hans Dieter, Augustin-Original, be-richtet mir von solchen Lokalen.Freilich, Hans Dieter hat den Wie-

ner Schmäh, den er bei der abendli-chen Kolportage des Augustin guteinsetzt, und er kommt dem Kli-schee-Clochard sehr nahe. Ich weißnicht, wo er mehr Theater spielt – inder Laientheatergruppe des Augus-tin oder beim alltäglichen Zeitungs-verkaufen. Neulich ertappte ich ihn,als er den Augustin als Nachspeisenach der Nachspeise anbot: »Scho-kopalatschinken gibt’s bei der Kell-nerin, den Augustin gibt´s bei mir!«Die Wirten sind splendabel, wennHans Dieter auftaucht. Das einge-nommene Zeitungsgeld kann unan-getastet bleiben, das Bier für ihn istgratis. Gut, dass mir Hans Dietereingefallen ist. Denn auch was i h mpassiert ist Segment der Wirtshaus-wirklichkeit.

Robert Sommer

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07TUN & LASSEN 13

IM WIRTSHAUSEINE GESCHICHTE DER WIENER GESELLIGKEITWien Museum Karlsplatz Karlsplatz1040 Wien19. April 2007 bis 23. September2007Dienstag bis Sonntag und Feiertag9–18 UhrAm 1. Mai 2007 geschlossen

I N F O

Weintag. Foto von Mario Lang

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 TUN & LASSEN14

September 2004 – Verlust sozialer Kontakte

Heute geht es Mutti nicht so gut –spitze Nase, schlecht ist ihr, hoherBlutdruck, sie spürt immer so sehrdas Wetter. Und wie immer denkeich in solchen Situationen ans Ster-ben, an ihr Sterben. Wir wollen aufsLand fahren, mal sehen, ob es ihrmittags besser geht. Draußen erholtsie sich immer ganz gut in solchenSituationen.

Diese Arsch-Krankenkasse: Wie-der ist aus Deutschland eine Rech-nung zurückgekommen, weil sie mitverschiedenen medizinischen Be-griffen nichts anfangen können, die-se total bekloppten Bürokraten-Idio-ten. Über 600 Euro Zahnarztkosten,die wir schon im Juli bezahlt haben,sind noch ausständig. Das nenntsich nun EU! Postbeamtenkranken-kasse – nicht nur, dass sie das Pfle-gegeld nur auf ein deutsches Kontoüberweisen, auch die Rechnungen,die wir zuerst auslegen müssen undbei denen einreichen, kommen zur

Hälfte wieder zurück, und ich kannzum Arzt oder zum Spital latschen,um sie spezifizieren zu lassen. Habja nichts anderes zu tun mit einer to-tal verwirrten Mutter, die man ein-fach nicht allein lassen kann und de-ren Betreuung teuer ist.

Die Besuche, die wirregelmäßig einladen und

bekochen, sind die einzigeMöglichkeit, nicht den Kon-

takt zur Außenwelt zu verlie-ren. Denn sonst kommen wir ja vonzu Hause kaum weg. Bei diesen Be-suchen taucht Mutter oft spät-abends aus ihrem Zimmer auf, ver-langt ein Gläschen Rotwein undschäkert mit den Gästen: »Du Klei-ner da hinten, na komm doch mal

rüber …« Oder: »Du da,wir verstehen uns,nicht?« Oder: »Ach,schau doch nicht so.«Dann wirft sie Kusshänd-chen und alle lachen.

Oktober 2004 – Verlorenheit

Es ist manchmal zumVerzweifeln: Nichts kannMutter zufrieden ma-chen, sie will am liebs-ten, dass ich den ganzenTag neben ihr sitze undihr ins Ohr schreie. Jetzthaben wir ihr für ihr Zim-mer neben der Küche ei-nen Fernseher mit Kopf-höreranschluss gekauft,dass sie ihre deutschenSendungen hören kann –nein, sie stöhnt und ruft»Ach Else, ach Else«, da-bei bin ich neben ihr inder Küche und koche dasAbendessen. Sie hat so ei-nen vorwurfsvollen Blick,herunterhängende Mund-winkel, das geht heuteschon den ganzen Tag so.»Schmeiß mich raus«,sagt sie, dann wieder:»Wo muss ich denn heutehin?«

Ich puzzle den ganzenTag um sie herum, esmacht mir Angst, dass ichtotal verblöde. Ich kom-me gerade mal dazu, diebescheuerten Finanzge-

schichten fürs Gericht zu machen.Ich erkläre ihr, dass ich nicht denganzen Tag usw., dass ihre Unzu-friedenheit nervig ist, dass man ihrnichts recht machen könne …, sieschaut mich mit einem sehr ent-fernten Blick an. »Alle schimpfenmit mir«, sagt sie – ach Mensch, dieTränen kommen mir, sie kann janichts dafür, ich küsse sie auf dieStirn und sie lächelt. O Gott, dieseschreckliche Verlorenheit!

Fremde Mutter – Tagebuch einer pflegenden Annäherung (7)

Der Pflegestufenschätzer fandStufe 2 angemessen …

Meine demenzkranke Mutterwohnt seit fast eineinhalb Jah-ren mit mir und meinemMann in unserer Wohnung inWien, nachdem sie von Berlinnach Wien übersiedelt wor-den ist, weil die Verwandtendie Betreuung nicht mehr leis-ten wollten. Wir betreuen sierund um die Uhr, wie dasetwa 80 Prozent der Angehö-rigen von Pflegefällen, insbe-sondere die Frauen, tun – eingesellschaftspolitisches Pro-blem. Die fremde Frau, dieich seit Jahrzehnten nur vonBesuchen kenne, ist uns ansHerz gewachsen.

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07TUN & LASSEN 15Oktober 2004 – Der

Gutachter

Aus München kam ein Arzt ange-reist, der Muttis Zustand begutachthat, weil ich um eine höhere Pfle-gestufe angesucht hatte. Sie hat jadie Pflegestufe zwei, und das isteindeutig zu niedrig für ihren Be-treuungsbedarf rund um die Uhr.Der Arzt kam wohl gleich mit sei-ner ganzen Familie zu einem Ös-terreichausflug angereist, die un-ten im Auto wartete. Der HerrDoktor war so dick, dass er nurquer in unseren Fahrstuhl gepassthat. Als er so auf unserem Sofa lag– sitzen konnte er nicht mehr vorKörperfülle –, bat er mich, mitmeiner Mutter ein paar Schrittezu gehen. Dann meinte er,vielleicht habe sie einenSchlaganfall gehabt, siewürde hinken. Und dannwollte er alleine mitmir in der Küche re-den. MeineMutterschaute unsnach undsagte zu mei-nem Mann:»Der armeMenschkann einemLeid tun,der kann jakaum ge-hen.« So istdas, wennein Lahmereinen Blin-den beur-teilt.

Nachmittags habe ich Mutter ei-nen Brief vorgelesen, den sie Vaterins Kriegsgefangenenlager bei Han-nover geschickt hatte, Datum: No-vember 1945. Da schreibt sie vonden Bombenangriffen, ausge-bombt, dass alle in ihrem Haus er-schossen werden sollten, weil dieRussen in einer Wohnung Muniti-on und Waffen gefunden hatten,die Kinder auf ihrem Schoß warenihre Beschützer, die Russen habenmeine Mutter gehen lassen; dassBärbel scheu zu Fremden ist, keinWunder, ist doch kein Mann imHaus, schreibt sie, wie selbständigder große Sohn schon sei und wieaufgeschlossen meine Schwester… Und als ich ihr ihren Brief vor-lese, nickt sie zu jedem Satz, undplötzlich weint sie bitterlich. Siehat ein Erinnerungsvermögen, esist nur zugeschüttet.

Am schlimmsten an solch langenTagen, an denen Julius ganztagsweg ist, ist die Einsamkeit. MitMutter allein zuhause, das ist an-strengend und leer. Ihr vorwurfs-volles Gestöhne – »Ach Else« –und ihr Beschäftigtwerdenwollen,dabei aber ihre absolute Interesse-losigkeit, das nervt. Aber sie ist 92Jahre, was will ich erwarten?

Oktober 2004 – Abgelehnt

Mit der höheren Pflegestufe wirdnichts – abgelehnt von der Kran-kenkasse. Da muss jemand schontotal mit einem Bein im Grab sein.Psychische Betreuung wird garnicht gewertet, nur das Pflegeri-sche: wie oft umdrehen, wie oftfüttern, wie oft Hintern auswi-schen.

Mutti hat die ganze Nacht ge-

geistert, da sitzt sie dann im Vor-zimmer auf dem Sessel und ruft:»Kann mir jemand helfen?« Das istso ein paar Mal gegangen, immerwenn sie aufs Klo geht, findet sienicht zurück ins Bett. Wahrschein-lich ist für sie der Wechsel vomLand in die Stadt und umgekehrtzunehmend verwirrend. Julius hatsie dann wieder ins Bett gebracht.Das sind Momente, wo ich ihn un-heimlich lieb habe.

Heute habe ich beim Gerichtden Antrittsbericht abgeliefert. Esist alles wunderbar gelaufen. DieRechtspflegerin hat meinen Berichtgenehmigt und für gut befunden,die durchdachte Betreuung vonMutti gelobt und folgende Vorge-hensweise festgelegt: Über MuttersEinkünfte und Ausgaben muss ichkeine Rechnung legen, sondern ichkann darüber frei verfügen, die vonmir veranschlagten Pauschalen

sind genehmigt. Nur größere Aus-gaben muss ich mit Rechnung bele-gen.

November 2004 – Kopf voller Löcher

Wieder in Wien, wieder ein langer»Muttertag«, abends kommt Katja,und wir sind eingeladen. Ich lebewie ein Einsiedlerkrebs, kriegenichts mehr von draußen mit, nurüber Radio und Fernsehen oder Ju-lius und Besuch. Mein Hauptbe-zugspunkt ist Mutter, und das ist janicht interessant für andere. Ichkann mir vorstellen, wie es ist, alsalter Mensch total zu verein-samen …

Unsere Mutter – vorgestern ha-ben wir sie in ihrem Zimmer mor-gens am Boden gefunden, Strumpf-hosen, Pullover an, aber keine Un-terhosen. Sie muss gestürzt sein,hat sich aber nichts wehgetan, dieHüfte schmerzt ein bissl. Zwei Tagelang habe ich ihre Hausschuhe ge-sucht, sie lagen in ihrem Bett amFußende unter der Tuchent. Alswir am Montag vom Land nachHause gekommen sind, hat siestrahlend gesagt: »Also dass ich dasnoch mal erlebe, dass ich wiederhier zum Sitzen komme.« Undheute hat sie, aufgeschreckt aus ei-nem kurzen Schlaf in ihrem Sessel,sorgenvoll gefragt: »Haste dir dennauch was zum Essen jemacht?«

Auf die Kinder ist Mutter manch-mal eifersüchtig, zu Tatjana hat siegesagt: »die alte Nebelkrähe«. Ka-tharina schubst sie weg, wenn dieihr ein Busserl geben möchte.»Geh weg«, da ist sie unleidlich,wenn sie nicht gut drauf ist. DieUrenkel reagieren toll – »AchOmsch«, sagen sie, »es geht dirheute nicht gut, gell?« Und dannschmusen sie mit ihr, buhlen da-rum, wer sie zuerst zum Lachenbringt.

Ihr Kopf hat so viele Löcher –»Halb sechs«, sagte sie gestern.»Mensch, da müssen wir ja balddie Sause antreten.« Und zu denHausschuhen sagt sie: »Die Pantof-feln von Muttern, die Lüsternen.«Irgendwie merkt sie doch, wiedurcheinander ihr Kopf ist: »Mitmir ist nichts mehr los«, sagt sie,»weg damit. Ich komme mir vorwie ein verlorener Vogel.«

Bärbel Mende-Danneberg

Der letzte Teil der Serie erscheintin der kommenden Ausgabe.

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»Das Zölibat ist wich-tig? Was sagt derPapst zu so vielen

Arschloch-Hurensöhnen von Pries-tern, die vergewaltigend die religiö-sen Schulen überschwemmen? DerPapst ist eine erbärmliche Figur!«,ruft eine aufgebrachte Frau mit wei-

ßem Kopftuch vordem Regierungssitz,der Casa Rosada, inein Megaphon. »Rich-tig, Hebe!«, ist ausdem Publikum zu hö-ren. Hebe de Bonafiniist zu so etwas wiedas Flaggschiff der Be-wegung der »Madresde la Plaza de Mayo«geworden, und derDonnerstags-Marschder Madres steht mitt-lerweile in jedem Gui-de über Buenos Airesals Sight-Seeing-Ter-min. Aber wer weiß,wie viele der anwe-senden Schnapp-schuss-Touristen dieanti-imperialistischenParolen von Hebe aufSpanisch überhauptverstehen … Neben einem perfek-ten Merchandising vom Schlüssel-anhänger über das T-Shirt bis zumKaffeehäferl haben die Madres den-noch ihre politische Mission nichtaus den Augen verloren.

Widerstand als Pflichtlektüre

Was mit einem Seminar über diekritische Aufarbeitung der Zeitge-schichte Argentiniens begann, gip-felte im April 2000 in der Eröffnungeiner Universität, der »Volksuniver-

sität der Mütter der Plaza de Mayo«.Mittlerweile bietet die Universitätacht verschiedene Lehrgänge, dreiUniversitätsstudien mit offiziellemTitel und zahlreiche öffentliche Se-minare, Vorlesungen und sonstigeVeranstaltungen an. Zweimal jähr-lich veranstaltet die UPMPM auchinternationale wissenschaftlicheKongresse, rund 800 Studierendebesuchen die Bildungseinrichtungund werden dabei von 140 Lehren-den betreut. Egal ob sie sich zu An-wältInnen, JournalistInnen oder So-

zialarbeiterInnen ausbilden lassen,ein Seminar müssen sie hier alle be-suchen: jenes der Geschichte der»Madres«, das neben anderen vonder Anthropologin Inés Vázquez ge-leitet wird, die auch mit der wis-senschaftlichen Leitung der Univer-sität beauftragt ist.

Institutionelle Stipendien

»Die Militärs und die darauf folgen-den zehn Jahre des Neoliberalismus

Argentiniens »Madres« als Volksbildnerinnen

Eine Uni gegen das VergessenAm 30. April 1977 marschier-ten erstmals Mütter vor demRegierungssitz auf der »Plazade Mayo«, um Aufklärung überdas Verschwinden ihrer Töch-ter und Söhne zu fordern. Essollte ein langer Marsch wer-den, denn erst jetzt stehenerstmals Militärs vor Gericht,die den Genozid an 30.000Menschen zwischen 1976und 1983 zu verantworten ha-ben. Die »Madres«, heuteFrauen im Alter von 80 bis 90Jahren, sind also noch langenicht an ihrem Ziel. Auf demWeg dorthin betreiben sie eine Bibliothek, ein Literaturcafé,eine Buchhandlung, einen Ver-lag, eine Zeitung, ein Radio,eine Druckerei und seit achtJahren eine Volksuniversität.

Enrique Garguin, Historiker, bei einem Einführungsseminar für das Studium Sozialberufe. ImHintergrund die Bilder der Opfer der Militärdiktatur

Inés Vázquez ist wissenschaftliche Leiterin der Universität. Ihr Pflichtfach füralle: Geschichte der »Madres de la Plaza de Mayo«

Seit 30 Jahren fordern die Madres – die weißen Kopftücher sind ihr Marken-zeichen – Aufklärung über das Verschwinden ihrer Töchter und Söhne

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Die Familie von Ibrahim B.wie auch die seines Op-fers haben zwei Momen-te religiös-kultureller

Identität gemeinsam, die die späte-ren Ereignisse zwar nicht entschul-digen, aber ein wenig erklären: Bei-de gehör(t)en zu den Zeugen Jeho-vas und stammen aus Ägypten.

Ibrahims Vater war in seiner Hei-mat Schuldirektor und musste we-gen seiner religiösen Überzeugungdrei Jahre ins Gefängnis. Nach sei-ner Haftentlassung, wanderte die Fa-milie nach Österreich aus.

Ibrahim hatte von seiner Geburt

an eine hormonelle Störung, die je-doch nie medizinisch behandeltwurde. Als er in die Pubertät kam,entwickelten sich seine Brüste»übernatürlich«. Er war zunächstein sehr guter Schüler an einer HTLund half ganz selbstverständlichlernschwächeren Schülern. Dochauch diese Schüler begannen ihnimmer ärger wegen seiner großenBrüste zu hänseln. Das ständigeMobbing durch die Schüler ließ sei-ne schulischen Leistungen laufendschwächer werden.

Höhepunkt der kollektiven psy-chischen Gewalt gegen den »Außen-seiter« war, als Schüler eine Foto-montage von ihm scannten: Er mitgroßen, nackten Frauenbrüsten. DieMitschüler hängten das Plakat in derKlasse auf. Nicht nur die Schülerlachten darüber, sondern auch dieLehrer. Da war keiner, der ihm ge-holfen und dem Unfug ein Ende be-reitet hätte.

Etwa ab seinem 12., bis zu sei-nem 19. Lebensjahr, hatte Ibrahimden Terror zu ertragen, ohne je sichmit jemandem darüber aussprechenzu können, von wem Rat zu erhaltenoder gar deswegen eine therapeuti-sche Hilfe in Anspruch nehmen zukönnen.

Ibrahim ertrug die Situation nichtmehr, ging von der Schule und be-gann zu jobben.

Im Frühjahr 2006 lernte er bei ei-ner Veranstaltung der Zeugen Jeho-vas Sandy, das spätere Opfer ken-nen, Mutter von zwei Kindern. Siewar nach einer turbulenten Ehe imFrauenhaus und hatte nun eine eige-ne Wohnung bekommen, die sie be-ziehen und zuvor einrichten wollte.

Sie bat Ibrahim, ihr zu helfen –natürlich unentgeltlich. Doch anstattDank oder Lob kritisierte undschimpfte sie ihn jedes Mal, war mitseinen Leistungen unzufrieden.

Wenn er ihr half, hatte er immerdarauf bestanden, dass entwederihre oder seine Mutter ebenfalls inihrer Wohnung anwesend waren. Erwollte nie mit ihr allein beisammensein.

Dennoch hatte sie plötzlich be-hauptet, dass er der Vater ihres klei-neren Kindes sei (was die Unwahr-heit ist). Ibrahim bestritt glaubwür-dig, je mit ihr intim gewesen zusein.

Sie bekam von einem Möbelhauseine Küche geliefert, bei der es vie-le Mängel zu beklagen gegeben hat-

te. Da sie kein Deutsch beherrschte,forderte sie ihn auf, sie zum Möbel-haus zu fahren und ihre Beschwer-den zu übersetzen. Er tat es. Der An-gestellte ersuchte, dass die Frau eineMängelliste schriftlich erstellen unddamit wiederkommen solle.

»Du bist ja gar kein Mann!«

Bei der Heimfahrt machte sie Ibra-him wieder einmal nieder: Er sei mitdem Verkäufer viel zu gutmütig undsanft umgegangen!

Der Tag der Tat im vorigenHerbst: Ibrahim kam wie vereinbartzu ihrer Wohnung, um die Mängel-liste abzuholen. Sie war nicht da undauch am Handy nicht erreichbar. Erwartete etwa eine Stunde. Die Män-gelliste hatte sie noch nicht erstellt,doch er soll trotzdem in die Woh-nung kommen. Ihre Mutter warnicht anwesend, daher weigerte ersich zunächst, die Wohnung zu be-treten. Sie begann wieder zu schrei-en. Um einen Skandal im Haus zuvermeiden, trat er ein. Er solle eineLampe an die Decke montieren undeinen Fernseher anschließen. Erweigerte sich: Das sei nicht ausge-macht gewesen. Er komme wieder,wenn sie die Liste fertig habe.

Augustin beobachtet die Justiz

AusgerastetAn der österreichischenRechtssprechung wird kriti-siert, dass der Angriff auf Ei-gentum höher bestraft wirdals der Angriff gegen Leibund Leben. Nach der Ver-handlung gegen einenTotschläger, der einer Frauzuerst mit einer Hantel sechsMal auf den Kopf schlug undanschließend einen Fernseh-apparat auf die bereits Toteschmiss, war demnach einmilderes Urteil als 8 JahreGefängnis zu erwarten.

haben nicht nur Menschen zum Ver-schwinden gebracht, sondern auchein Bildungssystem zerstört. Ein Bil-dungssystem, das der Motor zur Ver-änderung in Richtung einer sozialgerechteren Welt war«, erklärt InésVázquez dem Augustin die Notwen-digkeit, sich im Bildungswesen zuengagieren. In der Volksuniversitätder Madres ist nicht für alle Studieneine Matura erforderlich. Dennochist in allen Studienrichtungen eineGebühr von 25 bis 40 Pesos (etwa 6bis 10 Euro) monatlich zu entrich-ten. Für Studierende, die in sozia-len Organisationen und NGOs arbei-ten und bei denen sichergestellt ist,dass sie ihr universitäres Wissenwieder in besagte Organisationeneinbringen, gibt es jedoch Stipen-dien. Natürlich können diese – auch

nicht sehr vehement eingehobenen– Gebühren den Betrieb der Univer-sität nicht finanzieren. Momentanwird er hauptsächlich durch die Ma-dres und durch Spenden getragen.Mit dem kürzlichen Start von dreistaatlich anerkannten Universitäts-studien erhofft sich Inés Vázquez al-lerdings auch öffentliche Gelder fürdie Bildungseinrichtung. Denn inUniversitäten und Schulen anderortsvermisst Vázquez die Aufarbeitungder jüngsten Vergangenheit bis aufInitiativen einzelner LehrerInnengänzlich. Auch den Mangel an Publi-kationen innerhalb Argentiniensüber die Madres beklagt die wissen-schaftliche Leiterin.

Sehr anerkennende Worte inpuncto Vergangenheitsaufarbeitungfinden die Madres über den aktuel-

len Präsidenten Nestor Kirchner. »Erhat Schritte gesetzt, die vor ihmnoch keiner gewagt hat«, erklärtInés Vázquez. Unter ihnen seienauch viele symbolische, aber sehrwichtige Gesten.

Er lässt die Kirche nicht im Dorf

So ließ er etwa in der Militärakade-mie die Konterfeis der beiden Ge-neräle Videla und Bignone – beidean grausamsten Verbrechen gegendie Menschlichkeit beteiligt – ab-hängen und durch Gedenktafeln er-setzen. In einem Land, in dem dasMilitär in der Geschichte dermaßenoft Einfluss auf die Politik genom-men hat, ist eine Kraftprobe dieser

Art mit den Streitkräften bemer-kenswert. Kirchner arbeitete auchmit voller Kraft an der Rücknahmeder Amnestiegesetze, die nach demendgültigen Rückzug der Militärsaus der Politik ausgehandelt wur-den. Und schon bald werden 200bis 300 der Verantwortlichen desGenozids in Argentinien vor Gerichtstehen. Bis dahin wird Hebe de Bo-nafini wohl noch öfters ihre Donner-tagsrede mit den Worten »Wir se-hen uns nächsten Donnerstag« be-enden, und die Kundgebungsteil-nehmerInnen werden in Sprechchö-ren antworten: »Jetzt führt kein Wegmehr vorbei: Gebt sie uns lebendzurück und stellt die Verantwortli-chen vor Gericht.«

Text und Fotos: flom

Fortsetzung auf Seite 18

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Du arbeitest mit deinerBerufskollegin AstridWagner an einem Buchzum Thema »Ge-

schworenengerichte im europäi-schen Vergleich«. Wird es eineFachliteratur für Kollegen oderauch für Laien verständlich sein?

Beides. Es sollen vor allem auch diePolitiker verstehen. Alle sollen esverstehen, denn der Geschwore-nenprozess geht alle an. Die Ge-

schworenen sind Laien, der Ange-klagte ist (meistens) ein Laie. DasWenige, das bisher darüber publi-ziert wurde, ist von Juristen für Ju-risten geschrieben und die, die esbetrifft, wissen gar nichts davon.

Die Leute haben zum Thema Ge-schworene immer das Bild vorsich, das ihnen aus Hollywoodfil-men vermittelt wird.

Ich habe das getestet und viele Leu-te dazu befragt. Meistens bekam ichungefähr folgende Antwort: Es sind12 Geschworene und das Urteilmuss einstimmig gefällt werden.Vorne liefern sich Staatsanwalt undVerteidiger ihre verbalen Gefechteund der Richter schaut zu. Allesfalsch. Es sind nicht 12, sondern 8,Einstimmigkeit ist nicht gefordert,und der Richter schaut nicht zu,sondern führt die Vernehmungendurch. Staatsanwalt und Verteidigerschauen zu und liefern sich keineGefechte.

Bei Astrid Wagner ist es klar,weswegen ihr das Thema Ge-schworenengerichte wichtig ist:Sie schrieb über den Prozess JackUnterweger ein Buch. Weswegenwurde dir das ein so großes An-liegen?

Ich bin über Astrids Buch auf dasThema gekommen. Ich habe mit an-deren darüber geredet, wie zumBeispiel mit einem Strafrechtspro-fessor an der Uni Linz. Ich habe ihmvon Astrids Buch und vom Unter-weger-Prozess erzählt. Er sagte la-chend: »Das ist noch gar nichts, dasollten Sie sich einmal anhören wiees beim Foco-Prozess zuging«. Da-raufhin hat er mich zusammen mitzwei Geschworenen des Foco-Pro-zesses zum Kaffee eingeladen. Umvier Uhr Nachmittag. Als ich zumersten Mal auf die Uhr gesehenhab’, war es neun. Es war unglaub-lich. Das blanke Entsetzen. EineProzessführung wie in einer Bana-nenrepublik.

Ich war der Meinung, dass derSkandal des Prozesses an den Er-mittlungen der Polizei lag?

Das auch, aber auch an der Prozess-führung: Die Tür zum Geschwore-nenzimmer stand immer offen, undso wurden die Geschworenen stän-dig mit der Beweiswürdigung durchden Richter berieselt. Darüber hi-naus hat er schon bei den Verneh-mungen eindrucksvoll demons-triert, was er von den Aussagenhielt: begeistertes zustimmendesNicken bei Belastungszeugen, Ab-

wenden, Schlafstellung, Augenver-drehen bei Entlastungszeugen. Unddenen, die immer noch nicht vonder Schuld des Angeklagten über-zeugt waren, denen wurde es dannim Rahmen der so genanntenRechtsbelehrung eingehämmert:»Die einzige Aussage, auf die Siesich stützen können, ist …« Die sogenannte Rechtsbelehrung findetnämlich unter Ausschluss der Öf-fentlichkeit und der Parteien statt –eine österreichische Besonderheit.Das gibt es sonst nirgends.

Was hat ein österreichischesSkandalurteil mit internationalerRechtssprechung zu tun?

Danach hat sich mir die Frage aufge-drängt: Wie funktionieren Ge-schworenengerichte in anderenLändern? Und so kam ich schließ-lich auf das spanische Modell. InEuropa sind die Geschworenenge-richte fast überall abgeschafft wor-den. Beibehalten wurden sie nur inBelgien, Großbritannien und Öster-reich. Doch es gibt so etwas wieeine Renaissance dieser Institution,nämlich in Spanien, wo es 1996eingeführt wurde, und in den Staa-ten des ehemaligen »realen Sozialis-mus«. Und natürlich gibt es den Ge-schworenenprozess in den USA.

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Warum Katharina Rueprecht das spanische Modell empfiehlt

Die geschwächten GeschworenenDie Geschworenen abschaffenoder das Geschworenenrechtdemokratisieren? In den Aus-gaben 194 und 198 desAugustin kamen widersprüch-liche Meinungen zur Rollevon LaienrichterInnen in derösterreichischen Justiz zumAusdruck. KatharinaRueprecht beschäftigt sichseit vielen Jahren mit demThema Geschworenengerich-te. Gemeinsam mit derRechtsanwältin Astrid Wagnerarbeitet sie an einem Buch da-rüber. Welche Änderungen inÖsterreich notwendig wären,erzählte sie dem Augustin.

Da stellte sie sich ihm in den Weg,griff an seine Brustwarzen, drücktesie schmerzhaft zusammen und sag-te lachend: »Du bist ja gar keinMann!«

Da lag eine Hantel. Er nahm sieund schlug zu. Zwei Mal. Danachhatte er ein Blackout, konnte sichweder an die weiteren Schläge (4oder 5) erinnern, noch daran, dasser den Fernsehapparat auf sie gewor-fen – und dass er die Hantel mitge-nommen hatte?

Das sei wohl instinktiv gesche-hen, sagte er, und er schäme sich,bereue. Noch nie in seinem Lebenwar er irgendwie gewalttätig. Er ver-abscheue jede Form von Gewalt.Doch in diesem Moment wären inihm plötzlich alle Demütigungen sei-nes Lebens hochgekommen. Er seiwie ferngesteuert gewesen, gar

nicht er selbst … Als er die Wohnung verließ, hatte

die Frau – noch – nicht geblutet(was vom medizinischen Gutachterbestätigt wurde).

Hätte die Staatsanwältin aufMordvorwurf verzichtet …

Ibrahim hielt ein Taxi auf und woll-te heimfahren. Er war der Meinung,sie sei bloß ohnmächtig gewesenund rief sie vom Taxi aus zwei Malan. Sie hob nicht ab. Da sei ihm mul-mig geworden. Als sie in die Nähedes Donaukanals kamen, ließ er an-halten, stieg aus, warf die Hantel inden Kanal und ging zu Fuß nachHause. Er begann sich Sorgen umSandys Kinder zu machen. AmAbend erfuhr er, dass die Frau totwar …

Der Sachverständige für den psy-

chischen Zustand des Beklagten sag-te, dass aus »rein medizinischerSicht« bei der Tat kein außerge-wöhnlicher Gemütszustand (daherweder psychisch krank noch durchAlkohol oder Drogen beeinflusst) ge-herrscht habe(?).

Für jeden Laien ist klar, dass sichIbrahim B. sehr wohl in einer au-ßergewöhnlichen Gemütsverfassungbefand.

Weder Richter und Staatsanwaltnoch Geschworene und Verteidigerbemühten sich, die kulturell-religiö-sen Hintergründe von Täter und Op-fer zu erkunden. Einer der Ge-schworenen wollte bloß wissen, obder Täter homosexuell sei (ist ernicht).

Drei von der Verteidigung bean-tragte Zeugen, die zur Persönlich-keit der Toten hätten aussagen sol-len, wurden vom Richter-Senat abge-lehnt.

Die Geschworenen hatten nun zuentscheiden, ob Ibrahim B. einenMord, einen Totschlag oder eineschwere Körperverletzung mit To-desfolge zu verantworten hatte. Er-staunlich, dass bei diesem Sachver-halt die Frage nach Mord überhauptgestellt wurde.

Die Aufgabe einer Staatsanwältindarf doch nicht sein, die möglichsthöchste Strafe durchzuboxen, son-dern, »der Wahrheit« entsprechend,eine realistische Strafe für einen Tä-ter einzufordern.

Und so war das Abstimmungsver-halten nach der Frage, ob es Mordwar, 5:3 zugunsten des Beklagten.Damit war klar, dass sich die Ge-schworenen auf Totschlag einigenwürden (7:1). Hätte die Staatsanwäl-tin auf den Mordvorwurf verzichtet,wäre das Urteil ganz sicher günsti-ger für den Beklagten ausgefallen.

Gerald Grassl

Fortsetzung von Seite 17

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Als ich vor ein paar Wo-chen bemerkt habe, dassdemnächst die 200. Aus-gabe des Augustin er-

scheinen wird, habe ich in der Re-daktion angefragt, ob man für dieseJubiläumsnummer etwas Besonde-res plane. – Nicht wirklich, war dieAntwort. Meine Idee, dass sich freieMitarbeiterInnen zu ihrer Zeitung

äußern, wurde zwar angenommen,hätte aber ebenso gut in der nächs-ten oder übernächsten Nummer er-scheinen können. – Das ist typischfür den Augustin. Warum, kann viel-leicht ein Drittel der ungefähr 30freien MitarbeiterInnen erklären.

Ich zum Beispiel (*62, Wien) sageseit 1999 erstaunten bis Nase rümp-fenden Kollegen von anderen Zei-tungen, der Augustin zahlt für einenArtikel genauso »schlecht« wie ir-gendeine österreichische Tageszei-tung. Allerdings werden die Honora-re prompt überwiesen, man kannhier über (soziale) Themen schrei-ben, für die in den anderen Medienkein Platz (mehr) ist – und es macht

viel mehr Spaß. Denn der Augustinhat keine Blattlinie, also keine kon-forme Meinung zu bestimmten The-men, und er ist nicht von seinen In-serenten abhängig, sondern nur vonseinen Käufern.

Allerdings diskutieren wir (die Re-daktionsmitglieder und die Freien)beständig darüber, ob man den Au-gustin auch liest oder nur aus Mit-leid kauft, und halten MitarbeiterIn-nen-Treffen mit dem Ziel ab, denAugustin lesenswerter zu machen.Eine Zeitlang gab es auch »Blattkri-tik«, d. h. ein/e Mitarbeiter/in er-zählte den anderen, was ihr/ihm anden letzten Ausgaben gefallen hatund was nicht.

Ich sagte dabei sinngemäß, es isteh alles super, nur wir sollten mehrauf journalistische Regeln achtenund vor allem Bericht und Meinungnicht vermischen. Doch die meistenwollen genau das. Denn wir hiersind engagiert und betroffen, unddas soll man unseren Artikeln auchanmerken. Der Punkt ist: Ich habemit meinen »journalistischen Re-geln« beim Augustin genauso Platzwie jene, die darauf pfeifen. Und dasist es, was den Augustin für michausmacht. Hier stellt sich ein Medi-um zur Verfügung, in dem man ler-

Typisch für amerikanische Prozes-se ist das Kreuzverhör. Du be-mängelst, dass das bei uns fehlt.

In den USA wird der Angeklagtevom Verteidiger und Staatsanwaltverhört. Deswegen Kreuzverhör.Wir kennen das aus den Filmen. Beiuns verhört der Richter, und erstwenn der Richter alles gefragt hat,dürfen Verteidiger und Staatsanwaltihre Fragen stellen. In den USA hatder Richter die Rolle eines unpar-teiischen Schiedsrichters. Bei unsführt er de facto die Anklage. Dasresultiert daraus, dass bei uns dasPrinzip der amtswegigen Wahrheits-findung gilt, das inquisitorischePrinzip. In den USA nicht. Da ob-liegt es den Parteien, die Wahrheitzu finden. Der Richter hat nur dafürzu sorgen, dass die Regeln des Pro-zessrechtes eingehalten werden.

Und wie sieht das spanische Mo-dell aus?

In Spanien muss das Urteil des Ge-schworenengerichtes begründetwerden. Das ist sonst nirgends derFall. In Europa nicht, und in denUSA nicht. Guilty or not guilty –ohne Begründung. Das »Urteil grün-det sich auf dem Wahrspruch derGeschworenen« lautet bei uns dieBegründung des Urteils. Nach spa-nischem Recht ist ein Urteil ohneBegründung kein Urteil. Denn einUrteil muss auch überprüfbar undbekämpfbar sein.

Von den Rechtsanwälten gibt es

die Kritik, dass es gegen Ge-schworenenurteile keine Beru-fungsmöglichkeit gibt. Im jetzi-gen Regierungsprogramm stehtdie Forderung, dass auch bei Ge-schworenenprozessen die Urteileschriftlich begründet werdenmüssen.

Diese Kritik gibt es nicht nur vonRechtsanwälten. Auch leidenschaft-liche Verfechter des Geschworenen-prozesses räumen ein, dass die feh-

lende Begründung einenganz wesentlichen Nach-teil dieser Institution dar-stellt.

Auch bei uns müssen dieGeschworenen aber ihren»Wahrspruch« begründen.Das ist nicht Bestandteildes Urteils und ist auchkeine Begründung im ei-gentlichen Sinn. Das Urteileines Berufsrichters ent-hält eine ausführlicheSachverhaltsdarstellungund eine ausführlicherechtliche Beurteilung.Und bei einem Urteil, indem ausgesprochen wird,dass jemand lebensläng-lich eingesperrt wird, soll-te eine solche Begründungentbehrlich sein? Urteileohne Begründung hat essonst nur bei standrechtli-chen Urteilen gegeben und– bei Gottesurteilen. Auchweil das spanische Modell

moderner, transparenter und ein-fach besser ist, empfehle ich es. Kei-ne Rechtsbelehrung im stillen Käm-merlein, sondern im Gerichtssaal,kein inquisitorischer Richter, keinVorhalt der Aussagen, die bei derPolizei gemacht wurden. Bei unsheißt es immer: »Aber bei der Poli-zei haben Sie etwas anderes gesagt,ich lese Ihnen vor …« Die Ge-schworenen müssen eingehendüber die Zweifelsregel informiert

werden – im Zweifel für den Ange-klagten –, was bei uns auch nichtvorgesehen ist, und vor allem: DieUrteile können in Spanien bekämpftwerden, in zwei Instanzen: Beim»Tribunal Superior« und dann nochbeim »Tribunal Supremo«.

Beim »spanischen Modell« be-stimmt der Richter alleine dasStrafausmaß. Nun ist statistischerwiesen, dass Geschworene vielmildere Urteile abgeben als Be-rufsrichter.

Doch muss man hinzufügen, dass inSpanien das Strafausmaß insgesamtwesentlich geringer ist. Ich würdebefürworten, dass in Österreich dasStrafausmaß vom Richter-Senat undden Geschworenen gemeinsam be-stimmt wird, so wie es jetzt auchvorgesehen ist.

Es wird vielfach behauptet, dassGeschworenenurteile fehleran-fälliger sind als Urteile von Be-rufsrichtern, also dass sich Ge-schworene leicht irren.

Dazu möchte ich einen Richter ausMalaga zitieren, der sagte: »NurGott allein weiß, wie oft wir unsgeirrt haben …«

Mit Katharina Rueprecht sprachGerald Grassl

Katharina Zara: Die Geschworene,Verlag C. H. Beck, 8,90 EuroDie Verfilmung des Buches hatteam 11. April im ORF TV-Premiere

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Katharina Rueprecht: »Die Prozessführungschockierte mich«

Was halten die freien Augustin-MitarbeiterInnen von ihrer Zeitung?

BlattkritikDas macht sonst kein Betrieb,dass er sich öffentlich dem Ur-teil seiner freien MitarbeiterIn-nen stellt. Aber der Augustinist in vielem eine Ausnahme.

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nen kann, mit Freiheit verantwor-tungsvoll umzugehen.

Vielschreiber, Sparköchin, Graf-fitiforscher

Andere freie Mitarbeiter sehen denAugustin so (– die Reihenfolge stelltkeine Wertung dar, sondern richtetsich nach den Jahren der Mitarbeit):

Gerald Grassl (*53, Tirol) schreibthier »fast seit Anfang«. Ihm gefällt,dass dies die (noch) einzige linkeZeitung ist, welche »in jeder Hin-sicht eine einzigartige journalisti-sche Qualität erreicht hat – bitteschön, ich welchem Medium wärenMagdalena Steiners ›Mann ohne Ei-genschaften‹ oder Richard Schub-erths Kraus-Serie sonst noch mög-lich???!!!!«

Grassl ist arbeitslos und »mitSchreiben und allem, was damit zu-sammenhängt, rund um die Uhr be-schäftigt«. Er wünscht sich von sei-ner Zeitung demokratischere, trans-parentere Strukturen und ein wö-chentliches Erscheinen. Er schreibtdie meisten Beiträge der Reihe »Au-gustin beobachtet die Justiz« (vorder er seinerzeit gewarnt hat, »wohlwissend, was das für eine schwereHack’n ist«). Außerdem interessie-ren ihn die Themen Kunst und Kul-tur, »Asoziale im Dritten Reich«, se-xuell deviante Gruppen, aber auchSexarbeit sowie News aus der Ar-beitslosenbewegung.

Christa Neubauer (*65, Wien) istseit 2000 für die »Sparküche« ver-antwortlich, kann sich noch an ih-ren ersten Augustin-Artikel überden Talentetauschkreis im Jahr 1998erinnern. Für sie ist im Augustin»viiiel« mehr Inhalt als in anderenStraßenzeitungen, und es gibt nichtnur »Sozialjammerei«, aber mancheArtikel sind ihr zu »fachchinesisch«oder zu wenig spannend geschrie-ben.

Privat hat sie sich nach über 20Jahren Privatwirtschaft gerade eineAuszeit genommen. Neben ihrerkaufmännischen Ausbildung ist sieauch Klinische und Gesundheitspsy-chologin.

Der Literat, Kulturvermittler undDeutschlehrer bei einem Arbeitslo-senprojekt Thomas Northoff (*47,Wien) schreibt seit sieben Jahren fürden Augustin. Robert Sommer be-auftragte den »unregelmäßigen Le-ser« aufgrund eines Leserbriefes miteinem Artikel über seine Arbeit als

Graffitiforscher. Seither berichtet erauch über literarische und wissen-schaftliche Bücher mit dem Schwer-punkt Randkulturen.

Für Northoff ist der Augustin soetwas wie ein auf soziale Themenausgerichteter und unprätentiöser»Falter«. Er sei durch die Jahre –auch sprachlich – besser gewordenund zeigt »trotz seines Fokus’, wel-che Vielfalt an Themen zur Erörte-rung ansteht. Der Augustin ergreiftPartei für bestimmte Menschen undMenschengruppen. In fast allen Fäl-len kann ich mich dieser Parteilich-keit anschließen.«

Antirassistin, Fußballintellek-tueller, Popreporter

Kerstin Kellermann arbeitet für dieslowenische Hotline der TelekomAustria, für die.standard online und»art in migration«. Sie schreibt seit2003 für den Augustin, war vorhervier Jahre lang koordinierende Re-dakteurin der Bunten Zeitung: »Wirhaben die ersten Afrikaner, die Kol-porteure bei der Bunten waren, zu-sätzlich zum Augustin gebracht, jetztist es ganz normal geworden, dass invielen U-Bahn-Stationen ein Afrika-ner steht.« Geändert hat sich für siedie Einstellung des Augustin zu Asyl-werbern und zu Migration: »Inzwi-schen wird anerkannt, dass es auchgenug ›AusländerInnen‹ gibt, die ob-dachlos sind.«

Helmut Neundlinger (*73, OÖ)ist Journalist für das Monatsmagazin»Datum« und das Fußball-Periodi-kum »Ballesterer«, schreibt gerade

an seiner Dissertation über HermesPhettbergs »Predigtdienste« undwar lange Zeit auch Musiker. Er be-richtet im Augustin seit 2005 aus-schließlich über Fußball und ist »je-des Mal wieder erstaunt, welch bri-sante Geschichten es von den Rand-zonen des schönen Spiels zu berich-ten gibt, wie viel an gesellschaftli-cher Relevanz dort zu finden ist, wodie konventionelle Sportberichter-stattung nicht oder nur viel zu unge-nau hinschaut.« Für ihn bringt derAugustin »Menschen und Inhaltezusammen und zur Sprache, die aufden ersten Blick nichts miteinandergemein haben – und trotzdem ent-steht daraus eine einzigartige Mi-schung, die ich in keinem anderenMedium finde.«

Rainer Krispel (*67, Linz) schreibtfür Datum und TBA, hilft derzeit sei-nem Sohn beim Aufwachsen, »dilet-tiert« als DJ und singt in zwei Bands.Er ist seit Mai 2005 der »Musikar-beiter unterwegs«, schreibt alsoüber ein spezielles Segment von»Popmusik«, mit dem er seit fastzwei Jahrzehnten lebt und arbeitet.Für ihn verändert sich der Augustinständig, weil er von permanentenDiskussionen begleitet ist. Krispelgefällt die Haltung der Zeitung, dersoziale Anspruch, ohne dass die Zei-tung eine moralinsaure, trockeneAngelegenheit wird.

Vorstadtforscher, Berlinerin,Debütantin

Auch für Christoph Witoszynskyj,der den Augustin seit seinem Beste-

hen kennt, ist die Zeitung professio-neller geworden. Ihm gefällt derBlickwinkel von »innen« bzw. »un-ten« und das »Handeln statt Raun-zen«. Der 38-jährige Wiener been-det gerade sein Studium, arbeitet aufder Universität und schreibt seitSommer 2006 über Fußball in der»Vorstadt«.

Die in Westberlin geborene BärbelMende-Danneberg wird demnächst64 und schreibt seit Jänner 2007 dieSerie »Fremde Mutter«, in welchersie die Erfahrungen in der Betreu-ung ihrer demenzkranken Mutterwiedergibt. Gemeinsam mit ihremMann, der dafür die Zeichnungenbeisteuert, hatte sie sich vorgenom-men, nach »unserem Hauptberufs-leben« sozialpolitisch tätig zu sein.»Dass daraus die Betreuung meiner95-jährigen Mutter geworden ist,war eher ein Zufall.« – Mende-Dan-neberg hält den Augustin für einhochinteressantes Projekt, »weil esihm gelingt, Alltagsprobleme mit in-tellektuellem Anspruch zu behan-deln«, und zwar in einer verständli-chen und lesbaren Form. Mir ihrerMischung aus »Randgruppen-« und»Intellektuellenproblemen« löst dieZeitung für sie »auf ganz erfrischen-de Art einen Bildungsauftrag ein,den ich bei anderen Zeitungenschwer vermisse.«

»Als interessierte Leserin des Au-gustin und als sehr kritische Zeitge-nossin war es schon lange ein großerWunsch von mir, über Themen mitSozialaspekten schreiben zu kön-nen«, meint die 23-jährige, in Wiengeborene Volksschullehrerin NikolaKrisch. Für sie zeichnet den Augus-tin aus, »dass persönliche, berühren-de Schicksale und besondere Cha-rakterköpfe, denen sonst in unsererGesellschaft kaum Aufmerksamkeitgeschenkt wird, in den Mittelpunktder Betrachtung gestellt werden.«

Seit sie für ihn schreibt, »hat sichnicht der Augustin verändert, son-dern ich mich. Denn ich habe einVentil gefunden, um meine im Alltagentdeckten Ungerechtigkeiten zuverbalisieren. Als kritischem undjungem Mitmenschen werden ei-nem oft sehr viele Steine in den Weggelegt, wenn man sich traut, seineMeinung zu äußern. Dank des Au-gustin kann ich viele Menschen er-reichen, muss mir kein Blatt vor denMund nehmen aus Angst vor mögli-chen Sanktionen, kann Unausge-sprochenes, vielleicht Verborgenesans Tageslicht befördern und bekom-me außerdem vielfältigste Reaktio-nen zurück.« Werner Schuster

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Zehn Menschen urteilen über das Blatt, für das sie schreiben. Sein Nonkonfor-mismus gefällt ihnen ebenso wie seine Reichweite. Die nicht immer auf

»finnische Art« gemessen wurde, wie in diesem Augustin-Hunderterpackerl-Weitwurf-Contest.

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Was haben wir ihnnicht alles geheißen?»Servas, Wadelbei-ßer!« – »Habe die

Ehre, Holzg’schnitzter!« – »Russen-Tscharly!« Im Nachhinein betrachtetsind solch gemeine Anredeformelnmit dem Ausdruck höchsten Bedau-erns zurückzunehmen. So sagt manvielleicht zu einem Wiener Haberer,der beim gemeinsamen Fußball-Spiel mehr Wadeln als Bälle trifft. Je-doch geziemt es sich nicht, einenleibhaftigen Konsul derart zu des-avouieren.

Nie hat sich unser Tscharly sei-nen diplomatischen Status anmer-ken lassen. Immer machte er guteMine zum bösen Spiel, wenigstensbeim Fußballspiel. Auch heute, dawir es alle wissen, übt sich der 39-jährige Karl Pisec gerne in Beschei-denheit: »Ich bin nur der Vizekon-sul.« Honorarkonsul, nein Honorar-generalkonsul, sei sein Vater, auchein Karl Pisec.

Ehre, wem Ehre gebührt: Die bei-den Unternehmer, die seit vielenJahren zwischen Russland und denUSA gut im Geschäft (Stahl) sind,leiten das »Consulat Honoraire de laRépublique des Seychelles«. KeinWitz. So steht es auf einem Tür-schild an ihrem Firmensitz in derGusshausstraße Nr. 12.

In Österreich sind laut Auskunfteines Außenamt-Sprechers 218 Ho-norarkonsulate eingerichtet. Die Lis-te der Union des ConsularischenCorps liest sich seitenweise wie dasWho is who der heimischen Wirt-schaftstreibenden: Wolfgang Por-sche ist der Honorarkonsul für Nor-wegen, Helmut Swarovski vertrittMalta, der Grazer Öl- und Fußball-Zampano Rudolf Roth springt für dieNachbarn in Ungarn in die Bresche.

Honorar gibt es für den Honorar-konsul keines, betonen alle Hono-rarkonsuln. Viel mehr ginge es ih-

nen – wie der Name schon sagt –um die Ehre. Man möchte zur Ver-besserung der bilateralen Beziehun-gen beitragen.

Und warum dann ausgerechnetKonsul für die Seychellen, diesenunbedeutenden Inselstaat mitten imIndischen Ozean? Warum nichtgleich Dschibuti, Samoa oder vonmir aus Tuvalu? Auch über die Süf-fisanz dieser Frage sieht Pisec derZweite vornehm hinweg. Hält sichan das, was ihm schon sein Vater er-zählt hat.

Sein alter Herr sei in jungen Jah-ren ein leidenschaftlicher Tauchergewesen – und dazu einer der ers-ten Taucher, die nach der Eröffnungdes internationalen Flughafens aufder Hauptinsel Mahé landeten. Under wäre wohl kein guter Geschäfts-mann gewesen, hätte er nicht sei-nen Gastgebern bald einmal ein paarSteyr-Geländewagen fürs unwegsa-me Gelände verhökert. Im Jahr1979 hat man dann den gern gese-henen Gast aus Österreich gefragt,ob er nicht die Agenden der rund100.000 Insulaner in seinem Hei-

matland vertreten möchte. Und wieder mochte!

Karl und Karl Pisec sprechen ge-nauso wenig Kreolisch wie der ös-terreichische Honorarkonsul in Or-lando Deutsch spricht. Was hier zuLande für eine Skandal-Schlagzeilein einer Boulevardzeitung reicht,wird auf den Seychellen nicht weiterbeachtet. Hauptsache, die Burschenin Wien können uns weiterhelfen,wenn wir sie brauchen! In Wien,das wissen die Seychelloires wohl,kommt man mit Kreolisch ungefährso weit wie mit Deutsch in Orlando.

Auch haben die beiden Konsulnbzw. ihre Sekretärin meist mit An-fragen von ihren österreichischenLandsleuten zu tun. Jedes Jahr be-gehren rund 300 HeiratswilligeRechtsauskunft. 200 Anfragen be-züglich Einreise-, Impf- und Zollbe-stimmungen kommen von Touris-ten. Das Konsulat gibt ihnen auchWerbeprospekte mit auf den Weg.Immerhin 50 Auswanderungswilli-ge erkundigen sich wiederum überdie aktuellen Niederlassungsbestim-mungen.

Kommt dann einmal der Außen-minister der Seychellen nach Wien(und der kommt, ein bis zwei Malpro Jahr, Wien ist bekanntlich derSitz der Atombehörde und der Uni-do), gilt es, den Gast, standesgemäßunterzubringen, auszuführen undauch zu bewirten. Der Vize: »Manzeigt ihm halt die schönen SeitenÖsterreichs.« Ein Besuch bei einemWiener Heurigen ist dabei immer fixeingeplant.

Ein Mal pro Jahr fliegt der Vize-konsul seinerseits ins irdische Para-dies, um dem dortigen Präsidentenzusätzlich zu den monatlichenschriftlichen Berichten auch münd-lich Rechenschaft abzulegen. »DasGespräch verläuft immer sehrfreundschaftlich«, erzählt der Ge-sandte. Bei aller Freundschaft je-doch: »Flüge auf Staatskosten gibt esnicht.«

Und der Reibach dafür? »Das istreiner Idealismus«, betont der Vize-konsul. »Wenn wir ein Geschäft ma-chen wollten, hätten wir dort schonlängst ein Hotel hingebaut.« Auchgenieße man nicht die klassischenBotschafter-Annehmlichkeiten: »Ichhabe weder diplomatische Immuni-tät, noch kann ich zollfrei einkau-fen.«

Anderes zählt. Was der Herr Papabegonnen hat, möchte der Sohn fort-führen. »Mein Vater hat ihnen amAnfang klar gemacht, auf welchemSchatz sie eigentlich sitzen.« DieSeychellen sind in der Tat wunder-bare Erdflecken beim Äquator. AlsKarl Pisec senior sein Amt übernom-men hat, lag die verstreute Insel-gruppe noch auf halbem Weg zwi-schen dritter und zweiter Welt. Heu-te sei sie eine der letzten echten In-seln der Seligen auf diesem Plane-ten. Mit hohen Umweltstandardsund einem deutlich verbesserten Le-bensstandard auch.

Dass er das Erbe seines Vatersfortsetzen muss, sagt Karl Pisec ju-nior übrigens nicht. Er ist ja keinWadelbeißer. n

LOKAL-MATADOR

Karl Pisec ist Vizehonorarkon-sul der Republikder Seychellen in Wien. Was ’s net alles gibt!

VON UWE MAUCH (TEXT) UND MARIO LANG (FOTO)

NO 152

Vizehonorarkonsul Karl Pisec in Amt und Würden

»Reiner Idealismus«

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Mehr sagt er nicht überden Willy. Aber viel-leicht erzählt diesevorsichtige Aufmerk-

samkeit mehr über den Rapidspie-ler, als ihm ein Reporter je aus derNase ziehen könnte. In den zwölfMinuten, die wir im Anschluss anein Training miteinander reden, be-gegnen mir seine Augen nur sekun-denweise. Meist sind sie nach un-ten gerichtet, dort, wo unter norma-len Umständen der Ball zu findenist. Ich empfinde das nicht als unhöf-lich – weil mir mit jeder Minute un-seres Gesprächs klarer wird, welchfür die raue Sportart Fußball unge-wöhnliche Sensibilität sich darinausdrückt. Folgerichtig gilt Hof-manns ungeteiltes Vertrauen rund

ums Spielfeld und dessen untieferRandzone namens Öffentlichkeiteinzig dem Ball. Die Beredtheit, mitder er das Spielgerät während derTrainingseinheit behandelt, ist dieandere Seite der Nachdenklichkeit,die seine Sätze umgibt. Zu Beginnunseres Gesprächs hält er noch ei-nen Ball in den Händen, vielleichtweil ihm das eine größere Sicher-heit verleiht. Und es hat etwas Un-freiwilliges, als er ihn schließlichwegrollt. Im Geist spiele ich den Ballzurück – und frage nach:

Herr Hofmann, wie sind Sie zumFußball gekommen?

Aufgewachsen bin ich in einem klei-nen Ort namens Kirchheim in derNähe von Würzburg, wo ich 1980geboren wurde. Ich stamme ausganz normalen, bürgerlichen Ver-hältnissen. Mein Vater war und istein glühender Anhänger von 1860München und hat mich ins Stadionmitgenommen. Außerdem hat michmein älterer Bruder schon sehr frühzum Training gebracht.

Wie kommt der Nachwuchskickereines Dorfclubs in die »höherenSphären« des Profifußballs?

So was geht Schritt für Schritt. Mit13 bin ich zum SV Würzburg gekom-

men und hab dort in allen Jugend-klassen gespielt. Allmählich bin ichdann über die verschiedenen Be-zirks- und Kreisauswahlen auch indie Bayernauswahl gekommen. Un-gefähr zeitgleich mit der Einberu-fung in das U-16-Nationalteam er-folgte dann der Wechsel von Würz-burg zur Jugendabteilung von Bay-ern München.

Eine Vergleichsfrage, da Sie Ein-blick in beide Ausbildungssyste-me haben: Was wird in Deutsch-land anders gemacht als in Öster-reich?

Mit der Nachwuchsarbeit in Öster-reich hab ich mich nie so befasst.Meiner Erfahrung nach wird inDeutschland jedenfalls sehr profes-sionell gearbeitet. Es gibt Trainerund Verantwortliche, die hauptamt-lich und ausschließlich für denNachwuchs zuständig sind. Das istentscheidend, weil man nur im Ju-gendbereich den richtigen Fein-schliff bekommen kann.

Wie kam es dann zum Sprung inskalte Wasser des Profifußballs?

Mit 18 erhielt ich ein Engagementals so genannter »Vertragsamateur«bei den Bayern. Dort blieb ich dreiweitere Jahre und hatte dann mehre-

re Optionen, endgültig zum Profi zuwerden. Ich hab mich für Rapid ent-schieden und bin nach wie vor frohdarüber.

Gab es neben dem Fußball in ihrerJugend noch andere Perspekti-ven?

Eigentlich nicht. Ich hab wohl dieRealschule bis zur mittleren Reifeabsolviert, sogar mit einer »Ehren-runde« (schmunzelt), und dann binich noch zur Bundeswehr. Der Fokuswar aber immer auf Fußball. Selbstwenn ich mal nicht mehr spiele,möchte ich in der einen oder ande-ren Form beruflich beim Fußballbleiben.

Sie waren mit Rapid 2005 Meister,kennen also die Euphorie des Er-folgs. Andererseits haben sich andiesen Triumph auch Tiefschlägeangeschlossen: lange Verlet-zungspausen und ein recht un-glücklich verlaufenes Zwischen-spiel bei 1860 München. Wie gehtman mit solchen Situationen um?

Das gehört zum Beruf dazu. Dabraucht man dann den Rückhaltdurch die Familie und die Freunde.Den hab ich glücklicherweise immergehabt und deshalb auch gewusst,dass ich wieder zurückkommen wer-

Steffen Hofmanns Augustin-Connection

Der Ballredner»Den kenn ich – der kommtoft zu uns«, sagt Steffen Hof-mann und deutet aufs Cover-foto des Augustin, das die Ge-winner des Obdachlosen-Cupsin Jubelpose zeigt, genauer:auf Willy Gröschl, den Erzes-ten aller Erzgrünweißen imschwarzweißen Augustindress.

KICK-TIPPFrauen-Bundesliga: USC Land-haus – SV Neulengbach; Samstag,21. 4., 16 Uhr: Keine Frage, derMeistertitel ist dem – nach Rückzugdes Sponsors Soletti – wieder weiß-schwarzen Ballett aus dem Wiener-wald nicht mehr zu nehmen. 11Spiele, 11 Siege – und nun nocheine Auswärtsfahrt zu den schwä-chelnden Landhauserinnen. Diesemussten sich vor kurzem sogar den»kleinen« Stadtrivalinnen aus Erlaageschlagen geben und scheinen imKampf um den Vizemeistertitelmehr als angezählt. Der ist heuer sospannend wie schon lange nicht –denn auch die traditionell starkenKleinmünchnerinnen haben zumFrühjahrsauftakt Nerven gezeigtund gegen den FC Südburgenlandverloren. Gut möglich, dass die Flo-ridsdorferinnen vielleicht geradedeswegen gegen die Unbezwingba-ren aus dem Wienerwald über sich

hinauswachsen werden …

Adresse: Jochbergengasse 1210 WienTel.: (01) 292 42 71Anreise: U 6 Endst. Floridsdorf,dann weiter mit Strb. 30 und Bus 31A

Wienerliga: Gersthofer SV – PostSV; Sonntag, 15. 4., 10.15 Uhr: DerAufstiegskampf der Wienerliga hatwie erwartet an Dynamik im Ver-gleich zum ohnehin turbulentenHerbst nichts eingebüßt. Zwar sindKaliber wie der FAC quasi aus demRennen – dafür haben sich dieGersthofer mit einem brillantenFrühjahrsstart in Lauerposition ge-bracht. Im Hernalser Bezirksduellmit dem Mitkonkurrenten Post SVkönnte eine Vorentscheidung darü-ber fallen, wer sich noch Hoffnun-

gen auf einen Sprung in die Regio-nalliga machen darf. Vorausgesetztman einigt sich nicht aus lauter Vor-sicht auf ein in solchen Duellennicht eben seltenes Unentschieden– das wiederum mit einem Schlagbeide auf den harten Boden derStadtligarealität zurückholen könn-te. In diesem Sinne: Träumen, flie-gen und schießen!

Adresse: Schumanngasse 10A1170 WienTel.: (01) 485 04 00Anreise: 9, 42A, Schnellbahn Station Hernals (Vorortelinie S 45)

Oberliga B: SC Columbia – FKWhite Star; Samstag, 21. 4., 16 Uhr:Während die Ankerbrötchen in derA forsch Richtung Direktwiederauf-stieg unterwegs sind, spielen die inder B gelandeten Absteiger Liesing

und Essling im Titelrennen keineRolle. Wie schon im Vorjahr bemühtsich hingegen die traditionsreicheColumbia, wieder in höhere Gefildevorzustoßen. Der Vizemeister desVorjahres liegt auch derzeit aufPlatz 2 – in Sprungweite zur Spiel-gemeinschaft Gerasdorf-Stammers-dorf. Das Team um Ex-Sportklub-Keeper Gerhard Taschwer wird abernicht müde werden dürfen, andern-falls man sich ein weiteres Mal dieButter vom Brot nehmen ließe. Aufnach Floridsdorf und nach demMatch ab in die Kantine – wer dortden Namen »Peter Pacult« am öf-testen erwähnt, hat gute Chancenauf ein Freigetränk!

Adresse: Überfuhrstraße 2b,1210 Wien Tel.: (01) 270 85 11Anreise: 33B

Helmut Neundlinger

in Zusammenarbeit mit dem Internetjournal wienerliga.at

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de. Ohne harte Arbeit an sich selbst geht dasaber auch nicht.

Hilft es in solchen Situationen, mit jeman-dem reden zu können?

Wichtig ist, dass man um die Möglichkeitweiß, mit jemandem reden zu können. Ge-nauso entscheidend ist es aber auch, sich da-rauf verlassen zu können, dass man manchmalin Ruhe gelassen wird.

Wie erleben Sie da die Unterstützung beiRapid?

Das läuft eigentlich sehr gut. Ich habe hierimmer das Gefühl gehabt, dass der Verein zumir steht. Es ist wichtig, da eine Sicherheit zuhaben und nicht damit konfrontiert zu sein,dass sich vier, fünf Monate keiner meldet,wenn man verletzt ist. Gerade wenn es ei-

nem nicht gut geht, ist es schön, zu merken,dass man gebraucht wird.

Welchen Stellenwert hat für Sie generelldas Soziale im Fußball? Kommt Ihnen dasviele Geld, das investiert wird, nicht über-trieben vor?

Kein Kommentar.

Sie sind seit kurzem Botschafter der SOS-Kinderdörfer. Was hat Sie dazu motiviert?

Ich habe selbst eine kleine Tochter, die mirsehr wichtig ist. Nicht alle Kinder haben dasGlück, in gesicherten Verhältnissen aufzu-wachsen, und für diese möchte ich mich ein-setzen. Wo man mich gebrauchen kann,möchte ich der Organisation zur Verfügungstehen.

Die Fragen stellte Helmut Neundlinger

Das Match gegen die österrei-chische Literaturmannschaft auf

dem Sportclub-Platz war – zumGlück – abgesagt. Sie haben richtiggelesen. Es hat einen gröberen Wi-ckel in der Fußballmannschaft ge-geben. Und das kam so: Schon amTag nach dem großen Regen inDornbach traten die Kolporteurevon Schwarz-Weiß-Augustin beimGrenzenlos-Hallenturnier an, be-legten dort den beachtenswertenvierten Platz, zwei Spieler haben je-doch ihre Mitspieler grob im Stichgelassen.

Weil es auch bei einem Fußball-Sozial-Projekt Toleranz-Grenzengibt, habe ich unserem Kapitännach dem Turnier mitgeteilt, dasser fortan nicht mehr Kapitän seinkann. Eine harte Entscheidung fürden Betroffenen, eine unabdingba-re für seine Mitspieler und dasTeam.

Mein Problem jetzt: Es drängtsich kein anderer Augustiner alsNachfolger auf. Jeder ist mehr mitsich selbst als mit der Teamentwick-lung beschäftigt, und das möchteich in Kenntnis der prekären Le-benssituationen auch niemandemverübeln.

Wir haben auf Grund der inho-mogenen Gruppe noch ganz ande-re Probleme: Es gibt für die aktuel-le Augustin-Mannschaft kaum eineandere Mannschaft, mit der sie sichkonfliktfrei messen kann. Spielenwir gegen Jüngere oder auch nurein bissl bessere Fußballer, sehenunsere Älteren keine Kugel. Spie-len wir gegen Ältere oder fußball-technische Radlfahrer, werfen dieuns völlig zu Recht vor, dass in unse-ren Reihen auch vier, fünf flinkeJungkicker spielen.

Lösung? Derzeit nicht in Sicht.Weder unsere Old noch unsereYoung Boys bringen alleine eine Elfzusammen. Folge: AnhaltenderFrust bei allen Beteiligten.

Daher gegensteuern, wo es geht.Noch in diesem Frühjahr werdenunsere Oldies (ab 40, der Älteste ist69) an einem Hallenturnier mit derGruft und einer weiteren Caritas-Mannschaft ihr Solo-Debüt geben.Inzwischen überlegen wir auch, imkommenden Jahr beim HomelessCup der Stadt Wien mit dieser Trup-pe anzutreten. Nach vier Turniersie-gen in Folge würde diese Maßnah-me dem Augustin gewiss neue Sym-pathien einbringen. n

C O A C H I N G Z O N EVON UWE MAUCH

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Bildnis mit Zaungast aus der Wirklichkeit

Der Mann und die Menge

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Zwischen der Donaueschin-genstraße und der Hellwag-straße auf der einen sowieder Engerthstraße und der

Nordbahnstraße auf der anderenSeite liegt ein altes Wiener Stadt-viertel, das in einem ausgedehntenPark seinen Mittelpunkt findet. Deralte Name des Bezirks – Zwischen-brücken – leitet sich davon ab, dassdieser Teil Wiens zwischen Donau-brücken und den Brücken über denDonaukanal lag, der ja einst ein Do-nauarm war und bis vor nicht allzulanger Zeit auch für die zivilisations-bringende Frachtschifffahrt genutztwurde. Auf einer verwitterten Tafelan einem alten Bürgerhaus, das heu-te einen katholischen Jugendvereinbeherbergt, lebt der Name Zwi-schenbrücken fort.

Groll war, vom Böhler-Spital umdie Ecke kommend, wo er einemärztlichen Freund ein paar FlaschenGroß-Jedlersdorfer »Titan« vomWeingut Fuchs gebracht hatte, denAllerheiligenpark entlanggerollt undfand den Namen »Zwischenbrü-cken« auch heute noch passend.Entgegen seinen sonstigen Gepflo-genheiten beschied er sich nicht mitder profanen Bedeutung des Wor-tes; er fand Gefallen an dessen me-taphorischer Hülle. Ihm schien die-ser Teil des zwanzigsten Wiener Ge-meindebezirks nicht nur eine zwi-schen Brücken liegende Oase zusein, sondern eine Wirklichkeit ge-wordene Zwischenwelt – zwischenNeuer und Alter Welt, Orient undOkzident, dem sturmumtostenPoysdorf im ruhigen Weinviertel

und dem ruhigen Neckenmarkt imstürmischen Mittelburgenland. We-sentlichen Anteil an der Zwischen-welt-Theorie des Allerheiligenplat-zes hatte für Groll der weitläufigeund mit Buschwerk, allerlei Nieder-holz und lichten Laubbäumen lo-cker und großzügig bepflanzte Park.Die breiten und ausgetretenenAsphaltwege mit ihren robustenHolzbänken, deren gußeiserne Leh-nen vom steten Gebrauch in derSonne glänzten, fügten das ihre zumfreundlichen Bild hinzu. Aber eswar das vielfältige und bunte Lebenim Park, das Groll so ungewöhnlicherfreulich für Wien erschien – diegroße Zahl alter Menschen, dieFrauen mit Kopftuch, die Männermit Hüten, die ruhig und stetig vonder alten Heimat an der Schwarz-meerküste oder an der Drina, vomSchulabschluss des Enkels oder vonder drohenden Arbeitslosigkeit desSohnes sprachen und die Tollheitender quicklebendigen Kinder, derenFußbälle, Skateboards und Fahrrä-der geduldig ertrugen und höchs-tens mit einer sparsamen Bewegungdes Arms abwehrten.

Es war die Vielfalt an Leben in-mitten städtischen Grüns, das Grollan die Parks von New York erinner-te. Nicht an den Central Park dach-te er dabei – der war ihm im Südenzu gebirgig und im Norden zu sa-vannenhaft – sondern an die vielenParks am East River, zwischen Wil-liamsboro- und Brooklyn-Bridge, wodie Einwanderer aus Latein- undMittelamerika im Schatten fünfzig-stöckiger kommunaler WohnblocksSiesta halten, grillen und Feste fei-ern. Parks voller Leben, mit flirren-dem Licht zwischen schmalen Blät-tern an schlanken Bäumen undüberwältigendem Blick auf dieBrooklyn-Bridge, die hoch oben voneiner Parallelwelt kündet, die denMenschen im Park fremd ist, aberhingenommen wird wie der Stra-ßenlärm des nahen Highways.

Auch am Allerheiligenplatz gibtes eine derartige Parallelwelt in denSphären: der Milleniumstower mitseinen 200 Metern überragt mehre-re Viertel von Gemeindebauten,Zinshäusern und kleinen Gewerbe-

betrieben. Ursprünglich waren demTurm nur 140 Meter Höhe zuge-standen worden, dass er gleich sech-zig Meter höher wurde als geplant,rechnete Groll zu den städtischenWundern und war für jeden zusätz-lichen Meter dankbar, denn derTurm dient den Menschen zur Ori-entierung und gibt ihnen die Ge-wissheit, in einer Weltstadt undnicht in einer tristen Anhäufungvon uniformen Straßenzügen zu leben.

In einem Fahrradgeschäft in derNähe des Parks hatte Groll für sei-nen Rollstuhl einen Großeinkauf ge-tätigt: fünf Ventilkappen um zweiEuro fünfzig. Der Verkäufer behan-delte Groll entgegenkommend underwies sich beim Aufschrauben derVentilkappen als Meister seinesFachs. Erst nachdem er jede Kappemit einem strengen Blick geprüfthatte, setzte er sie mit einer ruhigenund einzig richtigen Bewegung aufden Ventilschaft und drehte die Kap-pe mit zwei Fingern solange, bis siefest – aber nicht zu fest! – saß. Auchdie Qualität der Dienstleistung erin-nerte Groll an New York. Als er sichbeim Verkäufer nach einer Bankfilia-le erkundigte, antwortete der mitgroßer Selbstverständlichkeit: »ImTurm«. Das solitäre Bauwerk warvon den Menschen also längst in ih-ren Alltag integriert worden, »derTurm« war eine knappe Ortsbe-zeichnung wie der »Wirt am Eck«oder der »Greißler« in der Seiten-straße.

Langsam umrundete Groll den Al-lerheiligenplatz, immer wiederblieb er stehen und erfreute sich amAnblick des Parks und dem überra-genden Turm. Schließlich war ervom Schauen so hungrig geworden,dass er den verlockenden Düften ei-ner türkischen Bäckerei nicht wi-derstehen konnte und knusprigesWeißbrot, ein paar Stück Baklava,einen Batzen Schafskäse und eineDose Oliven für eine Jause im Parkkaufte.

Erwin Riess

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 VORSTADT24

Groll erfreute sich an der Vielfalt des städtischen Lebens

WIENERAUSFAHRTEN

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Wien 20.Allerheiligenplatz

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Darf ruhig Orange sein

Lösung Nr. 199:LEIDENSDRUCK

Die Gewinnerin:Franz KARNER,2103 LANGENZERSDORF

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SENKRECHT: 1. Bedrohungen der natürlichen Umwelt 2. schifahrerisch ge-sehen gehören die österreichischen Madln und Buam zu ihr 3. bluten inEngland 4. you have to do your job to ... your money 5. Lederhosen sindsuper, aber nur anfangs 6. rundes Dorf mit zentralem Viehgehege (K=C)7. Deliha ist silbenmäßig durcheinander 8. sie nach Athen tragen ist über-flüssige Arbeit 9. das ist das Ende vom Trip 10. geht nichts mehr, heißts,er ist aus - hier himmelwärts 11. Knochen und Maß 12. gekürzter Funkmast13. Vorderteil einer Eselin 17. zur Fieberblase sagt die Ärztin das 19. Mamiruft Timmi 21. Gekürztes und Gestutztes 22. alle Waren im Laden, die sindzu haben 28. das übliche Programm und die immer gleichen Sprüche brin-gen 29. nicht der Sarg, selber Zweck 30. this stone means einen Pfirsich-kern 31. absolute Ballett-Spitzen-Frau 33. aus Haut und Knochen für Pan-na Cotta 34. Generalsekretär Annan hat sie verlassen 36. Ausverkaufsan-sturm 37. sang die Proletenpassion und wurde vulgo dieser Kurti 38. Be-dienung! der Ruf erfolgt im pub und nicht im Beisl 39. Kosmetiköl, quasiadelig 42. bin verwirrt 43. Ehemann, zumindest meistens, einer Irin 47. ein solches Supperl ist ein sämiges 48. steirische Feuer brennen in die-ser Nacht 50. ist in den Kapresen zu finden 51. um den heißen herumre-den 52. Informationsabend, ungewöhnlich kurz 57. Folienmetall 59. Zei-chen für Curie

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07KREUZ & QUER 25

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 27

Nachdem vor gut zwei Monaten das EnsembleTheater das Werner-Schwab-Stück »Mesalli-ance – aber wir ficken uns prächtig« auf dem

Spielplan hatte, zeigt nun eine andere kleine Büh-ne den letzten Schwank von Schwab. Die 14 kur-zen, aber sprachlich stark dosierten Szenen mitdem Titel »Antiklimax« konnte Werner Schwabnicht mehr vollständig ausarbeiten, er starb amNeujahrstag 1994 im Alter von 35 Jahren.

Noch kurz zur Mesalliance-Inszenierung: DieseAufführung konnte den TheaterskeptikerInnen denWind aus den Segeln nehmen, denn sie schaffte es,die radebrechende und hochartifizielle SpracheSchwabs zu transportieren. Mit anderen Wortendie Impulsivität des Textes, die hauptsächlich durchvöllig abgefahrene Wortneuschöpfungen und Wort-gruppenkompositionen besticht, konnte auf dieBühne gerettet werden – gelingt dies nicht, verlie-ren die LeserInnen naturgemäß die Lust aufs Thea-terstückeschauen.

Stand bei »Mesalliance« noch das Kopulieren imVordergrund, so ist es bei »Antiklimax« zunächstdas männliche Masturbieren: »Gut, dass ich denniedergebildeten Damenfotzen der ausgezogenenHefte angehören darf und keine eigenkindliche Ma-riedl zueitern muss«, bramarbasiert der Bruder derProtagonistin. Mariedls Vater hingegen schreitet,nachdem er über Glück und Unglück philosophierthat, zur Tat und vergewaltigt vor den Augen desSohnes dessen Schwester. Mariedls Todessehnsucht– »Der Tod ist die Schönheit im Schönen« – weichtallmählich dem Zynismus, der die Vorhut zum ulti-mativen Befreiungsschlag aus dem autoritären Kom-plex aus Familie, Kirche und Staat bildet.

Evelyn Fuchs lässt in ihrer Regie nur die Mariedlzellkulturell, und zwar von Eva Maria Neubauer,spielen, die schaurigen Gestalten, die über Mariedlphysisch oder psychisch herfallen, werden überle-bensgroße Puppen sein. Mit dieser Inszenierungsollte die Theaterskepsis erneut mit dem Goscherlauf den Boden krachen.

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Starke Dosis Sprachmaterial im KosmosTheater

ORGIEN-MYSTERIEN-BODENKRACHER

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AntiklimaxPremiere am 12. April um 20.30 UhrWeitere Aufführungen:Mi.–Sa., bis inkl. 28. April, 20.30 UhrEintritt: € 15,–/13,– (ermäßigt)KosmosTheater Siebensterngasse 421070 Wienwww.kosmostheater.at

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Schwabs letzterSchwank als Ein-Frauen-Stück in-szeniert

NIFTY’S»Takeshi Express«(Extraplatte)http://niftys.klingt.org

Um Klezmer zuspielen, sind jid-dische Wurzelnkeine Vorausset-zung. Fabian Pol-lak beispielsweisewar die klassischeJazzgitarre ein-fach zu sauber und zu fad. Er wollteseinen eigenen Weg. Beeinflusstschon als Kind durch zwei Klezmer-Platten des Vaters, eine ominöseKleinanzeige und das Zusammen-treffen mit dem Gitarristen MichaelBruckner formten diesen Weg na-mens Nifty’s. Zu den beiden Gitarrengesellten sich noch ein Bass (ThomasBerghammer), ein Schlagzeug (Ma-thias Koch) und natürlich die omni-präsente Trompete (Thomas Berg-hammer). Der Bandname geht übri-gens auf den Klarinettisten undselbsternannten »King of JewishMusic« Naftule Brandwein zurück.Als Quintett Formation gibt es Klez-mer gepanscht mit Ost-Folklore undImpro-Klängen – Unza Unza UnzaKling Klong – auf Turbo. Das gehtnaturgemäß in die Beine. Ein Mussfür alle TanzbärInnen. Unza UnzaUnza …!

NIM SOFYAN»Divane«(Extraplatte)www.nimsofyan.com

Auch ein be-kennenderWorld-Music-Ver-weigerer kannsich nicht so ein-igeln, ohne dieKreise von AlpBoras Nim Sofyanzu streifen. World-Music-Hype hinoder her. Nicht jeder in Tracht ge-hüllte Trommler macht »wöd Mu-sik«. Andererseits ist auch nicht jedeunter Weltmusik gelagerte Musik-konserve von vornherein eine Mo-detrendverirrung. Bei der Band NimSofyan mischen sich der Balkan mitdem Vorderen Orient, aber auch mitJazzelementen genauso wie Ankaramit Portugal und dem Waldviertel.Diese lyrische Mischung vermag zuverführen, unabhängig von Trendsund über Gernegrenzen hinaus. So-gar Musikkritik und Publikum wa-ren sich einmal einig, so geschehen2004, wo Nim Sofyan sowohl beiFachjury als auch bei der Zuhörer-schaft voll punkten konnten undden Österreichischen World MusicPreis« einheimsten. Nach »Tuna«und »Düm Tek« ist »Divane« die ak-tuelle Veredelung südöstlicher Tra-ditionals.

(LaMa)

A U F G ’ L E G T

Die Gesprächsreihe in der Kunsthalle Wien(Museumsqartier, Halle 1) im Rahmen derAusstellung »Die Toten. Hans-Peter Feld-

mann. RAF, APO, Baader-Meinhof« endet am Mon-tag, 23. April mit Reinhard Pitsch. Der Wiener

Philosoph war 1977 an der Palmers-Entführung inWien zur Finanzierung der RAF beteiligt. Heuer er-scheint sein Buch »Palmers. Das üble Komman-do.« Das Gespräch mit Pitsch, das um 19 Uhr be-ginnt, wird von Peter Huemer moderiert.

Letztes Gespräch zu RAF und Co. in der Kunsthalle

PITSCH ODER PALMERS

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»Wir haben sofort dasWort ›Heimat‹ ge-killt«, gesteht Hilde

Fuchs, die gemeinsam mit der ande-ren Worttöterin und HistorikerinAnnemarie Täubling für die Neuge-staltung des ehemaligen Heimatmu-seums verantwortlich ist. Als eineder ersten Aufgaben hatten sie denStaub der alten Schau abzuwischen.Vorher waren nämlich größtenteilsältere Herren, die ideologisch mitbeiden Füßen fest im heimatlichenBoden verankert sind, für das Muse-um verantwortlich. Dass im Zugeder Neugestaltung auch noch histo-risch wertvolle Exponate, allen vo-ran das in Österreich wohl am bes-ten erhaltene Renaissanceportal ge-zeigt werden können, ist den Ge-meindearbeitern zu verdanken. Die-se hatten von den ehemaligen Muse-umsbetreibern den Auftrag, einenTeil der Sammlung auf den Müll zuwerfen, doch ihr Wissen und Gespürveranlasste sie, den Auftrag nichtvorschriftsmäßig auszuführen, son-

dern vieles zur Rettung zur Seite zulegen – darunter auch das Portal ausdem Ende des 16. Jahrhunderts.»Die meisten Objekte der Sammlungheben sich nicht von anderen Hei-matmuseen ab, die findet man land-auf, landab«, ist sich Hilde Fuchs be-wusst, also lautete die Herausforde-rung, »das Ganze in ein neues Blick-feld zu bringen«.

Theatrale Rauminszenierung

Der Ausdruck Blickfeld ist bei derAbsolventin der Modeschule Het-zendorf und akademisch ausgebilde-ten Künstlerin Hilde Fuchs wörtlichzu nehmen. Sie brachte für diese Ar-beit keine Erfahrung in puncto Aus-stellungsgestaltung, aber sehr vielErfahrung in den Bereichen Bühnen-bild und Rauminstallation mit, wasnoch in der letzten Ecke der 700Quadratmeter großen Ausstellungs-fläche zu spüren ist. »Es war mirwichtig, die Objekte der Alltagskul-

tur mit einer ästhetischen Bildspra-che zu vermitteln«, meint die Künst-lerin, die das Museum mit vielenvergrößerten Bildern und Fotos aus-stattete. Das Stöbern in Archivenoder bei Privatpersonen nach pas-sendem Bildmaterial war für sie diesprichwörtliche Suche nach der Na-del im Heuhaufen, doch diese Mühesollte sich lohnen: »Ich wollte großeBilder zeigen, denn das ist nichts an-deres als die in unserer Zeit gewohn-te Sicht und Handhabung von Wer-beplakaten.« Die ursprünglich oftbloß wenige Zentimeter großen Fo-tos und Karten wurden teilweise aufganze Wände kaschiert, aber ohnedabei aufdringlich zu wirken. Aufdiese Weise kann den BesucherIn-nen das Themengebiet, in dem siesich gerade befinden, direkt vermit-telt werden. Zugunsten des Raum-volumens war es auch noch nötig,das in den letzten 200 Jahren als Ge-treidespeicher genützte Stockwerkwieder von den später eingezogenenTrennwänden zu befreien. Der Ein-

gangsbereich linker Hand ist demLeben an beziehungsweise mit derDonau gewidmet: »Für Orth ist dasWasser der Schwerpunkt – mit allenseinen Vor- und Nachteilen.« Rech-ter Hand befindet sich die Kinder-ecke. Eine Kohärenz zwischen Do-nau respektive Natur und Bastel-und Workshopecke besteht in derGestaltung der Sitzmöbel für dieKids. Es sind, »zum Dinge verste-cken«, ausgehöhlte Baumstammho-cker mit abnehmbaren poppig-do-naublauen Sitzpölstern – die Kunst-geschichte wird diese Hocker ein-mal als Beginn des ruralen Popde-sign verzeichnen können.

Die Geschichte mit MP3-Playerbrechen

Das poppige Blau mäandert wie einroter Faden durch die Ausstellungs-räume, die sich horizontal über dreiEcktürme erstrecken. Angefangenvon den Hockern über die Begleit-

Das »museumORTH« – ein Knotenpunkt (historischer) Alltagskultur und zeitgenössischer Bildsprache

Heimatmuseum remixed

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Die 2000-Seelen-Marktge-meinde Orth an der Donauliegt nur einen Fahrrad-ausflug von Wien entfernt.Nach wie vor kann man hart-näckige Gerüchte, dass Orthaufgrund der Nähe zum ehe-maligen so genannten »Ost-block« im »Niemandsland«liege oder verschlafen sei, hö-ren. Der Augustin nahm eineEinladung in das neu gestal-tete Museum im Renaissance-schloss Orth an, um ein dortanzutreffendes progressivesDenken zu belegen. Darüberhinaus empfiehlt der Augus-tin gerade jenen Menschen,die Heimatmuseen ums Verre-cken nicht ausstehen können,das »museumORTH« zu besu-chen, aber nicht im Sinne ei-ner Schocktherapie, sondernim Sinne einer Erweiterungdes ästhetischen Horizontes. Werbeplakatformate im Museum: der Lebens- und Wirtschaftsraum Donau auf Wandgröße verkleinert. In den Ecken

riesige Fotoalben in genauer Proportion zur Raumgröße, und im Rückraum lauert ein Hirschrudel

ART.IST.IN

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texte zu den Schaustücken, die aufhandtellergroße blaue Buttons – fürHilde Fuchs ist der Button ein »Zeit-ausdruck« – gedruckt sind, bis hinzum Foto der Annie Rosar (1888–1963) im blauen Kleid bei der Bam-biverleihung. Diese Schauspielerin,die vor allem an der Seite Hans Mo-sers zu sehen war, ist die wohl be-kannteste Ortherin und muss sichden hintersten Raum mit dem inOrth beinahe unbekannten, aber inder internationalen Fachwelt aner-kannten Neutöner und Pionier derElektroakustik Karl Schiske (1916–1969) teilen. Seine Kompositionengelten als eher schwer verdaulich,doch mit dem Appetizer »iPod« lässter sich gerade bei den Jüngeren ver-mitteln: »Die moderne Hörstationist ein bewusst gesetzter Bruch zuden Geschichtsrelikten, was bei denJugendlichen bestens funktioniert.Sie stürzen sich auf die MP3-Playerund ziehen sich Schiske rein.«

Katze und Hirschrudel

Annemarie Täubling ist für die wis-senschaftliche Aufarbeitung zustän-dig und spielte vor zwanzig Jahrenmit Hilde Fuchs in der Ortstheater-gruppe. Die Historikerin lässt amEnde der exklusiven Führung fürden Augustin die Katze aus demSack: »Bei der Vermittlung von Mu-seen ist es einfach wichtig, Theater

zu spielen.« Und dass im »muse-umORTH« auch experimentellesTheater auf dem Programm steht,zeigt die Rauminstallation »Hirsch-rudel«: »Ich habe mir die Freiheitgenommen, Hirschgeweihe, die nor-malerweise als Trophäen an derWand hängen, auf stehende Baum-

stämme zu montieren und diese wiedie Bäume im Wald zu gruppieren.So kann man sich den Hirschen Augin Aug nähern«, erklärt die Künstle-rin Hilde Fuchs (!).

Reinhold Schachner

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07ART.IST.IN 29

Das museumORTH im Schloss Orth ander Donau ist bis Ende Oktober sams-, sonn- und feiertags von 12 bis18 Uhr (im Oktober bis 17 Uhr) geöff-net. Gegen Voranmeldung (ab 5 Per-sonen) werden außerhalb der regulä-ren Öffnungszeiten Führungen ange-boten.Eintritt: € 4,50 für Erwachsene, € 2,–für Kinder und Jugendliche (6–19 J.);es gibt auch Familien- und Gruppenra-battFührungen kosten zusätzlich € 2,–pro PersonVon Wien aus öffentlich mit dem Busvon Kagran/U1 oder mit dem Fahrradden Donauradweg entlang.

Radiohinweis: Radio Augustin sendetam Montag, dem 16. April, zwischen15 und 16 Uhr auf Orange 94,0 einenHörgang durch das museumORTH.

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Karl Schiske posiert für drei MP3-Player und drei Köpfhörer wie ein Komponist

Voilà, das Hirschrudel – wie ein Bühnenbild aus einem experimentellen Theaterstück

EROTIKHOTLINE

0930 128 777

(39 cent/min)

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Die Schlurfs und Schlurf-katzen seien die Urah-nInnen aller oppositio-nellen Subkulturen ge-

wesen, behauptet der RegisseurWolfgang Beyer, der mit Monica La-durner und Katja Schröckensteinden ersten österreichischen Filmüber diese aufmüpfige Randgruppevon Jugendlichen und ihre Verfol-gung durch das Nazi-Regime gedrehthat. Das Phänomen Schlurf war kei-ne Wiener Ausnahmeerscheinung.In Berlin und Hamburg hießen sie»Swings«, in Paris »Zazous« und in

Prag »Potapki«. Sie hörten Jazz,tanzten zu Swing und hatten ein Fai-ble für auffällige Kleidung und Ac-cessoires. So trug Schlurf und jetzi-ge Radiolegende Günther Schifterstets einen Regenschirm mit sich –natürlich nie aufgespannt, auchnicht bei Regen, wie er in der Doku-mentation erzählt. Oder die »Za-zous«, die nach verordneten Stoff-sparmaßnahmen des Regimes erstrecht übermäßig große und viele Ta-schen auf ihre karierten Sakkos näh-ten.

Diese lokalen Subkulturen warennicht politisch gegen die Nazis aktiv,doch sie rebellierten im ästheti-schen Sinne. Sie weigerten sich,ihre Affinität zur aufkommenden an-gelsächsischen Popkultur zugunstender braunen Linie, also HJ-Uniform,kurz geschorene Haare und Marsch-musik, aufzugeben. Erst ihre Fixie-rung auf ästhetische Individualitätmachte sie politisch und somit fürdie Nazis zum roten Tuch: Ihr Le-

bensstil wurde kriminalisiert undSwing zum »rhythmischen Rausch-gift im Rassenkampf« degradiert.Hörte man amerikanischen Jazz,drohte das Arbeitslager oder gar dasKZ.

Bis heute werden in ÖsterreichSchlurfs nicht als Opfer des NS-Re-gimes anerkannt, und nach wie vorkursiert dieser Ausdruck alsSchimpfwort, was die Arbeit zumFilm erschwert hat: »Bei den so ge-nannten Schlurfkatzen, den weibli-chen Pendants der Schlurfs, wirktdiese Diskriminierung noch stärkernach. Ich vermute, es liegt daran,dass die Nazis geschickt die behaup-tete Nähe zur Prostitution ausge-nützt haben«, so Wolfgang Beyer. Inder Zwischenkriegszeit wurdennämlich auch Zuhälter mit dem Aus-druck Schlurf bedacht, also ein ge-fundenes Fressen für die Nazis, umJazz hörende Frauen, die zudemnoch ihr Haar lang und gelockt tru-gen und bei der Rocklänge zur kür-

zeren Variante gegriffen haben, alsProstituierte zu stigmatisieren: »Wirwaren im Gespräch mit einerSchlurfkatz, die dann doch nicht indie Öffentlichkeit treten wollte. Jetzthaben wir die Spur zu einer ande-ren, die in der geplanten Kinoversi-on vorkommen soll.«

Der Schlurffilm ist somit nicht ab-geschlossen, denn die Recherchear-beiten, mit denen Katja Schröcken-stein vor zirka drei Jahren begonnenhat, brachten viel Material und nochlängst nicht abgearbeitete Aspektewie die »Goldsteiner-Akten mit Ne-benprozessen« hervor, was für denRegisseur und seine beiden Kolle-ginnen noch nicht abgeschlossensein kann. Sie befragten für denFilm den Enkelsohn von Anna Gold-steiner, der sich seit Jahren erfolglosum eine Rehabilitierung seinerGroßmutter bemüht, denn »nie-mand möchte sich an sie erinnern«.Anna Goldsteiner wurde wegen»Vorbereitung zum Hochverrat und

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 ART.IST.IN30Über Schlurfkatzen, Zazous, Swings und Potapki

Lust am Widerstand

Mit dem Film »Schlurf – ImSwing gegen den Gleich-schritt« wird nur einer nacht-aktiven – Sendetermin 23Uhr! – Öffentlichkeit die Ge-legenheit geboten, sich zuden Wurzeln derHalbstarken, Hippies oderPunks zu begeben. DerAugustin sprach mit dem Re-gisseur Wolfgang Beyer überhistorische Schlurfs und sei-ne zeitgenössische Interpre-tation dieser Thematik.

Aufnahme eines Drehmoments – Christian Qualtinger mimt, unter Beobachtung der Filmcrew, den prototypischenSchlurf und singt Spottlieder auf die Nazis

»Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,zuerst geht der Hitler, und dann die Partei.Es geht alles vorüber, die HJ wird vergeh´n,doch der Schlurf, der wird immer und ewigbesteh’n!«

Spottlied der Schlurfs

»Schlurf – Im Swing gegen denGleichschritt« (A, 2006/2007; 70 min)Am 15. April um 23 Uhr in ORF 2

Der ORF sendet diese Semi-Doku-mentation über eine historischeSubkultur natürlich zu einem ganzmiesen Termin, denn die Führungvom Küniglberg muss sich wohltreu bleiben. Der Augustin möchtean dieser Stelle natürlich keineWerbung für den ORF, sondern bloßfür diesen Film machen, denn dieöffentlich-rechtliche Anstalt wei-gert sich trotz politisch motivier-tem Wechsel in der Generaldirekti-on nach wie vor, die wichtigen Do-kumentationen wie »Artikel 7 – Un-ser Recht« über die slowenischeMinderheit in Kärnten oder »Tagfür Tag ein Boulevardstück« überdie Kronen Zeitung auszustrahlen.

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Wehrkraftzersetzung zum Tode ver-urteilt«, so steht es im Urteil desOberlandesgerichtes Wien vom 28.September 1944 geschrieben. Siehatte das »Verbrechen« verübt, inPulkau Schlurfs, die angeblich »diegewaltsame Lostrennung der Alpen-und Donaureichsgaue vom Groß-deutschen Reich« bezweckten, ihreWohnung für die konspirativen Tref-fen zur Verfügung zu stellen.

Herzogenburg – Wien – Hamburg

Wie viele Schlurfs es gegeben hat,lässt sich nicht mehr eruieren, da esnicht einmal einen Ansatz einer Or-ganisation gegeben hätte, so Beyer,und er nennt als Beispiel den Herzo-genburger Schlurf Emil Kickinger,der ihm ein Interview gab: »Kickin-ger wusste von den Wiener Schlurfsüberhaupt nichts. Er hatte bloß dieVermutung, dass die Spottliederüber die Nazis aus Wien kamen.«Einzig die Hamburger Swing-Szenesei stärker aufgearbeitet. Dort gebees Menschen, die bewusster dazustünden und beispielsweise in Schu-len darüber sprächen. Die Hanse-stadt betreffend gingen die Schät-zungen in die Tausende, so der Re-gisseur. Stichwort Hamburg und

Film. 1993 kam die amerikanischeProduktion »Swing Kids« in die Ki-nos. Der Filmfachmann über diesenStreifen: »Dieser Film behandelt dieHamburger, also die vitalste undstärkste Swing-Szene. Die Recher-chen basieren auf damals noch le-benden Hamburger Swings. Ich fin-de diesen Film nicht grundsätzlichschlecht, nur hat er den üblichenHollywood-Touch, also verstärkteKonflikte und die spezielle Art,Lovestorys zu erzählen, was ein we-nig traumfabrikmäßig ist. In derHamburger Swing-Szene ist dieseProduktion eher auf Ablehnung ge-stoßen.«

Opulenz statt Trash

»Schlurf – Im Swing gegen denGleichschritt« von Monica Ladur-ner, Katja Schröckenstein und ebenWolfgang Beyer ist vieles, nur keineDokumentation im klassischen Sin-ne. Den Hintergedanken zu dieserformalen Mischform, die zum Fea-ture neigt, schildert Wolfgang Bey-er: »Wir wollten nicht den 397stenGram-und-Elend-Film unter dem Ti-tel 'So schlimm war das 3. Reich'machen. Natürlich wollten wir dieVerfolgungen zeigen und auf die KZhinweisen, aber vordergründig soll-

te der Spaß am Widerstand trans-portiert werden.«

Den Kern bildet historisches Ma-terial, das im direkten Zusammen-hang mit dem Thema Jazz steht,und noch lebende ZeitzeugInnen –die bekannteren wären der bereitserwähnte Günther Schifter und derdeutsche Jazz-Gitarrist Coco Schuh-mann. Das Historische wird mit ak-tuellen und auch scharfen Kommen-taren ergänzt. Damit der Blickwin-kel von der Gegenwart aus nochverstärkt wird, bedient sich dieserFilm eines Kniffs. So wurden dieLivemusikpassagen nicht mit altvä-terischen Swingmusikern besetzt,sondern mit der erst seit wenigenJahren bestehenden Formation »Fa-tima Spar & die Freedom Fries«. DieSängerin Fatima Spar und ihre Mu-siker arrangierten teilweise Schlurf-klassiker wie den »Tiger Rag« neu,spielen aber auch Swingnummern,die zur Gänze aus der eigenen Fe-der stammen. Die Tanz- und Musik-szenen wurden bewusst opulent in-szeniert: »Ich wollte keine trashigeÄsthetik – das wäre mir zu billig ge-wesen.« In diesem Zuge erinnertWolfgang Beyer daran, dass dieTanzlokale in Berlin »Paläste, glit-zernde Kristalltempel« waren. Indiesem Punkt unterschied sich aberdie deutsche von der österrei-

chischen Szene. Die Swings gehör-ten dem bürgerlichen Milieu an,hingegen waren die Schlurfs undSchlurfkatzen ProletarierInnen.»Wenn man es sich leisten konnte,war es nicht schwierig, an Jazzplat-ten zu kommen. Erst als der Roh-stoff (während des 2. Weltkriegs,Anm.) immer knapper wurde, gabes Tauschaktionen, wo man für einpaar alte eine neue erhalten konnte.Bei diesen eingetauschten warennatürlich viele Jazzplatten dabei, dadiese aus Angst, wie man auch jüdi-sche Literatur weggeschmissen hat,abgegeben worden sind«, so der Fil-memacher.

Ein paar Händler rückten dieseunter dem Ladentisch wieder he-raus, oder man nahm den direktenWeg zu den Nazis, um zum schwar-zen Gold zu gelangen, wie GüntherSchifter im Film erzählt. Er ging mitFreunden zur Ausstellung »Entarte-te Kunst«, wo natürlich Schellacksmit »Niggermusik« vorgespielt wur-den. Ganz klassisch verwickelte einSchlurf den Nazi-DJ in ein Ge-spräch, während die übrigen dieTonträger austauschten und sich mitdem »rhythmischen Rauschgift« aufleisen Plateausohlen, ein Marken-zeichen der Schlurfs, aus dem Staubmachten.

Reinhold Schachner

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Fatima Spar fördert »swingvoll« die Lust am tanzenden Widerstand

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Ein frischer Wind in der Di-rektion der Wienbibliothekim Rathaus sorgt für extra-vagante Initiativen, um den

Friedhof der Nachlässe, die auf derStiege 4 des Rathauses lange Zeiteher vor der Öffenlichkeit »ge-schützt« als dieser zugänglich ge-macht wurden, in einen Zirkus zuverwandeln. Im konkreten Fall derSecreta-Sammlung holte sich die Bi-bliotheksverwaltung auch Anregun-gen von außen. Gemeinsam mitdem Kooperationspartner »Aktions-radius Wien« wurde eine nicht all-tägliche Form der Nachlass-Bele-bung gefunden – Telefonsex ausStiege 4. Durch Weiterdrücken derTasten 0 bis 9 kommt der Anrufer,die Anruferin zu ausgewählten Tex-ten aus der Sammlung, gelesen vonder Schauspielerin Anne Bennent,oder zu Gstanzln und Vierzeilernaus den so genannten »Spittelberg-liedern«, gesungen von Stephan Paryla.

Die Secreta-Sammlung setzt sichim Wesentlichen aus Teilen zweierHinterlassenschaften zusammen:

aus dem viele Erotica enthaltendenNachlass des Wiener KaffeesiedersEduard Nikola, der im Jahr 1905starb, und aus dem Nachlass von Fe-lix Batsy, der bis 1952 lebte. ImRahmen einer Arbeit zur 150-jähri-gen Geschichte der Wienbibliothekhat Andreas Brunner die Spurendieses fanatischen Sammlers, der inden 20er Jahren Bezirkshauptmannin Niederösterreich war, zurückver-folgt.

Die erotisch-pornografische Spe-zialsammlung sei ein ideales Fallbei-spiel für die reichen und vielfälti-gen Bestände an Quellenmaterial,welche die Wienbibliothek zu bie-ten hat. Dr. Felix Batsy wurde 1877in Wien als Sohn eines Arztes gebo-ren. Bis 1930 war er Bezirkshaupt-mann von Wiener Neustadt. Was erzwischen 1930 und 1938 tat, konn-te nicht eruiert werden. 1939 wur-de Batsy erstmals als »wirklicherHofrat i. R.« geführt. Obwohl er be-reits 1952 starb, kam der Nachlasserst im Jahr 1979 in die Bibliothek.In diesem Jahr starb die Frau desHofrats – und dem letzten Willenihres Mannes entsprechend fiel denstädtischen Sammlungen Batsys um-

fangreiche Bibliothek zu: ca. 3000Bände, die neben allgemeiner, juri-discher und Wiener Literatur einegewaltige Erotica-Sammlung ent-hielt.

Holprige Männerphantasien

Spätestens mit der Rückübersied-lung nach Wien hatte Batsy, so An-dreas Brunner, »seine fast als fana-tisch zu bezeichnende penible Sam-melleidenschaft« entwickelt. DieSammlung enthält zahlreiche sexu-al- und pseudosexualwissenschaftli-che Werke aus den ersten Jahrzehn-ten des 20. Jahrhunderts und porno-grafische Titel, die oft nur als Privat-drucke in Umlauf kamen. Eine zweiKartons umfassende Sammlung vonVerlagsprospekten ermögliche,schrieb Andreas Brunner, einen Ein-blick in die Lieferbedingungen und-wege für erotische Literatur.

Aus dem Werbematerial von Por-nobild-Verlagen – ein Zentimetergroße Miniaturen – bastelte Batsyeigene kleine Alben, die wohl nurmit der Lupe entsprechenden Ge-nuss versprachen. Brunner: »Mit-

unter recht blumige Titel tragen dieSerien erotischer und pornografi-scher Fotografien, die sich in BatsysVerzeichnis finden. ›Neue Studien‹nannte er eine Sammlung von 14erotischen Ansichtskarten, die heu-te als Kinderpornografie gelten wür-den, ›Die Liebe‹ betitelte er zweiAlben mit je 20 erotischen An-sichtskarten, die Paare beim Oral-bzw. Genitalverkehr zeigen, ›Irrgar-ten der Erotik‹ fiel ihm zu den vonihm präferierten Alben mit sadoma-sochistischen Szenen (Disziplin,Peitsche, Bondage) ein, oder ›Ge-fahr um Siebzehn‹ zu zwölf Fotosmit lesbischen Szenen.«

Penibel sammelte Batsy auch Zei-tungsberichte rund um das ThemaSexualität, mit Vorliebe über Fällesexueller Devianz. Ein Kuriosumder besonderen Art, so AdreasBrunner, stellen aber die erotischenGedichtzyklen und Geschichten dar,die Felix Batsy unter dem anagram-matischen Pseudonym Bixy Taelfszum Teil als nummerierte Privatdru-cke herstellen ließ. Ein 24-seitigesBändchen enthält Sonette, in denenes um den Verlust der Jungfern-schaft, die Unterwürfigkeit der Frau

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 ART.IST.IN32Mit der Erotik-Hotline entstaubt Wienbibliothek ihre Secreta-Sammlung

Der pornosüchtige Hofrat0930 128 777 – Sie wunder-ten sich über die ungewöhnli-chen Telefonsexinserate indiesem Blatt? Doch Sie sindbereits im Bilde, weil Sie dieNummer natürlich sofort ge-wählt haben? Waren Sie ent-täuscht, dass Sie von einererotischen Männerstimmemit den Worten »Sie befindensich virtuell in der Secreta-Sammlung der Wienbib-liothek im Rathaus« begrüßtwurden?

Donnerstag, 19. 4.Fest in der WienbibliothekVorstellung von Erotik-Hotline undSecreta-SammlungLive: Stephan Paryla, »Hur & Moll«Anschl. Brot und WeinOrt: LesesaalRathaus, Stiege 4, 1. StockEintritt frei

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»Girls 1926«, Foto aus: Franz Blei, Formen der Liebe, Berlin/Wien, Trianon Verlag 1930

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und den besitzenden, zügellosenMann geht. »Neben diesen teilwei-se holprigen, hochtrabenden lyri-schen Männerfantasien und nichterotischen Jugendgedichten«,schreibt Brunner, »war Batsy auchder Schöpfer eines Blankversdramasmit dem Titel ›Vercingetorix‹. Sein›bedeutendstes‹ Werk veröffentlich-te er als Privatdruck unter dem Na-men eines anderen Dichters: Johann Heinrich Voß.«

Homer-Übersetzer Voß hatte mitseinem in Hexametern abgefasstenGedichtzyklus »Luise« die Gattungder Idylle revolutioniert, indem errealistische Geschichten mit aufklä-rerischem Impetus erzählte. Inhaltin Kürze: die Brautwerbung Luisesdurch Walter und die abschließendeHochzeit der beiden. Das Voß’scheWerk endet damit, dass sich dasPaar nach den Feierlichkeiten zurHochzeitsnacht zurückzieht. Hiersetzte Felix Batsy an und erzähltenun seinerseits, was in der Hoch-zeitsnacht passierte. Über 700 Ver-se lang schilderte er in aller Drastik,wie sich Walter seine Luise gefügigmachte.

Hur und MollAndreas Brunner weist ist seinerArbeit über den pornosüchtigenHofrat auch darauf hin, dass er po-litisch nicht ganz koscher war.Schon vor dem »Anschluss« standverbotene NS-Literatur in seinenBücherregalen. In einem sprachlichunsagbar elenden Gedicht bezeich-nete er 1945 die Befreiung als»Schmach«. Doch wer Batsys Nach-lass zur Gänze durchforscht, bleibtdiesbezüglich irritiert. AndreasBrunner: »Andererseits korrespon-dierte er mit einem Antiquar überverbotene Werke Bertolt Brechtsoder erwarb ebenso verboteneSchriften von Karl Kraus. Politischlässt er sich schwer festmachen,vielmehr hat es den Anschein, dassder pensionierte Hofrat voll undganz in seiner Sammelwut aufging.«

Als Stephan Paryla in den 80erJahren die Wienbibliothek besuch-te, um in der Secreta-Sammlungnach altem, schlüpfrigem LiedgutAusschau zu halten, wurde ihmdies unter der Bedingung erlaubt,nichts davon zu veröffentlichen.Der damaligen Archivleitung war eskein besonderes Anliegen, die Öf-fentlichkeit über diesen kultur- undsozialgeschichtlich spannenden Teilihrer Institution zu informieren.Die Secreta-Sammlung war dement-

sprechend unbekannt.Und Paryla hielt sichzwei Jahrzehnte lang ansein Versprechen. Erstseine aktuelle CD »Hurund Moll« enthält Lie-der, die er damals in derNachlasssammlung ent-deckte. Wenn die Wien-bibliothek am 19. Aprildie offizielle Eröffnungder Erotik-Hotline fei-ert, kann Stephan Pary-la den BesucherInnenzeigen, wonach er da-mals suchte. »Liedernach der Sperrstund’«nennt er die Stücke, dieer im Lesesaal singenwird.

Weitere Texte aus derSecreta-Sammlung le-sen die Schauspielerin-nen Sonja Penz und EvaSchuster in der »LangenNacht der Liebe« am 6.Mai im Hotel Orient.Darüber mehr in dernächsten Ausgabe.

Eva Kaplan

NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 33

TRICKY D ICKY’S SKIZZENBLÄTTER

Der Anteil an politischen Do-kumentarfilmen habe imVergleich zur letztjährigen

und ersten Auflage des »UnderdogFilmfest« deutlich abgenommen,erzählt eine Vertreterin des Veran-stalterInnenkollektivs dieses Festi-vals des nicht kommerziellen Films.Dagegen seien unter den ungefähr150 Einreichungen heuer zwei an-dere Trends erkennbar – einerseitshin zum »heterosexuellen Liebes-film«, andererseits weg von derletzten Fußball-WM in Deutschlandhin zum Boden der wuchtellosenRealität; d. h. es stehen einige filmi-sche Aufarbeitungen dieses »Trau-mes« oder »Märchens« Fußball-großereignis auf dem Programm. InAnbetracht der bevorstehenden Eu-ropameisterschaft in Österreichsollte dieser Programmteil aucheine besondere Beachtung finden.

Beim »Underdog Festival« ist derName Programm. Die Konzeptionist einzigartig, denn alle Filme, egalwelchen Genres, Formates oder In-haltes werden auch projiziert – vo-

rausgesetzt die fremdsprachigenProduktionen wurden mit deut-schen Untertiteln eingereicht, da-rüber hinaus dürfen die Arbeitennicht rassistisch, sexistisch oder ho-mophob sein, eh klar. Die nieder-schwellige Programmgestaltungmacht somit eine Kuratel hinfälligund bietet vielleicht für manche Ar-beiten die einmalige Gelegenheit,den Weg aus der Schublade in dieÖffentlichkeit zu treten. Es werdenauch gerade jene Arbeiten begrüßt,die auf anderen Festivals wegen po-litischer Entscheidungen keinenPlatz gefunden haben, denn der»Underdog« versteht sich als sub-versiv, inkorrekt und autonom. Sowird auch während des Festivals

ein dreitägiger Videoworkshop zumThema »autonome Filmfestivalsund autonomes Filmschaffen« an-geboten.

reisch

Heterosexuelle Liebesfilme und Aufarbeitung der Fußball-WM

DAS »UNDERDOG FILMFEST« TAUCHT WIEDER AUF

Underdog FilmfestVon 25. bis 29. April an den Veranstaltungsorten:I:da, Kete, EKH, Schikaneder, Depot,werkzeugH und que[e]rEintritt immer frei!

Programm unter:http://underdogfilmfest.org

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ART.IST.IN

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 ART.IST.IN34Zum Projekt »Rechtsextreme Zeichen und Symbole in Wien«

Die Stadt sauber machen?

Die meisten der auf derigf-Homepage gezeigtenBildbeispiele stammenaus Österreich und

Deutschland – die zugrunde liegen-de Geisteshaltung ist aber keines-wegs auf diese Länder beschränkt.Die Zunahme dieser Botschaften istvielmehr ein Phänomen, das manin ganz Europa beobachten kann.Neu ist v. a., dass in letzter Zeitauch verstärkt antiislamische undantichristliche Botschaftenanzutreffen sind.

Das ifg bietet zum The-ma »Rechtsextreme Zei-chen und Symbole inWien« eine Wanderaus-stellung an. Bisher liegenca. 3500 Fotos in Ausstel-lungsqualität vor. 2006war die Diskussion umGraffiti mit rechtsextre-men, rassistischen Inhal-ten von den Wiener Grü-nen und den Organisatio-nen ZARA und SOS Mit-mensch forciert worden.Diese Seite ruft zu einerKampagne zur Entfernungsolcher Parolen auf – be-sonders das Rathaus seiverpflichtet, die Stadt vonden »Neger raus«-Impera-tiven zu reinigen. Wider-spruch gegen diese Positi-on, gegen das Ja zum Sau-bermachen der Stadt, mel-det die Graffiti-Forschungan.

ifg-Gründer NorbertSiegl: »Graffiti – speziellGraffiti des politischen Be-reichs – sind wichtige Zeit-dokumente. Sie könnenbei richtiger InterpretationAufschluss darüber geben,wo gesellschaftspolitischeSpannungsfelder bestehen.

Weitergehend kann über diese Bot-schaften aufgezeigt werden, in wel-chen Bereichen politischer Hand-lungsbedarf besteht, bzw. in wel-chen Bereichen Aufklärung und po-litische Gegensteuerung notwendigsind. Kontroversielle Meinungenüber die Kommunikationsform Graf-fiti zum Ausdruck zu bringen, isturaltes Menschheitsrecht und ural-ter Brauch – oppositionelle Graffitiwaren den jeweiligen Obrigkeiten

immer ein Dorn im Auge und ent-sprechende Agitation wurde zu be-stimmten Zeiten mit der Todesstra-fe geahndet.«

Eine unreflektierte Zerstörungdieser Graffiti-Varianten beraube dieWissenschaft und Politik einerwichtigen Informationsquelle. ÜberGraffiti kämen gesellschaftlich ver-drängte Inhalte zum Vorschein. Siezeigten jene politischen Bereicheauf, welche im parlamentarischen

Spektrum nicht erfasst sind – alsodie Bereiche Rechtsextremismusauf der einen Seite, Anarchismusund Linksextremismus auf der an-deren. Eine oberflächliche Zerstö-rung dieser Inhalte komme, so Nor-bert Siegl, einer Verdrängung desVerdrängten gleich. UnreflektierteZerstörung wäre also reine gesell-schaftspolitische Symptombehand-lung/Symptombekämpfung. An denzugrunde liegenden Haltungen wer-

Neben Graffiti, in denen künstlerische Ambitionen dominieren oder die zu Freiheit und Selbstbestimmung aufrufen, gibt es aucheine spezielle Form von Botschaften an den Wänden, die Hass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Intoleranz pro-pagieren. Gerade diese Graffiti-Formen sind in Europa stark im Ansteigen. In einem gemeinsam mit dem Kulturhistoriker DieterSchrage entwickelten Projekt will das Institut für Graffiti-For-schung (igf) durch öffentliche Dokumentation eine Konfrontation

mit den zugrunde liegenden Gedanken, Emotionen und Ideen herbeiführen.

Der Graffitiforscher Norbert Siegl (mitte) legt sich mit den Grünen und mit Antirassismus-Organisationen an

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Dokumentationen über Rechtsex-tremismus an den Wänden und In-formationen zum Projekt:www.graffitieuropa.org/enzyklopaedie.htm www.graffitieuropa.org/news/152.htm www.graffitieuropa.org/news/151.htm

I N F O

de dadurch nichts geändert: »Wirwissen dann nur nichts mehr da-von«.

»Neger raus« – alles aus derselben Hand

Der vielfach falsch angewendete Be-griff Schmiererei, so Graffiti-For-scher Siegl, ziele in Richtung ober-flächlicher Verdrängung, drückeeine undifferenzierte Beurteilungunangenehmer Inhalte aus. Schmie-rereien seien immer die Botschaf-ten und Parolen der anderen, derpolitischen Gegner, jener, »die nichteinmal ordentlich schreiben kön-nen«, der Dummen, Mittellosenund Verachteten. Ähnlich bewertetseien ehemals auch die Zwenten-dorf-Schmierereien, die Schmiere-reien diverser Bürgerinitiativen, dieSchmierereien der Hainburg-Geg-

ner worden: eine undifferenzierteBeurteilung unangenehmer Inhalte.Bei den tausendfach in Wien ver-breiteten rassistischen Parolen han-delt es sich um klar lesbare Schrif-ten – die auch als solche wahrge-nommen und ernst genommen wer-den sollten.

Norbert Siegl ist überzeugt, dass90 Prozent aller rassistischen Graf-fiti in Wien von einem einzigen Tä-ter stammen: Das sei eine empiri-sche Feststellung, die jederzeit an-hand eines graphologischen Ver-gleichs verifizierbar sei: »AktuelleMaterialien aus einigen Wiener Be-zirken wurden in den letzten Wo-chen auf der Website des Institutsfür Graffiti-Forschung veröffentlichtund sind jederzeit einsehbar. AlsPsychologe und ehemaliger Patien-tenanwalt im psychiatrischen Be-reich erlaube ich mir die vorsichti-ge Diagnose, dass es sich beim NE-

GER-RAUS- und KILL-NIGGER-Ak-tivisten um einen kranken Men-schen handelt, der rasch einer ent-sprechenden Behandlung zugeführtwerden sollte. Meine Vermutunggeht in Richtung manische Schübe,die ihn dazu veranlassen, hektischim gesamten Stadtbereich unter-wegs zu sein und seine Schriftenkurzfristig zu aktualisieren.«

Für kontraproduktiv hält Siegl dieForderung der Grünen an die Ge-meinde Wien, eine entsprechendeInfrastruktur zur Entfernung dieserBotschaften einzurichten. Was auchimmer den Täter veranlasse, seineAgitation zu beenden (z. B. eineVerhaftung), es würde dazu führen,dass der Großteil aller rassistischenGraffiti verschwinden würde.

Die »vandalistische« Lösung desProblems, eine Generalsäuberungder Stadt, diene nicht der Aufklä-rung über Fremdenfeindlichkeit,

Rassismus, Antisemitismus und diediversen anderen Formen der Into-leranz, lautet das Fazit von NorbertSiegl, an die Adresse der WienerGrünen gerichtet: »Vielmehr solltendiese Botschaften dazu genützt wer-den, Diskussionen über Vorurteileanzuregen.«

Norbert Siegls Position steht zurDebatte; der Augustin bietet Raumdafür.

R. S.

Beispiele für rassistische Botschaften an den Wänden aus dem ifg-Archiv

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Zum Publikum gewandt sagtGazmend Itay, jetzt nichtmehr in der Fatmir-Rolle,sondern als Entertainer:

»Ich meine, haben Sie jemals denfolgenden Dialog gehört? Hallo, ichheiße Walter! – Sehr angenehm.Schöner Name. Was heißt Walter ei-gentlich?«

Walter ist Walter ist Walter undKabarett ist Kabarett ist Kabarett.Auch wenn der Newcomer, der sichseine ersten Appläuse in Graz holteund nun Wien »erobern« will, alsKosovo-Albaner ein Unikum in derösterreichischen Kleinkunstwelt ist;auch wenn sein Programm vom An-einandervorbeireden nicht nur zwi-schen »Tschuschen und Inländern«,sondern innerhalb der zwischen Tra-dition und Moderne zerrissenenMigrantenfamilie lebt; Itay wird dieHörgewohnheiten des Kleinkunst-publikums nicht strapazieren. Itay,der Newomer, strebt vom Rand zurMitte des Kleinkunstbetriebs, dort-hin, wo die Guten in den Sitzreihenwarten. Kabarett müsste, um sichmit mir zu versöhnen, das Dilemma

lösen, nicht unentwegt vor dem»richtigen«, also eigentlich falschenPublikum zu spielen.

In der zitierten Programm-Szeneund in vielen weiteren kann Gaz-mend Itay, das ist vielleicht nebenden Tanzelementen die spezielleNote seiner Kunst, mit seinerSprachbegabung spielen. Kann Ef-fekte erzielen, indem er, der Kaba-rettist aus dem Kosovo, plötzlich inKärntner Slang versinkt. »Ich bindreisprachig aufgewachsen. Außer-dem habe ich in meiner Funktionals Fernsehjunkie, der ich nichtmehr bin, alle Dialekte und Mundar-ten zu imitieren versucht, die mirda entgegenschwappten. In dieserZeit ist meine Fähigkeit entstanden,mit Sprachen zu spielen. Die Voraus-setzung dafür aber war eben dasGroßwerden mit drei Sprachen. Siesind übrigens Albanisch, Deutschund Serbokroatisch, wie es früherhieß, wie man es heute nicht mehrsagen darf«, sagt Gazmend Itay; andieser Stelle grinst er, und er kannes, weil einer gegenüber sitzt, demdie neuesten populistischen Hervor-kehrungen der Unterscheide zwi-schen dem Serbischen und Kroati-schen auf den Zeiger gehen.

Geboren in Kärnten, im Gastlandder Eltern, fühlt er sich aber mehrals Kosovo-Albaner, wenn ihn wer

nach seiner Identität befragen wür-de. Zuhause wird albanisch gespro-chen. »Ich fühl mich in dieser Kul-tur wohler. Das heißt aber nicht,dass ich mich nicht auch als Öster-reicher fühlen würde. Aber ich hal-te Menschen aus der Balkanregionfür sozial intelligenter. Die Men-schen scheinen unkompliziertermiteinander kommunizieren zu kön-nen, sie müssen erst gar keine Mau-ern abbauen, weil sie von vornhe-rein keine aufbauen zwischen sichund dem anderen«, meint der Wort-und Pose-Künstler.

Wie bist du Kabarettist geworden?Unvermeidliche Frage, unvermeid-liche Antwort: »Eine lange Ge-schichte.« Itay studierte Wirtschaftund Sprachen, dann arbeitete er einpaar Jahre, dann begann er mit ei-nem Schauspielstudium. Über dieerfolgreiche Teilnahme an einemGrazer Kleinkunst-Award, für den erein 15-Minuten-Stück zum Einrei-chen geschrieben hatte, landete erbeim Genre Kabarett. Ein halbesJahr später fragte ihn Simon Pichler,Kabarettist in Graz, ob er ein abend-füllendes Programm hätte. Sicher,log Itay. Innerhalb von drei Monatenschrieb er es. Es ist sein aktuellesProgramm und heißt »Alltag rein,Österreich raus«. Der Inhalt: Einjunger Kosovo-Albaner reist seinen

Eltern nach, die nach Österreichemigriert waren. Seine Mutter willihm eine Frau aussuchen. Er wirdverhaftet, aber unschuldig, wie sichherausstellt.

Erst 15 Auftritte mit diesem Pro-gramm hat Itay hinter sich. Keinedavon in der Bundeshauptstadt.Noch pendelt Gazmend Itay zwi-schen Wien und Graz, noch fließendie Einnahmequellen in Graz reich-licher als in Wien. Er hoffe, dassauch bei seinen Wien-Auftritten Al-banerInnen zuhören werden: »Esgibt ja den albanischen Minderwer-tigkeitskomplex in der Fremde. Viel-leicht zeigt mein Beispiel, dass Alba-ner nicht nur in die Künette, son-dern auch auf die Bühne passen.«Es gibt die Idee, das Programm insAlbanische zu übersetzen, aber dasginge nicht eins zu eins. Denn waskönnte ein aus dem Kosovo kom-mender Gastarbeiter mit folgenderSzene anfangen: Ich kann sehr gutverstehen, warum die Kärntner sichso vehement gegen die zweisprachi-gen Ortstafeln wehren. Das kannman doch den armen Menschennicht wirklich zumuten. Haben dochdie Kärntner jahrelang gebraucht,bis sie sich an die deutschen Be-schriftungen gewohnt hatten.Furchtbar übrigens die Rache desSüdens an die Wiener, die die Kärnt-ner wegen der Ortstafelkriege nichtfür voll nehmen: Die Wiener müs-sen einmal im Jahr im Fernsehenden Villacher Fasching ertragen.

Uns ist aufgefallen, dass er be-wusst seine Körperlichkeit ein-bringt, wenn er auf der Bühne steht.»Ich habe als Stilmittel Tanzeinlagenim Programm. Manchmal gratulie-ren mir die Leute nach dem Auftrittfür den Tanz und nicht für die Wor-te, was ein zwiespältiges Gefühl inmir auslöst.«

Im Programm wagt er ein Urteilüber die Liebe der Österreicher zumTanz: Österreicher geben sich im-mer viel Mühe beim Tanzen, aberdas klappt nie so wie vorgestellt undgeprobt. Während Balkanier ihreGefühle im Tanz ausdrücken, kön-nen das die Österreicher besser sau-fend an der Theke – was aber auchganz gut ausschaut, wenn GazmendItay in ihre Rolle schlüpft.

Robert Sommer

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Spielt mit seiner Sprachbegabung: Gazmend Itay

»Alltag rein, Österreich raus« istam 26. und 28. April im Interkult-theater, Wien 6, zu sehenwww.itaj.at

I N F O

Gazmend Itay mit »Alltag rein, Österreich raus« bald auch in Wien

Austroalbanisches Kärntenbashing»Hallo, ich heiße Fatmir.«Wenn Fatmir, der junge Mannaus dem Kosovo, sich vor-stellt, passiert ihm gelegent-lich Folgendes: »Sehr interes-sant, der Name. Was bedeutetFatmir eigentlich?« Fatmirwirft sich in Indianerpose, erweiß schon, wie er daraufreagieren wird: »Glauben dieÖsterreicher, alle Ausländersind Indianer, die Eigenschaf-ten beschreibende Namen ha-ben? How, ich bin der, der diedicke Frau wegen der Aufent-haltsgenehmigung heiratenmusste?«

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Segnung der Telekommuni-kation! Noch hab ich Foto-Genosse Lang im Ohr, dakommt er mir schon, die

Treppen zur Fluc-Wanne herauf, ent-gegen. So profitiert ein Mobilfunkan-bieter von einer schlamperten Aus-macherei. Unser gemeinsames Ziel:dezidiert das Fluc, überirdisch gele-gen, wo einige Stunden später dasPräsentationskonzert von »Wer hatvon meiner Installation gegessen?«,dem launig betitelten ersten Albumvon Karin Brülls und Raumschiff En-gelmayers herrlichem gemeinsamengeistigen Musikbalg, Good EnoughFor You, über die Bühne gehen würde.

Übrigens eine Bühne mit Aus-blick: Das werte Publikum kann da-hinter durch die hoch gelegenenFenster Lokalkolorit und eine opti-sche Ahnung des Bahnhofs Praters-tern samt Luftraum erheischen, diePerformer performen nicht nur fürdas werte Publikum, sondern kön-nen sich auch dem Eindruck hinge-ben, das für eines der Wiener Wahr-zeichen, das Riesenrad, zu tun.

Wir erwischen Good Enough ForYou, Karin und Fredl, beim Sound-check, jener wildromantischen Tä-tigkeit, bei der Musiker oft lange vordem eigentlichen Konzert eben denSound checken, das heißt das ganzemusikalische Werkl über die vorhan-dene P. A. (das heißt übrigens PublicAnimation, der gute Zwilling des ab-grundtief bösen P. R., was ja PublicRelation(s) heißt – Ersteres lässt unsDinge hören, Letzteres verstopft Oh-ren und Wahrnehmung) zum Klin-gen bringen, im Idealfall zum Gut-Klingen. Das musikalische Werklumfasst im Falle Good Enough ForYou Einiges, zum Glück aber keinSchlagzeug: Wenn ich für jede Inbe-triebnahme der Fußmaschine Rich-tung Basstrommel und jeden Snare-

schlag, die ich im Laufe meines Mu-sikarbeiterlebens bei Soundchecksmitgehört habe, einen Euro über-wiesen kriege, wäre die Öffi-Frei-fahrt in Wien kein Thema mehr.

Karin spielt Klarinette, mit eineKeimzelle des Duos. Fredl: »Ich hab´g´funden, die Karin spielt so superKlarinette.« Sie singt auch, sehrschön übers Mikro und zweimal mitEffekten, die sie dem kooperativenund fähigen Fluc-Techniker akus-tisch eindrucksvoll demonstriert.Großartig ein weiteres von Karin be-dientes Instrument: Die Axt. Fredlhat das Rocktrotteltum beim Wortgenommen, das die Gitarre immerals solche bezeichnet, und ein Mu-sikinstrument aus ihr gebaut. Mit ei-ner Saite. Beim Fredl aka RaumschiffEngelmayer steht der Computer, vondem aus dank der modernen Tech-nik die rhythmische Basis – der Beat– der »Good Enough For You«-Musiküber Monitor- und Publikumsbe-schallungs-Boxen kommen sollte.Sollte, weil, ein Soundcheck-Sprech-Klassiker: »Eigentlich sollt’ schonwas kommen.« Tut’s dann auch,dazu gesellt sich Fredls Gitarre undStimme. Ein weiterer Soundcheck-Sprech-Standard: Der Frequenz-Dia-log zwischen dem Mann hintermMischpult und den Menschen aufder Bühne. Heute ist bei 250 Hertz

was gestanden, und bei 30 Hertzwurde was weggenommen. Auchfast immer Thema: das Leiserdrehender Gitarre (Fredl, aufrichtig: »Ikann’s ned leiser drahn!«). Sound-check: ein weiterer Name für dasewige Geben und Nehmen, hierzwischen den Bedürfnissen der Aus-übenden und dem Sound fürs Publi-kum.

Will You Kiss My Bimpo Limpo,Oskar Kokoschka?

Karin seufzt zwar »die Bässe wegund die Gitarre leiser, was ist das fürein Tag«, aber es klingt zunehmendgut im Fluc, während Good EnoughFor You Teile ihrer Stücke immerwieder anspielen. Das mit dem Gut-Klingen bestätigt ein Bauarbeiter,der mit einem Kollegen zwecks Af-ter-Work-Durstlöschung ins Lokalgefunden hat. »Spuit’s doch amoiwas ganz« ruft er, während er mit-groovt. Die Musik? »TreibenderElectro-Beat, tiefer geschraubte Gi-tarren, fe- und –male Gesang undbei Bedarf ein Solo auf Klarinetteoder Axtgitarre«, meint das Info zurCD und – hat einfach recht. So istsie, die Musik, und so macht sie Lau-ne, gewaltig auf Tonträger (der mit24 Minuten einfach zu kurz ist.

Mehr!), und selbstin der fragmentier-ten Soundcheck-Version. Der zwei-te Song, den dasDuo wiederholt an-spielt ist »Blackse-at Of My Car« (woSatan, der alteSchwerenöter ab-hängt, verspätethat er sich auch,der Gehörnte). Da-von hat MartinGretschmann alsAcid Pauli einenRemix gemacht,der bei disko b pa-rallel zum Album

auf 12« erschienen ist. Als Support von Gretschmanns

Band Console spielten Good EnoughFor You vor ihrem Wientermin eini-ge Gigs in Deutschland und in derSchweiz. Das Feedback gibt ihnenRecht. »Einige haben gesagt, es wardas Größte was sie je gesehen ha-ben, eine andere Reaktion war – vorder Vorband hätte man warnen müs-sen.« Natürlich ist das kein Soundfür jedermann (wer soll das sein?),aber wer seine Freude mit intelli-genter (nicht nur textlich (pop-)sprachgewitzt: »Sitting On The DogOf My Babe«), dabei extrem unprä-tentiös-unausgedachter Musik hat,die die Geradlinigkeit gern neckischSchlangenlinien fahren lässt, solltean Good Enough For You nicht vor-bei.

Wir würden zwar noch gernemehr hören, aber der Sound stimmt,auf und vor der Bühne. Fredl:»Passt. I hab eh scho an Durst.«

Rainer Krispel

Im Fluc stellte das Duo GoodEnough For You seine Debüt-CD vor. Günstige Gelegenheitfür einen Musik- und Lokal-augenschein.

Karin, Axt mit Musikarbeiter, Fredl

MUSIK-ARBEITER

UNTERWEGS

Good Enough For You»Wer hat von meiner Installationgegessen?«(bei 22. Jahrhundert Fuchs

erschienen),www.goodenoughforyou.at

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Musikarbeiter unterwegs – mit Good Enough For You ins Fluc

Satan & SoundcheckFO

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Die Verdienste des KarlKraus hätten ihm mehrSchwächen erlaubt, alssich ihm nachweisen las-

sen, und ein geistiges Oeuvre von36.000 Seiten zeitigt nicht nur Wi-dersprüche, sondern gedeiht auf die-sen. Widersprüche und Schwächen,die er sich getrost hätte ersparenkönnen, aber bestimmen sein Ver-hältnis zum Jüdischen. Neben seinerHäme gegen den Intellekt der Frausind antijüdische Ausbrüche die un-verzeihlichen Widerwärtigkeiten sei-nes Werks. Die folgende Differenzie-rung will diese nicht rechtfertigen,lediglich ins rechte Licht rücken.

Mein Vater erzählte mir stets stolzvom Eindruck, den die Marinekadet-ten von Pola – darunter mein Groß-vater – auf Karl Kraus gemacht hat-ten, als er vor ihnen 1913 aus seinenWerken las. Der Blick in die FackelNr. 387 setzte meine Idealisierungunter die kalte Dusche, denn Kraus’Text über die Pola-Reise konzentriertalles, was an seinem Denken am Vor-abend des I. Weltkrieges bedenklichwar (und später größtenteils revi-diert wurde). Der Anblick der Offi-ziere hätte in ihm das Gefühl ge-stärkt, »dass der Militärhass der De-mokratie die Überlegenheit desMisswachses über die Männlichkeit«und den »tiefer liegenden Unter-schied von Menschenwert und Flie-genplage« offenbare. Was er unterFliegenplage versteht, veranschau-licht er an einem Dialogfetzen, dener auf der Heimreise aufschnappt:»Wo steht geschrieben, es brocht ei-ner zum Leben haben zu müssendreißigtosend, man kann auch lebenmit zwanzigtosend!«

Jiddeln kommt in der »Fackel« nurals Ausdruck satirischen Ekels vor.Doch vor wem? Vor den Juden? Kei-ne Ehrenrettung, so doch eine Rela-tivierung ist die Feststellung, dasssein Abscheu sich mit keinem gängi-gen Antisemitismus deckt, dass erden Antisemiten weitaus größereVerachtung entgegenbringt als be-stimmten Ausformungen der Gesell-schaft, welche er mit dem Judentumassoziiert. Selten nur sind jene ihmals Objekte seiner Kritik würdig, imGegensatz zum assimilierten jüdi-schen Bürgertum, dessen Vertretern

er fortwährend den Geschäftsgeistunter der freigeistigen Maske nach-weisen will.

Das von Theodor Lessing populari-sierte Schlagwort vom jüdischenSelbsthass hat Kraus für seine Per-son mehrmals mit überzeugendemSpott zurückgewiesen, ebenso denVorwurf eines jüdischen Opportunis-mus. »Ob sie mich wirklich für einensolchen zielstrebigen Trottel oder aufden Kopf gefallenen Haderlumpenhalten, dass ich Händlern undWechslern nur nahe trete, um ihr ei-genes Geschäft zu machen. Ob siewirklich glauben, dass ich darauf aussei, das Judentum, dem ich entstam-me, zu ›verleugnen‹, um etwa mitGrafen, Offizieren und Prälaten ver-kehren zu dürfen.«

Nichts verabscheut Kraus mehr alsJournalismus und Kommerz. Erste-rer verflache geistige Werte, um sieden Vorgaben Letzteren auszulie-fern. In beiden Sphären waren Men-schen jüdischer Herkunft überpro-portional präsent. Kraus scherte sichnicht um historische und soziologi-sche Gründe. Warum die europäi-schen Juden vorrangig in der Zirku-lationssphäre gelandet waren undnach vollzogener Assimilation auchnoch enthusiastisch die intellektuel-le Sphäre usurpierten, interessiertihn wenig. Jedoch lässt sich ihm inkeiner Zeile das antisemitische Vor-urteil nachweisen, er halte Handelund Schacher für Wesenszüge einesjüdischen Volkscharakters. Wohlaber hält er diese für Charakteristikaeines Komplexes verirrter Moderne,den er auf »technisch-kapitalistisch-jüdisch-preußische Weltanschau-ung« tauft. Der Krämergeist ist ihmder verhasste Ungeist seiner Zeit, imDeutschnationalismus wie später imNationalsozialismus erkennt er dasRessentiment des Kleinkrämers ge-gen den Großkrämer.

Und ebenso schwer gelingt derNachweis, dass seine Kritik des Kapi-talismus die eines ständischen Kon-servatismus ist, jene des Waffen tra-genden Edlen am geschlechts- undehrlosen Bürger, denn – obwohl siedurchaus Elemente jenes integriert –sind ihr gleichermaßen aufklärerisch-liberale und sozialistische Motive ei-gen.

In Nationalismus und Heroenkultideologisiert das Bürgertum bloß sei-ne Defizite, die es allesamt in die Ju-den projiziert. Die Wiener Bourgeoi-sie verwendete gerne die Zeilen Nes-troys aus »Judith und Holofernes«:»… unsere Leut’ sind gar g’scheit,hab’n zum Kriegführ’n ka Freud« fürihren antisemitischen Spott, der seinZiel – wie Kraus 1923 sowohl Nes-troy als auch die Juden verteidigt –»von einem überlebten und durchdiesen Schandkrieg entehrten Tap-ferkeitsideal bezogen« habe, und»unsere Leut’ nicht als Vorbild derFeigheit, sondern eher der Weisheiterscheinen« lasse, »durch welche siesich von allen anderen Völkern vor-teilhaft unterscheiden würden, dieleider Gottes samt und sonders zumKriegführ’n noch immer a Freud ha-ben.«

»Ich weiß nicht, was heute jüdi-sche Eigenschaften sind«, schreibtKraus 1913 in dem Schlüsseltext »Erist doch ä Jud«. »Wenn es nur einegibt, die alle andern, besseren ver-stellt, Machtgier und Habsucht, sosehe ich die auf alle Völker desAbendlandes gleichmäßig und nachdem Ratschluss teuflischer Gerech-tigkeit verteilt …« Und merkt an an-derer Stelle an: »Ich weiß nicht, obes eine jüdische Eigenschaft ist, dasBuch Hiob lesenswert zu finden, undob es Antisemitismus ist, das BuchSchnitzlers in die Ecke des Zimmerszu werfen. Und zu sagen, dass dieSchriften der Juden Else Lasker-Schüler und Peter Altenberg Gottund der Sprache näher stehen, alsalles was das deutsche Schrifttum inden letzten fünfzig Jahren, die HerrBahr lebt, hervorgebracht hat.« Undschließlich weiß Kraus auch nicht,»ob es eine jüdische Eigenschaft ist,einen alten Schnapsschänker im Kaf-tan kulturvoller zu finden als ein Mit-glied der deutsch-österreichischenSchriftstellergenossenschaft im Smo-king.«

Karl Kraus bringt der Ursprüng-lichkeit von Volkskultur einen gewis-sen Respekt entgegen, weiß aber, woer zu stehen hat, wenn diese als na-tionale Waffe gegen die von ihm ge-liebten Sprachschätze einer transna-tionalen Hochkultur aufgefahrenwird. Entgegen der Authentizitäts-

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 27

Karl Kraus und die Juden»Einem Juden zu begegnenist eine Wohltat, gesetzt,dass man unter Deutschenlebt. Die Gescheitheit der Ju-den hindert sie, auf unsereWeise närrisch zu werden,zum Beispiel ›national‹.«

Friedrich Nietzsche

»K. ist nicht der gemütlicheHaussatiriker, dergewöhnlich wohlwollend undlaunisch über die menschli-chen Schwächen spöttelt. Erist ein unbeirrbarer Hasserund er hasst von ganzemHerzen. Das ist vielleicht dasUrjüdische in seiner Persön-lichkeit und auf derselben Li-nie liegt auch seinstilistischer Radikalismus. Erverfolgt den Gedanken bis zuseiner letzten Möglichkeitund er lässt nicht eher vomWorte ab, bis es ganz seinenWillen getan hat.«

Moses Gras, in «Die Neue Zeit«,

Tel Aviv 1924

»Nichts ist engherziger alsChauvinismus oder Rassen-hass. Mir sind alle Menschengleich, überall gibt’sSchafköpfe und für alle habeich die gleiche Verachtung.Nur keine kleinlichen Vorur-teile.«

Karl Kraus

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vergötzung und der Fetischisierungkultureller Differenz, wie sie heutein der Linken dominieren, sind fürKraus Jiddisch ebenso wie Wiene-risch, Berlinerisch und Tirolerischnicht Ehrfurcht gebietende Kultur-güter, sondern schlicht schlechtesDeutsch. Nationale Identität ist ihmein Gräuel, ob deutsches Erwachenoder aber der Zionismus – da ihm»eine Verminderung der Nationen,deren es ja schon genug gibt, sympa-thischer wäre als eine Vermehrung,und dass nicht so sehr die jüdischeErtüchtigung, als der Gedanke derAbleitung des jüdischen Elends alsein soziales Problem meine respekt-volle Teilnahme findet.«

Auch das ist Kraus!

Hier könnte man, nachdem manKarl Kraus per selektivem Zitat vomVorwurf des Antisemitismus entlas-tet hat, den Aufsatz enden lassen –und jene linke Lesart befriedigen,die, anstatt sich davon befruchten zulassen, woran es ihr wirklich man-gelt – nämlich seiner Sprachkritik,Kraus gegen die Evidenz eines Le-benswerks mit den 20 ewig gleichenZitaten über ihren Leisten biegenund Kamm scheren muss, um ausihm einen linken Ideologiekritikernach ihrer Facon zu basteln. Dochdiesen Gefallen tut ihr Kraus nicht.Seinen Positionen mangelt es oft anjener inhaltlichen Konsistenz, die ei-nem wissenschaftlich geschultenDenken – auch gegen ihn – zur Ehregereicht. Und es gilt in jedem Fallseparat zu analysieren, ob sein Man-gel an Systematik diese dialektischüberwindet oder fahrlässig hinter siezurückfällt.

Wer seine »Judenkritik« nur alspolemisch übersteigerte Kapitalis-muskritik verstehen will – bedenk-lich genug –, der kennt die »Fackel«nicht, die zumindest die ersten 18Jahre gespickt ist mit antijüdischenStereotypen, was – wenn schonnicht in ihren Motiven, so doch inihrer Form – von der völkischenHetzpropaganda nicht weit entferntist.

Und noch bedenklicher ist derkonservativ-religiöse Bodensatz die-

ses Judenhasses, der von der linkenRezeption konsequent totgeschwie-gen wird. Seine Kritik am Ritual-mordmythos wendet Kraus zum Bei-spiel aphoristisch gegen die Gesin-nungslosigkeit der liberalen assimi-lierten Juden, die nicht einmal fähigseien, nur irgendein Ritual auszufüh-ren. »Deren Hände nicht fähig wä-ren, Blut zu opfern. Nur fähig sind,Geld zu gewinnen. Und das Blut,das sie verwenden, ist nicht demLeib des Christen, sondern demGeist des Menschen abgezapft!« Ananderer Stelle erlaubt er sich die Ge-schmacklosigkeit, vom »Pogrom derJuden an den Idealen« zu schreiben.

Wer in Kraus gar einen Kompli-zen der eigenen antiklerikalen Blas-phemie sucht, wird in ihm seinenschlimmsten Feind finden. Als 1913jüdische Bürger in Bad Ischl den ka-tholischen Gottesdienst besuchenund das Aufstehen der Gläubigenbeim Evangelium mit »Wos haißtdos? Sitzen bleiben! Mer seht dochnix!« quittieren, lässt er eine Breit-seite der Verachtung gegen dieseMenschen los, derselbe Karl Kraus,der fünf Jahre zuvor immerhin ge-schrieben hat: »Den Hut vor derMonstranz zu ziehen, ist bei weitemkein so schönes Verdienst wie ihn je-nen vom Kopfe zu schlagen, diekurzsichtig oder andersgläubigsind.«

Aufnahmestopp für rumänischeFlüchtlinge

Bereits 1900 zeigt er, einige Seitennach einer Eloge auf die noble Seeledes Kaisers, Verständnis für einenEinwanderungsstopp für rumänischeJuden und Argumente, mit denenauch heutzutage die Rechte gegenden Zuzug von Ausländern polemi-siert: Pauperisierung, erhöhte Krimi-

nalität und Konkurrenz zur heimi-schen Arbeiterschaft. Mehr noch ba-gatellisiert er die miserable Situationder Juden in Rumänien und koket-tiert mit dem Vorwurf, diese würdevon der jüdischen »Neuen FreienPresse« hochgespielt. Ein Satz wieder folgende zählt auch sprachlichzu den Scheußlichkeiten im Werkdes Karl Kraus, die leider keine Aus-rutscher sind: »Spät genug erinnertesich die österreichische Regierungihrer Pflicht und traf Anstalten, dierumänischen Einwanderer von Wienabzuschaffen.« 15 Jahre späternimmt Kraus mehr Anteil am Schick-sal der Pogromopfer in Russland,verhöhnt wenigstens nur mehr dieSolidarität der jüdischstämmigenBürger Wiens mit ihnen als Heuche-lei.

Mit dem Ausbruch des Weltkrie-ges lässt Kraus die konservativen An-teile seines Weltbilds größtenteilshinter sich, seine antijüdischen hin-gegen erleben einen letzten Höhe-punkt – und beschmutzen Brillanzund ethische Größe der Antikriegs-satire »Die letzten Tage der Mensch-heit«, in der er nicht etwa jüdischeSchieber und Kriegsgewinnler dar-stellt, sondern diese als jüdischesProblem, wie exemplarisch mit denWorten des »Nörglers«: »Wissen Sie,wie der Ares dieses Krieges aus-sieht? Dort geht er. Ein dicker Judvom Automobilkorps. Sein Bauch istder Moloch. Seine Nase ist eine Si-chel, von der Blut tropft. Seine Au-gen glänzen wie Karfunkelsteine.«Auch das leider kein Einzelfall. Die»Fackel« strotzt vor antijüdischenphysiognomischen Gehässigkeiten,sei es die »tapirartige« Visage des He-rausgebers der »Neuen Freien Pres-se«, Moritz Benedikt, sei es die lan-ge Nase der Schalek, die einen mili-tärischen Stützpunkt verrate, überallerblickt er die »Judasfratze des Jahr-

hunderts« und ist sich der politi-schen Verantwortungslosigkeit einersolchen Diktion nicht bewusst.

Auch wenn Kraus als einer derwenigen seiner Zeit das Konzept derRasse energisch ablehnte und dasder Nation verspottete, so war erdoch herderianischen Konzeptenvon »Kulturseele« und kollektivenethnischen Eigenschaften wenigerabhold und somit ein Kind seinerZeit.

Der alte Antijudaismus verachtetedie konfessionelle und ethnische Dif-ferenz der Juden, der Rassenantise-mitisums verband diese Verachtungmit der von Moderne und Aufklä-rung, als deren Unglücksbringer derassimilierte urbane Jude ihm er-schien. Kraus kritisiert diesen nur,sofern er die ideellen Werte von Mo-derne und Aufklärung an einen men-schenfeindlichen Materialismus ver-rät und versagt jüdischer Traditionkeinesfalls seinen Respekt. Hierin of-fenbart sich sowohl sein aufgeklärterKonservatismus als auch die proble-matische Analogisierung von Kapita-lismus, Persönlichkeit und Volkscha-rakter.

Nach dem I. Weltkrieg, als der An-tisemitismus in Westeuropa WortenTaten Folgen lässt, revidiert Krausseine Ablehnung des Zionismus, ver-zichtet weitgehend auf antijüdischePolemik und bekennt angesichts derersten Nazigräuel, dass er in »Ehrer-bietung für das geschändete Lebenund die besudelte Sprache die Na-turkraft eines unkompromittierbarenJudentums dankbar erkennt undüber alles liebt: als etwas, das vonRasse und Kasse, von Klasse, Gasseund Masse, kurz jeglichem Hassezwischen Troglodyten und Schie-bern unbehelligt in sich beruht.«

Karl Kraus war kein Wolf, der mitdem Hyänen heulte, einer jedoch,dessen Heulen sich zu wenig vondem der antisemitischen Hyänen ab-grenzte.

Richard Schuberth

»Ich weiß nicht, ob es eine jüdischeEigenschaft ist, einen alten Schnaps-

schänker im Kaftan kulturvoller zufinden als ein Mitglied der deutsch-

österreichischen Schriftstellergenos-senschaft im Smoking.« (K. Kraus)

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Den »Orpheus Trust« gibtes nicht mehr. Ab 1996war er die einzige Insti-tution Österreichs mit

der Zielsetzung, der vom NS-Regimeverfolgten Musik den ihr gebühren-den Raum wiederzugeben und andie aus Österreich vertriebenen oderim KZ ermordeten Musiker, Kompo-nisten, Musikverleger, -wissenschaft-ler und -publizisten zu erinnern.Grund der Auflösung: zu wenig För-derung durch die öffentliche Hand.

Der von Primavera Gruber ge-gründete Verein hat in den zehn Jah-ren seiner Existenz mit wenig Bud-get in über 300 Konzerten und an-deren Veranstaltungen an die 3000verfolgte Musikschaffende der Öf-fentlichkeit präsentiert. 4730 Mu-sikschaffende und 13.000 Komposi-tionen wurden recherchiert und do-kumentiert, eine Bibliothek mit1300 Kompositionen (diese sindzum Großteil bis heute von denSpielplänen der Konzerthäuser ver-schwunden oder der Vergessenheitanheim gefallen) und ca. 1000 Bü-chern und Zeitschriften wurden zu-sammengetragen, ein Tonarchiv mitüber 1000 Titeln aufgebaut, zahlrei-che Nachlässe und Nachlassteile inObhut genommen, erschlossen undzugänglich gemacht. Weiters wur-den ca. 200 Oral-History-Interviewsmit Vertriebenen und Angehörigengemacht.

Auf Initiative des »Orpheus Trust«wurde bei der Tagung »Face the Mu-

sic« im Mai 2006 von Konferenzteil-nehmern aus sechs europäischenLändern auch eine »EuropäischePlattform für vom Nationalsozialis-mus verfolgte Musik« gegründet. Da-mals gab es den »Orpheus Trust« ge-rade noch. Schon im Jahr davor –ausgerechnet im Gedenkjahr! – wur-de klar, dass die Existenz des Or-pheus Trust gefährdet war. Die StadtWien wäre bereit gewesen, ihrenBeitrag aufzustocken, wenn auch derBund seinen bisherigen Zuschuss er-höht hätte. Doch das geschah nicht.

Immerhin bleibt alles zusammen

Somit musste der Verein mit 31. Au-gust 2006 ausgelöst werden, obwohlnoch so viel zu forschen und doku-mentieren gewesen wäre. Undselbstverständlich machte man sichGedanken, was mit den Sammlun-gen geschehen sollte. Bereits im De-zember 2005 hatte der Vorstand des»Orpheus Trust« etwa 30 Institutio-nen im In- und Ausland angeschrie-ben und Angebote betreffend einerÜbernahme der Archivmaterialienwie für eine eventuelle Fortführungvon Aktivitäten erbeten. Die einge-langten Interessensbekundungenwurden gewissenhaft geprüft. ImMärz 2006 standen drei Institutio-nen in der engeren Wahl, da nur siedie Mehrzahl der Anforderungen zu

erfüllen versprachen: das Diaspora-Museum in Tel Aviv, das Archiv derAkademie der Künste in Berlin so-wie das Leo Baeck Institute in NewYork.

Schließlich wurde beschlossen,die Sammlungen an die Akademieder Künste in Berlin weiterzugeben.Deren Archiv ist die wichtigste ein-schlägige Einrichtung im deutschenSprachraum und betreut über 800Nachlässe. Die Musikarchive alleinumfassen über 90 Personennachläs-se, thematische und allgemeineSammlungen sowie Tonträger, dievon sechs Archivaren und einer Ton-technikerin betreut werden. Unterden Beständen befinden sich die derExilmusikerInnen Hanns Eisler, Ar-tur Schnabel, Ralph Benatzky, RuthSchoenthal, Georg Knepler sowiedas Archiv des Jüdischen Kulturbun-des, um nur einige Beispiele zu nen-nen. Es ist damit nicht nur die größ-te einschlägige Institution, es hatauch einen weltweit ausgezeichne-ten Ruf, wird entsprechend von For-schern und Interessierten aus allerWelt genutzt. Die Musikarchive wer-den von dem auf dem Gebiet derExilmusik führenden österrei-chischen Wissenschafter Dr. WernerGrünzweig geleitet.

Das gesamte Material bleibt dortals »Archiv Orpheus Trust« beisam-men – es geschieht also auch keineAufteilung in Tonaufnahmen, Noten-material, Fotos usw. Nach einer In-

ventarisierung durch einen eigensdafür herangezogenen Mitarbeitersind eine Buchpublikation, eine Prä-sentation der Bestände und die Digi-talisierung der Tonaufnahmen ver-traglich vereinbart; das gesamte Ma-terial wird der Öffentlichkeit unent-geltlich zugänglich sein.

Keine Konzerte mehr, dafürmehr im WWW

Doch auch in Österreich wird dieArbeit des »Orpheus Trust« weiter-geführt, wenn auch in eingeschränk-tem Ausmaß. Zwar kann nicht mehrgesammelt werden, und auch Kon-zerte werden nicht mehr veranstal-tet, doch man will weiterhin Infor-mationen vermitteln – darüber, wasandere zur Erforschung und Wieder-entdeckung der Exilmusik tun, inÖsterreich und international. Außer-dem bleibt man Partner der »Euro-päischen Plattform für vom National-sozialismus verfolgte Musik« – im-merhin haben dafür schon 300 Per-sonen unterzeichnet.

Weiters wird »orpheus.news immica« ins Leben gerufen, eine Infor-mationsplattform im Internet, dieüber alle an »NS-verfolgter Musik«interessierten Personen und ihre Ak-tivitäten in Österreich informierenund diese koordinieren soll. – Direk-tor Peter Rantasa freut sich, dass seinmica (music information center aus-tria) mit seinen Informationsserviceszur Arbeit des ehemaligen »OrpheusTrust« beitragen kann. Die StadtWien hat eine entsprechende Unter-stützung dieser Tätigkeit in Aussichtgestellt.

Schließlich wird »Orpheus-Trust«-Gründerin Primavera Gruber ihre1995 begonnene Erforschung undDokumentation der verfolgten Mu-sik in Wien fortsetzen: Sie will inungefähr vier Jahren mit einemmehrbändigen »ÖsterreichischenBiographischen Handbuch der vomNationalsozialismus verfolgten Mu-sikschaffenden« ein grundlegendesStandardwerk für Forschung, Lehreund Praxis vorlegen, welches die In-formationstätigkeit des »OrpheusTrust« ersetzen kann.

Werner Schuster

NR. 200, 11. – 24. APRIL 0740Zu wenig Geld für Erforschung der vom NS-Regime verfolgten Musik

Orpheus musste auswandernNach der Auflösung des »Or-pheus Trust«: Die Sammlun-gen befinden sich jetzt inBerlin, Gründerin PrimaveraGruber arbeitet an einemHandbuch der vom National-sozialismus verfolgten Musik-schaffenden

www.orpheustrust.atwww.mica.at

Akademie der Künste Berlin:www.adk.de

I N F O

Klanginstallationen des Orpheus Trust im öffentlichen Raum

ART.IST.IN

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 41

Zufällig in Melk

Nach einem arbeitsreichen Tag in der Wachau fuhrich am rechten Donauufer in Richtung Melk. Eswar Abend und spät. In Melk gab es nächsten TagSperrmüll-Abholung. Vor einen Privathaushalt lag,angelehnt an einem Zaun, zirka 20 Meter Sessel-stoff. Der Stoffballen hatte eine Höhe von einemMeter fünfzig. Er war zur freien Entnahme. Ichnahm ihn mit nach Hause. Meine Tochter fragtemich nächsten Tag, als ich ihr die große Rolle zeig-te: Wieso so viel? Ich sagte: Glaubst du, es stehtwer um 22 Uhr auf der Straße oder beim Haufenund fragt: »Wie viel Meter Stoff dürfen´s denn sein,gnä` Frau«? Ich sagte ihr, sie könne sich einKostüm machen lassen, für Josef einen Anzug undfür Maximilian einen Overall. Es gab eine ziemli-che Gaudi darüber, wofür wir den Stoff nochgedanklich zweckentfremdeten.

Unsere fliegende Burgenländerin

Unsere Burgenländerin war eine Ente. Ich bekamsie geschenkt, als ich in Pamhagen Gemüse holte.Frau Andert sagte mir, dass sie sehr eine Brave undFleißige sei und schön auf ihren Enteneier sitzenbleibe. So gab sie mir die Ente samt Gelege in eineSchachtel. Zu Hause angekommen, wollte sie lieberdie neue Umgebung erkunden als auf ihren Eiernsitzen zu bleiben. Also, wie gesagt, die erste PartieEnten wurde nicht ausgebrütet. Da sie jedoch kei-

nen Partner hatte, schmuggelte ich ihr Hühnereierunter. So 10 Stück waren es jedes Mal, die sie auchbrav ausbrütete. Sie schaute auch auf die Küken,sie war eine sehr brave Entenmutter. Jedoch für un-seren 13 Katzen ein »Fuchs und Henne«-Spiel. DieArbeit, die die Ente tat, war buchstäblich für dieKatz´. Wir brachten keine Hendln groß, sie wurdenschon als Küken verspeist. Aber so hatte die Entewas zu tun und eine Abwechslung, und die Katzenhatten Frischfleisch. Unserem Hahn Max gefiel die-se fesche Burgenländerin sehr. Sie war aktiv, dennsie konnte ja fliegen. Er wollte sie immerbeglücken, doch diese startete senkrecht weg,wenn er ihr zu nahe kam.

Es kam auch oft vor, dass sie auf dem Dach saßund von oben auf uns herunter blickte.

Doch voriges Jahr ging sie gemütlich, sie war in-zwischen 10 Jahre alt, beim Dollbach spazieren.Wir standen alle daneben, da verpasste sie denSenkrechtstart!

Viel Zeit, bis es grün wird

Ja, das LKW-Fahren machte mir wirklich Spaß! Be-sonders in Wien auf der Südosttangente, da konnteman Spuren wechseln, es hatte jeder Respekt voreinem großen Auto. So »schnitt« ich halt knapp voreinem Kleinwagen in eine andere Spur.

Dieser jedoch verfolgte mich, stellte sich nachder Abfahrt St. Marx bei der ersten Ampel nebenmich. Mit seinen Gesten und Fäusten deutete er

Aus dem Tagebuch einen Biobäuerin und LKW-Fahrerin

Mostviertelblues

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 LITERATUR-WERKSTATT42mir nichts Gutes, ich schickte ihm einigeFliegerbussis. Da wurde er noch zorniger,sprang aus seinem Auto und wollte meineBeifahrertüre aufreißen. Ich hatte jedoch zu-gesperrt, er lief zur anderen Türe, dass mussman sich vorstellen: So viel Zeit hat man, bises grün wird.

Ich hatte natürlich auch dort schon zuge-drückt, ich hatte am Beifahrersitz 200 StückBio-Eier in einer Schachtel. Es hätte mir auchnichts ausgemacht, wenn die Türe offen ge-wesen wäre. Dreimal dürft ihr raten, wozuich die Eier zweckentfremdet hätte.

Tatsachenbericht von FranzReiterlehner, 2006

Er erzählte mir Folgendes: Dass es inPurgstall in der Kirche ein großes Konzertgab. Auch der Bischof Küng war anwesendund viele Priester aus den Nachbargemein-den. Sie alle besuchten das Konzert. Nachdem Konzert gab es eine Agape. Zu diesemZeitpunkt bekam der Priester aus Purgstalleinen Anruf. Er solle dringend in das HausVeronika kommen. Es liege eine Frau im Ster-ben und sie verlange die letzte Ölung. Da botein Priesterkollege aus Steinakirchen an, sei-nen Freund zu vertreten, da dieser ja dieFestgäste und den Bischof zu betreuen hatteund nicht gut weg konnte. Dieser Priester ausder Nachbargemeinde ging zurück zurKirche, in die Sakristei, holte sich die Sachenfür die letzte Ölung und wollte zu dieser be-sagten Dame. Es war zirka 22 Uhr. Als er je-doch die Kirche verlassen wollte, war diesevon außen abgeschlossen worden. Sogleichging auch das Licht aus. Sodass der Herr Pfar-rer nicht wusste, wie ihm geschah. Er klopfteund pumperte, doch es hörte ihn niemand.

Er tastete sich im Dunkeln zum Glockenturmund läutete verzweifelt das Zinklöckchen,denn zu den großen Glocken konnte er nicht.So sah er sich schon im Finstern und in derKälte des Gotteshauses die Nacht verbringen.

Es kam abermals ein Anruf vom Hause Ve-ronika zum Priester nach Purgstall. Der Hei-matpfarrer antwortete, es sei schon vor Stun-den ein Priester losgeschickt worden. Dochdie Dame, die um Hilfe rief, sagte: Wir war-ten noch immer. Jetzt erst wurde Nachschauin der Kirche gehalten, wo denn der Priesteraus der Nachbargemeinde geblieben war. Zu-sammengekauert vor Kälte saß dieser wieeine arme Kirchenmaus im Gotteshaus.

Gut gemeint!

Ein Bauer hatte, als er zu den Reiterlehnerskam, seine zwei Söhne mit. Es sollten Heu-ballen gepresst und gewickelt werden. DaFrau Reiterlehner befürchtete, im steilen, un-wegsamen Gelände könnte den Kindern et-was geschehen, wollte sie beide überreden,im Haus bei ihr zu bleiben. Der Kleine blieb.

Dieser wollte vorm Haus Sand spielen. Daaber die Straße in unmittelbarer Nähe warund sie nicht immer ein Auge auf den Klei-nen werfen konnte, trug sie einige KübelSand in den Hof. Der Hof war mit Wasserla-cken übersät. Die Schrotkammer in der Nähe,da wurde gleich gemischt und gemixt. Er hat-te eine wirkliche Freude. Frau Reiterlehnerbeschäftigte sich andersweitig im Haus. Alssie dann nach einer Weile in die Küche kam,hatte dieser Junge von der Abwasch bis zumanderen Ende des Raumes eine Spur der Ver-wüstung gezogen. Er erklärte ihr, als er ihrStaunen sah, dass er einmal Maurer werdenmöchte und es nur zur Probe sei. Einen hal-

ben Meter hoch hatte dieser die Mauer ange-worfen. Kübelweise hatte dieser kleine JungeWasser, Sand, Schrot und Erdreich vom Hofin die eingerichtete Küche geschleppt.

Da traf die Bäuerin fast der Schlag. Und siesagte: So schnell würde sie keine Aufsichtmehr freiwillig übernehmen.

Biogemüse nach Wien liefern

Dienstag, 8 Uhr Früh, Hütteldorfer Straße.Links und rechts alles verparkt. Ich stelltemich mit meinem LKW auf die Straßenbahn-gleise. Zuvor war ich schon zweimal um denHäuserblock gefahren, weil nirgends einParkplatz frei war. Als ich ausstieg, klingeltehinter mir schon die Straßenbahn. Beim drit-ten Mal dachte ich mir »Hobt´s me gern!« Ichblieb stur mit dem LKW stehen, ich musste jaschließlich liefern. Kaum ausgestiegen, kamschon ein Polizist. Dieser sagte mitmürrischer Stimme: »Schleichns ina!« Ichsagte: »Wie reden Sie denn mit mir?« Er sag-te: »Von wo kommen Sie denn?« Ich sagte:»Aus Erlauf!« Er: »Und wie sagt man beieuch?« »Bitte fahren Sie weg«, gab ich zurAntwort und fragte ihn: »Und von wo kom-men Sie?« Er: »Aus dem Burgenland!« Ich:»Aha, dann wird´s entschuldigt.« Ab diesemMoment hatten wir sehr viel Spaß. Ich kam jaschließlich jede Woche dort hin. Jedoch LKWabstellen tat ich auf der anderen Straßenseite.Ich wollte es mir ja nicht mit dem Polizistenverscherzen. Immer wenn er mich kommensah, sicherte er mir schon die HütteldorferStraße, damit ich sicher die Fahrbahn wech-seln konnte. Egal was ich in den Händenhielt, ob Sackrodel oder Gemüsekisten, erhielt die Autos an, dass ich gefahrlos ins Ge-schäft liefern konnte. Sahen wir uns eine Wo-che nicht, fragte er schon beim nächsten Mal,wo ich war.

Marillenernte mit Maximilian,11. 7. 2006

Mittags machten mir die Männer denVorschlag, die reifen Marillen vom Baum zurütteln. Wir spannten eine Plane und losging´s. Mit einer großen Latte mit Hacken be-gann mein Mann, sie vom Baum zuschütteln. Erstaunlich viele waren es, dievom Baume fielen. Vollreif, süß, saftig undmit einem wunderbaren Geschmack. Zurgleichen Zeit kamen Helga und Maximilian.Keiner von uns Erwachsenen konnte sich sorecht bücken, jeden plagte das Kreuz. Maxi-milian half fleißig, die Früchte zu sammeln.Opa jedoch entführte Maximilian zur Duscheim Garten. Was er natürlich lieber tat. So wa-ren wir wieder zu zweit beim Aufsammelnder reifen Marillen. Er kam nass dahergelau-fen und schrie uns, die wir uns immer nochkrampfhaft bückten und sammelten, zu:»Nau, es zwoa Jammerratten!«

Berta Bicker

BLITZSTEINS DONNERGROLLEN

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07LITERATUR-WERKSTATT 43

Mein Name ist Verena, ich bin 21Jahre alt. Zurzeit wohne ich imVinziTel und bin im Substituti-onsprogramm. Aufgewachsen

bin ich gemeinsam mit meinem Stiefbruderin Weiz in der Oststeiermark bei meinem Va-ter und dessen zweiter Frau. Meine Mutterhat uns nach meiner Geburt verlassen. Ichwuchs wie jedes normale Kind auf, besuchtedie Pflichtschule und die HWL und machtedie Ausbildung zum staatlichen Sanitäter. Mitmeiner Stiefmutter gab es öfter Spannungen(Streit), bis ich es eines Tages meinem Vatersagte, und er ließ sich dann sofort von ihrscheiden. Mit 18 gebar ich meine süße Toch-ter Laura Michaela, die derzeit bei meinemVater lebt und zu der ich trotz meiner Dro-genprobleme regelmäßig Kontakt habe.

18 Monate nach der Entbindung hat micheine Bekannte gefragt, ob ich als Kindermäd-chen in der Schweiz im Karton Zürich arbei-ten wolle. Was ich zu diesem Zeitpunkt nichtwusste, war, dass meine Bekannte in Zürichauf den Strich ging und mit ihrem Freund ge-meinsam Neuzugänge für die dortige Szenesuchte. Die Arbeitszeit sollte von 7 in derFrüh bis 19 Uhr sein und ich erhielt Informa-tionen über Gehalt und Unterkunft. Als wirdann eine Woche später ankamen, nahmman mir den Reisepass ab, mit der Erklärung,man brauche ihn wegen der Anmeldung, da-mit es zu keinen Schwierigkeiten seitens derBehörde komme. Nach einiger Zeit wurdemir erklärt, dass ich auch am Abend als Mas-seuse auf der Straße arbeiten müsse. Eigent-lich war es nichts anderes als auf den Strichgehen. Auf die Frage, ob ich meine Papierehaben könne, um nach Hause zu fahren,sperrte man mich ein, und mit Gewalt – so-wohl körperlich als auch psychisch – undmittels diverser Drogen wurde mir erklärt,was ich in der nächsten Zeit zu tun habe.Zum Schluss war ich schon so schwer vonMorphium und Kokain abhängig, dass ich dasmeiste nicht mehr mitbekam, sondern mirwar nur noch wichtig, wo ich den nächstenSchuss bekomme.

Nach 9 Monaten und durch Zufall gelangmir mit Hilfe eines Bekannten die Flucht ausder Schweiz. So bin ich kaputt nach Graz ge-kommen, wo ich im Frauenhaus landete.Dank der mir angebotenen Hilfe seitens derBetreuer gelang es mir, vorerst einmal in einDrogen-Ersatzprogramm hineinzukommen.Zuerst versuchte ich es mit dem ambulantenProgramm, was ich jedoch nach einiger Zeitabbrach, da ich noch von der Zeit aus derSchweiz zu stark seelisch traumatisiert war.Nach zirka zwei Wochen lernte ich in der In-nenstadt zwei Burschen kennen, die am An-fang recht nett zu mir waren, obwohl sie sel-ber schwer auf Drogen waren. Kurze Zeitspäter fing das gleiche Spiel wie in derSchweiz an, nur dass hier dauernd jemandauf mich aufpasste, damit ich nicht fortlaufenkonnte. Tagtäglich musste ich mindestens200 Euro aufstellen für Morphium und ande-re Drogen. Um mich gefügig zu halten,bekam ich nur eine geringe Dosis Morphium,damit ich gerade noch keine Entzugserschei-nungen bekomme und somit für die Bur-schen wieder anschaffen gehen konnte. Auchwurde ich etliche Male vergewaltigt, wennich keine Lust hatte und erklärte, dass ichmit dem Ganzen aufhören wolle.

Meine zweite Flucht aus der Szene

Nach einigen Wochen gelang mir mit Hilfeeiner Freundin, der ich mich anvertraute, dieFlucht, und mit ihr zusammen bin ich zu Po-lizei gegangen, um eine Anzeige gegen diezwei zu machen. Während die beiden vonder Polizei gesucht wurden, wurde ich ersteinmal einige Tage stationär aufgenommen.Nach einigen Tagen und als alle Unter-suchungen durch die Polizei abgeschlossenwaren, konnte ich die Klinik verlassen. Ichzog zu der Freundin, die mir geholfen hat.Dort habe ich dann mit der ambulanten Be-handlung meiner Drogensucht begonnen, dieich bis jetzt durchziehe.

Bei der Drogenberatung lernte ich einennetten jungen Mann kennen und nachdemich ihm alles über mich erzählt hatte,beschlossen wir, das Programm gemeinsamdurchzuziehen. Nach zirka 6 Monaten, dieich bei ihm wohnte, beschlossen wir, zu sei-nen Eltern in die Obersteiermark zu fahren.14 Tage später mussten wir wieder nachGraz, weil ich einen Termin bei der Drogen-beratung hatte. Leider irrte ich mich um ei-nen Tag und war nicht ganz clean, als ichdort auftauchte. Denn am Vorabend habenwir es blöderweise unbedingt wissen wollenund uns einen Schuss gesetzt. Auf jeden Fallreichte es dem dortigen Arzt, um mich in dieLSF (Landesnervenklinik Sigmund Freud

Graz) einzuweisen. Unter Einfluss der Dro-gen eskalierte die Sache derart, dass der Arztsich genötigt sah, die Polizei einzuschalten.Während der nächsten 4 Tage, die ich dortverbrachte, ist mein Freund leider insGefängnis gekommen. In dieser Zeit habe ichblöderweise in der LSF Morphium mehrmalskonsumiert und wurde dabei auch erwischt,was den sofortigen Rausschmiss zur Folgehatte.

Nach Aussprache mit dem Sozialarbeitervom LSF und nach reiflicher Überlegung er-möglichte man mir, ins VinziTel zu kommen.Nun bin ich schon zwei Monate hier, und esgefällt mir sehr gut. Auch die Betreuung sei-tens der Mitarbeiter ist super, denn sie neh-men sich wirklich Zeit für einen, wenn Pro-bleme auftauchen, und sie versuchen, mitdem Betroffenen gemeinsam die besteLösung zu finden. Dank ihnen ist es mir mög-lich, nicht nur das Programm durchzuhalten,sondern ich bin jetzt auch in psychologischerBetreuung, die mir ermöglicht, meineVergangenheit (zweimal Überdosis!) aufzuar-beiten. Ich hoffe, dass ich dadurch stark ge-nug werde, in naher Zukunft auch ohne Dro-gen auszukommen und dass ich wieder einnormales Leben führen kann, um nicht mehrmit 500 Euro pro Monat leben zu müssen.Ich hoffe auch, dass es mir gelingt, eine Woh-nung zu finden und Arbeit zu bekommen.Zurzeit bin ich im Substitutions-Programm,bekomme täglich 85 ml Metathon, versucheclean zu bleiben und den Konsum von Koks,Bezos (Tabletten) etc. konsequent zu meiden.

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Nur noch der nächste Schuss war wichtigPfarrer Wolfgang Pucher betreibt mitseiner Vinzenzgemeinschaft in Grazunter anderem das VinziTel – ein Ho-tel, das Menschen, die von akuterWohnungslosigkeit betroffen sind, un-mittelbar und ohne Beschränkungeine vorübergehende Unterkunft ge-währt. Augustin-Kolporteur Blondilernte beim 5-Jahres-Fest des VinziTeleine Frau kennen, die ihm ihreLebensgeschichte anvertraute.

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07 LITERATUR-WERKSTATT44

Vor etwa eineinhalb Jahren lernteich Sepperl kennen. Wobei »ken-nen lernen« stark übertrieben ist– ich erkenne ihn, er mich wohl

kaum. Wir waren damals gerade mit unse-rem Büro übersiedelt, erster Bezirk, Innen-stadt. Und Sepperl stand eines Tages beimEingang des Altbaus, in dem wir jetzt resi-dieren. Er stand dort vor der gusseisernenGittertüre, die den Zugang zum eigent-lichen Eingang verwehrt. Stand dort, als ichdas Haus verließ, stand immer noch dort,als ich wiederkam. Sepperl war ein Obdach-loser.

Alle paar Tage sah man Sepperl, damalskannte noch keiner von uns seinen Namen,vor unserem Haus herumstehen. Eingehülltin einen dicken, schmutzigen Daunenman-tel, der sicher irgendwann einmal modischder letzte Schrei gewesen sein muss. Es warkurz vor Weihnachten und bitterkalt.

So kamen wir also immer wieder, malbeim Reingehen, mal beim Rausgehen amSepperl vorbei. Der stand oft stundenlangda, redete bisweilen – einigermaßen unver-ständlich – mit sich selber. Mit uns spracher nicht (soll heißen: hat nie wen von unsangeschnorrt …).

Eines Tages, es war der 23. Dezember,war ich in der Früh am Weg ins Büro. Vonweitem sah ich schon Sepperl, diesmal vordem Geschäft neben unserem Eingang, soeine Mischung aus Antiquitätenhändler, Ju-welier und noch irgendwas (was, darüberwurde ich mir nie so richtig schlüssig). Mittheatralischer Geste winkte Sepperl durchdie großen Scheiben in das Geschäft hinein.

»Was ist denn jetzt los?«, dachte ich beimir. Und gleich darauf wurde mir undjedem, der es wissen wollte (oder auchnicht), vom Sepperl kundgetan, was loswar:

»Das Chriiistkind kommt morgen, dasChriiistkind kommt morgen!«, rief er mithoher dünner Stimme Richtung Auslage,weiter mit großem Aufwand in das Geschäftwinkend.

Im Lauf der Zeit merkten wir, dass Sep-perl bei den Kaufleuten in der Umgebungbekannt war. Und jedenfalls bei demGeschäft, wo Sepperl die bevorstehendeAnkunft des Christkinds verkündet hatte,fiel immer wieder einmal ein warmes Ge-tränk, meistens Kakao, für ihn ab. Dasnahm er dann vor unserem Eingang mitsichtlicher Genugtuung laut schlürfend zusich.

Sepperl wurde bei uns im Büro bald zumGesprächsthema. Er tat uns leid, wenn erda in der Kälte herumstand (und dieserWinter war wirklich kalt!), und ich glaube,jeder wäre auch bereit gewesen, hin undwieder ein paar Euro für ihn springen zulassen. Aber Sepperl war kein Schnorrer. Erbettelte nicht und er mied auch den Blick-kontakt, wenn wir an ihm vorbei mussten.

»I kann nimma gack’n!«

Nach einiger Zeit war ich entschlossen, denKontakt zu ihm zu suchen. Ich wollte ihmzumindest einmal, wenn schon kein Geld,so zumindest ein Wurstsemmerl vom Billa

oder so irgendwas mitbringen, wenn ichmir zu Mittag etwas geholt hatte. Doch esergab sich einfach keine passende Gelegen-heit. Einmal war ich nahe dran, Sepperl an-zusprechen. Er schaute mich nicht an, alsich vorbeikam, merkte aber wohl, dass ichim Weitergehen zögerte und ihn ansah.Denn plötzlich blickte er auf, sah mich di-rekt an und teilte mit entschlossener Stim-me mit: »I kann nimma gack´n!«

Tja, von so viel plötzlicher Intimität warich dann doch etwas überrascht und wohlauch überfordert. Ich drückte daher nur mitein paar Worten mein Bedauern über die-sen Umstand aus und ging dann weiter.

Im Nachhinein muss ich natürlich zuge-ben, dass das mit dem Stoffwechsel jadurchaus ein sehr ergiebiges Gesprächsthe-ma hätte sein können und ich vielleicht da-mals die große Chance auf eine sehr inte-ressante Bekanntschaft vertan hab. Denn so»nahe« bin ich dem Sepperl danach niemehr gekommen.

Als der Frühling kam und die Tage etwaswärmer wurden, war der Sepperl seltenerbei uns zu sehen. Etwa um diese Zeit hatteer auch von irgendwem einen neuen Man-tel bekommen, ein absolut edles Teil, dasaussah, als wäre es erstens eigentlich sehrteuer und zweitens mit Sicherheit aus derDamenmodenabteilung.

Aber schön warm ist der neue Mantel be-stimmt gewesen, und den Sepperl hat dieMode nicht weiter gekümmert.

Der neue Mantel hatte jedoch auch Nach-teile, denn der lange kalte Winter ging fastnahtlos in einen heißen Sommer über. Und

so einen schönen Mantel gibt manaber nicht einfach weg. Und dawar dem Sepperl, beiSonnenschein und 25 Grad, sichersehr warm in seinem neuenGewand …

Sepperl stand »im Freien«

Ob das auch der Grund war, wes-halb der Sepperl dann eines Tagesmit nackter Brust und ohne Schu-he, nur mit seinem Mantel und ei-ner Jean bekleidet, bei unsauftauchte, kann man nur vermu-ten. Jedenfalls wurde ich Zeuge,wie die Dame vom Geschäft neben-an, als sie den Sepperl so die Straßeentlangkommen sah, die Händeüber dem Kopf zusammenschlugund rief: »Ja Sepperl, brauchst duneue Schuhe!?!«.

Was der Sepperl geantwortet hat,

Sepperl kann nicht enträtselt werden

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NR. 200, 11. – 24. APRIL 07LITERATUR-WERKSTATT 45

Wie einfallslos ist doch Geld, ver-glichen mit mir!Ich bin ein Gunstbeweis desfreundlichen Chefs, er verteilt

mich gern eigenhändig, wenn er ab und zuZeit hat, herunterkommt von seinem Dachge-schoss.

Heute zum Beispiel kommt der freundlicheChef herunter, zuerst in die Grafik, ein Groß-raumbüro mit drei Bildschirmreihen, Grafike-rinnen gestalten die bunten Wiener Gratis-nachrichten, platzieren die größeren Werbe-flächen um die kleineren redaktionellen,Hände auf der Tastatur.

Bleibt er stehen hinter einer Grafikerin,legt ihr die Hand auf die Schulter, drücktkurz, massiert, verteilt mich als Gunstbeweis:Schulterdruck, besser als Händedruck, dieGrafikerin hätte eh keine Hand frei, drehtden Kopf halb nach hinten, lächelt dankbarhinauf zum freundlichen Chef.

Er will keineswegs grabschen, der Verdachtist absurd, verteilt er mich doch als Gunstbe-weis ganz egal, ob die empfangende Schulternackt ist bis aufs BH-Trägerbändchen odervon einem Pullover bedeckt. Was er will, istfreundlich die Arbeitszufriedenheit steigern,eigenhändig durch mich, seinenGunstbeweis, soll motivieren, die Einsatzbe-reitschaft erhöhen.

Die Grafikerin, die mich eben empfing, lä-chelt dankbar hinauf zum freundlichen Chef,dreht den Kopf motiviert zum Bildschirm, ge-staltet einsatzbereit weiter, der Chef gehtweg, das Lächeln bleibt ihr.

Motivation durch Schulterdruck, besser alsHändedruck, Einsatzbereitschaft durch kurze

Massage, der freundliche Chef verlässt sichnicht auf das Materielle. Wie einfallslos istdoch Geld, verglichen mit mir!

Aber nicht, dass die Grafikerin glaubt, siekann angestellt werden, wenn sie schon län-ger da ist, das kann sich der freundliche Chefnicht leisten, arbeitet lieber mit Selbständi-gen, die sich selber versichern, Honorarnotenlegen am Monatsende je nach geleistetenStunden, nach Auftragslage der Firma, ist inder Branche so üblich.

Der freundliche Chef verlässt jetzt die Gra-fik, geht weiter ins Lektorat, ein Büro mit nureiner Bildschirmreihe, ob er mich hier noch-mals verteilt? Ich spüre, es juckt ihn in seinerHand, großzügig, außerdem: Im Lektorat sitztein Neuer.

Hinter dem bleibt er stehen, der Neue kor-rigiert gerade am Bildschirm die Tippfehler inden kleineren redaktionellen und den größe-ren Werbeflächen der bunten Wiener Gratis-nachrichten, spürt den Chef hinter sich, sagt»Hallo«, der hausübliche Gruß wird aber jetztnicht erwartet.

Denn der Chef verteilt mich gern wortlos,greift nicht gesprächsweise auf die Schulter,schweigend verteilt bin ich feierlicher. Ernimmt dem Neuen den Gruß nicht übel, derkennt sich noch nicht richtig aus, sagt »Lassdich nicht stören, mach weiter«, bleibt hinterihm stehen.

Der Neue macht weiter, korrigiert die bun-ten Wiener Gratisnachrichten, spürt nach ei-ner Weile plötzlich auf seiner Schulter dieHand des freundlichen Chefs, sie drückt kurz,massiert, er empfängt mich, den eigenhändi-gen Gunstbeweis. Ich merke, der kennt sich

noch nicht richtig aus, erstarrt fast, bevor ernormal reagiert, den Kopf halb zurückdrehtnach hinten, dankbar hinaufschaut zumfreundlichen Chef.

Dann dreht er den Kopf motiviert zumBildschirm, korrigiert einsatzbereit weiter,der Chef geht weg, das Lächeln bleibt ihm,wie einfallslos ist doch Geld, verglichen mitmir!

Aber nicht, dass der Neue glaubt, er kannangestellt werden, wenn er schon länger daist, das kann sich der freundliche Chef nichtleisten, arbeitet lieber mit Selbständigen, diesich selber versichern, Honorarnoten legenam Monatsende je nach geleisteten Stunden,nach Auftragslage der Firma, ist in der Bran-che so üblich.

Reinhard Wegerth

Gunstbeweis, eigenhändig

AUGUSTIN Schreibwerkstatt

Mittwoch,2. 5. 0718 – 20 Uhr

im Häferl, 1060 Wien,Hornbostelgasse 6

hab ich nicht so recht verstanden, aber seitdamals weiß ich, dass der Sepperl Sepperlheißt. Damals hab ich den Sepperl immer öf-ter bei der Straßenbahnstation am Schotten-tor gesehen. Noch immer hatte ich den Ge-danken nicht ganz aufgegeben, den Sepperleines Tages anzusprechen und mir seinSchicksal erzählen zu lassen. Wie war derSepperl wohl als Kind? Was hat er erlebt?

Und dann hab ich da manchmal so ein Bildim Kopf, wie ich mit irgendwelchen schickgekleideten Bekannten, gerade aus einer »In-Bar« kommend, am Schottentor den Sepperltreff. Und wie ich ihn dann, unter denerstaunten Blicken meiner Freunde, wie ei-nen alten Kumpel herzlich begrüße: »Ja Sep-perl, wie geht´s denn heut’?

Wie es ihm geht, das kann ich nur vermu-ten. Offensichtlich ist, dass der Sepperl imletzten Jahr stark abgebaut hat. Physisch aufjeden Fall, psychisch weiß ich es nicht wirk-lich.

Einmal hat er zwar in der Zwischenzeiteine neuen Frisur bekommen (von wem?), dahat er gar nicht schlecht ausgesehen. Einbisschen verwegen, wie aus einem Road-Mo-vie entsprungen (und für einen Augenblickhatte ich fast den Eindruck, dass der Sepperleigentlich ein fescher Mann sein könnte).

Tatsächlich aber stellt er heute ein Bild desJammers dar, wenn er wieder völligverdreckt, mit einer Hand die viel zu weiteHose vor dem völligen Absturz bewahrend, inder anderen Hand das Plastiksackerl, denBahnsteig entlangschlurft. Dabei bleibt er allepaar Schritte stehen, um sich mit einer Handkurz die brennende Zigarette aus dem Mundzu nehmen.

Ich hoffe dann (das ist übrigens etwas, dasich in Indien »gelernt« habe), dass der Sep-perl irgendwie sein Schicksal »packt«. Dasser es – vielleicht aus reiner Gewohnheit –selbst nicht so schlimm empfindet, wie es fürmich ausschaut. Ich hoffe, dass er vielleicht

doch eines Tages auch wieder bessere Zeitenerlebt.

Und ich bin froh, dass es Menschen gibtwie die Dame vom Geschäft nebenan, dieihm ein bisschen hilft und nicht, wie ich, vordem Kontakt mit den Sepperls unserer Stadtzurückscheut.

P. S.:Am Tag, nachdem ich diese Zeilen geschrie-ben hab, hab ich den Sepperl wieder getrof-fen. Er stand vor dem Geschäft nebenan. Ir-gendwas muss mit seiner Hand gewesen sein,mit der, die die Hose halten soll. Denn dashat nicht funktioniert. Die Hose ist ihm wirk-lich bis unter die Knie gerutscht. Er standganz »im Freien« und fingerte umständlich,aber ohne Aussicht auf Erfolg, am Saum sei-nes Anoraks. Offensichtlich die Hosesuchend. Eine Gruppe italienischer Mädchen,Touristinnen in Wien, ging kichernd vorbei.

Niki Sibitz

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Und was findet er dabei? Unterlagenaus der Zeit, als der Schreiber noch»dichter« werden wollte – und sorichtig zu rauchen begann. Zeiten, in

denen er seine angeborene und anerzogeneSchüchternheit inmitten vieler Menschen aufFußgängerzonen und Veranstaltungs-Plätzen zutherapieren versuchte. Mit einem Hechtsprungins kalte Wasser. Wenn man jung ist, geht dasnoch leichter. Als längst verloren geglaubteWeisheiten sind diese Texte nun, gegen Endeeiner Raucherkarriere, ein Teilchen, das wie-der einmal einen Kreis schließt. Und daher fürden Raucher doppelt wertvoll.

des dichters schicksaljo auf da kärntner stroß’n – do steh i gaunz va-loss’nin meina blauen hos’n – auf einem stein.und beim gedichte les’n – do deaf i nievergess’nwenn es zu leise gwes’n – muaß i mehrschrein.doch do gibt´s polizisten – de woll’n davon nixwiss’n!»host a bewilligung – nein?« – »dann lass essein!«

weil wien eine kulturstadt ist – man auf dennachwuchs leicht vergisst.erst wenn der dichter tot schon ist – bekanntwird dann sein reim.

musik de deafst du moch’n – oba net solchesoch´n.do brauchst jetzt gor net loch’n – steck’s gaunzgschwind ein.wenn das ein jeder tät … – do wie ein pfarrerred´t –man bald an zirkus hätt’. – das darf net sein!

weil wien eine kulturstadt ist …

dabei würd’ ich doch wirklich gern – im radioins mikro plärr’ndoch das, das ist für mich so fern – ersticktwird’ ich im keim.die polizei, sie schimpft und straft und bald habich nicht mehr die kraft.manch einer es soweit kaum schafft – derbleibt lieber daheim!doch ich versuch’s noch einmal, auch wenn eswird für mich ne qual.ich wind mich raus so wie ein aal – und reimund reim und reim.

weil wien eine kulturstadt ist …

des knedl und die marie

in unser’m leben gibt´s a regel,de wichtig is für uns, bestimmt.weu wenn Du heite host ka knedl –de zeit Dir durch die finga rinnt.

a jede stund, dest umebiagst,kost di genug marie;und vüle stund’n hintranaundschoffst ohne knedl nie.

drum rech’n amoi ruhig zaumwos freizeit di heit kost.durch’s göld san mia scho olle sklaven,wenns´d freizeit und ka kned’l host

»de goldmarie, de goldmarie!«de war da größte wunsch für mi;a gerschtl – cash – oder marie …de gibt’s bestimmt, nur i hob’s nie.

wenn Du studierst des werbefernseh’ndo wast’as boid genauer:ins einkaufszentrum muaßt Du geh’n;kostenpunkt: ein blauer.

spazian geh’, spurtl´n, sitz´n, lieg’n –an jeden ort des gleiche büld –sie sog’n da, wost scho imma braucht host –und wundan sie, waun ana stühlt.

gottder liebe gott – wer ist denn dashab’ ihn noch nie geseh’n;ich sehe nur der menschen hassden find’ ich gar nicht schön.

wo ist er denn, der alte herrohne den nichts geht?sieht er denn nicht das gewehr,das an der front dort steht?

so hingestellt von einem mannein kamerad wie du und ich,der für den krieg ja gar nichts kann –liegt da, und fürchtet sich.

und drüben dort, im andern grabenliegt auch ein kamerad, ganz still …den möcht’ er sicher gerne fragen,ob der nicht frieden will.

doch oben sitzt wer und befiehlt:»wenn ich was sag, dann schießen!«

und zwar dort rüber, ganz gezielt –nichts ist mit frieden schließen.

die falschen götter sind’s allein,die ganz hoch oben sitzenund richten, strafen, nicht verzeih’n.das tun doch nur die miesen.

die kommen einfach an die machtdurch bestechung und intrigen;und freu’n sich dann, wenn’s richtig kracht,um mehr gewalt zu kriegen.

diese götter will ich nicht.die zehr’n an meinen nerven.drum ist es uns´rer aller pflicht,unser’n verstand zu schärfen,

uns nicht von diesen wahnsinnigendie schneid kaufen zu lassen –und trotzdem nicht wie irrsinnigauf mord und tod zu hassen.

lebensweisheitso sitz’ ich nun und denke nach –was soll das leben bringen?sollten wir still sein oder weinen, oder ein liedchen singen?

geh’n wir zu zweit oder allein?wie könnten wir’s nur machen,dass wir nicht sooft traurig sind,und wieder öfter lachen.

so denke ich dann stundenlangüber das leben nach,vom denken wird man sicherlichein wenig müd und schwach.

doch grade kraft ist’s, die man braucht;mit kraft da müß’t es geh´n.die kraft, sich selber noch viel mehrund and´re zu versteh’n.

so steht man da und schaut sich anund kann sehr gut vergleichen:freund mit freunden – mensch mit mensch;das würde fast schon reichen.

wenn man dann sieht bei allen and’rendie vielen guten seiten,dann denkst man sich, wieso – warummüssen wir immer streiten?

dabei ist es doch gar nicht schwer –mit ein bisschen kraft,dass man viel öfter gut gelaunt,des lebens unbill schafft.

der streit, der traurigkeit uns bringt,ist sicher schuld daran.nur freundschaft, liebe, zärtlichkeitdas alles ändern kann!

Luvi

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Der Raucher räumt auf

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22. 3.Juhu, hurra! Die erste Eintragung für TagebuchNr. 200! Es ist laut Kalender bereits Frühling.Laut Angaben meiner Netzhaut frieren meineMitmenschen wie nasse Hunde. DiesesWochenende beginnt außerdem die Sommer-zeit. Und das vielleicht bei arktischen Tempera-turen.

23. 3.Man mag es kaum glauben, aber meine persön-liche unendliche Wohnungsgeschichte gehtweiter. Ich habe zwar ein Abwaschbecken fürdie Küche bekommen, aber wie der Teufel sowill, ist es genau um 10 Zentimeter zu lang.Jetzt droht eine halb legale Aktion. Nämlichein Tausch. Dazu muss meine Doppelabwaschmit Abtropftasse vom 10. in den 2. Bezirk ge-bracht werden. Dort kriege ich dann eine ein-fache Abwasch, aber mit Unterbau. Ich binjetzt schon verwirrt, denn so wie es aussieht,werden Fritz und ich das Corpus Delicti mitdem Fahrradanhänger transportieren. Hoffent-lich ist das Auge des Gesetzes am Tag desTransportes nicht zu aufmerksam.

Noch immer 23. 3.Heute sollte FC Schwarz-Weiß Augustin aufdem Sportklubplatz gegen die Nationalmann-schaft der Literaten antreten. Aber es regnetjunge Hunde. Also Absage. Das Derby Sport-klub : Vienna findet vor 5400 Zuschauern abertrotzdem statt. In der Halbzeit ist ein Elfer-schießen für die Fans geplant, bei dem ichmich ins Tor stellen darf. Es regnet, ist nichtwirklich warm, und nach der ersten Parade istkein Gottfried mehr zu erkennen. Das Haupt-spiel ging unter freundlicher Mithilfe des Schi-riassistenten übrigens 1:1 aus. Denn die Vien-na erzielte ein klares Abseitstor. Ich jedenfallsfriere und schaue, dass ich schleunigst heim-komme.

24. 3.In der Nacht auf morgen wird die Uhr um eineStunde vorgestellt. Was aber durchaus nichtallen Mitbürgern klar war. Das bedeutet alsoeine Stunde weniger Schlaf. Uns wird eineStunde Schlaf gestohlen!? Und was tut der In-nenminister dagegen? Es ist einfach ein Skan-dal! Diebsgesindel, Kriminaltouristen! Außer-dem bin ich in letzter Zeit doppelt müde. Mirist nicht gut. Ich weiß nicht, ob es am gestri-gen Frieren liegt, oder am noch stattfindendenWinterschlaf. Oder doch an der schon herr-schen sollenden Frühjahrsmüdigkeit. Ich niesesicherheitshalber einige Male kräftig und bahremich wieder auf.

25. 3.Es ist Sommerzeit. Zumindest laut Kalender.Alles was man an Uhren besitzt, muss nun um-gestellt werden. Besonders schwierig scheintmir diese Aufgabe für Besitzer von Sonnenuh-ren zu sein. Aber egal, ich besitze eineKüchenuhr, und diese wiederum besitzt nochkeine Batterien. Also kann ich sowieso nochnichts umstellen. Außer vielleicht ein paar Mö-bel.

26. 3.Weil jetzt endlich Sommerzeit ist, habe ich be-schlossen, mich nicht wohl zu fühlen. Ich krän-kle vor mich hin. Was soll das? Auch die Psy-che spielt teilweise »Das Lied vom Tod«. Wo-mit soll man sich ablenken? Zerstreuung tätenot. Aber die kostet Geld. Und selbiges ist lei-der nur fragmentarisch vorhanden. Aber halt,da fällt mir etwas ein! Ich habe von einer altenBekannten namens Renate aus Horn die falscheTelefonnummer. Und ich weiß, dass sie regel-mäßig meine Geschichten liest. Renate, oderMoses, bitte meldet euch bei mir!

27. 3.Es scheint nun endlich Frühling zu werden.Und ich erfahre immer mehr Einzelfälle zumThema Gemeindewohnung. Denn wie wir jaalle wissen, wenn etwas Unvorhergesehenespassiert, dann war es mit großer Wahrschein-lichkeit ein Einzelfall. Und da fällt mir immerwieder unser Bürgermeister ein, der da sprachwie folgt: »Es gibt bei Wiener Wohnen keineWohnungen unter 30 Quadratmeter mehr.«Und nach dieser Aussage bekam ein Bekanntervon mir eine 18 Qua-dratmeter große Ein-zelraumwohnung. WCund Dusche inklusive.Ich finde sie nett, nurunter den Achselnklemmt sie ein wenig.

28. 3.Ich kenne da eine Be-hinderte, die Wohn-beihilfe bezieht. Siehatte einen Schlagan-fall, und die Folgenwerden sich nichtmehr bessern. Trotz-dem muss sie regelmä-ßig um Verlängerungdieser Unterstützungansuchen. Obwohl be-kannt ist, dass sie si-cher nicht mehr zuunerwartetem Reich-

tum kommen wird.Sie kann sich janicht einmal einenLottoschein leistenmit der Mindestren-te. Wahrscheinlichist das eine der vie-len Maßnahmen zurArbeitsbeschaffungbei Ämtern und Be-hörden.

30. 3.Und schon wieder sind wir in meiner Woh-nung beim heftigen Arbeiten anzutreffen. Estut sich so einiges Gutes, aber natürlich fehltauch wieder etwas, das in einem Auto in Dra-senhofen herumliegt. Exakt zwei 6er-Dübelverhindern die Anbringung einer Küchenuhr.Ich beschließe, mehrere Probleme zusammen-kommen zu lassen und mich dann pauschal zuärgern.

1. 4.Ich schicke niemanden in den April. Auch dieWohnung verlasse ich nicht. Soll doch jemandanderer die Zeitungen stehlen.

2. 4.Heute vollende ich Tagebuch Nr. 200. Hoffent-lich hat sich bei der Lektüre niemand zu Todegelangweilt. Und wenn doch, dann kann ichauch nichts machen. Bis zum nächsten Malverabschiedet sich euer

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TAGEBUCHEINES

AUGUSTIN -VERKÄUFERS

Von A wie Abwasch bis W für Wiener Wohnen

OTTAGRINGO

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