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Ethik Med (2002) 14:20–27 Aktuelles Babyklappe und Anonyme Geburt – Hintergründe und Anmerkungen zu ethischen Problemen Gisela Bockenheimer-Lucius Zur Situation Seit fast zwei Jahren gibt es in Deutschland die so genannte „Babyklappe“ 1 , de- ren Ziel es ist, das Leben Neugeborener zu schützen und zu retten. Dabei han- delt es sich um ein Wärmebettchen, in das durch eine Fenstertür anonym ein Baby abgelegt werden kann. Als Motiv hinter dieser Einrichtung steht die Er- fahrung, dass Kinder in extremen Belastungssituationen ihrer Mütter unmittel- bar nach der Geburt weggelegt oder gar getötet werden. Nach einer Kindesaussetzung und einer Kindestötung entstand im Juli 1999 in Amberg das „Projekt Moses“, eine Initiative der Schwangerenberatungsstelle des Sozialdienstes katholischer Frauen. In Hamburg löste der Fund eines Babys in einer Müllsortieranlage als Projekt Findelpark im April und Juli 2000 die Einrichtung der ersten Babyklappen aus, die beide bei Kindertagesstätten ange- siedelt sind (Verein SterniPark e.V.). Das „Babynest“ der Kinderklinik Glanzing (am Wilhelminenspital Wien) ist nach dem Hamburger Vorbild entstanden und als erstes in Österreich seit Oktober 2000 in Betrieb. Erwähnenswert ist die An- bindung an die Neonatologie, die über eine Intensivstation und eine Station für Säuglings- und Kinderpsychosomatik verfügt. In unmittelbarer Zusammenarbeit mit Geburtshelfern und Psychologen sind auf diese Weise kinderärztliche Erfah- rungen und psychosomatische Kompetenz zur Betreuung der Kinder und Mütter vorhanden. Im Kinderspital kann eine Frau zunächst über das Nottelephon Kon- takt mit dem psychosomatischen Dienst der Klinik aufnehmen. Wenn Bera- tungs- und Hilfsangebote für die betroffene Frau keine Perspektive darstellen, besteht die Möglichkeit zu einer persönlichen, aber anonymen Übergabe des Neugeborenen. Die verbleibende Alternative ist die völlige Anonymität beim „Babynest“, einer an der Außenmauer der Klinik angebrachten Babyklappe, die mit einem Brief (in mehreren Sprachen) an die abgebende Mutter ausgestattet ist. Sie findet ein Informationsblatt vor mit Notrufnummer und dem Hinweis, dass sie mit einer beigefügten Code-Nummer acht Wochen lang jederzeit Aus- kunft und Hilfe erhält. Ein Stempelkissen ermöglicht es ihr, einen Hand- und Fußabdruck ihres Kindes zu nehmen, was gegebenenfalls auch zur Identifizie- rung des Neugeborenen dienen kann. Nach dem Schließen der Babyklappe ist ein erneutes Öffnen nicht mehr möglich. Über ein optisches Alarmsignal wird © Springer-Verlag 2002 1 auch unter den Namen Babynest, Babyfenster, Babywiege, Babykorb, Babykörbchen, Pro- jekt Moses, Projekt Findelbaby, Lebenspforte

Babyklappe und Anonyme Geburt — Hintergründe und Anmerkungen zu ethischen Problemen

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Ethik Med (2002) 14:20–27

Aktuelles

Babyklappe und Anonyme Geburt – Hintergründe und Anmerkungen zu ethischen ProblemenGisela Bockenheimer-Lucius

Zur Situation

Seit fast zwei Jahren gibt es in Deutschland die so genannte „Babyklappe“1, de-ren Ziel es ist, das Leben Neugeborener zu schützen und zu retten. Dabei han-delt es sich um ein Wärmebettchen, in das durch eine Fenstertür anonym einBaby abgelegt werden kann. Als Motiv hinter dieser Einrichtung steht die Er-fahrung, dass Kinder in extremen Belastungssituationen ihrer Mütter unmittel-bar nach der Geburt weggelegt oder gar getötet werden.

Nach einer Kindesaussetzung und einer Kindestötung entstand im Juli 1999in Amberg das „Projekt Moses“, eine Initiative der Schwangerenberatungsstelledes Sozialdienstes katholischer Frauen. In Hamburg löste der Fund eines Babysin einer Müllsortieranlage als Projekt Findelpark im April und Juli 2000 dieEinrichtung der ersten Babyklappen aus, die beide bei Kindertagesstätten ange-siedelt sind (Verein SterniPark e.V.). Das „Babynest“ der Kinderklinik Glanzing(am Wilhelminenspital Wien) ist nach dem Hamburger Vorbild entstanden undals erstes in Österreich seit Oktober 2000 in Betrieb. Erwähnenswert ist die An-bindung an die Neonatologie, die über eine Intensivstation und eine Station fürSäuglings- und Kinderpsychosomatik verfügt. In unmittelbarer Zusammenarbeitmit Geburtshelfern und Psychologen sind auf diese Weise kinderärztliche Erfah-rungen und psychosomatische Kompetenz zur Betreuung der Kinder und Müttervorhanden. Im Kinderspital kann eine Frau zunächst über das Nottelephon Kon-takt mit dem psychosomatischen Dienst der Klinik aufnehmen. Wenn Bera-tungs- und Hilfsangebote für die betroffene Frau keine Perspektive darstellen,besteht die Möglichkeit zu einer persönlichen, aber anonymen Übergabe desNeugeborenen. Die verbleibende Alternative ist die völlige Anonymität beim„Babynest“, einer an der Außenmauer der Klinik angebrachten Babyklappe, diemit einem Brief (in mehreren Sprachen) an die abgebende Mutter ausgestattetist. Sie findet ein Informationsblatt vor mit Notrufnummer und dem Hinweis,dass sie mit einer beigefügten Code-Nummer acht Wochen lang jederzeit Aus-kunft und Hilfe erhält. Ein Stempelkissen ermöglicht es ihr, einen Hand- undFußabdruck ihres Kindes zu nehmen, was gegebenenfalls auch zur Identifizie-rung des Neugeborenen dienen kann. Nach dem Schließen der Babyklappe istein erneutes Öffnen nicht mehr möglich. Über ein optisches Alarmsignal wird

© Springer-Verlag 2002

1 auch unter den Namen Babynest, Babyfenster, Babywiege, Babykorb, Babykörbchen, Pro-jekt Moses, Projekt Findelbaby, Lebenspforte

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die Kinderstation informiert. Dort ist rund um die Uhr eine Besetzung gewähr-leistet, so dass das Kind sofort abgeholt und versorgt wird. Anschließend ist dieKlappe von außen wieder zu öffnen.

Inzwischen gibt es in Deutschland über 30 Babyklappen, von denen sehrviele ebenfalls an Kliniken angeschlossen sind (s. dazu: www.anonyme-geburt.de).

Zur Problematik

Die Debatte um den § 218 hat zu der Einsicht geführt, dass das Leben einesKindes nicht gegen seine Mutter, sondern nur mit ihr geschützt werden kann.Daher war mit der Einrichtung der „Babyklappe“ von Anfang an die Bemühungverknüpft, sich um die belasteten und in diesen Extremsituationen überfordertenMütter zu kümmern und zugleich auch prophylaktisch die gefährdeten Frauenvor einer heimlichen Geburt zu erreichen. Das Konzept wurde um wesentlichePunkte erweitert: Die Berücksichtigung der betroffenen Mütter macht grund-sätzlich eine umfangreiche, professionelle Hilfe erforderlich, verlangt die Ga-rantie von Anonymität und Straffreiheit und erfordert eine behutsam zu errich-tende Vertrauensbasis. Vor allem müssen nach der Abgabe des Neugeboreneninnerhalb einer achtwöchigen Frist intensive professionelle Unterstützung undHilfe angeboten werden, um der Mutter Möglichkeiten zu eröffnen, sich wiederfür ihr Baby zu entscheiden. Der Verein SterniPark betreibt zusätzlich einenBauernhof, wo bei einem gemeinsamen Aufenthalt eine Annäherung von Mutterund Kind versucht werden kann.

Die Befassung mit typischen Situationen, Konflikten und Motiven der abge-benden Frauen soll zum einen zukünftig wieder das Bemühen um Aufklärungüber Empfängnisverhütung verstärken. Zusätzlich werden aber die Einführungeiner anonymen Betreuung während der Schwangerschaft und eine legale an-onyme Geburt für notwendig erachtet. Die heimliche eigene Entbindung ohneUnterstützung, Betreuung und Zuwendung und die dadurch hervorgerufenenschwerwiegenden physischen und psychischen Schädigungen bei Mutter undKind sollen verhindert werden, und der Mutter soll die Möglichkeit gegebenwerden, ihr Neugeborenes gut versorgt zurück zu lassen.

Untersuchungen lassen erkennen, dass vier Gruppen von Müttern besondersgefährdet sind (nach H. Wiedermann in [5]):

● drogenabhängige und substituierte Mütter ● Frauen, die unter Gewalt in der Familie leiden● Migrantinnen und illegal anwesende Frauen● sehr junge minderjährige Frauen

Darüber hinaus gibt es gehäuft charakteristische Belastungen der Frauen, die ihrKind weggeben oder töten:

● Sie stammen überwiegend aus sozial niedrigen Schichten (allerdings bei wei-tem nicht alle).

● Die Beziehung zum Partner, der das Kind nicht will, ist durch ein extremesAbhängigkeitsverhältnis geprägt.

● Zusätzliche Belastungen durch extreme Gewalt, Arbeitslosigkeit und Alko-hol können hinzukommen.

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● Die Frauen leben oftmals in völliger Isolation von der Außenwelt.● In vielen Fällen führte eine Vergewaltigung zur Schwangerschaft.● Die betroffenen Frauen verdrängen die Schwangerschaft vollständig und

werden oft von der einsetzenden Geburt des Kindes überrascht.

Argumente der Befürworter

Die Einrichtung der Babyklappen hat ebenso wie die Initiative für eine legaleanonyme Geburt zu sehr kontroversen Stellungnahmen geführt. Zunächst wirdder Blick auf das ausgesetzte Neugeborene gerichtet: Seine lebensbedrohendeGefährdung ist die entscheidende Herausforderung, die Hilfsmaßnahmen be-gründet. In Deutschland werden jährlich etwa 40 Aussetzungen registriert, mitTodesfolge in etwa der Hälfte der Fälle, wobei zugleich mit einer Dunkelziffervon 400–800 Fällen gerechnet werden muss (Ärztezeitung vom 22.05.01 undwww.geburtskanal.de). Die Babyklappe soll den betroffenen Kindern eineChance bieten, trotz der Aussetzung nicht in Lebensgefahr zu geraten und gege-benenfalls in liebevollen Familien statt bei einer überforderten Mutter aufzu-wachsen oder gar getötet zu werden.

Aber auch die Situation der Frauen rückt in veränderter Weise in das Blick-feld: Mütter, die ihr Kind weglegen, sollen nicht mehr als grausame Täterinnenstigmatisiert, sondern in ihrer extremen psychischen Notsituation wahrgenom-men werden. Die zugesicherte Anonymität soll denjenigen Frauen helfen, dieÄngste und Scham erst überwinden müssen, bevor sie überhaupt Hilfsmaßnah-men anstreben und annehmen können. Die Achtung ihrer Anonymität soll einZeichen sein für den Ernst, mit dem man sich ihrer Not annimmt. Einige Befür-worter verweisen darauf, dass Mütter anonym bleiben, weil sie es selbst so ent-schieden haben, und entlastet sind, wenn sie wissen, dass ihr Kind gut versorgtist. Die Tatsache von Aussetzung und Tötung von Neugeborenen ist ein letztlichnicht ganz und gar zu verhinderndes Problem, aber die Möglichkeit der Baby-klappe und der anonymen Geburt sollen als letzter Ausweg Hilfe anbieten undKurzschlusshandlungen vorbeugen.

Argumente der Gegner

Auch bei den Gegnern der Einrichtung richtet sich die Argumentation zunächstauf die Belange des Neugeborenen. Sie verweisen auf das Grundrecht eines je-den Kindes, seine Herkunft zu kennen, während es kein Recht der Mutter gibt,ihrem Kind gegenüber anonym zu bleiben und ihm seine Herkunft vorzuenthal-ten. So erinnert das Kinderhilfswerk terre des hommes daran, dass auch dasKind in der Babyklappe ein ausgesetztes und verlassenes ist, dem jede Chancegenommen wird, seine Wurzeln zu finden [6].

Die Einschätzung der Situation der Frauen führt ebenfalls zu anderen Kon-sequenzen. Untersuchungen und Erfahrungen aus aufgearbeiteten Kriminalfäl-len sowie aus der Psychosomatik zeigen, dass die betroffenen Frauen in Panikund Kopflosigkeit den Entschluss zum Weglegen oder gar Töten des Kindes fas-sen. Diese psychische Extremsituation schließt Entscheidungen etwa für dieBabyklappe aus. Bei Müttern, die töten, soll das Kind „aus der Welt verschwin-

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den“, d.h. gerade nicht überleben.2 Mütter, die ihr Kind anonym abgeben, sindvergleichbar mit Müttern, die ihr Kind zur Adoption frei geben, in späteren Jah-ren jedoch oftmals tief depressiv reagieren und wissen wollen, was aus ihremKind geworden ist. So vermuten die Gegner, dass das Motiv der Initiatoren vonBabyklappe und anonymer Geburt viel mehr dem Ziel gilt, die Zahl der zurAdoption zur Verfügung stehenden Kinder zu erhöhen als individuell abge-stimmte Hilfen für Kinder und Mütter in Not zu leisten.3 Schließlich wird in derDiskussion darauf verwiesen, dass nachweislich oftmals der Kindsvater dasNeugeborene verschwinden lässt.

Ethische Probleme

Die ethische Analyse moralischer Konfliktsituationen führt in der Regel zu derErkenntnis, dass wesentliche Werte konfligieren und gegeneinander abgewogenwerden müssen. In der diskutierten Problematik steht dem Recht des Kindes aufLeben sein Recht auf seine Identität entgegen: ein Wertekonflikt der zugunstendes Lebensrechtes entschieden werden muss.

In der Komplexität der berechtigten Interessen und zweifellos dramatischenKonflikte reicht diese einfache Gegenüberstellung in ethischer Hinsicht abernicht aus. Um wessen Wohl geht es? Wenn es – wie immer wieder von Befür-wortern wie Gegner der Babyklappe und der anonymen Geburt hervorgehoben –um das Wohl von Kind und Mutter geht, dann verlangt die Pflicht zur Fürsorgeeine Zuwendung zu beiden, und die physische wie psychische Gefährdung, dasÜberleben der Mutter, darf neben der Gefährdung des Kindes nicht außer achtgelassen werden.

Aber auch Bemühungen aus Fürsorge bedürfen jeweils der ethischen Recht-fertigung. Zudem hat Fürsorge immer ihre Grenzen: Im vorliegenden Falle er-fordert die Wahl der Mittel zur Abwehr einer Katastrophe wie der Kindestötungein hohes Maß an Verantwortung. Das ebenso wesentliche Prinzip, nicht scha-den oder zumindest nicht zusätzlich schaden zu dürfen, zwingt dazu, die starkenEinwände von Seiten der Psychosomatik wie der Adoptionsforschung ernst zunehmen [2; 7] und nicht übereilt zu handeln.

Die unverzichtbaren Rahmenbedingungen binden Ärztinnen und Ärzte inder Geburtshilfe und Kinderheilkunde unmittelbar ein und verlangen derenfachliche wie moralische Kompetenz. Fürsorgepflichten und das Gebot desNichtschadens lenken angesichts der Lebenswirklichkeit der betroffenen Frauenund Kinder den Blick auf einige wesentliche Fragen, deren Beantwortung vonallen Beteiligten letztlich im Einzelfall gerechtfertigt werden muss:

● Welche Bedeutung hat die angestrebte Anonymität für die betroffene Frau?

Heftiger Widerspruch gegen die unterstellte positive Wirkung der Babyklappengründet auf der Annahme, dass Frauen in Panik und Kopflosigkeit den Weg zurBabyklappe weder gehen noch finden werden, da sie von der Situation der Ge-burt überrollt werden. Für den gut institutionalisierten Weg der Freigabe des

2 vgl. u.a. Interview mit Christine Swientek, WDR-Fernsehen, „Babyklappen – Hilfe für ver-zweifelte Mütter und ihre Babys?“ Beitrag von Ulrike Michels und Guido Lauterbach,09.05.20013 Interview mit Ulla Jelpke, „Rückfall in die fünfziger Jahre“, Freitag 25, 15.06.2001

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Kindes zur Adoption, der die Anonymität für Mutter und Kind vermeiden könn-te, fehlen die Kräfte (s. Fußnote 2). Allerdings gibt es auch Untersuchungen, diedafür sprechen, dass die Entscheidung zur Aussetzung zumeist bereits in derverheimlichten Schwangerschaft fällt [5]. Da die Frau sich niemandem anver-trauen will – und dies gilt gleichermaßen für ihr privates Umfeld wie für Institu-tionen – führt sie ihre Tat nach der Geburt ihres Kindes aus Angst und Schamaus. Anonymität baut dagegen eine hohe Hemmschwelle ab und ist für sie einWeg aus einer Sackgasse.

Die Anonymität bei der Freigabe des Kindes zur Adoption verstärkt zwei-fellos die Gefahr gravierender psychischer Belastungen in späteren Jahren.Auch aus diesem Grunde wird die Vermittlung eines Adoptivkindes immer öfterim Sinne einer „offenen Adoption“ durchgeführt. In der Stellungnahme vonterre des hommes zu Babyklappe und anonymer Geburt heißt es: „Ungewolltmachen sich ihre Befürworter zu Erfüllungsgehilfen derer, die sich anmaßen,statt der Mutter über Wohl und Wehe des Kindes zu entscheiden.“ Damit bleibtjedoch unberücksichtigt, dass die betroffenen Mütter durch Aussetzung oder Tö-tung ja bereits über Wohl und Wehe zu Lasten ihres Kindes entschieden haben.Auch der sicherlich häufige Versuch, das Kind so abzulegen, dass es rasch ge-funden werden kann, ändert nichts an der prinzipiell lebensbedrohlichen Situa-tion des Neugeborenen und der Tatsache, dass die Mutter die Entscheidungenüber das weitere Schicksal ihres Kindes damit an andere abgegeben hat. Derarti-ge Entscheidungen sind nur durch Vertrauen und Beratung zu revidieren, wozuman die betroffenen Frauen zunächst erreichen muss. Anonymität gewährt ih-nen einen Aufschub und seelischen Freiraum.

Der durch die Anonymität niedrigeren Schwelle zur Annahme von Hilfe beider Geburt kommt ebenfalls eine bedeutende Rolle für die Gesundheit der Mut-ter und das Überleben des Kindes zu. Man muss davon ausgehen, dass in einemhohen Prozentsatz Komplikationen auftreten und einige der tot aufgefundenenBabys unter und nach der Geburt verstorben sind.

Bei allen berechtigten Vorbehalten darf schließlich nicht übersehen werden,dass Mütter auch heute schon durch falsche Angaben Kinder anonym zur Weltbringen und sie dann verlassen. Mütter weigern sich (auch gegenüber Behör-den), den Namen des Vaters preiszugeben, und sie können auch in einem versie-gelten Umschlag pro forma Angaben machen, die nicht der Wahrheit entspre-chen müssen. Die Anonymität (auch des Vaters!) verbaut allen Beteiligten wich-tige Möglichkeiten der Identität und unterbindet wesentliche Lebensgemeinsam-keiten. Für die betroffenen Frauen, die die Babyklappe oder die Anonymität derGeburt ihres Kindes für sich in Anspruch nehmen wollen, scheint sie aber derunverzichtbare Schutz zu sein, der überhaupt einen ersten Schritt aus eben die-ser Anonymität heraus ermöglicht.

● Verantwortung und Selbstbestimmtheit der Mutter

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist nicht ohne den Hinweis auf dieVerantwortung der Mutter zu betrachten. Der Vorwurf, man mache es den Müt-tern durch die einfache Abgabe und mögliche Anonymität zu leicht (vgl. Fuß-note 3), ist nur haltbar, wenn man voraussetzt, dass die Mütter ausschließlichverantwortungslos handeln. Das Ziel ist aber doch wohl, ihnen die Konflikt-situation und scheinbare Ausweglosigkeit nicht noch schwerer zu machen, undgerade Unterstützung zu selbstbestimmter Entscheidung und Übernahme vonVerantwortung erfordert Vertrauensbildung und Gespräch. Zu den Grundsätzen

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des Amberger Projektes gehört: „Die Dauer der Anonymität bestimmt die Frauselbst.“ Dies ist ein großer Schritt zur angestrebten Autonomie. In eine ähnlicheRichtung zielt die in Frankreich rechtlich verankerte Möglichkeit der Mutter,auch in späteren Jahren jederzeit die Anonymität aufheben zu können.

Die dringende individuelle Nachsorge – wie etwa im Wiener Konzept -, diegleichermaßen für Kind und Mutter vorgehalten werden muss, eröffnet der Mut-ter die Möglichkeit, die verbleibenden Kräfte zu nutzen, um die Anonymitätaufzugeben. Aus psychiatrisch-forensischen Untersuchungen ist abzuleiten, dasseine derartige Betreuung auch einer neuerlichen Verdrängung und einem erneu-ten Aussetzen eines nächsten Kindes vorbeugen kann. Werden einigermaßenkompetente Mütter unterstützt, lassen sich Handlungen verhindern, die sie spä-ter ebenso bereuen würden wie etwa eine Freigabe zur Adoption.

● Welche Bedeutung haben Anonymität und Unerwünschtsein für das Kind?

Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention bekräftigt ebenso wie ein Urteil desBundesverfassungsgerichtes von 1989 das Recht des Kindes auf einen Namenvon Geburt an und – soweit möglich – das Recht, seine Eltern zu kennen. Diepsychotherapeutische Arbeit mit Adoptierten zeigt bedrückend, wie viele auchnoch im Erwachsenenalter ihre Herkunft suchen und unter biographischenLücken leiden. Die Situation der Adoptiveltern ist ebenfalls erschwert, wenn sienichts über die ersten Beziehungen und die Geschichte ihres Kindes wissen.Auch deshalb geht die Entwicklung in der Adoptionsvermittlung zur offenenAdoption hin, die allen eine Perspektive für einen gemeinsamen Lebensweg er-öffnet.

Das Kind hat aber im Sinne der Kinderrechtskonvention ebenso ein Recht„auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“. Das abgegebene, zweifellospsychisch stark traumatisierte neugeborene Kind braucht eine rasche Betreuung,die unter den Bedingungen der Babyklappe und der sofortigen kompetenten Zu-wendung immerhin die Chance bietet für eine gesunde Entwicklung und Beglei-tung bei der schwierigen Suche nach den Wurzeln der eigenen Geschichte undIdentität.

Das Problem der Anonymität verschärft sich für das Kind durch das Erle-ben, nicht erwünscht gewesen zu sein. Völlig unabhängig von der Frage, ob undwie weit sich das Unerwünschtsein bereits in der Schwangerschaft ausgewirkthat [1], muss es die Aussetzung als tiefe Kränkung erleben, die nur durch eineungeheure psychische Leistung zu bewältigen ist. Die Aufgabe der Adoptivel-tern besteht in erster Linie darin, ihrem Kind sein unbedingtes Erwünschtsein zuvermitteln. Adoptionsverfahren sind an Institutionen und Wege gebunden, dieauch in den betreffenden Fällen von Weglegung, anonymer Übergabe oder an-onymer Geburt eingehalten werden können und müssen. Dazu gehört es, dieAuswahl geeigneter, hoch belastbarer Eltern und die Notwendigkeit psychologi-scher Begleitung den Adoptionsbewerbern wie der Öffentlichkeit verständlichzu machen. Hier gibt es reichlich Erfahrungen in der Betreuung fremdländischerAdoptivkinder. Anonymität muss sicherlich in erster Linie um des Kindes wil-len so weit als möglich verhindert werden. Trotz unbestreitbarer Probleme lei-den aber bei weitem nicht alle Adoptivkinder zeitlebens unter der fehlendenKenntnis ihrer persönlichen Herkunft. Zudem empfinden auch viele Adoptierteim beginnenden Erwachsenenalter keineswegs den Wunsch, ihre leibliche Mut-ter oder Eltern kennen zu lernen. Zu einer stabilen Identitätsbildung kann Vielesin der Geschichte und dem Erleben des Kindes beitragen.

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● Welche Verantwortung tragen die Betreiber von Babyklappen?In moralischer Hinsicht kommt denjenigen, die eine Babyklape einrichten oderdie anonyme Entbindung einer Schwangeren ermöglichen, ganz sicher einehohe Verantwortung zu. Die beschriebenen Probleme lassen keine Euphorie zuangesichts eines geretteten Neugeborenen. Sie fordern vielmehr zu verstärktenAnstrengungen heraus, bereits bestehende Einrichtungen zu nutzen und Hilfsan-gebote zu verbessern. Für eine bestimmte, sicherlich kleine Gruppe von Kindernund Frauen sind Babyklappe und anonyme Geburt ein solches Angebot in derakuten Situation. Vorbeugende Maßnahmen müssen aber mitbedacht werden.

In Wien garantiert eine eigens für Teenager eingerichtete gynäkologischeSpezialambulanz Anonymität für Untersuchung und Beratung ohne Kranken-schein. Es zeigt sich allerdings, dass alle Mädchen aufgeklärt sind und Möglich-keiten zur Schwangerschaftsverhütung hätten. Daher ist Skepsis angebracht, obdurch mehr Aufklärung tatsächlich diejenigen erreicht würden, die gegebenen-falls von diesem Wissen Gebrauch machen müssten. Auch verdrängte Schwan-gerschaften, die bis zur beginnenden Geburt als Zyste, unheilbarer Tumor,Gallen- oder Nierenkolik interpretiert werden, kommen immer wieder vor (vgl.Grünberger in [5]). Schließlich muss der Tatsache Rechnung getragen werden,dass das Schwangerwerden trotz aller Aufklärung, Verhütungsmöglichkeitenund Planungen mit starken psychischen und irrationalen Momenten einhergeht(vgl. dazu auch Marianne Springer-Kremser in [5]). Dennoch sind Bemühungenangebracht, auch die schwer erreichbaren Gruppen anzusprechen, beispielswei-se durch Aufklärungsbroschüren in verschiedenen Sprachen und nicht zuletztden Versuch, nicht über die Köpfe der Jugendlichen hinweg aufzuklären, son-dern ihre sexuellen Probleme ihrem Lebensraum entsprechend ernst zu nehmen.Manches spricht dafür, dass Jugendzeitschriften hier mehr leisten als Gynäkolo-gen. ● Welche Grenzen setzt das Recht?

Rechtssicherheit ist für die Frauen wie für die Betreiber von Babyklappen unddie Kliniken angesichts einer anonymen Geburt unbedingt erforderlich. Geradedie Möglichkeit, sich nicht im Sinne des § 221 StGB der Kindesaussetzungstrafbar zu machen, kann bei den betroffenen Frauen Kurzschlusshandlungenverhindern. Das Vertrauen wird außerordentlich tangiert, wenn nach der Zu-sicherung der Anonymität die Offenlegung der persönlichen Daten erzwungenwerden kann (vgl. [4]).

Fragen des Personenstandsrecht und der Unterhaltspflichten stellen kom-plexe Probleme dar. Die Frage, ob es ausreicht, in § 16 PStG den Zeitraum derAnmeldepflicht auf 10 Wochen zu verlängern, ist bei Juristen umstritten. Öster-reich hat das Personenstandsgesetz geändert, in der Schweiz liegt ein stark ab-lehnendes Gutachten vor (Heinz Hausheer und Regina E. Aebi-Müller, Bern). InDeutschland wird nach einem Antrag von CDU / CSU um die Bedeutung vonBabyklappe, anonymer Geburt und rechtlichen Folgen gestritten (vgl. zur Anhö-rung des Bundestags am 30. Mai 2001 [email protected] Nr.148 und [3]). Frankreich, das seit 1941 für die Mutter ein Recht auf Anonymitätverankert hat, berät derzeit über Möglichkeiten, die völlige Anonymität zu ver-meiden. In diese Richtung gehen auch die Bemühungen derer in Deutschlandund Österreich, die die Mütter dazu ermutigen, auch bei einer anonymen Geburtsowohl für ihr Kind als auch für sich selbst Erinnerungsstücke verfügbar zu ma-chen (einschließlich eines anonymen Mutter-Kind-Passes).

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Schlussbemerkungen

Auf die Rolle der Medien bezüglich der Aufklärung über die komplexen Proble-me kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Gleiches gilt auch für einfa-che und klare Informationen der Städte im Internet.

Wichtiger sind die Entwicklung von Kriterien für einen kontrollierten Ab-lauf und die Aufarbeitung und Auswertung aller Fälle. Ebenso muss für die Öf-fentlichkeit Transparenz bestehen. Das Amberger „Projekt Moses“ wird bei-spielsweise im Rahmen einer staatlichen anerkannten Beratung durchgeführt, istzeitlich begrenzt und wird ausgewertet. Zusammenarbeit von Klappenbetrei-bern, Kliniken, Jugendamt, Adoptionsstellen und Adoptiveltern ist dringlichnotwendig. Im fachlichen Bereich muss multidisziplinär gearbeitet werden, ethi-sche Reflexion muss die Konzepte begleiten, Aktionismus ist völlig fehl amPlatze.

Außerordentlich unglücklich für Kinder wie Mütter ist das jetzt zu beobach-tende Gegeneinander der tangierten Institutionen. Individuelle Hilfe ist dadurchgekennzeichnet, dass sie der individuellen Not gerecht werden will und beste-hende Dilemmata nicht restlos lösen kann. Keiner der Werte, die in Konfliktmiteinander geraten und gegeneinander abgewogen werden müssen, kann abso-lute Priorität oder Ausschließlichkeit für sich beanspruchen.

Herrn Prof. Dr. Andreas Lischka und Frau Dr. Siklossy (Kinderklinik Glanzing am Wilhelmi-nenspital in Wien) danke ich herzlich für ein ausführliches Gespräch.

Literatur

1. Amendt G (1992) Das Leben unerwünschter Kinder. Fischer, Frankfurt am Main2. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe DGPFG

e.V. (2001) Offener Brief. Kritische Stellungnahme zur geplanten Legalisierung anonymerGeburten. Frauenarzt 42, Nr.11

3. Deutscher Juristinnenbund (2001) Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Personenstandgesetzes (BT-Drs. 14/4425) www.djb.de

4. Neuheuser S (2001) Steht den Betreuern von „Babyklappen“ ein Zeugnisverweigerungs-recht zu? Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL) 10, Heft 2: 59–62

5. Parlamentarische Enquete, Rechtliche und faktische Fragen im Zusammenhang mit derEinführung von anonymer Geburt und „Babynest“, XXI. Gesetzgebungsperiode des Natio-nalrates, Wien 22. September 2000

6. Rodegra H (1981) Kindestötung und Verheimlichung der Schwangerschaft. Eine sozial-geschichtliche und medizinsoziologische Untersuchung mit Einzelfallanalysen. VerlagMurken-Altrogge, Herzogenrath

7. Terre des hommes Deutschland e.V. (2001) Die bestehenden Alternativen verbessern.Stellungnahme zu Babyklappen und „anonymer Geburt“, Anhörung 30. Mai 2001