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b Angesichts einer komplexen und schwer prognostizierbaren Weltwirtschaftslage stehen zahlrei- che Industrien vor Transformatio- nen und unter Innovationsdruck. Auch in der IT-Industrie sind in den kommenden Jahren radikale Neuerungen gefragt. Im Fokus der IBM-Forschung stehen derzeit drei Herausforderungen: Das Ende der Top-down-Miniaturisierung, der steigende Energiebedarf der Re- chenzentren und Big Data – die Ex- plosion an digitalen Daten. Die Miniaturisierung von Tran- sistoren steigerte bisher die Leis- tung von Computerchips. Heute befinden sich auf einem Hochleis- tungschip von der Größe eines Fin- gernagels über zwei Milliarden Transistoren, deren kleinste Struk- tur bei 22 Nanometer liegt. Das entspricht dem Durchmesser eines 3500-mal gespaltenen Haares. In naher Zukunft wird diese Miniatu- risierung an physikalische Grenzen stoßen und neue Konzepte werden benötigt, um die Leistung von Computern weiter zu steigern. Gleichzeitig müssen IT-Systeme noch energieeffizienter arbeiten. Die globale Informationstechnik benötigt heute so viel Energie wie der gesamte Flugverkehr und wird diesen Bedarf innerhalb weniger Jahre verdoppeln. Grund für die weiterhin ungebro- chene Nachfrage nach Rechenleis- tung und Speicher ist eine fort- schreitende Digitalisierung und Ver- netzung von Computern und Kom- munikationssystemen sowie die Ausbreitung von Sensorik und so- zialen Netzwerken. Dies erzeugt riesige Datenmengen: pro Tag welt- weit ungefähr 2,5 Trillionen Bytes. 90 Prozent der heute vorliegenden Daten entstanden in den vergange- Matthias Kaiserswerth Wie kann die Forschung widersprüchlich scheinenden Erwartungen – kurzfristig Wert schaffen und langfristig Neues hervorbringen – gerecht werden? Ein Blick auf das strategische Forschungsmanage- ment bei IBM zeigt, wie der Spagat als Antrieb genutzt werden kann. Aus der Zwickmühle zur Innovation BChemiewirtschaftV Abb. 1. Hochleistungsfähige Mikrokanalkühler für Computerchips (links im Schema) und ein ausgeklügelter Kreislauf ermöglichen es, mit heißem Wasser zu kühlen und die Abwärme zu nutzen, etwa für die Gebäudeheizung. (Grafik: IBM Research – Zürich) 1201 Nachrichten aus der Chemie| 60 | Dezember 2012 | www.gdch.de/nachrichten

Aus der Zwickmühle zur Innovation

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b Angesichts einer komplexen und schwer prognostizierbaren Weltwirtschaftslage stehen zahlrei-che Industrien vor Transformatio-nen und unter Innovationsdruck. Auch in der IT-Industrie sind in den kommenden Jahren radikale Neuerungen gefragt. Im Fokus der IBM-Forschung stehen derzeit drei Herausforderungen: Das Ende der Top-down-Miniaturisierung, der steigende Energiebedarf der Re-chenzentren und Big Data – die Ex-plosion an digitalen Daten.

Die Miniaturisierung von Tran-sistoren steigerte bisher die Leis-

tung von Computerchips. Heute befinden sich auf einem Hochleis-tungschip von der Größe eines Fin-gernagels über zwei Milliarden Transistoren, deren kleinste Struk-tur bei 22 Nanometer liegt. Das entspricht dem Durchmesser eines 3500-mal gespaltenen Haares. In naher Zukunft wird diese Miniatu-risierung an physikalische Grenzen stoßen und neue Konzepte werden benötigt, um die Leistung von Computern weiter zu steigern.

Gleichzeitig müssen IT-Systeme noch energieeffizienter arbeiten. Die globale Informationstechnik

benötigt heute so viel Energie wie der gesamte Flugverkehr und wird diesen Bedarf innerhalb weniger Jahre verdoppeln.

Grund für die weiterhin ungebro-chene Nachfrage nach Rechenleis-tung und Speicher ist eine fort-schreitende Digitalisierung und Ver-netzung von Computern und Kom-munikationssystemen sowie die Ausbreitung von Sensorik und so-zialen Netzwerken. Dies erzeugt riesige Datenmengen: pro Tag welt-weit ungefähr 2,5 Trillionen Bytes. 90 Prozent der heute vorliegenden Daten entstanden in den vergange-

Matthias Kaiserswerth

Wie kann die Forschung widersprüchlich scheinenden Erwartungen – kurzfristig Wert schaffen und

langfristig Neues hervorbringen – gerecht werden? Ein Blick auf das strategische Forschungsmanage-

ment bei IBM zeigt, wie der Spagat als Antrieb genutzt werden kann.

Aus der Zwickmühle zur Innovation

BChemiewirtschaftV

Abb. 1. Hochleistungsfähige Mikrokanalkühler für Computerchips (links im Schema) und ein ausgeklügelter Kreislauf ermöglichen es,

mit heißem Wasser zu kühlen und die Abwärme zu nutzen, etwa für die Gebäudeheizung. (Grafik: IBM Research – Zürich)

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nen zwei Jahren. Um aus den riesi-gen Datenmengen in nützlicher Frist Informationen zu gewinnen, wird an Auswertungstechniken und lernenden Systemen geforscht.

Forschungsmanagement – eine große Kunst

b Die Erwartungen an die For-schung sind in der IT-Industrie nicht anders als in der Chemiewirt-schaft: Wie sind Umgebung, Rah-menbedingungen, Kultur, Prozess

und Management von Forschung zu gestalten, um die Entstehung des Neuen zu forcieren und zum Markterfolg zu führen?

Die Forschung in großen Orga-nisationen ist in Spannungsfelder eingebettet, die das Forschungsma-nagement zwar vor Herausforde-rungen stellen, zugleich aber eine Basis des Erfolgs bilden. Zu den Spannungsfeldern zählen: • bottom-up versus top-down, • langfristige Forschung versus

kurzfristige Anwendungsorien-tierung,

• Open Innovation versus Schutz des geistigen Eigentums.

Der Umgang mit diesen Zwick-mühlen zwingt das Forschungs-management zu einem Balanceakt: In der Praxis ist die Entscheidung für das eine oder das andere häu-fig keine Option, sondern es geht viel mehr darum, ein gewinnbrin-gendes Sowohl-als-auch zu reali-sieren.

Bottom-up versus top-down

b Oft bestimmt die Angebotspa-lette eines Unternehmens seine Forschungsagenda. Dadurch wird jedoch nicht selten ein Korsett stra-tegischer Vorgaben übergestülpt, das neue, eigenwillige Ideen im Keim erstickt. Um bottom-up In-

novationsimpulse zu fördern, ge-währt IBM Spitzenforschern große Freiheiten. Auf der Basis eines über Jahre erworbenen Vertrauens kön-nen diese eigene Ideen verfolgen und neue Projekte ins Leben rufen. Das größte Maß an Forschungsfrei-heit erhält ein IBM Fellow. Seit sei-ner Einführung vor etwa 50 Jahren wurden insgesamt 238 Forscher mit diesem Status ausgezeichnet. Ein ähnliches Konzept verfolgen in der Chemie die wissenschaftlichen Direktoren.

Langfristig versus kurzfristig

b Ein weiteres Instrument des Ausbalancierens zwischen strate-gischer Führung und Innovations-impulsen der Forscher ist der Glo-bal Technology Outlook. Jedes Jahr identifizieren IBM-Forscher Technologietrends, die das Poten-zial haben, während der kommen-den drei bis zehn Jahre die Welt zu verändern und neue Marktchan-cen zu schaffen. Der Blick in die Zukunft führt bottom-up und top-down zusammen: Die Trends wer-den in einem internen Prozess, an dem alle Forscher teilnehmen können, bottom-up ermittelt. Den daraus entstehenden Trend report diskutieren Mitglieder der Unter-nehmensleitung, die Top-down-Investitionsentscheidungen davon ableiten.

Zudem macht das Unternehmen Erkenntnisse dieser Vorausschau seinen Kunden zugänglich, etwa im Rahmen eines Workshops im Kundenzentrum des Forschungsla-bors in Rüschlikon. Hier können die Besucher mit Forschern und Business-Experten Innovationspro-jekte für das eigene Unternehmen diskutieren. Umgekehrt erhalten die Forscher wichtiges Kunden-feedback. Solche Dialoge sind ein weiteres Element der Balance zwi-schen Bottom-up- und Top-down-Impulsen im Forschungsmanage-ment. Nicht „Trends entdecken“, sondern „Trends setzen“ lautet das Programm.

IBM-Forschung soll den Weg für Zukunftsinnovationen bahnen,

Abb. 2. Supermuc am Leibniz-Rechenzentrum bei München ist das erste kommerzielle System, das die

bionisch inspirierte Kühlung aus der IBM-Forschung einsetzt. (Foto: IBM Research – Zürich)

b Forschung in Computer- und Naturwissenschaft

Mit 430 000 Beschäftigten in

170 Ländern liefert IBM IT-Lö-

sungen. Das Forschungszen-

trum in Rüschlikon war im Jahr

1956 die erste Erweiterung des

IBM-Forschungsnetzwerks über

die Grenzen der USA hinaus.

Heute arbeiten weltweit etwa

3000 Wissenschaftler und wei-

tere 60 000 Personen in den

Entwicklungszentren der IBM.

Zum Vergleich: BASF beschäf-

tigt in Forschung und Entwick-

lung ungefähr 10 000 von ins-

gesamt mehr als 100 000 Mit-

arbeitern.

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aber auch zeitlich nah einen Re-turn on Investment leisten. Daher verfolgt die Forschung ein aus -gewogenes Forschungsprogramm mit einerseits anwendungsnahen und andererseits langfristigen Pro-jekten. Gelingt es, diese Balance zu halten, entstehen so auch Sy-nergien: Kurzfristig zum Ge-schäftserfolg beitragende ange-wandte Forschung liefert etwa Mittel für langfristige Projekte.

Die anwendungsnahen Projekte binden die langfristige Forschung an die Kernthemen und liefern Innovationsimpulse. In der Aus -einandersetzung mit der Praxis entsteht so zudem neues, wertvol-les Wissen. Umgekehrt liefert die Grundlagenforschung zusätzliche Erkenntnisse für zeitnahe Projek-te, oder sie eröffnet neue Ge-schäftsfelder.

Ein Beispiel ist die Forschung an bionisch-inspirierter Kühltech-nik für Computer. Wissenschaftler am IBM-Forschungszentrum Zü-rich entwickelten eine Kühlung für Rechenzentren, die selbst mit 60 °C heißem Wasser kühlt (Ab-bildung 1, Seite 1201). Rechen-zentren können so bis zu 40 Pro-zent Energie sparen und zugleich Wärme liefern – etwa für die Hei-zung von Gebäuden. Die Abwär-menutzung reduziert die CO2-Bi-lanz um bis zu 85 Prozent. Im Jahr 2008 wurde die Heißwasserküh-lung erstmals auf der Cebit vorge-stellt. Ein Jahr später realisierten die Forscher mit der ETH Zürich als Partner einen Prototyp: Der Zehn-Teraflops-Computer Aqua-sar bewies im Mai 2010 seine Pra-xistauglichkeit. Mittlerweile ist das erste kommerzielle Produkt auf dem Markt und als Supermuc im Einsatz (Abbildung 2): Es ist der neue Hochleistungsrechner des Leibniz-Rechenzentrums bei München [Nachr. Chem. 2012, 60, 1012]. Seine Kühlung mit 45 °C heißem Wasser spart jährlich eine Million Euro an Betriebskosten.

Die langfristige Vision der IBM-Forscher sind Chips, die 10 000-mal effizienter als heutige sind und damit die Leistungsfähig-

keit des menschlichen Gehirns er-reichen. Beim Gehirn übernimmt ein Netzwerk von Blutkapillaren die Wärmeregulierung und die Nährstoffversorgung. In Anleh-nung daran erforscht das IBM-Team aufeinandergestapelte Chips, die mit einem Netz von Kühlkanä-len durchsetzt sind.

Open Innovation versus Schutz des geistigen Eigentums

b Geistiges Eigentum schafft Handlungsspielräume und gilt als ein Maß für Innovationsfähigkeit. Allerdings müssen zunehmend un-terschiedliche Partner und Organi-sationen zusammenarbeiten, wobei zukunftweisende Modelle beson-ders gefragt sind, um neue Lösun-gen für komplexe Probleme voran-zutreiben. Hier sind zukunftswei-sende Kooperationsmodelle ge-fragt. In der IBM Forschung haben sich First-of-a-kind-Projekte be-währt, die Ideen aus der Forschung für Kunden erstmalig umsetzen. Diese Kundenprojekte sind als In-novationspartnerschaften angelegt, bei denen Risiko und Kosten geteilt werden und der Kunde durch den Ersteinsatz der Technik einen Mehrwert erhält. Ein Beispiel ist das Aquasar-Projekt mit der ETH Zürich.

Die Basis für das Gelingen bildet eine Kultur der gegenseitigen Hilfe bei alltäglichen Konflikten und Entscheidungen sowie eine offene, konstruktiv kritische Kommunika-tion, die Impulse zum lösungsori-entierten Weiterdenken bietet.

Chemisch-biologisches Prozesszentrum

b Das neue Fraunhofer-Zentrum für che-misch-biotechnologische Prozesse CBP in Leuna schließt die Lücke zwischen Labor und Produktion. Zur Eröffnung sagte Bun-deskanzlerin Angela Merkel im mittel-deutschen Cluster Bioeconomy: „Innova-tionen sind Sache der Unternehmen. Die Risikobereitschaft, die Weitsicht, der Elan, die Kreativität – das alles kann Politik nicht befehlen.“ Zentrales Anliegen des Clusters ist die Herstellung von Chemika-lien, Materialien, Werkstoffen und Energie aus Holz.

Evonik plant MMA-Produktion

b Evonik Industries will in Mobile/Ala-bama für einen dreistelligen Mio.-Euro-Betrag eine Produktion für Methylmeth -acrylat (MMA) bauen. Die Inbetriebnahme ist mit einer Kapazität von 120 000 Jah -restonnen für Mitte des Jahres 2015 vor-gesehen. Die Anlage erhält die von Evo-nik entwickelte Aveneer-Technik, bei welcher die CO2-Prozessemissionen un-ter 1000 Kilogramm je Tonne MMA lie-gen sollen, was den bisherigen Wert na-hezu halbiert.

Bayer kauft zu

b Bayer erwirbt von der israelischen Teva Pharmaceutical für bis zu 145 Mio. US-Dollar das US-amerikanische Tiergesund-heitsgeschäft in St. Joseph/Missouri. Dafür zahlt der Konzern einmalig 60 Mio. US-Dollar und erfolgsabhängig bis zu 85 Mio. US-Dollar.

Kurz notiert

Moritz Leschinsky, Gruppenleiter am CBP, erklärt

Bundeskanzlerin Angela Merkel (rechts) den Ligno-

cellulose-Aufschluss. (Foto: Fraunhofer CBP)

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1203Chemiewirtschaft BBlickpunktV

Matthias Kaiserswerth,

promovierter Informatiker,

ist Direktor des IBM For-

schungslabors Zürich und

Vice President Global Sys-

tems Management and

Compliance Area Strategy, IBM Research. Wie

sich die Welt als Labor nutzen lässt, referierte

Kaiserswerth während der Processnet-Jahres-

tagung in Karlsruhe. Mehr über Unterneh-

mensführung berichtet das Buch „Das unter-

nehmerische Unternehmen“ von Dietmar

Grichnik und Oliver Gassmann (Herausgeber),

das im Frühjahr 2013 im Springer-Verlag er-

scheint. [email protected]