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99 Ausgabe 14 | 2006 LeserInnenbriefe Post Zur Kenntnis gelangt Betreff: Das freischüßler, Heft 1/2005 Berlin, den 29. Juli 2005 Liebe kritische Juristinnen und Juristen, ich finde es gut, daß Ihr in Eurem neuesten Heft die hinlänglich bekannte Reihe der Wende-Experten – Maunz, Larenz, Dreher, Wolfgang Fränkel etc. – um einen weniger bekannten Namen ergänzt habt: Hermann Klenner. Mit Hermann Klenner sollte nämlich nicht das passie- ren, was z. B. mit Theodor Maunz in voller Kenntnis der Biographie passiert ist, dem ausgerechnet eine ansonsten so sensible Spürnase wie Heribert Prantl anläßlich des 90. Geburtstages 1991 in der SZ bescheinigte, er sei ein „großer Staats- und Verfassungsrechtler“. Maunz sei zwar im Drit- ten Reich willfährig gewesen, habe sich aber „wie kein an- derer“ durch sein Tun in der Bundesrepublik rehabilitiert. Ob Maunz sich bei der Lektüre ins Fäustchen gelacht hat? Gerhard Frey, für den Maunz ein „wunderbarer Wegbe- gleiter“ war, hat es sicherlich. Was Carl Schmitt angeht, ist es schade, daß Olaf M. Braun bei seiner richtigen Wertung nicht dessen 2003 ver- öffentliche Tagebücher aus den Jahren 1912 bis 1915 be- rücksichtigt, die – wie Bernd Rüthers meint – unentrinnbar zu einer Revision des Lebens- und Persönlichkeitsbildes Schmitts führen müssen. Schmitts zum Teil eher skurile wissenschaftliche Neigungen waren zwar schon bisher be- kannt. Wie Schmitt zum Beispiel mit dem kleinen Nicolaus Sombart durch den Grunewald spazierte und dabei über den separativen Charakter des Buchstaben s im englischen „space“, also „s-pace“, sinnierte, während er dem Wort „Raum“, das er von Rom herleitete, wegen der Einhegung zweier Vokale durch Konsonanten eine ganz andere Bedeu- tung beimaß („Jetzt weiß ich erst wirklich, was Raum be- deutet“). Aus den Tagebüchern wird aber Schmitts geradzu neu- rotischer Drang nach oben deutlich. Sie offenbaren nicht nur hübsche Details aus seiner privaten Lebensführung („Lange geschlafen; gesund auf, großartige Verdauung“), sondern auch seine „wahnwitzige Gier nach Geld, Macht und Genuß“. Auf dem Weg nach oben war Schmitt gerade- zu von Ehrgeiz zerfressen, wohl deshalb konnte er auf eine Hochstaplerin reinfallen, die sich als kroatische Gräfin aus- gab, bei der es sich aber um eine „Tingeltangel-Tänzerin“ aus Wien handelte. Schmitt lebte mit ihr – entgegen katho- lischen Gepflogenheiten – zunächst in wilder Ehe zusam- men, heiratete sie, malte ein eigenes Wappen und war auch sonst mächtig stolz. Nachdem der Schwindel aufgefolgen war und sich die vermeintliche Gräfin mit seiner Bibliothek abgesetzt hatte, mußte der Beiname Dorotic, den Schmitt geführt hatte, aus seinen Schriften wieder verschwinden. Nun zu Hermann Klenner. Über die Rolle der Juristen, vor allem der Wissenschaftler, in der DDR wird kaum gere- det. Kritische Juristinnen und Juristen, und zwar gerade an der Humboldt-Universität, sollten sich auch mit diesem Kapitel beschäftigen. Das geschieht in der Rezension von Klenners neuem Werk aber leider nicht, obwohl dazu Anlaß bestanden hätte. Als Hermann Klenner 1998 den Hans-Litten-Preis des VDJ erhielt, lobte Gerhard Stuby den Geehrten wegen sei- ner „Streitbarkeit für die Menschenrechte“ und als „vor- bildlichen demokratischen Juristen“. Dabei sprach das, was über Klenner schon jahrelang bekannt war, gegen ihn: Klen- ner war SED-Mitglied (wie kann einer Demokrat sein, wenn er den Primat einer Partei anerkennt?). Klenner war infor- meller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (Deckname „Klee“) und lieferte diesem für den Prozeß ge- gen Rudolf Bahro eine Analyse über dessen Buch „Die Al- ternative“, wofür ihn das MfS mit einer Prämie belohnte. Klenner hatte aus Überzeugung als Soldat am Zweiten Welt- krieg teilgenommen („Fronteinsatz durchaus nicht gegen die eigene Überzeugung“ heißt es bei Stuby). Klenner war Prä- sidiumsmitglied des staatlich gelenkten Menschenrechts- kommitees der DDR, die sich um die Erfüllung der OSZE- Verpflichtungen drückte. Er wurde 1986 zum Vizepräsi- denten der UN-Menschenrechtskommission gewählt. Dort wetterte Klenner als DDR-Vertreter gegen Israel und mach- te sich so zum Sprachrohr der antizionistischen/antisemiti- schen Politik des Ostblocks. Dieser Einsatz zahlte sich für Klenner aber nicht aus, denn nachdem die israelische Dele- gation die Mitgliedschaft Klenners in der NSDAP nachge- wiesen hatte, mußte die DDR ihn zurückziehen. NSDAP + Stasi = Vorbild? Wenn man Menschen wie Hermann Klenner als Vorbild für Juristen bezeichnet, kann man schwerlich das wohlige Schicksal der NS-Juristen kri- tisieren. Klenner wird nicht auch deshalb zum Vorbild, weil er nach der Babelsberger Konferenz kurzzeitig als Bürger- meister ins Oderbruch strafversetzt wurde – so etwas ähn- liches ist Carl Schmitt und Ernst Forsthoff während des Nationalsozialismus auch widerfahren. Hermann Klenner ist noch heute Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das wirft ein bezeich- nendes Licht auf die um des lieben Friedens im Lehrkörper willen unterbliebene Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte der juristischen Fakultät. Diese hätte nicht dazu führen müssen, alle ehemaligen DDR-Bürger aus der Fakul- tät zu entfernen – die Vergangenheit darf aber nicht totge- schwiegen werden. In Veröffentlichungen der Fakultät konn- te eine solche Auseinandersetzung jedenfalls in den 90er Jahren nicht geführt werden. So wußten und wissen die wenigsten Studierenden, daß sie es in Strafrechtsvorlesungen mit einem Dozenten zu tun hatten, der in einem Lehrkommentar zum StGB der DDR die Todesstrafe in rabulistischer Weise rechtfertigte: „In- dem die Todesstrafe der Sicherung und dem zuverlässigen

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Ausgabe 14 | 2006 LeserInnenbriefe

PostZur Kenntnis gelangt

Betreff: Das freischüßler, Heft 1/2005

Berlin, den 29. Juli 2005

Liebe kritische Juristinnen und Juristen,

ich finde es gut, daß Ihr in Eurem neuesten Heft diehinlänglich bekannte Reihe der Wende-Experten – Maunz,Larenz, Dreher, Wolfgang Fränkel etc. – um einen wenigerbekannten Namen ergänzt habt: Hermann Klenner.

Mit Hermann Klenner sollte nämlich nicht das passie-ren, was z. B. mit Theodor Maunz in voller Kenntnis derBiographie passiert ist, dem ausgerechnet eine ansonstenso sensible Spürnase wie Heribert Prantl anläßlich des 90.Geburtstages 1991 in der SZ bescheinigte, er sei ein „großerStaats- und Verfassungsrechtler“. Maunz sei zwar im Drit-ten Reich willfährig gewesen, habe sich aber „wie kein an-derer“ durch sein Tun in der Bundesrepublik rehabilitiert.Ob Maunz sich bei der Lektüre ins Fäustchen gelacht hat?Gerhard Frey, für den Maunz ein „wunderbarer Wegbe-gleiter“ war, hat es sicherlich.

Was Carl Schmitt angeht, ist es schade, daß Olaf M.Braun bei seiner richtigen Wertung nicht dessen 2003 ver-öffentliche Tagebücher aus den Jahren 1912 bis 1915 be-rücksichtigt, die – wie Bernd Rüthers meint – unentrinnbarzu einer Revision des Lebens- und PersönlichkeitsbildesSchmitts führen müssen. Schmitts zum Teil eher skurilewissenschaftliche Neigungen waren zwar schon bisher be-kannt. Wie Schmitt zum Beispiel mit dem kleinen NicolausSombart durch den Grunewald spazierte und dabei überden separativen Charakter des Buchstaben s im englischen„space“, also „s-pace“, sinnierte, während er dem Wort„Raum“, das er von Rom herleitete, wegen der Einhegungzweier Vokale durch Konsonanten eine ganz andere Bedeu-tung beimaß („Jetzt weiß ich erst wirklich, was Raum be-deutet“).

Aus den Tagebüchern wird aber Schmitts geradzu neu-rotischer Drang nach oben deutlich. Sie offenbaren nichtnur hübsche Details aus seiner privaten Lebensführung(„Lange geschlafen; gesund auf, großartige Verdauung“),sondern auch seine „wahnwitzige Gier nach Geld, Machtund Genuß“. Auf dem Weg nach oben war Schmitt gerade-zu von Ehrgeiz zerfressen, wohl deshalb konnte er auf eineHochstaplerin reinfallen, die sich als kroatische Gräfin aus-gab, bei der es sich aber um eine „Tingeltangel-Tänzerin“aus Wien handelte. Schmitt lebte mit ihr – entgegen katho-lischen Gepflogenheiten – zunächst in wilder Ehe zusam-men, heiratete sie, malte ein eigenes Wappen und war auchsonst mächtig stolz. Nachdem der Schwindel aufgefolgenwar und sich die vermeintliche Gräfin mit seiner Bibliothekabgesetzt hatte, mußte der Beiname Dorotic, den Schmittgeführt hatte, aus seinen Schriften wieder verschwinden.

Nun zu Hermann Klenner. Über die Rolle der Juristen,vor allem der Wissenschaftler, in der DDR wird kaum gere-det. Kritische Juristinnen und Juristen, und zwar gerade ander Humboldt-Universität, sollten sich auch mit diesem

Kapitel beschäftigen. Das geschieht in der Rezension vonKlenners neuem Werk aber leider nicht, obwohl dazu Anlaßbestanden hätte.

Als Hermann Klenner 1998 den Hans-Litten-Preis desVDJ erhielt, lobte Gerhard Stuby den Geehrten wegen sei-ner „Streitbarkeit für die Menschenrechte“ und als „vor-bildlichen demokratischen Juristen“. Dabei sprach das, wasüber Klenner schon jahrelang bekannt war, gegen ihn: Klen-ner war SED-Mitglied (wie kann einer Demokrat sein, wenner den Primat einer Partei anerkennt?). Klenner war infor-meller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit(Deckname „Klee“) und lieferte diesem für den Prozeß ge-gen Rudolf Bahro eine Analyse über dessen Buch „Die Al-ternative“, wofür ihn das MfS mit einer Prämie belohnte.Klenner hatte aus Überzeugung als Soldat am Zweiten Welt-krieg teilgenommen („Fronteinsatz durchaus nicht gegen dieeigene Überzeugung“ heißt es bei Stuby). Klenner war Prä-sidiumsmitglied des staatlich gelenkten Menschenrechts-kommitees der DDR, die sich um die Erfüllung der OSZE-Verpflichtungen drückte. Er wurde 1986 zum Vizepräsi-denten der UN-Menschenrechtskommission gewählt. Dortwetterte Klenner als DDR-Vertreter gegen Israel und mach-te sich so zum Sprachrohr der antizionistischen/antisemiti-schen Politik des Ostblocks. Dieser Einsatz zahlte sich fürKlenner aber nicht aus, denn nachdem die israelische Dele-gation die Mitgliedschaft Klenners in der NSDAP nachge-wiesen hatte, mußte die DDR ihn zurückziehen.

NSDAP + Stasi = Vorbild? Wenn man Menschen wieHermann Klenner als Vorbild für Juristen bezeichnet, kannman schwerlich das wohlige Schicksal der NS-Juristen kri-tisieren. Klenner wird nicht auch deshalb zum Vorbild, weiler nach der Babelsberger Konferenz kurzzeitig als Bürger-meister ins Oderbruch strafversetzt wurde – so etwas ähn-liches ist Carl Schmitt und Ernst Forsthoff während desNationalsozialismus auch widerfahren.

Hermann Klenner ist noch heute Honorarprofessor ander Humboldt-Universität zu Berlin. Das wirft ein bezeich-nendes Licht auf die um des lieben Friedens im Lehrkörperwillen unterbliebene Auseinandersetzung mit der jüngerenGeschichte der juristischen Fakultät. Diese hätte nicht dazuführen müssen, alle ehemaligen DDR-Bürger aus der Fakul-tät zu entfernen – die Vergangenheit darf aber nicht totge-schwiegen werden. In Veröffentlichungen der Fakultät konn-te eine solche Auseinandersetzung jedenfalls in den 90erJahren nicht geführt werden.

So wußten und wissen die wenigsten Studierenden, daßsie es in Strafrechtsvorlesungen mit einem Dozenten zu tunhatten, der in einem Lehrkommentar zum StGB der DDRdie Todesstrafe in rabulistischer Weise rechtfertigte: „In-dem die Todesstrafe der Sicherung und dem zuverlässigen

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Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates, der Er-haltung des Friedens und dem Leben der Bürger dient, trägtsie einen humanistischen Charakter.“ Dieser Dozent konn-te bis zu seinem Ruhestand vor ein paar Jahren Vorlesun-gen halten, einen Lehrstuhl vertreten und korrigiert immernoch Klausuren und Hausarbeiten und prüft im Staatsex-amen.

Weitgehend unbekannt ist auch, daß die Humboldt-Universität über eine eigene Kampfgruppeneinheit verfüg-te, an deren paramilitärischen Übungen auf dem Innenhofeine noch heute tätige Professorin teilnahm, wozu sie sichaus politischem Kalkül offensichtlich genötigt sah – wassie nunmehr aber ganz lustig findet. Unerörtert bleibt dieRolle der Sektionen Rechtswissenschaft und Kriminalistikim Kampf gegen Systemkritiker und sonstige „Staatsfein-de“. Und schließlich wird auch der Umstand, daß – nochtätige oder bis vor kurzem tätige – Hochschullehrer derFakultät vom Ministerium für Staatssicherheit als infor-melle Mitarbeiter geführt wurden und von diesem Prämienannahmen, nicht thematisiert.

Sowohl im Nationalsozialismus als auch in DDR habenJuristen die ihnen vom System zugedachte Rolle erfüllt.Gegen das nationalsozialistische Regime haben nur ganzwenige Juristen Widerstand geleistet. Lothar Kreyssig istzu nennen, und beim 20. Juli gab es ein paar Juristen wieHans von Dohnanyi oder Karl Sack. Aber welche DDR-Juristen – mit Ausnahme von Rolf Henrich vielleicht – ken-nen wir, die sich der Diktatur widersetzt hätten?

Mit freundlichen Grüßen Philipp Mützel

Anmerkungen der Redaktion

Lieber Philipp,

über Deine Anregung, auch das Rechtssystem der DDRzum Schwerpunkt im freischüßler zu machen, haben wiruns sehr gefreut. Genau das hatten wir bereits bei der Pla-nung des letzten Hefts im Sinn. Uber das Ergebnis urteileselbst ...

Was Hermann Klenner betrifft, kann dieser nun wahr-lich nicht als „Wende-Experte“ bezeichnet werden. Immer-hin ist er einer der wenigen Rechtswissenschaftler, die ih-rem marxistischen Standpunkt treu geblieben sind – wasauch immer man davon halten mag.

Wer in den Tagebüchern des 24- bis 27-jährigen CarlSchmitt eine taugliche Quelle sieht, die „unentrinnbar“ zurRevision seines Lebens- und Persönlichkeitsbildes zwinge,sollte über einen am Kriegsende 19-Jährigen nicht den Stabbrechen. Apropos Schmitt: Welche Relevanz sollten dievon Dir gemachten biographischen Anmerkungen für dieBeurteilung seiner Person und seines Wirkens haben? DerZusammenhang zwischen der Konsistenz seines morgend-lichen Stuhlgangs und den „Wert des Staates und die Be-deutung des Einzelnen“ (1914) erschließt sich uns nicht.Sollten Deine Ausführungen vielleicht zur Entmythologi-sierung Carl Schmitts beitragen, so wurde das jedenfalls

LeserInnenbriefe

nicht deutlich. Sie lesen sich eher wie eine trivial-psycholo-gisierende Relativierung seiner Verantwortung als geistigerWegbereiter des Nationalsozialismus.

Wir sehen nicht zwingend die Notwendigkeit, anläs-slich der Rezension eines Buches, auf alle Aspekte im Le-ben des Autors einzugehen. Zum unbestrittenen Heldenwollten wir Klenner damit nicht stilisieren. Die Auseinan-dersetzung darüber, ob Klenner als Vorbild taugt, solltestDu schon mit Gerhard Stuby selbst führen, auf dessen Lau-datio von 1998 Du Dich größtenteils beziehst (http://www.vdj.de/index.php?id=29,18,0,0,1,0).

Dass „um des lieben Friedens willen“ die jüngere Ver-gangenheit der Juristischen Fakultät totgeschwiegen werde,können wir in dieser Totaliät nicht erkennen. Vielmehr ist esmit dem „lieben Frieden“ nicht weit her, wenn seit Jahrenan der Juristischen Fakultät über bestimmte Personen Ge-rüchte im Umlauf sind.

Dass Lothar Welzel die Vorschriften zur Todesstrafeim StGB/DDR erläuterte, ist kein Geheimnis. Er hat vonsich aus darüber gesprochen und dabei auch erklärt, wie esdazu kam. Die ungeliebte Aufgabe, eine im Autorenkollek-tiv für abschaffungswürdig gehaltene, aber nach wie vorgeltende und offiziell befürwortete Strafart zu kommentie-ren und als wichtigen Beitrag zur sozialistischen Strafrechts-pflege zu legitimieren, sei auf ihn als Assistenten abgescho-ben worden.

Ein anderes Gerücht betrifft eine gewisse, noch heutetätige Professorin, die sich an den „paramilitärischen Übun-gen“ der Universitäts-Kampfgruppe beteiligt haben soll.Angesichts der geringen Frauen- und Ossi-Quote an derJuristischen Fakultät fällt es schon schwer, nicht zu erken-nen, wer hier denunziert werden soll. Tatsächlich ist Rose-marie Will, wie sie gegenüber der Redaktion bestätigte, meh-rere Tage Mitglied der Kampfgruppe gewesen. Dies warvon der Parteigruppe zur Bedingung für ihre Berufung alsProfessorin gemacht worden. An einer paramilitärischenÜbung kann sie sich indes schwer beteiligt haben, denn sielegte nach ihrer Berufung anlässlich der Uniformausgabe einAttest über ihre Schwangerschaft vor, weswegen sie ausMutterschutzgründen aus der Kampfgruppe entlassen wur-de. Ein Parteiverfahren war die Folge, das jedoch im Sandeverlief.

Dass historische Tatsachen selten nur eindimensional,vielmehr ambivalent sind, zeigt auch der von Dir hervorge-hobene Karl Sack. Dessen Ehrung als Widerstandskämpferdurch eine Bronzetafel im ehemaligen Reichskriegsgerichts-gebäude war heftig umstritten, da er eine weitreichendeAuslegung des Straftatbestands der Fahnenflucht befürwor-tete und damit zu nicht wenigen Todesurteilen beigetragenhat.

Gerade unter Angehörigen des Rechtsstabes Widers-tändler zu finden, dürfte wegen deren geradezu zwangsläu-figen Staatsnähe in allen Regimen die Ausnahme bleiben.Um so bemerkenswerter, wenn es sie gibt.

Die Redaktion

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Von: Verena GrundmannDatum: Fri, 03.03.2006 16:16Betreff: Neuigkeiten vom Äquator

Ihr Lieben,

herzliche Grüße aus Ecuador, wo ich meine Wahlstationbeim UNHCR mache. Wie es sich für eine gut katholischeGegend gehört, hatten wir zu Karneval zwei freie Tage, dieich genutzt habe, um einen Vulkan zu besteigen, der „DerAltar“ heißt (siehe Fotos) und eine atemberaubende Land-schaft bietet – im doppelten Sinn: auf 4.000 Meter Höheist das Luftholen immer ein Abenteuer, auf das man sichbesser mit größeren Mengen Coca-Tee vorbereitet.

Es war ganz angenehm, die Feiertage fernab des Tru-bels zu verbringen, da die hiesige Karneval-Unterhaltungden rheinischen Wahnsinn noch übertrumpft: Der allgemei-ne Spaß besteht darin, sich gegenseitig mit Wasser und Mehlzu bewerfen. Zu diesem Zweck ziehen junge Menschenstundenlang um die Häuser auf der Suche nach geeignetenZielen. Die Stubenhocker begnügen sich damit, von Fen-ster aus arglosen Passanten einen Eimer Wasser über denKopf zu schütten. Ich habe eine größere Umfrage gestartet,es ist mir bisher aber nicht gelungen, herauszufinden, woringenau der Witz besteht. Sobald ich es rausfinde, erstatte ichBericht.

Die Arbeit hier ist großartig, ich führe Interviews mitabgelehnten (zumeist kolumbianischen) AsylbewerberIn-nen, um zu prüfen, ob sie unter dem UNHCR-Mandatanerkannt werden und in ein Drittland umgesiedelt werdenkönnen.

Die Lage in Ecuador bleibt spannend: Nachdem im letz-ten Frühjahr Präsident Gutierrez nach massiven Protestenabgesetzt wurde, regiert der Vize-Präsident mit einem in-novativen Eene-Meene-Mu-Verfahren: Er wechselt monat-lich vier Minister aus. Dieses Jahr wird neu gewählt, einEvo Morales ist bislang nicht unter den KandidatInnen, sodass Ecuador dem regionalen Trend wohl mal wieder hin-terherhinken wird. Der Unterhaltungswert ist aber garan-tiert: Gutierrez hat aus dem Gefängnis seine Kandidaturangekündigt. Er sitzt unter der Anklage, die nationale Si-cherheit gefährdet zu haben, in dem er willkürlich Verfas-sungsrichter ab- und eingesetzt hat, die in der Folge dieStrafverfahren gegen zwei frühere Präsidenten wegen Kor-ruption für verfassungswidrig erklärt haben. Diese Ereig-nisse waren der Auslöser der Frühjahrsproteste, in derenFolge Gutierrez abgesetzt wurde. So zumindest die Versi-on, in der das Gute siegt. In der anderen Version heißt es,Gutierrez habe zu gute Beziehungen zur brasilianischenErdölfirma Petrobras gehabt, weshalb US-stämmige Erdöl-Unternehmen seine Entmachtung betrieben hätten.

Im Flüchtlingsbereich hat sich seit meinem letzten Prak-tikum hier einiges getan: Bislang war von offizieller Seitestets von 17.000 kolumbianischen AsylbewerberInnen inEcuador die Rede. Im Februar hat die ecuadorianische Re-gierung anerkannt, dass die Zahlen ergänzt werden müssen:Nach Schätzungen der Organisationen, die an der Grenzearbeiten, befinden sich etwa eine Viertelmillion Kolumbia-nerInnen, die ihre Heimat aufgrund der Gewalt verlassenhaben, in Ecuador, die meisten davon leben in der schwerzugänglichen Grenzregion, ohne Papiere, ohne Zugang zumBildungs- oder Gesundheitssystem oder zum Prozess derAsylanerkennung. Ecuadors Grenze zu Kolumbien, die

ohnehin mehr auf dem Papier existiert (es gibt zwei offiziel-le und 23 inoffizielle Grenzübergänge) war in letzter Zeitmehrfach in den Schlagzeilen: Sei es, weil kolumbianischesMilitär im Kampf gegen die Guerrilla ecuadorianisches Ter-ritorium verletzt hat, sei es, weil ecuadorianische Polizei inGrenznähe Guerrilleros festgenommen hat. Wer immer die-ses Jahr gewählt wird, wird die schwierige Aufgabe haben,weiterhin zu vermeiden, dass Ecuador in den Konflikt hin-eingezogen wird. Der kolumbianische Präsident Álvaro Uribebeschuldigt Ecuador seit Jahren der Unterstützung der Guer-rilla, weil das Land sich weigert, an seinem Krieg teilzuneh-men. Und Uribe hat gerade seine erneute Kandidatur für diediesjährigen Präsidentschaftswahlen in Kolumbien angekün-digt.

Es ist absolut verblüffend: Während Menschenrechts-organisationen eine stetige Verschlimmerung der Lage inKolumbien diagnostizieren, präsentiert der Präsident Zah-len, die seine immensen Erfolge belegen sollen: Seit 2003sind mehr als 21.000 Paramilitärs demobilisert worden, imRahmen eines Abkommens, das ihnen für die Aufgabe derWaffen weitgehende Straffreiheit gewährt. Mit dieser Zahlwird Uribe Wahlkampf machen. Schauen wir mal genauerhin: Als das Abkommen im Juli 2003 unterzeichnet wurde,gaben die Paramilitärs (AUC) ihre Zahl mit 12.000 an. Die21.000 Demobilisierten haben bislang nur 10.000 Waffenabgegeben, darunter viele alte Modelle. Nach letzten Anga-ben sollen noch 7.000 Kämpfer aktiv sein. War wirklich dieHälfte aller Paramilitärs unbewaffnet? Die Zahlen werdenvielleicht erklärbarer, wenn man dazu sagt dass die demobi-lisierten Paramilitärs ein Jahr lang eine Unterstützung inHöhe von rund 125 Euro monatlich vom Staat erhalten. Ineinem Land, in dem das Durchschnittsgehalt einer Verkäu-ferin bei 150 Euro monatlich liegt, könnte das vielleicht einGrund sein, sich als Paramilitär auszugeben?

Uribe behauptet, mit dem Abkommen (das inzwischenGesetzesform hat) Frieden geschaffen zu haben. Aber wasfür ein Frieden soll das sein? Das Gesetz garantiert prakti-sche Straffreiheit (Strafen von fünf bis acht, manchmal aberauch nur zwei Jahren für Folter und Massenmorde) ohnedass es die Paramilitärs in irgendeiner Weise dazu zwingenwürde, Straftaten und Zusamenhänge überhaupt zu offen-baren (im Sinne einer Wahrheitskommission), oder ihre Ali-asnamen, unter denen sie eventuell für Verbrechen bekanntsind. Eine Entschädigung der Opfer ist nicht vorgesehen. Inder Praxis besteht keine Möglichkeit, die tatsächliche Fried-fertigkeit der Demobilisierten zu überwachen: Berichte häu-fen sich über neugegründete kriminelle Strukturen, die ausDemobilisierten bestehen. Das Gesetz sieht nicht vor, dassTäter ihren durch Drogenhandel und Schutzgelderpressung

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Von: Rainer SchultzDatum: 04.07.2006 01:04Betreff: Hilferuf aus Mexiko!

hallo akj‘lerInnen,

Miriam und ich sind seit Montag in Mexiko, eigentlichwegen research für die Uni in Chiapas. Die ersten Tage sindwir allerdings in Mexikostadt. Hier hat am Montag dievierte CCIODH Kommission begonnen. Anlass sind dieEreignisse in Atenco Anfang Mai – hattet Ihr davon mitbe-kommen?

Am 3. und 4. Mai wurde das Dorf gestürmt, 300 Men-schen verhaftet, darunter viele ‚BeobacterInnen‘ ein Jungegetötet, ein anderer Student ist Gehirntot, viele Frauen undein Mann wurden vergewaltigt und diverse Menschen sindauf der Flucht. Die Kommission sammelt hier ausführlicheInfos und will einen Bericht rechtzeitig vor den Wahlenerstellen (2. Juli), damit die Fox-Regierung nicht so unge-schadet davon kommt.

Wir haben die preinforme der Menschenrechtsdelegati-on für Euch übersetzt – vielleicht findet Ihr Platz dafür:

„Die Internationale Zivile Kommission zur Beobach-tung der Menschenrechte (CCIODH) ist bei ihrer Arbeitzu folgenden Einschätzungen gelangt:

1. Polizeiliche und rechtliche Aspekte:Die Regierung setzte Gewalt ein, ohne zuvor sämtliche

Mittel der gewaltfreien Konfliktlösung auszuschöpfen. Dieinternationalen Standards zum Schutz der Menschenrech-te wurden dabei nicht respektiert. Der Polizeieinsatz am 4.Mai 2006 hatte einen Rache-Charakter für die Geschehnis-se am Vortag. Die Schwere und der vorsätzliche Charakterdes Einsatzes lassen es wenig glaubwürdig erscheinen, dassdie Einsatzleitung der Polizei keine Kenntnisse von denGeschehnissen hatte und nicht in der Lage war diese zuverhindern. Es kam folglich zu einer illegitimen Anwen-dung von Gewalt, in einer missbräuchlichen und willkürli-chen Weise, ebenso wie zu einem Missbrauch in dem Ge-brauch von Schusswaffen. Es wurden die Artikel 6.1 und 9.des Internationalen Pakts über Bürgerliche und PolitischeRechte verletzt; die Artikel 4, 5, 5.1, 5.2 und 7.1 des Ame-rikanischen Menschenrechts-Abkommens, sowie die Arti-kel 4, 9 und 10 der Grundlegenden Prinzipien der VereintenNationen zur Anwendung von Gewalt und Schusswaffenbei staatlichen Instanzen.

2. Der Polizeieinsatz:Hierbei kam es zu erheblichen Verzögerungen der medi-

zinischen Behandlung, ärztliche Untersuchungen von denentstandenen Schäden und Verletzungen wurden in nur ober-

erlangten Reichtum aufgeben müssten. Wenn sie aus demKnast kommen, werden sie „saubere“ Mitglieder der Ge-sellschaft mit viel Geld sein. Unterdessen werden die Zu-sammenhänge zwischen Paramilitärs und kolumbianischemStaat immer offensichtlicher: Die Demobilisierten sprechenoffen über die Koordination ihrer Bewegungen mit demkolumbianischen Militär.

Nein, bei allem Wahlkampfgetöse, der Konflikt ist ei-ner Lösung kein Stückchen näher.

Verena Grundmann, Ecuador

flächlicher und unzureichender Weise unternommen. Dabeiwurden keine den Verletzungen entsprechende Behandlun-gen, sondern nur Behandlungen allgemeiner und sympto-matischer Art vorgenommen – durch die Anwendung vonschmerzstillenden und Anti-Schwellungsmitteln mit gerin-ger Wirkung; zudem wurde die Folgebehandlung der Ver-letzten grob vernachlässigt.

3. Gewalt gegen Frauen:Die Mehrheit der im Zusammenhang des Atenco-Ein-

satzes in Polizeigewahrsam genommenen Frauen erlittenverschiedene Formen sexueller Gewalt die von verbalen An-griffen bis zu wiederholten und extrem gewalttätigen Verge-waltigungen reichten. Das Gemeinsame aller Aussagen derbetroffenen Frauen bezieht sich auf die Methode, mit derdie Gewalt angewandt wurde, die auf das Bestehen einerstrukturellen Gewalt ihnen gegenüber hinweist sowie aufdie allgemeine Akzeptanz dieser Struktur unter den beteilig-ten Polizisten. Es muss besonders auf die unzureichendemedizinische und hygienischen Bedingungen hingewiesenwerden, die die Frauen erfuhren; die Ignorierung ihrer Be-schwerden über die Misshandlungen und Vergewaltigun-gen, das Fehlen von medizinisch-gynäkologischer Behand-lung – diese wurde ihnen bis zum 1. Juni verwehrt.

Während des Polizeieinsatzes duldeten die verantwort-lichen Instanzen die Entstehung von rechtsfreien Momen-ten und Räumen, in denen eine Vielzahl kollektiver Gewalt-praktiken möglich wurde. Es existieren Richtlinien des Ein-satzes die darauf hindeuten, dass die Polizisten im Bewusst-sein darüber handelten, dass sie sich durch die Anonymitätder Gruppe schützen müssen.

Die juristische Verantwortlichkeit aller Polizeibeamten,die an dem Transport der Gefangenen beteiligt waren, istdadurch unwiderlegbar, dass 1) die kollektive Duldung derGewaltakte auf möglicherweise bestehende Befehle vonvorgesetzter Stelle hinweisen, 2) es erwiesen ist, dass diegleichen Taten in unterschiedlicher Intensitäten, in allenFahrzeugen geschahen. Die Annahme der Existenz von Be-fehlen höherer Instanzen nach denen die Beamten handeltenwird zusätzlich von folgenden Aussagen gestärkt: 3) dieRechtfertigung der Vorgeordneten, dass es keine massivenRechts- und Menschenrechtsverletzungen während desTransports der Gefangenen gegeben habe, 4) erst im Nachhinein und nur auf allgemeine Weise wurde den Frauen einStrafbestand vorgeworfen.

4. Individuelle und kollektive Folgen:Die CCIODH ist äußerst besorgt über die schwerwie-

genden psychosozialen Folgen, die in Atenco zu beobach-ten sind, unter den Gefangenen, sowie im Allgemeinen unter

LeserInnenbriefe

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den von dem Konflikt betroffenen Personen. Die traumati-schen Erinnerungen sind weit verbreitet: Neurosen, Insom-nie, wiederkehrende Blockaden und Amnesien bei fast allenPersonen. Auf fundamentalste Weise wurde das grundle-gende Vertrauen in eine gerechte Ordnung verletzt, das Ver-trauen in die eigene und andere Personen wurde bei jeder/meinzelnen verletzt und beschädigt. Dieser Befund wird durchdie Zufälligkeit und Ungerechtigkeit gestützt, die Wahrneh-mung der Hilflosigkeit und der Verlust jeglicher Kontrolleüber die Situation und das eigene Leben, die Abwesenheiteiner sozialen Wahrnehmung und Anerkennung des erfahre-nen Leids, die Angst, der Umgang mit emotionalen Aspek-ten dieses Ereignis im Versuch Identitäten zu zerstören,sowie durch den ökonomischen Bruch. In Bezug auf dieschikanierten Frauen kommt das psychiatrische und medi-zinische Gutachten der CCIODH zu dem Schluss, dassmindestens drei Frauen vollständig vergewaltigt und dassbei zwei von ihnen die psychologischen Folgen einer schwer-wiegenden Postraumatischer Belastungsstörungen (PTSD)qualifiziert werden müssen, ohne dass bisher eine einzigevon ihnen Zugang zu einer professionellen medizinisch-psychologischen Hilfe ihres Vertrauens hatte. Die Angst,die Erniedrigungen und die erfahrerenen Schikanierungender interviewten Frauen deuten darauf hin, dass systema-tisch versucht wurde, die Identität der Frauen zu zerstören,die von dieser Gewalt betroffen waren.

Die Vorfälle des 3. und 4. Mai zeigen bereits eine Reihevon Effekten die das sozial-psychologische und gemein-schaftliche Gewebe beschädigen. 1) der Polizeieinsatzschafft ein „Davor“ und „Danach“ in der Gemeinde, da-durch dass auf schwerwiegende Weise eine soziale Divisionund Polarisierung entstanden ist; ebenso sind innergemeind-licher Konflikte entstanden und eine Stigmatisierung des„Anderen“. 2) Es ist zu einem Bruch des historischen Ge-dächtnis der Gemeinde gekommen und ihrer früheren Not-wendigkeiten und Forderungen. 3) Es entstand ein Riss dessozialen Gewebes durch die Enthauptung der Führungs-personen und Bewegungen ebenso wie die Stigmatisierungdes sozialen Engagements.

5. Hintergründe und Auslegung des Konflikts:Basierend auf den gesammelten Zeugenaussagen listet

die CCIODH folgende Ursachen auf, die zu diesem Kon-flikt geführt haben könnten: ein ökonomisches Modell dasdie ländliche Bevölkerung vertreibt; die Zerstörung der in-formellen Ökonomie; „es ist der Polizei aus der Kontrollegeraten“, Rache, Kriminalisierung der organisierten Bevöl-kerung von Atenco; „den sozialen Organisationen von At-enco einen Schlag versetzen“; sowie ein bei der Regierungnicht vorhandene Willen zum Dialog.

6. Grundlegende Menschenrechtsverletzungen:

1) das Recht auf persönliche Freiheit;2) das Recht auf physische und moralische Unversehrt-

heit;3) das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung;4) das Recht auf freie Bewegung und freie Wahl des Wohn-

orts;5) die Rechte der Frauen, und der sexuellen Freiheit (es

bestehen zudem Berichte von schwerwiegender sexuel-ler Gewalt gegen Männer und Minderjährige).

7. Empfehlungen des CCIODH:- Die sofortige medizinische, therapeutische und soziale

Hilfe und Versorgung der betroffenen Frauen.- Die Ergreifung sofortiger Maßnahmen zum Schutz der

betroffenen Frauen, insbesondere derjenigen, die sichzu einer Anzeige entschlossen haben.

- Die entsprechenden staatlichen und Bundesbehördenzu identifizieren, juristisch zu untersuchen und bei Fest-stellung der Schuldhaftigkeit zu verurteilen, die durchUnterlassung oder vorsätzlich an der Vorbereitung, Pla-nung und/oder Durchführung des Einsatzes teilgenom-men haben.

- Die sofortige Amtsenthebung des Generaldirektors derStaatlichen Behörde für Sicherheit, Herr WilfredoRobledo Madrid, sowie Kommandeur David PintadoEspinos.

- Die sofortige Amtsenthebung des Verantwortlichen desEinsatzes der Bundespolizei (PFP), KommissarAlejandro Eduardo Martínez Aduna sowie des Chefsdes Generalstabs, Brigadegeneral Ardelio Vargas Fosado.

- Anstoßen notwendiger rechtlicher Reformen, um die vonden Polizisten begangenen Delikte verfolgen zu können,und die Verantwortlichkeiten der Vorgesetzten zu klä-ren

- Es muss fortan verhindert werden, dass Angehörige desmexikanischen Militärs in Polizeieinsätzen mitwirken.

- Fortfahren mit der größtmöglichen Sorgfalt und Schnel-ligkeit in der Untersuchung und Aufklärung der Vorfälle,ohne dass die Wahlperiode zu einer Verzögerung oderAblenkungen in der Verfolgung der Schuldigen führt.

- Die sofortige Freilassung der Gefangenen in den Straf-anstalten ‚Santiaguito‘ und ‚La Palma‘ unter dem Prin-zip der Unschuldsvermutung sowie die Aufhebung derAusweisungen gegen die ausländischen Personen.

- Die Reparation moralischer, emotionaler, wirtschaftli-cher und rechtlicher Art, ebenso wie die Wiedergutma-chung des gemeinschaftlichen Schadens, Ausgleich dessozialen Schadens und historischer Wiedergutmachungder von dem Konflikt betroffenen Gemeinden. Es mussin angemessener und gerechter Weise den Ansprüchenin Hinblick auf Bildung, Gesundheit, Verkehrswesen,und öffentlichen Bauten etc. der Gemeinde entsprochenwerden, um den Ursachen des Konflikts zu begegnen.Dies ist das wichtigste Reparationsmittel, das es umzu-setzen gilt.“

Rainer Schultz/ Miriam Boyer, Mexico D.F.

Von: Ulrike MüllerDatum: 26.09.2006 19:01Betreff: baskische merkwürdigkeiten

Hallo an den bildschirmen in der ferne!

So-so. Mir wird die doppel-herausforderung aus wissen-schaftlicher arbeit und land-leute-sprache-kennenlernengerade etwas zu anstrengend, und da habe ich mich für diebequeme variante entschieden. Obwohl das baskenland-kennenlernen-projekt noch nicht so weit fortgeschritten ist,wie ich‘s gerne hätte. Und – ein zweites obwohl – ich so aufden letzten drücker doch tatsächlich noch einen tandem-gesprächspartner gefunden habe, der auch noch zwei prak-

LeserInnenbriefe

Page 6: Ausgabe 14 | 2006 LeserInnenbriefe Post Zur Kenntnis gelangtakj.rewi.hu-berlin.de/zeitung/06-14/pdf/leserbriefe2006.pdf · ne Spaß besteht darin, sich gegenseitig mit Wasser und

Ausgabe 14 | 2006

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tische eigenschaften aufweist: authentisches links-patrio-tisches Baskentum, und trotzdem völlig offen für gänzlichandere sichtweisen und nicht schnell beleidigt. Bei meinermitbewohnerin, habe ich da manchmal doch zweifel, wasich wie formulieren und fragen sollte... und bei solchenideen wie der von der existenz „natürlicher grenzen“ und,dass grenzen ja auch nicht immer was schlechtes sein müs-sen, da fällt es mir schon schwer, meine nachfragen sehrzurückhaltend zu formulieren... Allmählich habe ich her-ausbekommen, daß hier „künstliche“ entwicklungen (alsgegenteil von „natürlich“; „kulturell“ scheint zu „natür-lich“ zu gehören – putzig, nicht?) gleichgesetzt werden mit„gewalttätigen, unterdrückerischen“ usw. Positive entwick-lungen müssen also immer langsam, gewissermaßen „orga-nisch“ vonstatten gehen. (Schon irgendwem von Euchschlecht geworden? Ich hab mich mittlerweile ein bißchendran gewöhnt.) Muss noch herausfinden, was für eine stel-lung die idee von „revolution“ einnimmt. Wahrscheinlichgar keine praktische für die leutchen hier, und das ist ver-mutlich das problem: die waren und sind halt die ganze zeitmit selbstverteidigung nach außen beschäftigt, da kommtdie vorstellung einer progressiven und schnellen, „künstli-chen“ veränderung gar nicht auf.

Soweit meine oberflächlichen analysen...Nee, noch gar nicht, stimmt, gibt ja auch noch die aktu-

elle situation, zu der ich ja noch ein, zwei wörtchen verlie-ren könnte: der hiesige „friedens- und normalisierungspro-zess“ krepelt ziemlich langsam vor sich hin, und alle betei-ligten schachern um ihre pfründe. Zapatero und seine so-zialisten (also sozialdemokraten) sagen, dass das alles lan-ge dauern muss und ein langer atem gefragt ist. Die baski-sche linke dagegen wird allmählich echt ungeduldig. Unddie spanischen konservativen wollen natürlich gar keinebewegung, weil es ja scheiße wäre, wenn es den sozis gelin-gen würde, das baskische dauer-problem zu lösen, an demsich bisher noch alle regierungen die zähne ausgebissenhaben. Spannend ist, wie unterschiedliche trümpfe ins spielgebracht werden und fragen miteinander verquickt werden,die wenig miteinander zu tun haben sollten, vor allem par-teipolitische fragen – legalisierung Batasunas – mit der si-tuation der baskischen gefangenen – deren verstreutheitüber gesamt-Spanien den kontakt zu ihren familien behin-dert usw. Bei der konstituierung eines baskischen RundenTisches aller parteien – zu konkreten fragen wie volksab-stimmung über unabhängigkeit usw. – kommt von der spa-nischen ecke eher ein: 'dialog setzt die abwesenheit vongewalt voraus'. Und damit verträgt sich der gerade wiederanfangende straßenkampf in gestalt von ungeduldigen ju-gendlichen, die autos und mülleimer anzünden – uiuiui –schlecht. Und das jüngste theatralische auftreten von ETAmit einer relativierung des waffenstillstands natürlich nochweniger.

Und die andere, baskische seite sagt eher, dass ein endevon gewalt nur durch dialog erreicht werden kann.

Naja, insofern alles ganz interessant. Aber dass sie sichnur damit beschäftigen, kann ich nun auch nicht ganz ver-stehen. Und derweil beschweren sich die baskischen insti-tutionen, dass ihre wohnheime für minderjährige flüchtlin-ge zu voll sind und woanders noch welche reinpassen. Zudem thema habe ich noch nix von der (partei-)linken hiergehört, es ist kein großes thema.

Das ist halt der andere aktuelle punkt, der vermutlichauch stärker in deutschen nachrichten auftaucht: die behör-den auf den Kanarischen Inseln kriegen allmählich echte

probleme, wo sie mit den täglich ca. 300 ankommendenmigrantInnen hinsoll, bevor diese zurück abgeschoben wer-den. Spanien nimmt minderjährige unbegleitete migrantIn-nen auf, aber auch da schlagen alle regionen alarm, dass sieüberlastet sind und doch jemand anders sich drum kümmernmöge.

Das interessante an diesem konflikt ist, dass in denmedien – stärker in den baskischen, aber ein bisschen auchin den spanischen, habe ich den eindruck – schon auch et-was der hintergrund von migration beleuchtet wird, diemotive und die situation von migrantInnen doch näher dar-gestellt wird als in Deutschland. Insofern sehe ich bei denmedien eher ein leichtes gegenteil von abschottung. Was mitder regierungspolitik natürlich wenig zu tun hat. Aber dasleben als illegalisierteR migrantIn scheint hier doch wenigergefährlich zu sein als daheim. Zumindest sind in dem spa-nischkurs, den ich gerade noch an so einer art volkshoch-schule mache, auch leute ohne papiere, und das ist dort ganzoffen bekannt und kein thema. Da würde in Deutschlanddoch mal die polizei vorbeigucken, oder?? Muss nochmalnachforschen, wie das hier mit polizeikontrollen aussieht.

Vorgestern hab ich „Salvador“ gesehen, diesen spani-schen film über einen katalanischen „terroristen/freiheits-kämpfer“ in der endphase von Franco. Guter film. Leiderdoch wenig politik drin, eher eine romantisch-ästhetischepersönlichkeitsdarstellung. Aber das ziemlich gut, DanielBrühl mal wieder als attraktiver junger rebell. Und auchnette musik, u.a. Locomotive Breath von Jethro Tull alsbegleitung zu einem banküberfall mit übelstem maschinen-gewehr-geballere. Wozu querflöten-musik nicht alles gut seinkann! Die familie der hauptfigur fand den film wohl gut, dieex-genossen wegen der romantischen darstellung eher nicht.Dabei hatte der regisseur einen sehr politisch-aufkläreri-schen anspruch, zur bisher mangelhaften aufarbeitung derdiktatur beizutragen. Tja. Die auseinandersetzung mit Francound der übergangszeit zur demokratie scheint hier noch ganzarg am anfang zu stehen.

Die baskischen abendnachrichten (also von einem bas-kischer sender, aber auf kastellanisch = spanisch; gibt aucheinen sender auf baskisch) erfreuen mich immer wieder: beidem kurzen bericht von den deutschen wahlen vorletztenSonntag und dem einzug der NPD haben sie bilder von derApfelfront, dieser NPD-verarsche-gruppe gezeigt, die eineart regentanz vor dem landtag aufgeführt hat, und das nichtals satire erklärt. Das ist mir – nicht nur vom unterhaltungs-, sondern auch vom informationswert her – tausendmal lie-ber als das spanische tagesschau-äquivalent, wo die nach-richt von der schwangerschaft der prinzen-gattin die minu-tenlaneg hauptmeldung darstellt.

Liebe grüße und bis bald,Ulrike Müller, Bilbao

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