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Grenzen und Grenzverletzungen – Zur ethischen Reflexion psychotherapeutischen Handelns Workshop 23. Riehener Seminar 23. Oktober 2012 Roland Stettler, Oberarzt Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH MAS Angewandte Ethik Uni ZH Klinik Sonnenhalde Ambulante Dienste Habsburgerstrasse 15 CH-4055 Basel

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Grenzen und Grenzverletzungen – Zur ethischen Reflexion

psychotherapeutischen Handelns

Workshop

23. Riehener Seminar

23. Oktober 2012 Roland Stettler, Oberarzt Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH MAS Angewandte Ethik Uni ZH Klinik Sonnenhalde Ambulante Dienste Habsburgerstrasse 15 CH-4055 Basel

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Unerwünschte Ereignisse während der Psychotherapie

nach Linden M, 2012

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Unerwünschte Wirkungen und Fehlentwicklungen von Psychotherapie

Erfolglosigkeit oder Nebenwirkungen einer angemessenen Therapie

Erfolglosigkeit oder Nebenwirkungen durch unprofessionelle Ausübung der Behandlung

Mangelnde Passung (mismatching) einer Psychotherapeuten- und einer Patientenpersönlichkeit

Schädigung durch unethisches Verhalten des Therapeuten

Hofmann SO et al., 2008

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Unerwünschte Wirkungen von Psychotherapie

Es gibt wenig Daten hierzu:

– Für Nebenwirkungen ist immer auch der Therapeut mitverantwortlich

– Schwierigkeit Nebenwirkungen von Hauptwirkungen oder Kunstfehlerfolgen zu unterscheiden

– Schwierig verbindlich Festzulegen, was eine adäquate Therapie und was eine Fehlbehandlung ist (im Vergleich zu medikamentöser Behandlung)

– Es fehlt an verbindlicher Begriffsdefinition und Klassifikation

– Es fehlt an Methoden zur Erfassung, der Früherkennung

Strauss B et al., 2012

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Unerwünschte Wirkungen von Psychotherapie Definition von Nebenwirkungen und verwandten Phänomenen Unerwünschtes Ereignis Alle negativen Ereignisse, die parallel zur Therapie in Bezug zum Patienten

auftreten

Negative Therapiefolgen Alle unerwünschten Ereignisse, die durch die Therapie bedingt sind

Nebenwirkungen Alle negative Therapiefolgen einer korrekt durchgeführten Therapie

Kunstfehlerfolgen Alle negative Therapiefolgen einer inkorrekt durchgeführten Therapie

Therapie-Non-Response Unzureichende Besserung einer Krankheit trotz Therapie

Krankheitsverschlechterung

Verschlechterung einer Krankheit trotz Therapie

Therapeutische Risiken Alle bekannten und absehbaren Nebenwirkungen

Kontraindikationen Alle Patienten-, Situations- oder Therapiecharakteristika, die mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass schwere Nebenwirkungen auftreten

Haupt ML et al., 2012

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Ambulante Psychotherapie aus der Sicht des Patienten

Zumeist wurde die Behandlung als höchst wirksam beurteilt

Aber:

– 10% beendeten die Behandlung aufgrund von Zweifel an der Kompetenz des Therapeuten

– 8% Therapeut sei zu wenig engagiert

– 3% Therapeut sei zu sehr mit Geldverdienen beschäftigt

– 0.2% Therapeut machte unangemessene sexuelle Bemerkungen oder gar Annäherungsversuche

Albani C et al., 2011

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Ambulante Psychotherapie aus der Sicht des Patienten

Spezifische Kritik gegenüber den Therapeuten – Therapeut hat zu sehr kritisiert bzw kontrolliert

– Therapeut ist zu sehr mit eigenen Interessen befasst

– Therapeut reagiert abweisend auf Kritik

– Therapeut habe versucht, etwas einzureden

– Therapeut habe sexuelle Annäherungsversuche gemacht

Albani C et al., 2011

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Bewertende Diagnostik

Dissoziale Persönlichkeitsstörung (nach ICD-10)

– Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber Gefühlen anderer

– Deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen

– Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen

Werturteile

– Empathie, Verantwortungsübernahme, Akzeptanz sozialer Normen und Beziehungsfähigkeit sind erwünscht

– Deren Abwesenheit wird als krankhaft definiert

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Wertfreier therapeutischer Raum?

Therapeut und Patient können nicht in völliger Unabhängigkeit von inneren und äusseren Einflüssen ihre Beziehung gestalten

Jeder Therapeut, aber auch jeder Patient hat Überzeugungen in Bezug auf Werte

Diese Überzeugungen spiegeln sich unbewusst oder bewusst in den Fragen, Feststellungen und anderen Reaktionen des Therapeuten wider

Der Patient wird so von der Lebensphilosophie des Therapeuten beeinflusst, ob die beiden es merken oder nicht

Die therapeutische Arbeit ist auch in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet („Dritte im Bunde“)

Stettler R, 2009

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Besonderheit der Belastungen psychotherapeutischer Arbeit

Hohe Anforderungen an Persönlichkeit und Integrität

Fast ausschliesslich mit persönlichen, privaten und emotionalen Leiden befasst

– Suizidalität, Suchtprobleme, Verleugnung, Entwertung, Wut und Hass, depressive Stimmungen, Perversionen etc.

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Besonderheit der Belastungen psychotherapeutischer Arbeit

Ständige Bedrohung der Grenzen und Integrität der Psychotherapeuten durch grenzgestörte Patienten

Verpflichtung, ein tragfähiges Arbeitsbündnis auch gegen innere und äussere Widerstände aufrechtzuerhalten

Konfrontation mit eigenen Erinnerungen und unangenehmen biographischen Details, durch die Auseinandersetzung mit Patientengeschichten

In Bezug auf Heilung beschränkte Erfolgserlebnisse

Reimer C und Jurkart HB, 2001

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Feindseeligkeit als Überlastungsfolge

Auftreten von aggressiven Affekten Patienten gegenüber

Wir sind froh, wenn „schwierige“ Patienten ihren Termin verpassen

Machtorientierter bis sadistischer Umgang mit Patienten, die sich unseren Wirkmöglichkeiten zu entziehen scheinen – Pat. mit Suchtproblemen, selbstverletzendem Verhalten oder

Suizidalität

Mit Feindseeligkeit muss im psychotherapeutischen Kontext immer gerechnet werden

Entsprechend sollte diese Thematik in Ausbildung und Supervision immer angesprochen werden

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Burn-out-Gefahr

Pflegepersonen, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter sind gefährdet

Betroffene sind mehrheitlich männlichen Geschlechts – Männer scheint es schwerer zu fallen, eigene Grenzen zu spüren und

anzuerkennen

Starke Arbeitslast

Probleme Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben zu finden

Zwischen 45-55 Jahren

Entwicklung zieht sich über Jahre oftmals unbemerkt hin

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4-Prinzipien-Modell nach Beauchamp und Childress

1. Nicht schaden (nonmaleficence)

2. Fürsorge und Wohltun (beneficence)

3. Autonomie (autonomy)

4. Gerechtigkeit / Gleichheit (justice)

5. Loyalität (fidelity)

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Informed consent (informierte Zustimmung)

Informed consent

A Vorbedingungen

1. Einwilligungsfähigkeit, Kompetenz zu verstehen und zu entscheiden

2. Freiwilligkeit der Entscheidung

B Information

3. Offenlegung aller für eine Entscheidung sachlich relevanten Informationen

4.Empfehlung eines Behandlungsplanes oder Vorgehensweise

5. Überprüfung des Verständnisses des Pat. hinsichtlich 3. und 4.

C Zustimmung

6. Entscheidung über Teilnahme / Nichtteilnahme, Präferenz für eine Vorgehensweise

7. Autorisierung: Zustimmung zur Teilnahme

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Merkmale therapeutischer Beziehungen

Expertenstatus des Therapeuten impliziert Machtgefälle

Häufig große Bedurftigkeit der Patienten

Überidealisierung der Therapeuten (Heiler)

Patient wird zur Selbstöffnung ermutigt

Oft hohe Übertragungsbereitschaft der Patienten

Krisenbedingte Einschränkung der Ich-Funktionen des Patienten

Förderung der Übertragungsbereitschaft durch Zuruckhaltung und Interventionsstil des Therapeuten

Asymmetrische Interaktion impliziert immer ein Machtgefälle

Becker-Fischer M und Fischer G, 2008

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Die Abstinenzregel in der Psychotherapie

„Die Patientin kann in Gegenwart des Therapeuten beichten, ihre Phantasien

äussern, den Therapeuten verbal angreifen oder versuchen, ihn zu verführen und weiss

dennoch, dass eine ausschliesslich therapeutische Reaktion erfolgen wird.“

Langs R, 1991, S. 204

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Die Abstinenzregel in der Psychotherapie

Patientin muss sich darauf verlassen können, dass der Therapeut einen sicheren Behandlungsrahmen bietet

Dies setzt eine ständige Reflexion des eigenen Handelns voraus

Wenn diese Selbstreflexion eingeschränkt ist (z.B. bei eigener Krankheit), ist die Gefahr von Grenzüberschreitungen erhöht

Eine Grenzüberschreitung ist immer als Anwendung von Gewalt zu bezeichnen

Die Verantwortung liegt in jedem Fall beim Therapeuten

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Grenzverletzungen Das „schwarze-Schaf-Modell“

Der verführerische Zugang, Grenzüberschreitungen an wenige schwarze Schafe zu delegieren, die mit Berufsverbot belegt werden können, erlaubt die Verleugnung aufrecht zu erhalten, dass dieses Thema mich nicht betrifft:

– „Das kann doch mir nicht passieren!“

Probleme mit Grenzen gibt es in allen Therapien und sie betreffen auch alle therapeutisch Tätigen, unabhängig von deren Erfahrung

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Professioneller sexueller Missbrauch (PSM)

Definition

– Alle sexuellen Handlungen im Rahmen von fachlichen Auftragsverhältnissen oder Beziehungen

• Jede Form sexueller Handlungen, inkl. Küssen

• „Hands-of-Delikte“ voyeuristische, exhibitionistische Handlungen, Zeigen pronographischen Materials

• Sexualisierende und sexistische verbale Äusserungen

Tschan W, 2005

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Professioneller sexueller Missbrauch: „therapeutischer Inzest“

Viele Parallelen zum Inzest

Macht auch in therapeutischen Beziehungen ungleich verteilt

„Zustimmung“ des Opfers kann keinen sexuellen Übergriff rechtfertigen

Verantwortung liegt immer und vollumfänglich bei der Fachperson

Begriffe „Verliebtheit“ oder „Romantik“ sind in diesem Kontext stets fehl am Platz

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Professioneller sexueller Missbrauch Täter-Opfer-Konstellationen

Mann-Frau 61-96%

Mann-Mann 2-8%

Frau-Frau 0.5-25%

Frau-Mann 2-5%

Zondervan T, 2007

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Professioneller sexueller Missbrauch Täter

Sexuelles Fehlverhalten während der Berufslaufbahn

– 7-11% der Männer

– 2-3.5% der Frauen

– 33-80% sind Wiederholungstäter

Motive der Täter

1. Situational Handelnde (aktuelle Lebensumstände)

2. Psychische Störungen, die die Entscheidungsfähigkeit und die Aufrechterhaltung von Grenzen beeinflussen z.B. Depressionen, Sucht, Persönlichkeitsstörungen)

3. Sexualstraftäter

Franke I und Riecher-Rössler A, 2011

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Professioneller sexueller Missbrauch Pflegefachleute

Sexuelle Beziehungen zu Patienten und Patientinnen:

– 16.8% der männlichen Pflegefachpersonen (n 107)

– 10.5% der weiblichen Pflegefachpersonen (n 172)

– Höhere Rate könnte mit dem intensiveren Kontakt von Pflegepersonen mit PatientInnen zu tun haben (näher am Alltag in milieutherapeutischen Settings)

– Nähe-Distanz-Regulation, Abstinenzgebot, Probleme von Übertragung und Gegenübertragung gehören zwingend ins Ausbildungscurriculum von Pflegepersonen!

Moggi F et al., 1992

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Charakteristika grenzverletzender Therapeuten

Männlich

Häufig angesehen

Berufserfahren

In eigener Praxis

In schwierigen Lebenssituationen

Narzisstische Defizite

Probleme im Umgang mit Nähe und Distanz

Opfer früherer Traumatisierungen

Eichenberg Ch et al., 2009

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Professioneller sexueller Missbrauch Therapeutencharakteristika

Eher ein Problem erfahrener Therapeuten mit seit längerer Zeit abgeschlossener Ausbildung

Unbefriedigende aktuelle Lebenssituation

– Fehlende oder erst kürzlich getrennte Partnerschaften

– Dadurch erhöhte Verletzbarkeit und mangelnde reale Befriedigungsmöglichkeit

– Kontakt zu Patientinnen soll bedrohtes Selbstwertgefühl stabilisieren

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Typische Grenzüberschreitungen im Vorfeld von sexuellen Übergriffen

Überschreiten der Rahmenbedingungen

Aspekte der privaten Situation des Therapeuten fließen in Therapie ein

Vertrauliche Anspielungen

Vorausgehend oft „Grooming“ des Helfers: – Angebot des Therapeuten, sich zu duzen

– Komplimente uber Aussehen und Kleidung

– Scheinbar zufällige Beruhrungen

– Aktives Nachfragen zu sexuellen Gedanken den Therapeuten betreffend

– Äußern eigener sexueller Phantasien die Patienten betreffend

Grooming = jemanden heranziehen, zurechtmachen, präparieren

Becker-Fischer M und Fischer G, 2008

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Typische Grenzüberschreitungen im Vorfeld von sexuellen Übergriffen (II)

Immer mehr Qualität einer persönlichen Beziehung (Du, Verabredungen außerhalb)

Verhindern von Unabhängigkeit in Bezug auf Anerkennung und Liebe seitens der Umwelt (z.B. Infragestellung der sozialen Kontakte)

Etablierung einer Einstellung beim Patienten im Sinne „Ich bin fur ihn etwas besonderes und er braucht Hilfe“

Warnende Gefuhle und Gedanken werden vom Patienten missachtet

„Therapeut muss doch wissen, was er macht“

Behauptung ohne Beruhrung, Massage u.ä. intimer Zonen bzw. sexueller Kontakte kein Therapiefortschritt

Therapie beenden und freundschaftliche, private Beziehung eingehen

Becker-Fischer M und Fischer G, 2008

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Professioneller sexueller Missbrauch Entschuldigungen und Verleugnung

Es handle sich nicht um Übertragung, sondern um „wahre Liebe“

Übergriff wird als „einmaliger Ausrutscher“ eingeordnet und damit die Tatsache verleugnet, dass immer eine Vorentwicklung stattgefunden haben muss

Mit dem Begriff „Time-out“ wird die Abstinenzverpflichtung nach Ende der Therapiestunde oder nach Abschluss der Behandlung ausser Kraft gesetzt

Rüger U, 2003

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Diagnostische Kriterien von Tätern

1. Uninformierte Naive – Paraprofessionelle Therapeuten mit ungenügender Ausbildung

– Fehlende persönliche Reife für den Therapeutenberuf

2. Gesunde oder durchschnittlich Neurotische – Sex. Kontakt ist einmaliges Ereignis, situative Elemente auslösend

– Einsicht, stehen dazu

– Bereitschaft zur Supervision oder eigener Therapie

– Günstige Prognose

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Diagnostische Kriterien von Tätern

3. Schwer Neurotische u/o sozial isolierte – Länger bestehende persönliche Probleme, spez. Depression, Isolation

– Therapeut. Arbeit ist Lebensinhalt, die alle persönliche Bedürfnisse abdeckt

– Schuldgefühle vorhanden, führen aber nicht zu Veränderungen

– Begrenzt rehabilitierbar

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Diagnostische Kriterien von Tätern

4. Impulsive Charakterstörungen – Lange bestehende Probleme mit Triebkontrolle

– Meist bereits sex. Belästigungen von Mitarbeiterinnen

– Manchmal schwerwiegende Sexualdelikte in der Vorgeschichte

– Sehr viele sex. Kontakte zu Pat., neben- oder nacheinander

– „Einsicht“/“Reue“ nur bei drohenden Konsequenzen

– Nicht rehabilitierbar

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Diagnostische Kriterien von Tätern

5. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen – Experten im Verführen und Manipulieren

– Können bei Konfrontation Betroffenheit vortäuschen

– Kollegen, ethische Gremien fallen Manipulation zum Opfer

– Nicht oder selten rehabilitierbar

6. Borderline-PS / Psychosen – Fehlende soziale Urteilsfähigkeit und gestörter Realitätsbezug

– Bizarr wirkende Rationalisierungen ihres Verhaltens

– Dissoziative / paranoide Züge

– Nicht rehabilitierbar

Schöner und Gonsiorek, 1989

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Deidentifizierung mit dem Angreifer

Entschlossenheit des Therapeuten zu demonstrieren, dass er ganz anders als die Schlechten (misshandelnden) Eltern ist

Idee, dadurch die Patienten retten zu können

Umgang mit Gefühlen von Hass und Aggressionen wird vermieden, ausgeklammert

Hass und Aggression können nicht innerhalb des therapeutischen Settings aufgefangen werden und werden auf andere Weise ausagiert (z.B. Suizidalität)

Gabbard GO, 2007

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Sexuelle Grenzverletzungen Folgen für die Patientinnen

Verstärktes Misstrauen

Vermehrte Isolation

Scham- und Schuldgefühle

Angst

Depression

Suizidideen

Wut

Symptome der PTBS

Erhöhter Drogen- und Alkoholabusus

Eichenberg Ch et al., 2009

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Besonderheiten der Folgetherapien

Wut und Empörung (u.a. Leiden an der Verschwiegenheitspflicht, Entlastung durch z.B. Engagement bezuglich des Themas)

Mitgefuhl und Bedauern mit dem Ersttherapeuten

Bedurfnis nach dissonanzfreier Informationslage wegen bizarrer Ereignisse

Angst vor den Tätertherapeuten (u.a. Verleumdungsklagen, Schadensersatzforderungen)

Die Lebensgeschichte der Folgetherapeuten als Problem

Männlicher Folgetherapeut ein Problem?

Becker-Fischer M und Fischer G, 2008

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Anlaufstellen für Betroffene?

Gravierender Mangel an Anlaufstellen!

Empirische Abbildung negativer Entwicklungen und Grenzüberschreitungen in der Therapie kaum möglich

Bei den bestehenden (Berufsverbände, VBG) melden sich nur wenige

• Wie kann die Schwelle zur Meldung möglichst niedrig gehalten werden?

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Anzeichen für eine gut laufende Therapie

1. Sie fuhlen sich von Ihrem Therapeuten wertgeschätzt, verstanden und angenommen. Er nimmt Ihre Probleme ernst.

2. Sie und Ihre Probleme stehen im Zentrum des Gesprächs.

3. Die Therapie stärkt Ihr Selbstvertrauen und Ihre Selbstachtung.

Es geht Ihnen besser, Ruckfälle sind vorubergehend.

4. Ihr Therapeut respektiert Ihre persönliche Freiheit, Ihre religiösen

und politischen Überzeugungen und setzt Sie in keiner Weise unter Druck, Ihre Überzeugung zu ändern.

5. Ihr Therapeut nimmt auch Ihre kritischen Fragen ernst

und ist bereit, mit Ihnen daruber zu reden.

VBG, Fachkreis „Psychologie und Glaube“, 2011

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Anzeichen für eine gut laufende Therapie

6. Ihr Therapeut respektiert Ihre Integrität. Er schafft eine therapeutische Atmosphäre, in der Sie alle Gefuhle und Gedanken äussern können. Er respektiert es auch, wenn Sie nicht alles preisgeben wollen.

7. Er vermeidet Äusserungen und Handlungen, welche die Atmosphäre erotisieren und enthält sich jeglicher Zärtlichkeit und sexueller Handlungen.

8. Ihr Therapeut belastet Sie nicht mit seinen eigenen Problemen.

9. Er legt mit Ihnen zu Beginn der Therapie das Honorar fest und erwartet von Ihnen keine zusätzlichen Geschenke oder Hilfeleistungen.

10. Er respektiert es, wenn Sie aus irgendeinem Grund die

Therapie beenden möchten.

VBG, Fachkreis „Psychologie und Glaube“, 2011

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Was tun, wenn die Therapie für Sie ungut verläuft?

1. Sprechen Sie mit Ihrem Therapeuten uber Ihre Vorbehalte und versuchen Sie, im Gespräch mit ihm zu einer Klärung zu kommen.

2. Wenn Sie verunsichert sind, ziehen Sie eine Vertrauensperson bei.

3. Wenn eine Klärung nicht möglich ist, beenden Sie auch gegen den Willen des Therapeuten die Behandlung.

4. Ausnahmen sind sexuelle Übergriffe (verbale sexuelle Andeutungen und unangebrachte körperliche Kontakte). In diesem Fall brechen Sie die Therapie sofort ab.

5. Haben Sie den Eindruck, Ihr Therapeut habe in seiner Arbeit einen gravierenden Fehler gemacht oder sich Übergriffe zu Schulden kommen lassen, so melden Sie dies bitte schriftlich oder telefonisch einem Mitglied unserer berufsethischen Kommission.

VBG, Fachkreis „Psychologie und Glaube“, 2011

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Art. 193 STGB: Ausnützung einer Notlage

Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Gefängnis bestraft.

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Rechtliches Vorgehen nach sexuellem Missbrauch

2/3 der betroffenen Frauen ziehen rechtliches Vorgehen nicht in Betracht

– Fühlen sich geschwächt und ohnmächtig

– Fühlen sich mitschuldig im Sinne von Schuld- und Schamumkehr

Fischer G und Eichenberg C, 2007

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Narzisstischer Missbrauch

Definition

– Alle Interaktionen zwischen Therapeut und Patient, die primär dem Wunsch des Therapeuten nach narzisstischer Gratifikation dienen und die Entfaltung des Patienten verhindern oder zumindest erschweren

Dreyfus R und Haug H, 1992

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Narzisstischer Missbrauch

Patient soll die unerfüllten Wünsche und Ideale des Therapeuten verwirklichen (nicht selten bei „beruhmten“ Patienten) – Grenzenlose Empathie verhindert die kritische Bearbeitung vieler

Themen in der Therapie

Therapeut bietet sch selbst dem Patient als Ideal an – Durch die bewundernde Abhängigkeit des Patienten kann der Therapeut

sein brüchiges Selbstwertgefühl stabilisieren

Therapie kann keinen Abschluss finden – Trennung wird hinausgeschoben, weil der Therapeut Opfer von

schwierigen Trennungserfahrungen war

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Narzisstischer Missbrauch

Geschieht oft leise und entzieht sich auch dem Bewusstsein des Therapeuten

Trotzdem nehmen die Patienten dabei Schaden, da wichtige Themen nicht bearbeitet werden

Manualisierte Zugänge bewahren nicht vor solchen Verstrickungen, denn jede Behandlung findet in einem Beziehungskontext statt

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Ökonomischer Missbrauch

Bewusste Formen von Betrug und Korruption

„Oral-ausbeuterische Gegenubertragung“

– Gut laufende oder positiv besetzte Therapie wird artifiziell verlängert

– Abhängigkeitsthematik wird perpetuiert

– Patient muss seine Urlaubszeiten an denen des Therapeuten anpassen

Reimer C und Rüger U, 2006

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Wertvorstellungen von Therapeuten als ethisches Problem

Nur beständige Reflexion unserer Wertvorstellungen bietet einigermassen Sicherheit, diese bewusst im Hintergrund halten zu können.

Was halte ich fur „richtig“ und was fur „falsch“ beim Verhalten des Patienten?

Wo könnte der Patient durch meine Werte, Meinungen und Ideologien unter Anpassungsdruck geraten.

Gerade bei Sinnfragen, die in psychischen Krisen oftmals aktiv sind ist die Gefahr der Beeinflussung durch den Therapeuten gross

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Religiöser Missbrauch

• Reglementierung des Umgangs mit Andersdenkenden

• Manche Sünden wiegen schwerer als andere

• Einseitige Gesetzlichkeit

• Leiter werden grundsätzlich nicht kritisiert und sachliche Kritik wird von nahen Mitarbeitern «abgefangen» oder unterbunden

• Loyalität gegenüber den Leitern geht über die Wahrheit

• Leiter entscheiden über Richtig und Falsch, mischen sich in persönliche Angelegenheiten ein und versuchen, Mitgliedern «den richtigen Weg» zu weisen

• Kritik wird mit den Worten «Du schadest dem Reich Gottes und der Kirche» abgetan

• Seelsorgegeheimnis wird gebrochen, wenn es um sogenannte «schwere Sünden» geht, da sie in Gemeinden nicht geduldet werden

• Gleichschaltung und schleichender Verlust der Selbstbestimmung

• Stete Hinweise auf Dämonen und Angriffe von aussen

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Wertvorstellungen von Therapeuten als ethisches Problem

„Der Psychotherapeut ist gut beraten, wenn er sich von dem leiten lässt, was der Patient für sich will oder nicht will. Beim Herausfinden

dessen ist der Patient zu begleiten, aber nicht zu erziehen! Anpassung an die Werte und

Normen eines Psychotherapeuten kann nicht Ziel einer Psychotherapie sein.“

Reimer C, 1997, S. 309

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Vorbeugung von Entgleisungen Aspekte der Berufswahl

Vorwiegend überdurchschnittlich sensible Menschen fühlen sich zum therapeutischen Berufsfeld hingezogen

Sensibilität ermöglicht, sich empathisch auf das Gegenüber einzulassen

Sensibilität steht aber oftmals in Zusammenhang mit eigenen Verletzungen und kann Hinderungsgrund sein, Patienten – oder auch sich selbst. Grenzen zuzumuten und damit notwendige Entwicklungen behindern

Diese komplexen Motive sind bei der Berufswahl oftmals noch unbewusst und werden erst in der Berufslaufbahn nicht selten durch schmerzhafte Krisen erst bewusst.

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Ethik in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung

Themen von Ethik-Seminaren

– Berufliche Belastungen von Psychotherapeuten und deren Prävention

– Ethische Probleme im Umgang mit „schwierigen“ Patienten

– Die Rahmenbedingungen psychotherapeutischer Arbeit unter ethischen Aspekten

– Prävention von Missbrauchstendenzen

Stettler R, 2009

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Aus- und Weiterbildung Umgang mit sexueller Anziehung

Fragen der sexuellen Anziehung zwischen Patient und Therapeut werden nur marginal behandelt

Sexuelle Anziehung löst bei Therapeuten offenbar Angst- und Schuldgefühle aus

Das systematische Ansprechen der Wertigkeit sexueller Gefühle, Phantasien und Wünsche gegenüber Patientinnen ist für alle Weiterbildungsprogramme zu fordern

So können sie auch freier von Ausbildungskandidaten und Supervisoren angesprochen werden

Eine Vorstellung von Übertragung und Gegenübertragung sollte in allen Ausbildungen vermittelt werden, da diese in jeder therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle spielen

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Aus- und Weiterbildung Supervision

Fallbezogene Einzel- und Gruppensupervision

– Einbezug von Tonband- und Videoaufnahmen

– Grösserer Anteil bei der gleichen Supervisorin

Fallzentrierte, interdisziplinäre Teamsupervision

– Durch institutionsfremde Supervisoren

– Signifikant präventive und teilweise auch kurative Effekte in Bezug auf Burn-out nachgewiesen

– Abschied von übersteigerten Erwartungen

– Enttäuschungen verarbeiten und begrenzte Fortschritte würdigen lernen

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Aus- und Weiterbildung Selbsterfahrung

In einer erfolgreichen Selbsterfahrung sollte es möglich sein, alle wesentlichen Lebensprobleme des zukünftigen Psychotherapeuten einer Bearbeitung zugänglich zu machen

Einzelne Elemente des therapeutischen Handelns können oftmals erst in der Selbsterfahrung begriffen werden

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Aus- und Weiterbildung Eine Lebensaufgabe für Therapeuten Therapeutisch Tätige sind nie „fertig ausgebildet“

Die ständige Arbeit in komplexen Beziehungsgeflechten führt zu immer neuen Herausforderungen, denen wir nicht immer in gleicher Weise begegnen können

Weiter- und Fortbildungen bieten auch immer die Möglichkeit, kurzfristig Abstand zum institutionellen Alltag zu bekommen und bieten die Möglichkeit zum professionellen Austausch über institutionelle Grenzen hinweg

In Intervisionsgruppen fallen hierarchische Strukturen und finanzielle Aufwendungen weg, was eine Minimierung von Abhängigkeiten bedeutet und für eine offene Atmosphäre förderlich ist

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Vorbeugung von Entgleisungen Institutionelle Aspekte

Offene Kommunikation und partizipativer Führungsstil sind Burn-out-prophylaktisch

Klare Aufgabenzuteilung und möglichst freie Gestaltung der Aufgabenerledigung sind produktivitätsfördernd

Klare Transparenz in Bezug auf Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten trägt zu einem guten Arbeitsklima bei

Grenzverletzungen sollen als reale Möglichkeit nicht tabuisiert, sondern auf verschiedenen Ebenen immer wieder thematisiert werden

Eine in gutem Sinne fürsorgliche Institution ermuntert ihre Mitarbeiter auf allen Ebenen zur Selbstfürsorge

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Vorbeugung von Entgleisungen Work-Life-Balance

Psychotherapeutisch Tätige habe sich selbst und den Patienten gegenüber eie ethische Verpflichtung, für ein eigenes befriedigendes Privatleben Sorge zu tragen.

Nur dieser gute private Ausgleich wird uns auf die Dauer davor bewahren, zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse Patienten heranziehen zu müssen

Die Pflege des Privatlebens braucht Zeit, die wir uns bewusst nehmen müssen

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Vorbeugung von Entgleisungen Work-Life-Balance

„Das Ziel sollen nicht Krankenschwestern oder Ärzte sein, deren Belastbarkeit aus

zusammengebissenen Zähnen besteht, sondern solche, die mit sich und ihren Schwächen im

Reinen sind, Fürsorge auch auf sich selbst verwenden können, Fröhlichkeit kennen und in

sich ruhen – kurz, Menschen, die geben können, weil sie selbst genug haben.“

Burisch M, 2006

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Wichtige Literatur

Becker-Fischer, M. & Fischer, G: Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie. Orientierungshilfen fur Therapeut und Klientin. Kröning: Asanger, 2008

Caspar F, Kächele H (2008) Fehlentwicklungen in der Psychotherapie. In: Herpertz SC, Caspar F, Mundt C (Hrsg) Störungsorientierte Psychotherapie, Elsevier, München, S 729–743

Gabbard GO und Lester EP: Boundaries and Boundary Violations in Psychoanalysis. Washington: American Psychiatric Publishing, 1995.

Gabbard GO: Misslungene psychoanalytische Behandlungen suizidaler Patienten. In: Zwetterer-Otte S (Hrsg.): Entgleisungen in der Psychoanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 120-142.

Hutterer-Krisch R: Grundriss der Psychotherapieethik. Wien: Springer, 2007.

Linden M, Strauß B (Hrsg): Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2012.

Stettler R: Selbstreflexion und Selbstfürsorge. In: Küchenhoff J und Mahrer Klemperer R (Hrsg.): Psychotherapie im psychiatrischen Alltag. Stuttgart: Schattauer, 2009, S. 303-320.

Zwettler-Otte S (Hrsg.): Entgleisungen in der Psychoanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.