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Aesthetica Herausgegeben von Karl Heinz Bohrer Palimpsest: wörtlich ein Schriftstück, dessen ursprüngli cher Text durch einen anderen ersetzt wurde, ohne daß der ursprüngliche gänzlich ver- schwunden, vielmehr unter dem neuen noch lesbar ist: ein bildhafter Beleg dafür, daß sich unter einem Text stets ein weiterer verbergen kann, der selten ganz getilgt ist- Voraussetzung für eine doppelte Lesart, bei der sich zumindestens ein Hypertext und sein Hypotext - so etwa Joyce' Ulysses und Homers Odyssee - übereinanderlagern. Hypertext: Damit meint Gerard Genette jedes durch Veränderung - etwa die Parodie - oder Imitation - so das Pastiche- aus einem vorgängigen Werk hervorgehende Werk. Parodie und Pastiche sind freilich nur die sicht- barsten und unscheinbarsten Manifestationen der Hypertextualität oder der Literatur auf zweiter Stufe, die im Akt des Lesens entworfen wird und deren Stellenwert und Wirksamkeit nicht nur im literarischen Feld gemein- hin verkannt werden. lm vorliegenden Buch unternimmt es Gerard Ge- nette, dieses weithin unbekannte Gelände zu erforschen und für die Literaturtheorie fruchtbar zu machen. Diese Untersuchung fügt sich ein in den theoretisch ambitionierten Versuch, für den Genettes Forschungen seit nunmehr fast 30 Jahren stehen: den der Ausarbeitung einer transtexruellen Poetik, die all jene Beziehungen analysiert, die ein Text auf explizite oder implizite Weise zu anderen Texten unterhält. Gerard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig UB Hagen 111 rn 11111111 9906829 01 Suhrkamp

Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig · Hypertext: Damit meint Gerard Genette jedes durch Veränderung - etwa die Parodie -oder Imitation -so das Pastiche-aus

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Aesthetica Herausgegeben von Karl Heinz Bohrer

Palimpsest: wörtlich ein Schriftstück, dessen ursprünglicher Text durch einen anderen ersetzt wurde, ohne daß der ursprüngliche gänzlich ver­schwunden, vielmehr unter dem neuen noch lesbar ist: ein bildhafter Beleg dafür, daß sich unter einem Text stets ein weiterer verbergen kann, der selten ganz getilgt ist-Voraussetzung für eine doppelte Lesart, bei der sich zumindestens ein Hypertext und sein Hypotext - so etwa Joyce' Ulysses und Homers Odyssee - übereinanderlagern.

H ypertext: Damit meint Gerard Genette jedes durch Veränderung -etwa die Parodie - oder Imitation - so das Pastiche- aus einem vorgängigen Werk hervorgehende Werk. Parodie und Pastiche sind freilich nur die sicht­barsten und unscheinbarsten Manifestationen der Hypertextualität oder der Literatur auf zweiter Stufe, die im Akt des Lesens entworfen wird und deren Stellenwert und Wirksamkeit nicht nur im literarischen Feld gemein­hin verkannt werden. lm vorliegenden Buch unternimmt es Gerard Ge­nette, dieses weithin unbekannte Gelände zu erforschen und für die Literaturtheorie fruchtbar zu machen. Diese Untersuchung fügt sich ein in den theoretisch ambitionierten Versuch, für den Genettes Forschungen seit nunmehr fast 30 Jahren stehen: den der Ausarbeitung einer transtexruellen Poetik, die all jene Beziehungen analysiert, die ein Text auf explizite oder implizite Weise zu anderen Texten unterhält.

Gerard Genette

Palimpseste

Die Literatur auf zweiter Stufe

Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig

UB Hagen

111 rn 11111111 9906829 01

Suhrkamp

~ u l,_ Titel der Originalausgabe:

G- Palimpsestes. La litterature au second degre

Etv Übersetzt nach der ergänzten 2. Auflage .

Veröffentlicht mit Unterstützung der Maison des Sciences de l'homme, Paris, und des Ministi:re fran~ais charge de la culture.

edition suhrkamp 1683 Neue Folge Band 683

Erste Auflage 1993 © Editions du Seuil, Paris 1982

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993 Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Satz: Hümmer, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Umschlagentwurf: Willy Fleckhaus Printed in Germany

2 3 4 5 6 - 98 97 96

Inhalt

I: Fünf Typen von Transtextualität, darunter die Hypertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II: Einige Vorsichtsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III: Parodia bei Aristoteles...................... 21

IV: Geburt der Parodie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 V: Die Parodie als Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

VI: Entwicklung der Vulgata... . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 VII : Die hypertextuellen Verfahren im Überblick . . 39

VIII: Kurze Parodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IX: Oullpische Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 X: Ein Wort für ein anderes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

XI: 6810000 Liter Vfasserpro Sekunde........... 76

XII: Burleske Travestie .. ..... .... ........ . ..... . 79 XIII: Modeme Travestien' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

XIV: Die Nachahmung als Figur... . . . . . . . . . . . . . . . 96 XV: Daß es unmöglich ist, einen Text direkt nachzu-

ahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

XVI : Schwierige Unterscheidung der Register des Mimotextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

XVII: Persiflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . u8 XVIII : Pastiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

XIX: Flaubert durch Proust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 XX: Pastiches in Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

XXI: Selbstpastiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 XXII: Fiktive Pastiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

XXIII: Komisch -Heroisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 XXIV: Gemischte Parodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 XXV: Der Antiroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

XXVI: Play it again, Sam .. .. . . .. .. . . . .. . .. . .. .. .. . 21 5

Bei den Angaben hinter den römischen Ziffern handelt es sich nicht um Kapitelüberschriften, sondern lediglich um Anhalts­punkte für diejenigen, die ohne nicht auskommen, aber kaum etwas finden werden, um sich darin zurechzufinden.

I

Gegenstand dieses Buches ist das, was ich an anderer Stelle1,

»mangels eines treffenderen Ausdrucks«, als Paratextualität be­zeichnet habe. Inzwischen ist mir jedoch etwas Besseres - oder Schlechteres: die Entscheidung liegt bei Ihnen - eingefallen. Ich ziehe »Paratextualität« somit zurück und verwende nun diesen Begriff für etwas ganz anderes. Jenes vorschnell formulierte Pro­gramm muß also zur Gänze umgearbeitet werden.

Arbeiten wir also um. Gegenstand der Poetik, so sagte ich unge­fähr, ist nicht der in seiner Besonderheit betrachtete einzelne Text (dies wäre eher Aufgabe der Literaturkritik), sondern der Archi­text, oder, wenn man so will, die Architextualität des Textes (wie man ja auch von der »Literarität der Literatur« spricht, was in etwa dasselbe bedeutet), d. h. die Gesamtheit jener allgemeinen und übergreifenden Kategorien - Diskurstypen, Äußerungsmodi, lite­rarische Gattungen usw.-, denen jeder einzelne Text angehört. 2 In einem etwas weiteren Sinn bezeichne ich heute als Gegenstand der Politik eher die Transtextualität oder textuelle Transzendenz des Textes, die ich grob als alles das definiert habe, »was ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt«. Die Transtextualität geht also über die Architextualität, sie einschlie­ßend, und über andere Arten transtextueller Beziehungen hinaus. Nur eine von ihnen wird uns hier unmittelbar beschäftigen, doch müssen wir, schon um eine erste Übersicht über unser Arbeitsge­biet zu gewinnen und es besser abzugrenzen, eine (neue) Liste dieser Beziehungen aufstellen, die wiederum Gefahr läuft , weder vollständig noch endgültig zu sein. Das Mißliche der »Forschung« liegt eben darin, daß man beim Forschen zwar manchmal findet, ... aber eben häufig auch das, wonach man gar nicht gesucht hat.

1 G . Genette, lntroduction a L'architexte, Paris: Seuil, 1979, S. 87. 2 Der Begriff Architext wu rde, wie mir etwas spät einfällt, von Louis Marin zur

Bezeichnung des »Ursprungstextes jedes möglichen Diskurses, seines ,Ursprungs, und des Umfelds seiner Entstehung« eingeführt (Pour une theorie du texte parabo­lique, in: Le Recit evangc!Lique, Bibliotheque des sciences religieuses, 1974 ... ). Er entspricht im großen und ganzen eher dem, was ich als H ypotext bezeichnen werde. Es ist höchste Zeit, daß uns ein Kommissar der Gelehrtenrepublik eine kohärente Terminologie vorschreibt.

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Heute (am 13. Oktober 1981) glaube ich fünf Typen transtextu­eller Be:,::iehungen unterscheiden zu können, die nun in der Rei­henfolge zunehmender Abstraktion, Implikation und Globalität aufgezählt werden sollen. Der erste wurde vor einigen Jahren von Julia Kristeva1 unter der Bezeichnung Intertextualität erforscht, und dieses Wort liefert uns unser terminologisches Paradigma. Ich definiere sie wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Koprä­senz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen, eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text. In ihrer einfachsten und wörtlichsten Form ist dies die traditionelle Praxis des Zitats2 (unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe); in einer weniger expliziten und auch weniger kanonischen Form die des Plagiats (etwa bei Lau­treamont), das eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung darstellt; und in einer noch weniger expliziten und weniger wörtlichen Form die der Anspielung, d. h . einer Aussage, deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verständlich wäre: Wenn also etwa Mme des Loges beim Sprichwortspiel mit Voiture ihm erklärt: »Celui-ci ne vaut rien, percez-nous-en d'un autre« [Dieser taugt nichts, zapfen Sie uns einen anderen an], hat das Verb percer (im Sinn von »vorschlagen«) nur dann seine Be­rechtigung und kann nur dann verstanden werden, wenn man weiß, daß Voiture Sohn eines Weinhändlers war [»percer«: ein Faß anstechen]. Oder wenn - in einem akademischeren Register - Boi­leau an Ludwig XIV. schreibt:

Au recit que pour toi je suis pret d' entreprendre, Je crois voir !es rochers accourir pour m'entendre3

[Zu der Erzählung, die ich bereit bin, für dich zu beginnen, glaube ich Felsen heranrollen zu sehen, die mir zuhören wollen],

dann würden diese höchst munteren und neugierigen Felsen wahr-scheinlich jedem, der mit der Legende von Orpheus und Amphion nicht vertraut ist, absurd erscheinen. Die implizite (und manchmal zur Gänze hypothetische) Verfassung des Intertextes stellt seit ei-1 J. Kristeva, Semeiotike, Paris: Seuil, 1969. 2 Zur Geschichte dieser Technik vgl. die Habilitationsschrift A. Compagnons, La

Seconde Main, Paris: Seuil 1979. 3 Das erste Beispiel stammt aus dem Artikel allusion von Dumarsais' Traktat Les

Tropes, das zweite aus den Figures du discours Fontaniers.

IO

nigen Jahren das hauptsächliche Arbeitsgebiet Miche( Riffaterres dar, der die Intertextualität im großen und ganzen wen umfassen­der definiert, als ich es hier tue; seine Definition schließt offenbar auch alles das ein, was ich als Transtextualität bezeichne: »Ein Intertext liegt dann vor«, so schreibt er etwa, »w_enn der_ L~ser Bezüge zwischen einem Werk und anderen wahrmmm~, die 1h'.11 vorhergegangen oder nachgefolgt s~n~«, w?bei er so wen_g_eht, 1? seiner Sicht die Intertextualität (wie ich die Transtextuahtat) mit der Literarität " leichzusetzen: »Intertexualität ist( . .. ) der charak­teristische Meihanismus literarischen Lesens. In der Tat bringt nur sie Signifikanz hervor, während das literarischen _und nicht­literarischen Texten gemeinsame lineare Lesen nu~ Smn_ pro~u­ziert. «1 Dieser prinzipiellen Ausweitung steht faktisch eme ~m­schränkung gegenüber, da die von Riffaterre unters:1chten B~_zuge durchweg semantisch-stilistische Mikrostrukturen m ~er Große~­ordnung eines Satzes, Fragmentes oder eines kurzen, 1m allgem_e1-nen poetischen Textes betreffen. Die »Spur« des Intertextes 1m Sinn Riffaterres bezieht sich somit (wie die Anspielung) eher auf einzeln vorkommende fic,uren (auf Details) als auf ein in seiner Gesamtstruktur betrachte~es Werk, dessen Bezüge in den hier un­tersuchten Bereich fallen. H. Blooms Buch über die Mechanismen literarischer Einflußnahme2 behandelt - bei völlig verschiedener Vorgangsweise - genau diesen Typus von eher intertextuellen als

hypertextuellen Interferenzen: . . . . . Der zweite Typus betrifft die 1m allgemeinen wemger explizite

und weniger enge Beziehung, die der _eigentliche Text i1:1 Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen mit dem un­terhält was man wohl seinen Paratext3 nennen muß: Titel, Unter­titel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Le­ser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkun~en; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Ums~hlag un~ viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem

1 M. Riffaterre, La trace de l'intertexte, in : La Pensee, Oktober 1980; La syllep:e intertextuelle, in: Poetique, 4o, November 1979. Vgl. La Production du texte, Pans: Seuil, 1979, und Semiotique de la poesie, Paris: Seuil, 1982.

2 H. Bloom, The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford U . P., 1973 ff. .

3 Dieser Begriff ist hier in einem mehrd_eutigen,_ ja wgar heuchlerischen . Smn zu verstehen, wie er etwa in Adjektiven wie parafiskalisch oder paramzlttanscl, zum

Ausdruck kommt .

II

sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet. Ich will hier nicht versuchen, das - zu­künftige? - Forschungsgebiet dieser Beziehungen anzuschneiden und ihm so den Reiz zu nehmen; wir werden ausreichend Gele­genheit bekommen, uns mit ihnen zu beschäftigen. Das Feld dieser Beziehungen stellt zweifellos einen privilegierten Ort der pragmatischen Dimension des Werkes dar, d. h. seiner Wirkung auf den Leser - und insbesondere den Ort dessen, was man seit Philippe Lejeunes Arbeiten über die Autobiographie den Gat­t~ngsvertrag (oder-pakt) nennt .1 Als Beispiel (und als Vorgriff auf emes der folgenden Kapitel) möchte ich hier nur den Ulysses von Joyce anführen. Wie bekannt, enthielt dieser Roman bei seinem Vorabdruck in mehreren Folgen Kapitelübers,chriften , die auf die B:ziehung_jedes dieser Kapitel zu einer Episode der Odyssee hin­wiesen: »Sirenen«, »Naus1kaa«, »Penelope« usw. Als der Roman in Buchform erschien , hatte Joyce diese Zwischentitel, die doch äußerst bedeutsam gewesen wären, gestrichen. Stellen nun diese verschwundenen, von den Kritikern aber nicht vergessenen Zwi­schentitel einen Bestandteil des Textes des Ulysses dar oder nicht? Diese heikle Frage, die ich gerne den Verfechtern der Textimma­nen~ anheimstelle_~ gehört eindeutig dem Bereich paratextueller Beziehungen an. Ahnlich kann auch ein »Prä-Text« in der Form von Entwürfen, Skizzen oder verschiedenen Ideensammlungen als Paratext funktionieren: Die Tatsache etwa, daß sich Lucien und . Mme de Chasteller schließlich wiederfinden, geht aus dem Text von_ L~cie~ Leuwen genaugenommen nicht hervor; einziger Beleg dafur 1st em Entwurf des Schlusses, der von Stendhal mitsamt dem ganzen Roman aufgegeben wurde. Sollen wir ihn nun in unsere Beurteilung der Handlung und der Charaktere der Personen mit einbeziehen? (Oder grundsätzlicher: Sollen wir einen postumen Text, aus dem nicht hervorgeht, ob und in welcher Form er veröf­fentlicht worden wäre, wenn der Autor länger gelebt hätte, über­haupt lesen?) Es kommt aber auch vor, daß ein Text zum Paratext eines anderen wird: Soll sich der Leser von Bonheur fou (1957),

1 Dieser Begriff ist recht optimistisch, was die Rolle des Lesers betrifft, der ja nichts unterschneben hat und entweder weiterliest oder nicht. Nichtsdestoweniger stellen Gattungs- ( oder andere) Merkmale für den Autor eine Verpflichtung dar, der er- bei Strafe emer schlechten Rezeption - öfter nachkommt, als zu erwarten wäre: Wir werden auf mehrere Beispiele dafür stoßen.

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der auf der letzten Seite erfahren muß, daß Angela nun wahr­scheinlich doch nicht zu Pauline zurückkehren wird, sich an Mort d'un personnage (1949) erinnern, in dem er ihren Kindern und Kindeskindern begegnet, was dieser Gelehrtenfrage von vornher­ein jede Grundlage entziehen würde? Wie man sieht, ist die Para­textualität vor allem eine Fundgrube von Fragen ohne Antwor­ten.

Den dritten Typus textueller Transzendenz' bezeichne ich als Metatextualität; dabei handelt es sich um die üblicherweise als »Kommentar« apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen: So bezieht sich etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes andeutungsweise und gleichsam stillschweigend auf Rameaus Neffe. Dies ist die kritische Beziehung par excellence. Selbstver­ständlich wurden bestimmte kritische Metatexte sowie die Ge­schichte der Gattung Literaturkritik bereits ausgiebig untersucht (Meta-Metatext); ich bin mir aber nicht sicher, ob dabei der Exi­stenz und der Bedeutung der metatextuellen Beziehung die ihr gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das kann aber noch werden. 2

Der fünfte (ich weiß), abstrakteste und impliziteste Typus ist die oben definierte Architextualität. Hier handelt es sich um eine un­ausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Aus­druck kommt (in Form eines Titels wie Gedichte, Essays oder Der Rosenroman usw. oder, was häufiger der Fall ist, eines Untertitels, der den Titel auf dem Umschlag ergänzt, etwa Hinweise wie Ro­man, Erzählung, Gedichte usw.). Bleibt sie vollkommen unausge­sprochen, dann entweder deshalb, weil Offensichtliches nicht mehr eigens betont werden muß, oder, im Gegenteil, um jegliche

1 Vielleicht hätte ich doch ausführen sollen, daß Transtextualität nur eine Transzen­denz unter anderen ist; immerhin unterscheidet sie sich von jener anderen Transzen­denz, die den Text mit der Realität außerhalb des Textes verbindet, die mich aber im Moment nicht (direkt) interessiert- ich weiß aber sehr wohl, daß es sie gibt : Es kann vorkommen, daß ich meine Bibliothek verlasse (ich habe keine Bibliothek). Und was das Wort Transzendenz betrifft, das mir als Übertritt zur Mystik angelastet wurde, so wird es hier in einem rein techriischen Sinn verwendet: als Gegenteil von, glaube ich, Immanenz.

2 Als ersten Ansatz dazu sehe ich M. Charles, La lecture critique, in : Poetiqi,e, 34, April 1978.

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Zugehörigkeit zurückzuweisen bzw. dieser Frage überhaupt aus­zuweichen. Jedenfalls wird von einem Text nicht verlangt, daß er seine Zugehörigkeit zu einer Gattung kennt und deshalb auch deklariert: Weder bezeichnet sich ein Roman explizit als Roman noch ein Gedicht als Gedicht. Und vielleicht noch weniger (da die Gattung ja nur ein Aspekt des Architextes ist) der Vers als Vers, Prosa als Prosa, eine Erzählung als Erzählung usw. Letztlich ist es nicht Aufgabe des Textes, seine Gattung zu bestimmen, sondern die des Lesers, des Kritikers, des Publikums, denen auch freisteht, die über den Paratext beanspruchte Gattungszugehörigkeit zu be­streiten: So hört man etwa häufig von dieser oder jener »Tragödie« Corneilles, daß sie keine echte Tragödie, oder daß der Rosenro­man kein Roman sei. Der implizite und durchaus diskussionswür­dige Charakter dieser Beziehung (zum Beispiel: Welcher Gattung gehört La Divina Commedia an?) sowie die Tatsache, daß sie hi­storischen Schwankungen unterworfen ist (lange narrative Dich­tungen wie das Epos werden heute kaum mehr als der »Poesie« zugehörig empfunden, deren Geltungsbereich zunehmend schrumpfte, bis sie mit der Lyrik gleichgesetzt wurde), verringert keineswegs ihre Bedeutung: Das Wissen um die Gattungszugehö­rigkeit eines Textes lenkt und bestimmt, wie man weiß, in hohem Maß den »Erwartungshorizont« des Lesers und damit die Rezep­tion des Werkes.

Ich habe die Erörterung des vierten Typus der Transtextualität absichtlich hintangestellt, da wir uns hier ausschließlich mit ihm befassen werden. Er ist es, den ich auf den Namen Hypertextuali­tät umgetauft habe. Darunter verstehe ich jede Beziehung zwi­schen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext1 bezeichne), wobei

1 Dieser Begriff wird von Mieke Bai , Notes on narrative embedding, in: Poetics To-day, Winter 1981, natürlich in einer davon völlig verschiedenen Bedeutung verwen­det, nämlich ungefähr in der, die ich einst der metadiegetischen Erzählung gab . Wie man sieht, liegt im Bereich der Terminologie noch einiges im argen. Manche werden daraus den Schluß ziehen: »Sprechen Sie doch einfach so wie die normalen Leute. « Ein schlechter Rat: Dies wäre noch schlimmer, da der alltägliche Sprachgebrauch von derart vertrauten und derart scheinbar transparenten Wörtern gepflastert ist, daß man sie gerne verwendet und Bände und Kolloquien lang theoretisiert, ohne auf die Idee zu kommen, sieb die Frage zu stellen, wovon man eigentlich spricht. Anläßlich des, wenn man so sagen kann, Begriffs der Parodie werden wir sehr bald auf ein typisches Beispiel für diese »Papageienkrankheit« stoßen. Der »Jargon« einer Fachsprache hat zumindest den Vorteil, daß jeder seiner Sprecher im allgemei­nen weiß und auch angibt, welche Bedeutung er allen seinen Begriffen gibt.

Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist . Wie aus der Metapher sich überlagern und der neo-ativen Bestimmuno- ersichtlich, handelt es sich hier um eine

t, t, •

provisorische Definition. Oder, um es anders zu sagen: Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades (für ~inen derart vorläufigen Zweck verzichte ich auf die Suche nach emem Präfix, das sowohl das hyper- als auch das meta- enthält), ~- h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann deskriptiver und intellektueller Art sein, wenn ein Metatext (etwa diese oder jene Seite der Poetik des Ari­stoteles) von einem anderen Text (Oedipus Rex) »spricht«. Sie kann aber auch ganz anders geartet sein, wenn B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht ex~stier~n. könn~e, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich, wie­derum provisorisch, als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren. Die Aeneis und der Ulysses stellen zweifellos, in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedener Hinsicht, zwei Hypertexte (unter anderen) ein und desselben Hypotextes, nämlich der Odyssee, dar. Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, wird der Hypertext weit häufiger als der Metatext als »eigentlich literarisches« Werk ange­sehen - unter anderem aus jenem einfachen Grund, weil er als Ableituno- von einem Werk narrativer oder dramatischer Fiktion nach wie

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vor ein Werk der Fiktion darstellt und deshalb in den Augen des Publikums sozusagen automatisch dem Feld ~er Lit_era­tur zugeschlagen wird; diese Bestimmung stellt aber keme semer unabdingbaren Eigenschaften dar, und wir werden durchaus auf Ausnahmen stoßen.

Ich habe diese beiden Beispiele auch aus einem anderen, wichti­geren Grund gewählt: Aeneis und Ulysses weisen zwar die Ge­meinsamkeit auf, von der Odyssee nicht auf dieselbe Weise a_bgelei­tet worden zu sein wie die betreffende Seite der Poetik von Odipus Rex, nämlich als Kommentar, sondern mittels eines transformie­renden Verfahrens; der Unterschied liegt darin, daß es sich in beiden Fällen nicht um denselben Typ von Transformation han­delt. Die von der Odyssee zum Ulysses führende Transformation kann (in sehr groben Zügen) als einfache oder direkte Transforma­tion beschrieben werden, die darin besteht, die Handlung der Odyssee ins Dublin des 20. Jahrhunderts zu verlegen. Die Trans-

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formation derselben Odyssee zur Aeneis ist entgegen allem An­schein (und trotz der engeren historischen Nachbarschaft) kom­plexer und indirekter, da Vergil die Handlung der Odyssee ja nicht wirklich von Ogygia nach Karthago und von Ithaka ins Latium verlegt: Er erzählt vielmehr eine ganz andere Geschichte (die Abenteuer Aeneas' und nicht Odysseus ' ), und läßt sich dabei von dem durch Homer1 mit der Odyssee (und ebenfalls mit der Ilias) begründeten, zugleich formalen und thematischen Gattungstypus leiten: er hat Homer, wie schon seit Jahrhunderten festgestellt wird, nachgeahmt. Die Nachahmung ist zweifellos auch eine Transformation, stellt aber ein komplexeres Verfahren dar, da sie -um es wiederum sehr summarisch zu sagen - zunächst die Erstel­lung eines Modells der (sagen wir epischen) Gattungskompetenz erfordert, das, der Odyssee (und möglicherweise auch anderen Werken) als einzelnen Performanzen entnommen, zur Erzeugung einer unbeschränkten Zahl mimetischer Performanzen fähig ist. Dieses Modell stellt somit eine Zwischenstufe, eine unerläßliche Vermittlung zwischen dem nachgeahmten und dem nachahmen­den Text dar, die bei der einfachen und direkten Transformation fehlt. Für die Transformation eines Textes kann ein einfacher und mechanischer Eingriff ausreichen (im Extremfall das Herausrei­ßen einiger Seiten: dies wäre eine reduzierende Transformation); um ihn nachzuahmen, muß er aber zumindest teilweise beherrscht werden: Man muß die Fähigkeit besitzen, diese oder jene seiner Eigenschaften zu reproduzieren, zu deren Nachahmung man sich entschlossen hat; es versteht sich zum Beispiel von selbst, daß Vergils mimetischer Gestus all das vernachlässigt, was bei Homer mit der griechischen Sprache untrennbar verbunden ist.

Man könnte zu Recht einwenden, daß das zweite Beispiel nicht komplexer als das erste ist und daß Joyce und Vergil lediglich ver­schiedene typische Eigenschaften der Odyssee beibehalten und ihre jeweiligen Werke auf sie abgestimmt haben: Joyce entnimmt ihr ein bestimmtes Handlungs- und Beziehungsschema zwischen den Personen, das er in einem völlig anderen Stil behandelt, Vergil entnimmt ihr einen bestimmten Stil, den er auf eine andere Hand­lung anwendet. Oder, krasser gesagt: J oyce erzählt die Geschichte

1 Selbstverständlich können weder der Ulysses noch die Aeneis auf eine direkte oder indirekte Transformation der Odyssee redi<ziert werden (auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen) . Diese ihre Eigenschaft ist aber die einzige, die für uns hier von Belang ist.

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des Ulysses in einer anderen Manier als Homer, Vergil erzählt die Geschichte des Aeneas in der Manier Homers; es handelt sich somit um spiegelverkehrte Transformationen. Diese schematische Opposition (dasselbe anders sagen/etwas anderes auf dieselbe Weise sagen) trifft in diesem Fall durchaus zu (obwohl sie die zum Teil vorhandene Analogie zwischen den Taten Ulysses ' und Aeneas' unberücksichtigt läßt) und wird sich uns in vielen Fällen als hilfreich erweisen. Wie wir aber ebenfalls sehen werden, hat sie keine universelle Gültigkeit und übergeht vor allem den unter­schiedlichen Komplexitätsgrad dieser beiden Verfahrenstypen.

Zur besseren Veranschaulichung dieses Unterschiedes muß ich paradoxerweise einfachere Beispiele heranziehen. Betrachten wir also einen literarischen (oder paraliterarischen) Minimaltext wie etwa folgendes Sprichwort: Le temps est un grand maftre [ wörtl. : Die Zeit ist ein großer Meister]. Um es zu transformieren, genügt es, irgendeinen seiner Bestandteile irgendwie abzuändern; wenn ich also einen Buchstaben streiche und schreibe: Le temps est un gran maftre, dann wird der »korrekte« Text auf eine rein formale Weise in einen »inkorrekten« Text (falsche Orthographie) verwan­delt; ersetze ich aber einen Buchstaben durch einen anderen und schreibe wie Balzac durch den Mund Mistigris'1 Le temps est un grand maigre [Die Zeit ist ein großer Magerer], bewirkt der Aus­tausch des einen Buchstabens den Austausch eines Wortes, was eine neue Bedeutung ergibt usw. Einen Text nachzuahmen ist et­was ganz anderes: Nachahmung setzt voraus, daß ich in dieser Aussage eine bestimmte, typische Manier erkenne (nämlich die des Sprichworts), d. h. zum Beispiel, um es kurz zu sagen, ihre Bün­digkeit, ihren entschiedenen, affirmativen Ton und ihre Metapho­rizität; und daß ich eine andere, geläufige oder weniger geläufige Meinung in dieser Manier (in diesem Stil) ausdrücke, zum Beispiel die Tatsache, daß alles seine Zeit braucht, woraus folgendes neues Sprichwort2 entsteht: Paris n'a pas ete bati en un jour [Paris ist nicht an einem Tag erbaut worden]. Hieraus geht, wie ich hoffe, deutlich hervor, inwiefern das zweite Verfahren komplexer und vermittelter ist als das erste. Dies hoffe ich deshalb, weil es mir im Moment nicht möglich ist, die Analyse dieser Verfahren, denen

, Honore de Balzac, Un deb,tt dans la vie, Paris: Gallimard, S. 771. 2 Weder bemühe ich mich , noch gebe ich mich der Lächerlichkeit preis, es selbst zu

erfinden: Es stammt aus demselben Text Balzacs, dem wir unten begegnen wer­

den.

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wir zu gegebener Zeit und am richtigen Ort noch begegnen wer­den, weiter auszuführen.

II

Als Hypertext bezeichne ich also jeden Text, der von einem frühe­ren Text durch eine einfache Transformation (wir werden einfach von Transformation sprechen) oder durch eine indirekte Transfor­mation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde. Bevor wir sie näher untersuchen, sollten wir uns mit zwei Punkten näher aus­einandersetzen.

Zunächst dürfen die fünf Typen der Transtextualität nicht als voneinander getrennte Klassen betrachtet werden, die keinerlei Verbindungen oder wechselseitige Überschneidungen aufweisen. Sie sind im Gegenteil eng, und oft in aufschlußreicher Weise mit­einander verbunden. Zum Beispiel: Architextualität als Zugehö­rigkeit zu einer Gattung kommt historisch fast immer durch Nachahmung (Vergil ahmt Homer nach, Guzman hat den Laza­rillo zum Vorbild), also als Hypertextualität zustande; ein Werk wird oft aufgrund paratextueller Hinweise einem Architext zuge­schrieben; diese Anhaltspunkte stellen selbst erste Anfänge von Metatexten dar (»dieses Buch ist ein Roman«), und der Paratext, ein Vorwort oder anderes, enthält weitere Formen des Kommen­tars; auch der Hypertext kann oft als Kommentar gelten : Eine Travestie wie Virgile travesti ist auf ihre Weise eine »Kritik« der Aeneis, und Proust sagt (und beweist auch), daß das Pastiche »praktische Kritik« ist; kritische Metatexte werden zwar ohne ei­nen - oft beträchtlichen - Anteil an Intertext in der Form von belegenden Zitaten konzipiert, aber kaum je so niedergeschrie­ben; auch der Hypertext kommt ohne dergleichen aus, aber auch nicht vollständig, und seien es nur Anspielungen im Text (Scarron verweist manchmal auf Vergil) oder Paratext (der Titel Ulysses); und vor allem stellt die Hypertextualität als Klasse von Werken selbst einen gattungsbildenden oder vielmehr Gattungen über­schreitenden Architext dar: Damit meine ich eine Klasse von Texten, die bestimmte kanonische (wenn auch »kleine«) Gattun­gen wie das Pastiche, die Parodie und die Travestie umfaßt und in anderen - wahrscheinlich allen anderen - enthalten ist: Bestimmte Epen wie die Aeneis, bestimmte Romane wie Ulysses, bestimmte

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Tragödien oder Komödien wie Phädra oder Amphitryon und be­stimmte Gedichte wie Booz endormi usw. gehören sowohl der anerkannten Klasse ihrer offiziellen Gattung als auch, und das wurde oft übergangen, der der Hypertexte an; und wie alle Gat­tungskategorien deklariert sich auch die Hypertextualität sehr häufig mittels eines paratextuellen Hinweises, der Vertragswert hat: Virgile travesti ist ein expliziter Vertrag über eine burleske Travestie, Ulysses ist, als Anspielung, ein impliziter Vertrag, der den Leser zumindest darauf aufmerksam machen kann, daß es zwischen dem Roman und der Odyssee eine Beziehung geben könnte usw.

Die zweite Feststellung bezieht sich auf einen Einwand, der dem Leser wahrscheinlich schon in den Sinn gekommen war, als ich die Hypertextualität als Klasse von Texten beschrieb . Betrachtet man die Transtextualität im allgemeinen nicht als Textklas~e (eine Be­hauptung ohne Sinn: es gibt keinen Text ohne textuelle Transzen­denz), sondern als einen Aspekt der Textualität und, in weiterer Folge, wie auch Michel Riffaterre zu Recht einwenden würde, der Literarität, dann müßte man ebenso ihre Bestandteile (Intertex­tualität, Paratextualität usw.) nicht als Klasse von Texten, sondern als Aspekte der Textualität betrachten.

Und genau dies ist- die Einschränkung ausgenommen- meine Meinung. Die verschiedenen Formen der Transtextualität sind zu­gleich Aspekte jeder Textualität und, potentiell und in verschieden großem Ausmaß, von Textklassen: Jeder Text kann zitiert und damit zum Zitat werden, aber das Zitat stellt eine wohldefinierte literarische Praxis dar, die über jede ihrer Anwendungen hinaus­geht und die allgemeine Kennzeichen aufweist; jede Äußerung kann eine paratextuelle Funktion erhalten, das Vorwort ( dasselbe gilt in meinen Augen für den Titel) ist aber eine Gattung; Litera­turkritik (Metatext) ist selbstverständlich eine Gattung; nur der Architext ist keine Klasse, da er, wenn man so sagen kann, die (literarische) Klasseität selbst ist: Dennoch zeichnen sich manche Texte durch eine prägnantere (relevantere) Architextualität aus als andere, und schon die simple Unterscheidung zwischen Werken mit mehr oder weniger Architextualität (mehr oder weniger klas­sifizierbaren Werken) stellt, wie ich schon an anderer Stelle an­merkte, einen ersten Entwurf einer architextuellen Klassifizierung dar.

Und die Hypertextualität? Selbstverständlich ist auch sie ein

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universeller Aspekt der Literarität: Es gibt kein literarisches Werk, das nicht, in einem bestimmten Maß und je nach Lektüre, an ein anderes erinnert; in diesem Sinn sind alle Werke Hypertexte. Aber wie bei den Gleichen aus Orwells 1984 sind es manche mehr (oder offensichtlicher, massiver und expliziter) als andere: Virgile trave­sti etwa mehr als Rousseaus Confessions (Bekenntnisse). Je weniger massiv und deklariert die Hypertextualität eines Werkes ist, desto stärker hängt seine Analyse vom grundlegenden Urteil oder einer Interpretationsentscheidung des Lesers ab: Ich kann entscheiden, daß Rousseaus Bekenntnisse ein aktualisiertes Remake der Be­kenntnisse des Augustinus sind, daß ihr Titel ein vertragliches Indiz dafür ist - und es werden sich, je nach dem Einfallsreichtum des Kritikers, detaillierte Bestätigungen dafür finden lassen. Ich kann in jedem beliebigen Werk die partiellen, lokalisierten und flüchti gen Echos irgendeines anderen, früheren oder späteren, Werks verfolgen. Ein derartiger Zugang hätte zur Folge, daß die Gesamtheit der Universalliteratur im Feld der Hypertextualität aufginge, was ihre Untersuchung zu einer kaum zu meisternden Aufgabe machen würde; vor allem aber räumt sie der hermeneuti­schen Tätigkeit des Lesers - oder Archilesers - eine Bedeutung ein und schreibt ihr eine Rolle zu, der ich nicht zustimmen könnte. Seit langem - und das durchaus zu meinem Vorteil - auf gespann­tem Fuß mit der Texthermeneutik stehend, lege ich keinen Wert darauf, noch im fortgeschrittenen Alter mich einer Hermeneutik des Hypertexts anzuschließen. Die Beziehung zwischen dem Text und seinem Leser sehe ich unter einem sozialisierteren, vertrags­ähnlichen Blickwinkel als Bestandteil einer bewußten und organi­sierten Pragmatik. Von einigen Ausnahmen abgesehen, werden wir uns hier der Hypertextualität von ihrer sonnigsten Seite her nähern, nämlich jener, bei der die Ableitung des Hypertexts vom Hypotext zugleich massiv (das ganze Werk B wurde vom ganzen Werk A abgeleitet) deklariert wird und mehr oder weniger offiziell erfolgt. Ursprünglich hatte ich sogar beabsichtigt, die Untersu­chung auf die offiziell hypertextuellen Gattungen (freilich ohne das Wort zu verwenden) wie die Parodie, die Travestie oder das Pastiche einzuschränken. Bestimmte Gründe, von denen noch die Rede sein wird, haben mich davon abgebracht oder genauer gesagt davon überzeugt, daß eine derartige Beschränkung nicht durch­führbar ist. Wir haben daher einen weiten Weg vor uns: er führt von den genannten manifesten Praktiken bis hin zu inoffizielle-

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ren - derart inoffiziellen, daß es für sie keine Bezeichnung gibt und wir Begriffe für sie bilden werden müssen. Selbst wenn wir eine punktuelle und/oder fakultative Hypertextualität (die in meinen Augen eher der Intertextualität zuzurechnen wäre) beiseite lassen, haben wir, wie Laforgue in etwa sagt, noch genug Unendlichkeit am Hals.

III

Parodie: Dieser Begriff gibt heute zu einer vielleicht unvermeid­lichen Verwirrung Anlaß, die offensichtlich älteren Datums ist. Am Ursprung seiner Verwendung, oder sehr nahe an ihm, steht einmal mehr die Poetik des Aristoteles.

Aristoteles definiert die Dichtung als in Verse gefaßte Darstel­lung menschlicher Handlungen und unterscheidet dabei zwei Ty­pen von Handlungen mit verschiedenem moralischem und/oder gesellschaftlichen Anspruch, nämlich hohe und niedrige, sowie zwei Darstellungsmodi, den narrativen und den dramatischen. 1

Aus der Überschneidung dieser beiden Oppositionen läßt sich ein Raster mit vier Begriffen bilden, der dem aristotelischen System der Dichtungsgattungen entspricht: vornehme Handlungen im dramatischen Modus: die Tragödie; vornehme Handlungen im narrativen Modus: das Epos; niedrige Handlungen im dramati­schen Modus: die Komödie; die niedrige Handlung im narrativen Modus wird lediglich durch Anspielungen auf Werke erläutert, die mehr oder weniger unmittelbar mit dem Begriff der par8dia be­zeichnet werden. Da Aristoteles diesen Abschnitt nicht ausgear­beitet hat oder dieser uns nicht erhalten geblieben ist, und da auch die von ihm in diesem Zusammenhang zitierten Texte nicht über­liefert sind, sind wir auf Hypothesen darüber angewiesen, woraus die Vierte Welt seiner Poetik grundsätzlich oder strukturell be­steht; diese Hypothesen stimmen nicht unbedingt miteinander überein.

Zunächst die Etymologie: 8de, das ist der Gesang; para: »längs«, »neben«; par8dein, daraus par8dia, es könnte sich (so­mit?) um ein Daneben-Singen handeln, also um einen falschen Gesang, oder um einen Gesang in einer anderen Stimme, um die

1 Aristoteles, Poetik, Kap.!; vgl. G. Genette, Introduction a l'architexte, Kap. II.

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Gegenstimme im Kontrapunkt, oder um einen Gesang in einer anderen Tonlage: eine Melodie also verformen oder transponieren. Auf das Epos übertragen, legt diese Bedeutung mehrere Hypothe­sen nahe . Die wörtlichste nimmt an, daß der Rhapsode lediglich die traditionelle Diktion und/oder die Musikbegleitung des Vor­trags modifizierte . Es wurde die Meinung vertreten 1 , daß dies irgendwann zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert die Innova­tion eines gewissen Hegemon von Thasos, dem wir noch begegnen werden, gewesen sei . Sofern dies wirklich die ersten Parodien wa­ren, griffen sie nicht in den eigentlichen Text ein (was nicht aus­schließt, daß dadurch auf die eine oder andere Art auf ihn eingewirkt wurde), und es versteht sich von selbst, daß davon keine schriftlichen Überlieferungen erhalten geblieben sind. In einem weiteren Sinn kann der Vortragende, indem er Eingriffe in den Text vornimmt, diesen mit Hilfe weniger (minimaler) Modifi­kationen auf einen anderen Gegenstand umlenken und ihm eine andere Bedeutung geben. Diese Interpretation, auf die wir auch noch zurückkommen werden, entspricht, um es sofort zu sagen, einer der heutigen Bedeutungen des französischen parodie und einer transtextuellen Praxis, die nach wie vor in (voller) Blüte steht. In einem weiter gefaßten Sinn könnte diese Transposition eines epischen Textes aus einer stilistischen Modifizierung beste­hen, die ihn zum Beispiel aus seinem angestammten vornehmen Register in ein umgangssprachlicheres, ja sogar vulgäres Register transportiert: Diese Praxis wird im r 7. Jahrhundert durch burleske Travestien vom Typ der Eneide travestie veranschaulicht. Aus der obengenannten Tradition ist uns aber weder zur Gänze noch in verstümmelter Form ein antikes Werk überliefert, das Aristoteles hätte kennen können und das uns die eine oder andere dieser For­men erläutern könnte.

Auf welche Werke bezieht sich Aristoteles also? Vom zitierten Hegemon von Thasos, dem einzigen, dem er die von ihm als par8-dia bezeichnete Gattung zuschreibt, ist nichts erhalten geblieben, aber bereits die Tatsache, daß Aristoteles ihn erwähnt und eines oder einige seiner »Werke«, wenn auch nur oberflächlich, be­schreibt, zeigt, daß dieser sich nicht damit begnügt haben konnte, das Epos zu rezitieren (eine andere Tradition schreibt ihm eine ebenfalls »parodistisch« inspirierte Gigantomachie zu, wobei es

1 Hermann Kohler, Die Parodie, in : Glotta 35, 1956, und Wido Hempel, Parodie, Travestie und Pastiche, in: Germanisch-Romanische Monatssch rift, 1965.

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sich allerdings eher um eine dramatische Parodie handeln dürfte, wodurch sie automatisch aus dem von Aristoteles definierten Feld herausfiele). Von Nikochares zitiert Aristoteles offenbar (die Stelle ist ungewiß) eine Deiliade (von deilos, »feige «), die eine Jlias der Feigheit (zieht man die traditionelle Bedeutung des Suffixes -iade in Betracht, stellt Deiliade ein Oxymoron dar) und somit eine Art Anti-Epos gewesen sein soll: Das bringt uns der Sache schon näher, ist aber noch ein wenig vage. Von Homer führt er einen Margites an, der sich zu den »Komödien« so verhalte »wie Jlias und Odyssee zu den Tragödien«: Diese Verhältnisgleichung gab mir die Idee einer Tabelle mit vier Feldern, die mir logisch unangreifbar und sogar absolut notwendig erscheint, was auch immer man (anstatt des Margites) in das vierte Feld schreibt. Nun definiert Aristoteles aber den komischen Gegenstand als Darstel­lung von Personen »unterdurchschnittlich niedrigen« Standes und bestätigt dies eben anhand der »Parodien« des Hegemon und der Deiliade. Eine rein mechanische Verwendung dieser Definition würde die Hypothese (die hypothetische Einordnung dieser ver­schwundenen Texte) einer dritten Form von »Parodie« des Epos nahelegen, die man viel später, und wie wir sehen werden, etwas zu spät, als ,,komisch-heroisches Gedicht« bezeichnen wird und die darin besteht, ein niedriges und zum Lachen reizendes Thema wie die Geschichte eines hasenfüßigen Kriegers in einem epischen (vornehmen) Stil abzuhandeln. Auch ohne auf die Werke Hege­mons, auf die Deiliade oder den Margites zurückgreifen zu kön­nen, sehen wir, daß alle erhaltenen, und zweifellos späteren, griechischen Parodien dieser dritten Form entsprechen, ob es sich nun um die wenigen von Athenaios von Naukratis 1 zitierten Frag­mente oder um den offenbar vollständigen Text der lange Zeit ebenfalls · Homer zugeschriebenen Batrachomyomachia handelt, die den Gipfelpunkt der komisch-heroischen Gattung darstellt.

Diese drei Formen der »Parodie« - also die, die der Begriff par-8dia selbst nahelegt und die, die sich aus den erhaltenen Texten erschließen lassen - sind voneinander völlig verschieden und kön­nen nur schwer aufeinander zurückgeführt werden. Ihnen gemein ist die Verspottung des Epos (oder auch jeder anderen vornehmen oder einfach ernsten und - eine im aristotelischen Rahmen not­wendige Einschränkung - narrativen Gattung), die durch eine

1 Deipnosophistes, 2. - 3. Jh . n. Chr., XV. Buch.

Trennung von Schrift (Text, Stil) und Thema (dem heroischen In­halt) zustande kommt. Die erste Form geht aus der Verwendung eines vornehmen, modifizierten oder nicht modifizierten Textes für einen anderen, im allgemeinen vulgären Gegenstand hervor; die zweite aus der Transposition eines vornehmen Textes in einen vulgären Stil; und die dritte aus der Verwendung eines vornehmen Stils, dem des Epos im allgemeinen, der Epen Homers oder, sofern eine derartige Spezifizierung überhaupt sinnvoll ist, eines Werkes Homers (der Ilias), für einen vulgären und nicht-heroischen Ge­genstand. Im ersten Fall löst der »Parodist« einen Text von seinem Gegenstand ab, indem er ihn gerade so weit modifiziert, wie es notwendig ist; im zweiten überträgt er ihn zur Gänze in einen anderen Stil, läßt aber den Gegenstand so weit unberührt, wie es diese stilistische Transformation zuläßt; und im dritten Fall über­nimmt er dessen Stil, um in diesem Stil einen anderen, vorzugs­weise antithetischen Text über einen anderen Gegenstand zu verfassen. Griechisch par8dia und lateinisch parodia decken, ety­mologisch gesehen, die erste und, im übertragenen Sinn, auch die zweite, und, empirisch (wie es scheint), die dritte ab. Das Franzö­sische wird diese Begriffsverwirrung übernehmen und sie im Lauf der Jahrhunderte noch etwas weiter verschärfen.

IV

Geburt der Parodie? Auf Seite 8 des Essai sur la parodie von Oc­tave Delepierre 1 stößt man auf folgende Fußnote, die einen zum Träumen bringen kann: »Wenn die Rhapsoden die Verse der Ilias oder der Odyssee sangen und dabei merkten, daß diese weder den Erwartungen der Zuhörer entsprachen noch ihre Neugier befrie­digen konnten, mengten sie zum Zweck der Zerstreuung als Ein­lage kleine Gedichte bei, die ungefähr aus denselben Versen zusammengesetzt waren wie die rezitierten; dabei gaben sie ihnen jedoch eine andere, zur Zerstreuung des Publikums geeignete Be­deutung. Dies nannten sie parodieren, von para und 8de, Gegen­stimme.« Man würde gerne wissen, woher unser Gelehrter diese außerordentlich wichtige Information hat, und ob sie nicht seine Erfindung ist. Da er auf derselben Seite das Wörterbuch Richelets

1 0. Delepierre, Essai sur la parodie chez /es Grecs, /es Romains et /es modernes, London 1 870.

zitiert, schlagen wir auf gut Glück bei Richelet (1759, Art. par­odie) nach; auch er bezieht sich auf den öffentlichen Vortrag der Aeden und fügt hinzu: »Da aber diese Erzählungen langatmig wa­ren und weder den Erwartungen der Zuhörer entsprachen noch ihre Neugier befriedigen konnten, ließ man als für ihre Zerstreu­ung gedachte Einlage Schauspieler auftreten und kleine Gedichte vortragen, die aus denselben Versen bestanden wie die soeben rezi­tierten; dabei gaben sie ihnen jedoch eine andere, zur Zerstreuung des Publikums geeignete Bedeutung.« Das ist also die versteckte, aber, wie so oft, einige Zentimeter neben der Stelle, an der sie versickert ist, wieder ans Tageslicht tretende »Quelle« Delepier~ res. Und da Richelet sich an derselben Stelle, wenn auch in ande­rem Zusammenhang, auf die Autorität des Abbe Sallier beruft, werfen wir einen Blick in den Sallier1: Er führt, um sich von ihr zu distanzieren, die seiner Meinung nach weitverbreitete Ansicht an, die die Erfindung der Parodie Homer selbst zuschreibt, »wenn er, wie es des öfteren vorkommt, mit Hilfe derselben Verse verschie­dene Dinge ausdrückt. Diese Wiederholungen verdienen nicht mehr den Namen Parodie als jene geistreichen Spiele, die man als Centi bezeichnet und die darin bestehen, daß man aus Homer, Vergil oder einem anderen berühmten Dichter entnommenen Ver­sen kunstvoll ein ganzes Werk zusammensetzt.« Auf diese Auffas­sung, die Sallier vielleicht vorschnell zurückweist, werden wir noch zurückkommen. »Möglicherweise«, so fährt er jedenfalls fort, »gibt es aber mehr Grund zur Annahme, daß die von Stadt zu Stadt ziehenden und Teile aus Homers Dichtungen vortragenden Sänger nach der Rezitation eines Abschnittes Possenreißer auftre­ten ließen, die die Zuhörer zu unterhalten suchten, indem sie das soeben Gehörte ins Lächerliche zogen. Obwohl mir diese Vermu­tung recht wahrscheinlich zu sein scheint, wage ich es weder, sie allzu sehr herauszustreichen, noch sie als Gedanke darzustellen, dem man zu folgen hat. « Sallier beruft sich auf keine Autorität zur Unterstützung einer »Vermutung«, für die er zwar keine Verant­wortung übernimmt, dabei aber sehr wohl durchblicken läßt, daß sie von ihm stammt; zufälligerweise verwies Richelet aber nicht nur auf Sallier, sondern zugleich auch auf die Poetik des Julius­Caesar Scaliger. Wir schlagen also bei Scaliger2 nach: »So wie die

1 Abbe Sallier, Discours sur /'origine et sur le caractere de la parodie, in: Histoire de l'Academie des /nscriptions, Bd. VII, 1733.

2 J. C. Scaliger, Poetices libri VII, 1561, !, 42.

Satire aus der Tragödie und der Mimus aus der Komödie, so ist die Parodie aus der Rhapsodie entstanden[ ... ] Sobald die Rhapsoden nämlich ihren Vortrag unterbrachen, traten Spaßmacher auf, die zur Zerstreuung des Geistes das soeben Gehörte verdrehten . Man nannte sie Parodisten, da sie neben dem ernsten Thema, um das es sich handelte, andere, komische Themen heimlich einführten. Die Parodie ist daher eine verdrehte Rhapsodie, die mit Hilfe verän­derter Worte zu komischen Gegenständen hinführt« (Quemad­modum satura ex tragoedia, mimus e comedia, sie parodia de rhapsodia nata est [ ... ] quum enim rhapsodi intermitterent recita­tionem lusus gratia prodibant qui ad animi remissionem omnia illa priora inverterent. Hos iccirco parodous nominarunt, quia praeter rem seriam propositam alia ridicula subinferrent. Est igitur paro­dia rhapsodia inversa mutatis vocibus ad ridicula retrahens.) Die­ser Text, offensichtlich die Quelle der zuvor erwähnten, ist nicht besonders klar, und meine Übersetzung tut seiner Bedeutung da oder dort vielleicht auch Gewalt an. Immerhin läßt er die mit der Etymologie von parodia, die von Scaliger auch angeführt wird, übereinstimmende Vorstellung vorri Ursprung der Parodie als glaubwürdig erscheinen: eine mehr oder weniger wörtliche Wie­derholung des epischen Textes, der in Richtung auf eine komische Bedeutung hin umgelenkt (verdreht) wird. Im 10 . Jahrhundert behauptete der byzantinische Enzyklopädist Suidas kurz und knapp 1, die Parodie bestünde - ich zitiere Richelets Übersetzung, die die Knappheit dieser Aussage noch verstärkt (griechischer Text: houto legetai hotan ek tragodias metenekhthe ho Logos eis komodian, wörtlich: »sagt man, wenn der Text einer Tragödie zu einer Komödie gemacht wird«) - darin, »aus den Versen einer Tragödie eine Komödie zusammenzustellen«. Scaligers Beschrei­bung der Transposition des Dramatischen ins Narrative stellt die Parodie als komische Erzählung dar, die, abgesehen von unerläß­lichen Modifikationen des Textes, aus den Versen eines Epos besteht. Die Parodie, die »Tochter der Rhapsodie« ( oder auch der Tragödie), sei somit dort entstanden, wo Epen vorgetragen (oder Tragödien aufgeführt) wurden, wobei ihr Text zwar unverändert blieb, dabei aber so »verdreht« wurde, wie man einen Handschuh umstülpt. Auch hier würde man gerne weiter zurückgehen kön­nen, hinter Scaliger und Suidas von Überlieferung zu überliefe-

1 Lexikon, Art. parödia.

rung vorstoßen und schließlich an ein Originaldokument gelan­gen. Aber weder Scaliger noch Suidas führen ein solches an, und der Faden scheint hier, bei dieser rein theoretischen Hypothese abzureißen, zu der sich Scaliger vielleicht durch die (unklare) Be­ziehung zwischen der Tragödie und dem Satyrspiel hat inspirieren lassen. Die Geburt der Parodie verliert sich, wie vieles andere auch, in grauer Vorzeit.

Kommen wir aber auf die vom Abbe Sallier abgelehnte Auffassung »einiger(?) Gelehrter« zurück. Immerhin trifft zu, daß sich Ho­mer, wörtlich oder nicht, oft wiederholt, und daß diese rekurren­ten Formeln nicht immer auf dasselbe Thema angewandt werden. Die Eigenart der Formeltechnik, dieser Signatur des Vortrags und dieses Angelpunktes epischen Rezitierens, liegt nicht nur in jenen schmückenden Epitheta, die den Namen dieses oder jenes Helden unweigerlich begleiten - der leichtfüßige Achilles, der erfindungs­reiche Odysseus - , sondern vor allem in jenen verstreuten Stereo­typen, Halbversen, Hexametern oder Versgruppen, die der Sänger in mal ähnlichen, mal stark unterschiedlichen Zusammenhängen bedenkenlos wiederverwendet. Houdar de La Motte1 stieß sich an dem, was er die »Refrains « der Ilias nannte: »Die Erde erscholl vom Getöse ihrer Waffen«, »er fuhr zu den dunklen pforten des Hades hinab« usw., und entrüstete sich darüber, daß Achilles im Zweiten Gesang genau dieselbe Rede hält, um di_e Moral seiner Männer zu stärken, wie im Neunten Gesang, um sie von der Not­wendigkeit einer sofortigen Flucht zu überzeugen. Solche Wieder­holungen können auch als Selbstzitate aufgefaßt werde_n, und da bei ihnen derselbe Text auf einen anderen Gegenstand (m anderer Absicht) angewandt wird, läßt sich in ihnen das Prinzip der Par­odie ausmachen. Sicher nicht ihre Funktion, da der Sänger durch diese Wiederholungen gewiß nicht zum Lachen reizen will; wenn dies aber ungewollt dennoch geschah, kann man ihn dann als Par­odisten wider Willen bezeichnen? In der Tat gibt der epische Stil aufgrund seiner stereotypen Formeln nicht nur ein ideales Ziel für gefällige Nachahmungen und parodistische Verdrehungen ab, sondern er ist sozusagen ständig auf dem Sprung zum ungewollten Pastichieren und Parodieren seiner selbst. Pastiche und Parodie sind dem Text des Epos förmlich eingeschrieben, was Scaligers

1 A . Houdar de La Motte, Discours sur Hom fre, Vorwort zu seiner »Übersetzung«

der Ilias, 1714 .

Definition eine tiefere Bedeutung verleiht, als ihm selbst bewußt gewesen sein dürfte: Als Tochter der Rhapsodie wächst die Par­odie immer schon in deren Mutterschoß heran, und die Rhapso­die, die sich ständig und wechselseitig von ihrem eigenen Spröß­ling ernährt, ist, wie die Herbstzeitlosen Apollinaires, die Tochter ihrer Tochter. Die Parodie ist die Tochter der Rhapsodie und um­gekehrt. Ein tiefgründigeres und auf jeden Fall interessanteres Mysterium als das der Dreieinigkeit: Die Parodie ist die Rückseite der Rhapsodie, und man weiß, was Saussure über die Beziehung von Vorder- und Rückseite gesagt hat. Ein Komiker ist ja auch nichts anderes als ein Tragöde, von hinten gesehen.

V

In den Poetiken der Klassik und sogar in der (noch zu besprechen­den) Auseinandersetzung um die beiden Formen des Burlesken wird das Wort Parodie im allgemeinen nicht verwendet. Weder Scarron und seine Nachfolger bis hin zu Marivaux, noch Boileau oder, wenn ich nicht irre, Tassoni oder Pope betrachten ihre bur­lesken und neoburlesken Werke als Parodien - und sogar der Chapelain decoiffe, dem wir uns als kanonisches Beispiel dieser Gattung in ihrer striktesten Definition ausführlich widmen wer­den, trägt den nichtssagenden Titel Komödie.

Von der Poetik vernachlässigt, nimmt der Begriff Zuflucht in der Rhetorik. Dumarsais untersucht ihn in seinem Traktat Les Tropes (1729) als eine der Figuren »mit angeglichenem Sinn« und zitiert und paraphrasiert d"abei Robertsons griechischen Thesau­rus, der die Parodie als »ein in Nachahmung eines anderen ge­schriebenes Gedicht« definiert, wobei »Verse, die jemand anderer in unterschiedlicher Absicht geschmiedet hat, spöttisch verdreht werden. Man hat durchaus die Freiheit«, fügt Dumarsais hinzu, »das, was für das Vorhaben nötig ist, hinzuzufügen oder heraus­zunehmen; man soll aber so viele Worte unverändert lassen, wie zur Erinnerung an das Original, von dem man sich den Text borgt, notwendig ist. Der diesem Original zugrundeliegende Gedanke und seine Anwendung auf einen unernsten Gegenstand bilden ei­nen Kontrast, der die Einbildungskraft überrascht, und darin besteht das Komische an der Parodie. Corneille sagte über den Vater Chimenes im erhabenen Stil:

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Ses rides sur son front ont grave ses exploits.

[Im Antlitz trug er die Spuren seiner Heldentaten.)

Racine hat diesen Vers in Die Kläger parodiert: Der Beklagte scherzt über seinen Vater, der Gerichtsdiener war, folgenderma­ßen:

II gagnait en un jour plus qu'un autre en six mois, Ses rides sur son front gravaient tous ses exploits.

[Er verdiente im Tag, was ein andrer im Jahr. Man sah ihm gleich an, was für'n Hauptkerl er war.) 1

Bei Corneille bedeutet exploits denkwürdige Unternehmung, mi­litärische Heldentat, in Die Kläger werden darunter hingegen die Tätigkeiten und Amtshandlungen eines Gerichtsdieners verstan­den. Es heißt, der große Corneille sei über diesen Scherz des jungen Racine sehr erbost gewesen. «

Die strengste Form der Parodie, die Minimalparodie, besteht somit in der wörtlichen Wiederholung eines bekannten Textes, dem eine neue Bedeutung gegeben wird, wobei mit den Worten, soweit dies möglich und erforderlich ist, auf eine ähnliche Weise gespielt werden muß, wie es Racine hier mit dem ~ort exfloits tut: das perfekte Beispiel eines intertextuellen Wortspiels. Die elegan­teste, weil sparsamste Parodie ist somit nichts anderes als ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Zitat, dessen ursprüngliche Be­deutung verdreht und dessen getragener Ton verfälscht wird, wie dies auch Moliere auf köstliche Weise gelingt, wenn er folgenden Vers aus Sertorius dem Arnolphe in den Mund legt:

Ich bin der Herr im Haus, und du folgst mir aufs Wort .2

Die Verdrehung der Bedeutung ist aber unbedingt erforderlich, wenn auch Michel Butor aus einem anderen Blickwinkel zu Recht sagen konnte, daß jedes Zitat schon parodistisch sei3 , und obwohl , Racine, Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. I. Deutsche N achdich-

tung von Wilhelm Willige, Darmstadt, Berlin, Neuwied: Luchterhand, 1956, s. 129.

2 Moliere, Sertorius, Februar 1662, V. 1868; Die Schule der Frauen, Dezember 1662, V. 642 (Dt. v. Hans Weigel , Zürich 1988 , S. 42) . Und hier noch eine andere parodi­stische Verwendung eines Verses des Sertorius, wobei jedoch ein Wort verändert wurde: Ah, pour i!tre Romain, je n'en suis pas moins homme! (V. 11 94) wird in Tartuffe (V. 966) zum berühmten Gewiß ; der frömmste Mann bleibt aber doch ein Mann! (Tarti,Jfe oder der Betrüger. Deutsch von H. Weigel, Zürich: Diogenes, 1967, s. 38.)

3 Michel Butor, Repertoire III , S. 18.