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10 Büro ausflug 1978: Die Zür ch er Anwalte Andre a Danuser, Moritz L eue nb er ger, Kurt Meier und Be at Gsell Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken Als Folge der 68er-Bewegung liessen sich im Zürcher Stadtkreis 4 zahlreiche sozial und politisch engagierte Anwalte nieder. Darunter der heutige Bundesrat Moritz Leuenberger oder Susanne Leuzinger, heute Vizeprãsi- dentin des Bundesgerichts. Ein Rückblick eines Insiders. D er Zürcher Stadt kreis Ausse r- sihi beherbergt das Bezirks- gerich t, das Bezirksgefangnis, das Arbeitsgericht und das M iet- gericht. Es ist daher nur logisch, d ass sich hier im Gefolge der 68er-Bewe- gung eine bunre Szene «l inker» An- waltinnen und Anwalten niederliess. Nicht nur die Nahe zu den Ge ri ch- re n zog sie an, sondern auch der Um- stand, d ass die Eroff nung einer Kanz- lei im « ve rruch re n» Kreis 4 an und für sich erwas Revolutionares an sich har- te. Anwalte hausren bis her in der Ci ry , an der Bahnhofstrasse oder rund ums Obergericht am H irschen- graben. In d ie Auslan de r- und Arbei- rergegend d es «C hreis Cheib» verirr- te sich hochstens einmal ei n Milieu- anwalt oder ei n Winkel advokat. Mit de m 2 CV ans Bez ir ksger icht Der ersre Anwalt dieser neuen linken Generation war Moritz Leuenb erge r. 1972 eroff nere er zusammen mit Ko ll eginn en und Ko ll egen an der Langstrass e 4 eine Kanzlei, die bis heute an derselben Adresse weiterbe- steht. Anfangli ch fielen vor all em Àusserlichkeiten auf D un kl e Blicke, lange H aare, Barte undJ eans. Moritz Le uenb erge r parkierte seinen ve rl ot- tenen 2 CV auf dem Parkplatz vor dem Bezirksgericht, wo doch die richtigen Anwalte mindestens einen Merced es fuhren. Das hatte prompt einen ausf üh rl ichen Leitartikel in der Lokalpresse zur Folge. Karhrin Bühler pflegte an warmen Sommer- tagen barf uss vor Gericht zu pladie- ren, inspirierr von den chinesi schen Barfussarztinnen in China zu Maos Zeiten. D ie Inneneinrichtung des Büros war schlichr - und fas t so lottrig wie Mori tz Leuenbergers 2 CV Einfache Ho lzgestell e für die Aktenablage. Ein lange r, ungehobelter Holz ti sch pl ildoyer 6/08 für Bes prechu ngen. Am Tisch zerris- sen sich die Frauen regel massig die Str ümpf e, was zu ersten H aftpflich t- fa ll en führre. D as meiste Mobiliar wurde vom Genossen Ha uswart des nahen Bezirksgeba udes aus alten Be- sranden d es Bezirksgerich rs in einer Wochenendaktion über die Strasse an gel iefe rr. Die charmante Schlam- pigkeit d es Büros rechtferrigten wir ideo lo gisch damit , d as s wir den Kli en te n die Schwell enangst vor dem Ga ng zum Anwalt nehmen ssten. Aber auch mir den geringen Infras trukrurkos ren, die sich in ei- nem günstigen Sr undenansa tz nie- derschluge n. Di e We nde zu vorne hmeren Ein- richtungen zeichnere sich erst ab, als einmal ein Direkror einer gro ssen Ve rsicherungsgese llschaft anlass li ch einer Bes prechun g bei einem Kolle- ge n sich sehr interessierr an der H er- ku nf r unserer Aktengestell e zeigte - mit d em mali ziosen Hinweis, er su- che ein Gestell für Àpfel und Wein in se in em Kell er. Arbeit zu mõglichst günstigen Tarifen A nf angli ch kamp fte n wir also gegen Schwe ll enangs te und hatten auch Erfol g. Wir wurden von Mandaten überschwe mmt - Arbeimehmende, Mieter, Erwach se ne und Juge ndli- ch e, die einer Strafr at verdachtig wurden. Ganz nach dem Werbe- spruch: «H esch Lamp e mit de Schmi er, go sch a d'Langs uo ss N r. 4. » D as Leitmotiv unserer Arbeit war sozial und einfac h: Ve rtreten werden nur die Schwachen gegen die Starken, Arbeimeh mer gege n Arbeit ge ber, M ieter gegen Ve rmieter, Strafffalli ge gegen Strafverfol ge r, Mi granten ge- ge n d ie Fremdenpolizei. Arbeiten wollten wir zu mogli chst günstige n Tarife n. Von den sel te nen wohlha- benden Klienten nahmen wir erwas mehr, um so auch einmal ein Ma ndat gratis hren zu konnen. Unser War- tezimmer gli ch zeirweise dem Ver- plil doyer 6/08 sammlungsort einer Selbsthilfegrup- pe. Als der aus der T ürkei stammen- de Anwalt Atil ay Ileri Mitte der Sieb- zigerjah re zu uns sti ess, reisten türki- sche Gastarbeiter angemeld et und unangemeldet aus der ganzen Schweiz an. Sie warrete n stundenlang und verpflegten sich mit mitge brach- ten ori entalischen Kostlichkei ten Auch für uns blieb meist erwas übri g. D as Berfnis n ach juristi scher Bera- tung war riesig. Als es uns über den Kopf wuchs, gründeten wir in einem Nachbarhaus einen Rechtsschut zve r- ein für T ürken. Schwerwie ge nd es Moraldilemma Ein Glücksfall für unse re Arbeir war, dass der Ver band des Personals of - fentlicher Dienste (VPOD) in den Siebzigerjah re n das Referendum ge- ge n eine Lohn erhohung für Polize i- beamre ergriff. Das hatte zur Folge, d ass Polizisten die Tramler, d ie im VPOD organisiert waren, mit schika- nosen Bussen überhauften. Als Ver- trauensanwal te d es VPOD hatten wir d as Privil eg, d iese Tramler vertreren zu dür fe n. Es kam zu jener Zeit nicht se lten vor, d ass es in der ell enla ngen Badenerstrasse zu einem Tramstau kam, we il ein Chauffeur mit einem vo n uns se inen Fali diskutieren muss- te und daz u se in Tram für d ie Bes pre- chung stopp te: « Herr Doktor, ich muss Ihnen sagen, die Verhandlung vo n gestern vor dem Einzelrichter war ei n Skandal. Damit ge hen wir bis ans Bundesgeri cht.» Was wir dann sel bst- ve rstandlich jeweil s auch mit grossem Erf olg taten. Erwas schwierige r wurde es, als sich die Tramchauffeure gewerkschaftlich gegen die Z ul ass ung von Tramchauffeusen wehrten und dazu unse re Hilf e anf orderren. D as stü rz te uns in ein schwerwiegend es Moraldilemma. Gemeinhin erfreuten wir uns aber einer grossen Solidaritat und Sympa- th ie se itens der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. In guter Erin- nerung bleibt uns beso nders die Par- re iko ll egin und Gewerkschafrerin am Schalter der Sihlpost beim Ha upt- bahn hof, die uns auch nach Schalte r- schluss Eingaben fertigsch reiben li ess u nd mit d em rich tigem Poststempel ans Ge ri cht weiterl eitete. Ein Mandat vo n grundsatzli cher Bedeutung betraf den Prozess der Nachkommen von General Ulrich W ille. Sie woll te n Ni klaus Meienberg vorsorglich per Ge ri chtsbeschluss ver- bie ten, ein noch nicht geschriebenes Stück mit dem Titel «W ill e zur Macht» zu schreiben. Denn was M ei- enberg schreiben wo ll e, das se i auch im Ko pf d es Schriftstell ers bereits ehr- ve rl etze nd . D as war dann selbst dem Ge ri cht zu viel und es ga b uns Recht. Erfolglos hingegen blieben wir mit unserem Einsatz für drei Lehrer an der Ka ntonsschul e in Z üri ch -Wiedikon, die aus politi schen G ründen mit ei- nem Beruf sverbot belegt worden wa- re n. Einen gewissen Regierungs rat Gil ge n - Alf re d G il ge n war Regie- rungs rat und Erziehungs direktor - wünscht en wir des halb an den Gal- ge n, was ein erster Bruch mit unserem G rundsa tz «für Straft ater gegen Scharfrichter» bedeute(e. Und al s Nesdé wegen der Ka mp agne «Nesdé totet Babi es» gegen die «Erl da rung von Bern» klagte, bot ihnen Moritz Leuenberger d ie Srirn. Spater war er dann den Ma rcos-Geldern in der 5chwe iz auf der Spur. Pikettdienst zum Schutz einer Beizenerõffnung M it un se rem Rechtswissen halfen wi r, wo und wi ewir nur konnten: W irver- teidigten Juge ndliche, die aus Hei- men enrwichen waren, und brachten sie in Wohngemeinschaften unter. W ir rannten an gegen die in den Sieb- zige rjahren exorbita nt hohen 5trafen wegen H aschi schkonsums. Wir for- derten Schadenersatz für G ummi - geschoss-Verletzte wahrend den Ju- gen dunruhen in den Achtzigerjal1ren. Noch früher richteten wir eine ANWÃLTE 11

Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken - mffh.ch · Be at Gsell Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken Als Folge der 68er-Bewegung liessen sich im Zürcher Stadtkreis 4 zahlreiche

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Page 1: Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken - mffh.ch · Be at Gsell Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken Als Folge der 68er-Bewegung liessen sich im Zürcher Stadtkreis 4 zahlreiche

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Büroausflug 1978: Die Zürcher Anwalte

Andrea Danuser, Moritz Leue nb erger,

Kurt Meier und Be at Gsell

Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken Als Folge der 68er-Bewegung liessen sich im Zürcher Stadtkreis 4 zahlreiche sozial und politisch engagierte Anwalte nieder. Darunter der heutige Bundesrat Moritz Leuenberger oder Susanne Leuzinger, heute Vizeprãsi­dentin des Bundesgerichts. Ein Rückblick eines Insiders.

D er Z ürcher Stadtkreis Ausser­

sihi beherbergt das Bezirks­

gerich t, das Bezirksgefangnis,

das Arbeitsgericht und das M iet­

gericht. Es ist daher n ur logisch, dass

sich hier im Gefolge der 68er-Bewe­

gung ei ne bunre Szene «linker» An­

waltinnen und Anwalten niederliess.

Nicht nur die Nahe zu den Gerich­

ren zog sie an, sondern auch der Um­

stand, dass die Eroffnung einer Kanz­

lei im «verruch ren» Kreis 4 an und für

sich erwas Revolutionares an sich har­

te. Anwalte hausren bisher in der

Ciry, an der Bahnhofstrasse oder

rund ums Obergericht am H irschen­

graben. In die Aus lan de r- und Arbei­

rergegend des «Chreis Cheib» verirr­

te sich hochstens einmal ein M ilieu­

anwalt oder ein W inkeladvokat.

Mit dem 2 CV ans Bezirksgericht

Der ersre Anwalt dieser neuen linken

Generation war Moritz Leuenberger.

1972 eroffnere er zusammen mit

Kolleginnen und Kollegen an der

Langstrasse 4 eine Kanzlei, die bis

heute an derselben Adresse weiterbe­

steht. Anfanglich fielen vor allem

Àusserlichkei ten auf D unkle Blicke,

lange H aare, Barte undJeans. Moritz

Leuenberger parkierte seinen verlot­

tenen 2 CV auf dem Parkplatz vor

dem Bezirksgericht, wo doch die

richtigen Anwalte mindestens einen

Mercedes fuhren . Das hatte prompt

einen ausführlichen Leitartikel in

der Lokalpresse zur Folge. Karhrin

Bühler pflegte an warmen Sommer­

tagen barfuss vor Gericht zu pladie­

ren, inspirierr von den chinesischen

Barfussarztinnen in China zu Maos Zeiten.

D ie Inneneinrichtung des Büros

war schlichr - und fas t so lottrig wie

M ori tz Leuenbergers 2 CV Einfache

Holzgestelle fü r die Aktenablage.

Ein langer, ungehobelter Holztisch

pl ildoyer 6/08

für Besprechungen. Am Tisch zerris­

sen sich d ie Frauen regelmassig die

Strümpfe, was zu ersten H aftpflicht­

fallen führre. Das meiste Mobiliar

wurde vom Genossen Hauswart des

nahen Bezirksgebaudes aus alten Be­

sranden des Bezirksgerich rs in einer

Wochenendaktion über die Strasse

angelieferr. D ie charmante Schlam­

pigkeit des Büros rechtferrigten wir

ideologisch damit, das s wir den

Kliente n die Schwellenangst vor

dem Gang zum Anwalt nehmen

müssten . Aber auch mir den geringen

Infras trukrurkos ren, die sich in ei­

nem günstigen Srundenansatz nie­

derschlugen .

Die Wende zu vornehmeren Ein­

richtungen zeichnere sich erst ab, als

einmal ein Direkror einer grossen

Versicherungsgesellschaft anlasslich

einer Besprechung bei einem Kolle­

gen sich sehr interessierr an der H er­

kunfr unserer Aktengestelle zeigte -

mit dem maliziosen Hinweis, er su­

che ein Gestell für Àpfel und Wein in

sein em Keller.

Arbeit zu mõglichst günstigen Tarifen

Anfanglich kamp fte n wir also gegen

Schwellenangste und hatten auch

Erfolg. Wir wurden von M andaten

überschwemmt - Arbeimehmende,

Mieter, Erwachsene und Jugendli­

che, die einer Strafrat verdachtig

wurden . Ganz nach dem Werbe­

spruch: «H esch Lampe mit de

Schmier, gosch a d'Langsuoss N r. 4.»

Das Leitmotiv unserer Arbeit war

sozial und einfach: Vertreten werden

nur die Schwachen gegen die Starken,

Arbeimehmer gegen Arbeitgeber,

M ieter gegen Vermieter, Strafffallige

gegen Strafverfolger, Migranten ge­

gen die Fremdenpolizei. Arbeiten

wollten wir zu moglichst günstigen

Tarifen. Von den sel tenen wohlha­

benden Klienten nahmen wir erwas

mehr, um so auch einmal ein Mandat

gratis führen zu konnen. Unser War­

tezimmer glich zeirweise dem Ver-

plil doye r 6/08

sammlungsort einer Selbsthilfegrup­

pe. Als der aus der T ürkei stammen­

de Anwalt Atilay Ileri M itte der Sieb­

zigerjahre zu uns stiess, reisten türki­

sche Gastarbeiter angemeldet und

unangemeldet aus der ganzen

Schweiz an. Sie warreten stundenlang

und verpflegten sich mit mitgebrach­

ten orientalischen Kostlichkeiten

Auch für uns blieb meist erwas übrig.

Das Bedürfnis nach juristischer Bera­

tung war riesig. Als es uns über den

Kopf wuchs, gründeten wir in einem

Nachbarhaus einen Rechtsschutzver­

ein für T ürken.

Schwerwiegendes Moraldilemma

Ein Glücksfall für unsere Arbeir war,

dass der Verband des Personals of­

fentlicher Dienste (VPOD) in den

Siebzigerjahren das Referendum ge­

gen eine Lohnerhohung für Polizei­

beamre ergriff. Das hatte zur Folge,

dass Polizisten die Tramler, die im

VPOD organisiert waren, mit schika­

nosen Bussen überhauften . Als Ver­

trauensanwalte des VPOD hatten wir

das Privileg, diese Tramler vertreren

zu dürfen. Es kam zu jener Zeit nicht

selten vor, dass es in der ellenlangen

Badenerstrasse zu einem Tramstau

kam, weil ein Chauffeur mit einem

von uns seinen Fali diskutieren muss­

te und dazu sein Tram für die Bespre­

chung stoppte: «Herr Doktor, ich

muss Ihnen sagen, die Verhandlung

von gestern vor dem Einzelrichter war

ein Skandal. Damit gehen wir bis ans

Bundesgericht.» Was wir dann selbst­

verstandlich jeweils auch mit grossem

Erfolg taten. Erwas schwieriger

wurde es, als sich die Tramchauffeure

gewerkschaftlich gegen die Z ulassung

von Tramchauffeusen wehrten und

dazu unsere Hilfe anforderren. D as

stürzte uns in ein schwerwiegendes

Moraldilemma.

Gemeinhin erfreuten wir uns aber

einer grossen Solidaritat und Sympa­

thie seitens der Sozialdemokratie und

der Gewerkschaften . In guter Erin-

nerung bleib t uns besonders die Par­

reikollegin und Gewerkschafrerin am

Schalter der Sihlpost beim Haupt­

bahnhof, die uns auch nach Schalter­

schluss Eingaben fert igsch reiben liess

und mit dem rich tigem Poststempel

ans Gericht weiterleitete.

Ein Mandat von grundsatzlicher

Bedeutung betraf den Prozess der

Nachkommen von General Ulrich

W ille. Sie woll ten Niklaus Meienberg

vorsorglich per Gerichtsbeschluss ver­

bieten, ein noch nich t geschriebenes

Stück mit dem T itel «W ille zur

Macht» zu schreiben . Denn was Mei­

enberg schreiben wolle, das sei auch

im Kopf des Schriftstellers bereits ehr­

verletzend. Das war dann selbst dem

Gericht zu viel und es gab uns Recht.

Erfolglos hingegen blieben wir mit

unserem Einsatz für drei Lehrer an der

Kantonsschule in Z ürich-Wiedikon,

die aus politischen Gründen mit ei­

nem Berufsverbo t belegt worden wa­

ren. Einen gewissen Regierungsrat

Gilgen - Alfred G ilgen war Regie­

rungs rat und Erziehungsdirektor -

wünschten wir deshalb an den Gal­

gen, was ein erster Bruch mit unserem

Grundsatz «für Straftater gegen

Scharfrichter» bedeute(e. Und als

Nesdé wegen der Kampagne «Nesdé

totet Babies» gegen die «Erldarung

von Bern» klagte, bot ihnen Moritz

Leuenberger die Srirn . Spater war er

dann den Marcos-Geldern in der

5chweiz auf der Spur.

Pikettdienst zum Schutz einer Beizenerõffnung

M it unserem Rechtswissen halfen wir,

wo und wiewir nur konnten: W irver­

teidigten Jugendliche, die aus Hei­

men enrwichen waren, und brachten

sie in Wohngemeinschaften unter.

W ir rannten an gegen die in den Sieb­

zigerjahren exorbitant hohen 5trafen

wegen H aschischkonsums. Wir for­

derten Schadenersatz für Gummi­

geschoss-Verletzte wahrend den Ju­

gendunruhen in den Achtzigerjal1ren.

Noch früher richteten wir eine

ANWÃLTE

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Page 2: Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken - mffh.ch · Be at Gsell Aussersihler Anwãlte: Nachhaltiges Wirken Als Folge der 68er-Bewegung liessen sich im Zürcher Stadtkreis 4 zahlreiche

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Regine Aeppli, Anwaltin: 'Heute Regierungsratin

Rechtsberatung ein für Menschen,

die bei der Besetzung des Atomkraft­

werkgelandes in Kaiseraugst mit dem

Gesetz in KonHikt geraten waren.

Beim Eroffnungsfest des Rossli, einer

AJternativbeiz im landschaftlichen

Stafa, stand einer von uns Pikett für

den Fall , dass die Behorden einge­

schritten waren, weil die definitive

BetI'iebsbewilligung noch nichr vor­

lag. Und immer wieder setzten wir

uns zusammen mit den Gewerk­

schaften für einen besseren Kündi­

gungsschurz der Angestellten ein.

Bundesgericht gegen Berufsverbot

Die Langstrasse 4 blieb nicht lange

die einzige linke .Anwaltskanzlei in

Aussersihl. 1977 gI'ündeten Susanne

LeuzingeI', Bernard Rambert und Ed­

mund SchonenbeI'ger das Anwalts­

kollektiv. Die im Jahr 2005 vers toI'­

bene Barbara' Hug wechselte bald von

deI' Langs tI'asse 4 in die nur 100 Me­

ter entfernte Kanzlei. M itglieder des

Anwaltskollektivs radikalisierten die

AusseI'sihler Anwaltsszene. Vor aUem

die Terrorisrenprozesse bewegten die

Gemüter. D as Anwaltskollektiv setz­

te sich konsequent für ein korrektes

StrafverfahI'en ein. Folge waI' ein erst­

instanzlicheI' Entzug des .Anwaltspa­

tents wegen mangelnder VertI'auens­würdigkeit.

Das faktische Berufsverbot konnte

erst voI' Bundesgericht - dan k einem

engagierten Gutachten des Straf­

rechtsprofessoI's Peter Noll - abge­

wendet weI'den. Koll ektivmirglied

Barbara Hug setzte sich ein Leben

lang für «Ausbrecherkonig» WalteI'

Stürm und viele andere unbekannte,

vom Glück verlassene Straftater ein.

In EI'inneI'ung bleibt Edmund

Schonenberger, weil er als ersrer di e

Rechte von psychisch Kranken the­

matisierte und sich dafür unkonven­

tionell einsetzte. Die Gerichte scho­

ckierte er mit frechen Eingaben oder

dann mit seinem an den Schauspie­

ler Marlon Brando erinnernden Aus­

sehen, das dazu führte, das s die Rich­

ter in Verhandlungen regelmassig

den angeklagten Strafta ter mit dem

Anwalt verwechselten. ELwas milder

konnte er die Richter stimmen, wenn

er mit seinem Baby im Snugly am

Bauch in einer Verhandlung darleg­

te, warum es ein Menschenrecht sei,

mir dem Velo in verkehrter Richtung

durch eine Einbahnstrasse zu fah I'en.

M it zunehmender Berufserfah­

rung erhielt die einfache Anwalts­

ideologie «Schwache gegen Starke -

Gut gegen B05e) Risse. Dies vor al­

lem auch im Z usammenhang mi t der

Frauenbewegung und der G leichstel­

lungsdiskussion. Plotzlich wurde in

unseren Anwalrskreisen die Frage ge­

stell t, ob es überhaupt legitim sei, ei-

Susanne Leuzin­ger, Anwaltin: Heute 8undes ­richterin

nen Vergewaltiger, Kinderschander

oder ahnliche Deliquenten zu vertei­

digen. Die Gewalt gegen Frauen und

Kinder wurde wesentlich wichtiger

als die angeblich schwache Position

des Straftaters gegenüber dem Staats­apparat.

Auszug der Frauen aus dem Anwaltskollektiv

Diese Diskussion führte zu einer Auf­

spaltung der Strafven eidiger: Die ei­

nen hielten nur Strafverteidigungen

für legitim, die sie auch moralisch und

politisch vertreten konnten . Die an­

deren trennten die Strafverteidigung

strikt von Ethik und Moral und setz­

ten sich einfach für eine optimale, for­

male und materielle Verrretung jedes

Straftaters ein. Auch das Scheidungs­

I'echt war von dieseI' Diskussion

betroffen. Es stellte sich die Frage, in­

wiefern Manner in Scheidungsver­

fahren überhaupt mit gutem Gewis­

sen vertreten werden konnten. Diese

Diskussion war wohl der Haupt­

grund, der zum Auszug der Frauen

aus dem zahlenmass ig gewachsenen Anwalrskollektiv führte.

Um Jeanne Dubois und Susanne

Leuzinger formierte sich an der be­

nachbarten .Ankersrrasse bald ein

«Frauenbüro», das engagiert Anwal­

tinnentatigkeit aus Sich t der FI'au für die Frau betrieb.

pladoyer 6/08

8arbara Hug, Anwaltin:

Verteidigte den Ausbrecherkonig

Walter Stürm

Und heute? In Aussersihl hat sich

eine vielfaltige Szene von Kanzlei­

en, Anwalten und Anwaltinnen he­

rausgebildet, die direkt oder indi­

rekt auf die 68er-Zeit zurückgeht.

Noch immer ein Herz für sozial Schwache

An der Langstrasse 4 residieren in

der Zwischenzeit drei Kanzleien.

Das Anwaltskollektiv praktiziert an

der Kernsrrasse, ein abgespalrener

Teil davon an der Gartenhofs trasse .

Das Frauenbüro ist immer noch an

der .Ankersrrasse ratÍg . .Auch die weir­

herum bekann ren und gefragren

Strafverteidiger Bernhard Gehrig,

Lorenz Emi und Thomas Finger­

huth res idieren 111 Aussersihl.

H ells-Angels-Anwalt Valentin Land­

mann hat immerhin se in H erz don

verloren .

.Andrea Danuser und Andi Hopp­

ler als ehemalige Langsrrassler kamp­

fen seit Jal1ren unenrwegr von der

Freyastrasse aus für .Auslander sowie

sozialen und preisgünstigen Woh­

nungsbau. Der brilliante Anwalr und

Kollektiv-M itbegründer Bernard

Rambert zog nach dem Ende des

KOllektivs ein paar Strassen weirer,

begleitet von Andrea Srauffacher -

seiner Sekretarin -, die ihn als uner­

m üdliche D emonstrantin Jmmer

wieder recht!ich beschaftigt.

pladoyer 6/08

Viele Aussersihler .Anwalte sind

auch heute noch sozial und politisch

engagiert. Erwa Marc Spescha, der

sich uneigennützig für die Rechte der

.Auslander und Migranten einsetzt.

Andere sin d dank Erfahrung und

Konnen zu simplen Staranwalten au f­

gestiegen, die heute Klienten aus allen

Gesellschaftsschichten vertreten.

Ein Herz für sozial Schwache, so

scheint mir, ist aber allen geblieben.

!eh kenne in Zürich zumindest kei­

nen «linken» Anwalt, der - wie erwa

in Deutschland - zu den Faschisten

gewechselt hat oder - wie in Frank­

reich - mit Vorliebe Folterer und

Staatsterroristen verteidigt.

Diverse .Aussersihler haben nicht

nur beruHich, sondern auch polirisch

Kan'iere gemacht. AJlen voran Mo­

ritz Leuenberger als Bundesrat oder

Susanne Leuzinger als Vizeprasiden­

tin des Bundesgerichts. Auch H ans­

Peter Uster, alt Regierungsrat in Zug,

verdiente seine Sporen im Anwalts­

kollektiv ab. Genauso Dorothee

Jaun, die in der Zürcher Politik ei ne

wichtige Rolle spielt. Regine Aeppli,

seit 2003 Z ürcher Regierungsratin,

war zuvor in Aussersihl als Anwaltin

tatig. Beat Gsell von der Langstrasse

ist heute Ombudsmann im Kanton

Zug. Und Anita Thanei, die ihre

Kanzlei immer noch an der Lang­

strasse 4 hat, isr SP-N arionalrarin

und Prasidentin des Schweizerischen

o CL

An ita Thane i, Anwaltin : Im Nebenjob heute National­ratin

Mieterinnen- und Mieterverbandes.

Einige, die ihre Laufbahn als .Anwal­

tin nen und Anwalre begannen,

wechselten an kantonale Gerichte,

ohne ihren Idealen ganz untreu zu

werden. So gehen die heute verbrei­

teten Teilzeitstellen auf ihre Initiative

zurück, was zu einem grossen Anstieg

an Ricbterinnen führte.

Ein Erbe, das bleibt: Viele neue Institutionen

Auch viele, heute nicht mehr wegzu­

denkende Institutionen - mit Aus­

srrablung weir über Z ürich hinaus -

sind aus den Erfahrungen der beweg­

ten Aussersihler Anwaltsszene hervor­

gegangen ader zumindest massge­

bend von ihnen beeinflusst worden.

Erwa das Frauenhaus Ueanne Du­

bois) , d ie Patientenstell en (Atilay Il e­

ri) , die Rechtsauskunftss telle des An­

waltskollektivs, die Demokratischen

Juristinnen und Juristen, die Arche

Zürich mit ihren vielfaltigen Angebo­

ten in der Drogenrehabilitation, im

Arbeirs- und Wohnbereich sowie der

Forderung von Kindern und Jugend­

lichen, die Wogeno und die Stiftung

für preisgünstigen Wohnungsbau

(Andi Happler) ader der Solifonds,

ein Fonds für Befreiungskampfe in

der Dritten Welt (Marco Mona) . Ein

Erbe, das bleibt.

Kurt Meier

ANWÃLTE

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