6
5/13/2018 BachUndZahlensymbolik-slidepdf.com http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 1/6  Über „Magische Rechtecke“ und die Taktanzahlen in Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ Walter Börner (Jena) 1.  Einleitung "Glaubt Er, daß ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?" soll Beethoven der Legende nach einmal zum Leiter des Schuppanzigh-Quartetts gesagt haben, als dieser sich über große technische Schwie- rigkeiten in seiner Stimme beklagte. Und so könnte wohl auch Bach geäußert haben: „Glaubt Er, daß ich an seine elenden Zahlen denke, wenn der Geist zu mir spricht?“, wenn er mit einigen der neuzeitlichen Theorien konfrontiert worden wäre, die sich mit der Rolle von Zahlen in seinen Kompositionen befassen. Nun wissen wir über Bachs Vorgehensweise beim Komponieren sehr wenig. Die meisten Aussagen modernerer Forscher dazu müssen mehr oder weniger Spekulation bleiben, die man weder beweisen noch widerlegen kann. In manchen Fällen aber kann man ziemlich genau bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die betreffenden Aussagen richtig sind. Leider nur hat es mancher Autor versäumt zu prüfen oder prüfen zu lassen, wie wahrscheinlich es ist, daß seine Hypothese stimmt. Gerade weil Zahlen Gegenstand der Aussagen sind, sind solche Prüfungen manchmal möglich. Dies wird im folgenden am Beispiel des „magischen Rechtecks“ von H.Dieben und einiger von H.A.Kellner daran angeschlossener Thesen ausgeführt. Viele Kenner und Verehrer der Bachschen Musik können es sich nur schwer vorstellen, daß ein Komponist wie Bach, der über außergewöhnliche Fähigkeit des Erkennens und künstlerisch vollkommenen Realisierens kontrapunktischer Verknüpfungen jeglicher Art verfügte und dem eine außerordentlich reiche musikalische Fantasie zu Gebote stand, sich mit doch eher langweiligen Zahlenpuzzles wie etwa dem Aufstellen eines „magi- schen Rechtecks“ befaßt hat und obendrein seiner musikalischen Erfindungskraft durch derartige außer- musikalische Zahlenschemata Zügel angelegt hat. Ein intuitiver Zweifel an gewissen Aussagen über Zahlen- spielereien in Bachs Werken liegt nahe. Solche Zweifel können manchmal mit etwas Mathematik untermauert werden. 2. Das magische Rechteck von H.Dieben und die damit zusammenhängenden Hypothesen von H.A.Kellner In dem Artikel „Die Temperierungstonart H-Dur und deren Stücke im Wohltemperierten Clavier “ von H.A. Kellner, erschienen in Cöthener Bach-Hefte 10, Seite 27 – 67, ist folgender Sachverhalte dargelegt: Im folgenden sollen dieser Sachverhalt und die genannten Folgerung kritisch betrachtet werden. Insbesondere soll untersucht werden, in welchem Maße die Existenz des genannten magischen Rechtecks überraschend ist und inwieweit es zwingend ist, aus den vorliegenden Taktanzahlen gerade diese Tabelle zusammenzustellen. Dazu ist es erforderlich, den Begriff des magischen Rechtecks mit elementarer Mathematik etwas zu durchleuchten. 3. Magische Rechtecke Zunächst zur Erinnerung: Unter einer  ganzen Zahl versteht man eine Zahl, die in ihrer Dezimaldarstellung nach dem Komma nur Nullen stehen hat. Die ganzen Zahlen sind also die Zahlen 0, 1, 2, 3, 4, . . . sowie –1, −2, −3, . . Unter einem  magischen Rechteck wird hier eine rechteckige Tabelle verstanden, die aus z Zeilen und s Spalten besteht (in obigem Beispiel ist z = 12, s = 4 ) und in die s·z ganze Zahlen so eingetragen sind, daß die Summe aller in ein und derselben Zeile stehenden Zahlen (die Zeilensumme) für jede Zeile denselben Wert Z 35 44 40 55 19 18 22 115 41 72 24 37 44 75 24 31 19 29 87 39 27 41 48 58 34 70 40 30 86 42 26 20 35 38 54 47 19 24 104 27 87 35 24 28 76 34 29 35 Zählt man in jedem der 48 Stücke des „Wohltemperierten Klaviers“ Teil 1 die Anzahl der Takte, so ergeben sich 48 Zahlen, die man so in eine Tabelle aus 12 Zeilen und 4 Spalten eintragen kann, daß in jeder Zeile die Summe ihrer 4 Zahlen den Wert 174 ergibt und in jeder ihrer Spalten die Summe ihrer 12 Zahlen 522 ist (ein „magisches Rechteck“, siehe die nebenstehende Tabelle). Es werden in dem Artikel hieraus Folgerungen gezogen, die man so zu- sammenfassen kann: (1) Es ist überraschend, daß eine Anordnung der 48 Zahlen in der ge- schilderten Form überhaupt möglich ist. (2) Bach muß diese Tabelle selbst aufgestellt haben, und er hat das Wohl- temperierte Klavier so komponiert, daß die Taktanzahlen der 48 Stücke genau die der Tabelle sind. (3) Die Zeilensumme 174 ist eine gematrische Codierung der Worte „Meine Temperatur“. (4) Von vorliegenden früheren Fassungen einzelner Präludien und Fugen hat Bach 10 Präludien und 2 Fugen in ihren Längen erweitert, um die in der Tabelle stehenden Zahlen zu erreichen.

Bach Und Zahlensymbolik

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 1/6

 

Über „Magische Rechtecke“ und die Taktanzahlen in Bachs„Wohltemperiertem Klavier“

Walter Börner (Jena)

1.  Einleitung

"Glaubt Er, daß ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?" soll Beethoven der Legendenach einmal zum Leiter des Schuppanzigh-Quartetts gesagt haben, als dieser sich über große technische Schwie-rigkeiten in seiner Stimme beklagte. Und so könnte wohl auch Bach geäußert haben: „Glaubt Er, daß ich anseine elenden Zahlen denke, wenn der Geist zu mir spricht?“, wenn er mit einigen der neuzeitlichen Theorienkonfrontiert worden wäre, die sich mit der Rolle von Zahlen in seinen Kompositionen befassen. Nun wissen wirüber Bachs Vorgehensweise beim Komponieren sehr wenig. Die meisten Aussagen modernerer Forscher dazumüssen mehr oder weniger Spekulation bleiben, die man weder beweisen noch widerlegen kann. In manchenFällen aber kann man ziemlich genau bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die betreffenden Aussagenrichtig sind. Leider nur hat es mancher Autor versäumt zu prüfen oder prüfen zu lassen, wie wahrscheinlich esist, daß seine Hypothese stimmt. Gerade weil Zahlen Gegenstand der Aussagen sind, sind solche Prüfungenmanchmal möglich. Dies wird im folgenden am Beispiel des „magischen Rechtecks“ von H.Dieben und einiger

von H.A.Kellner daran angeschlossener Thesen ausgeführt.Viele Kenner und Verehrer der Bachschen Musik können es sich nur schwer vorstellen, daß ein Komponist wieBach, der über außergewöhnliche Fähigkeit des Erkennens und künstlerisch vollkommenen Realisierenskontrapunktischer Verknüpfungen jeglicher Art verfügte und dem eine außerordentlich reiche musikalischeFantasie zu Gebote stand, sich mit doch eher langweiligen Zahlenpuzzles wie etwa dem Aufstellen eines „magi-schen Rechtecks“ befaßt hat und obendrein seiner musikalischen Erfindungskraft durch derartige außer-musikalische Zahlenschemata Zügel angelegt hat. Ein intuitiver Zweifel an gewissen Aussagen über Zahlen-spielereien in Bachs Werken liegt nahe. Solche Zweifel können manchmal mit etwas Mathematik untermauertwerden.

2. Das magische Rechteck von H.Dieben und die damit zusammenhängenden Hypothesen von H.A.Kellner

In dem Artikel „Die Temperierungstonart H-Dur und deren Stücke im Wohltemperierten Clavier “ von H.A.

Kellner, erschienen in Cöthener Bach-Hefte 10, Seite 27 – 67, ist folgender Sachverhalte dargelegt:

Im folgenden sollen dieser Sachverhalt und die genannten Folgerung kritisch betrachtet werden. Insbesonderesoll untersucht werden, in welchem Maße die Existenz des genannten magischen Rechtecks überraschend ist undinwieweit es zwingend ist, aus den vorliegenden Taktanzahlen gerade diese Tabelle zusammenzustellen. Dazu istes erforderlich, den Begriff des magischen Rechtecks mit elementarer Mathematik etwas zu durchleuchten.

3. Magische RechteckeZunächst zur Erinnerung: Unter einer ganzen Zahl versteht man eine Zahl, die in ihrer Dezimaldarstellung nachdem Komma nur Nullen stehen hat. Die ganzen Zahlen sind also die Zahlen 0, 1, 2, 3, 4, . . . sowie –1, −2, −3, . .Unter einem   magischen Rechteck wird hier eine rechteckige Tabelle verstanden, die aus z Zeilen und sSpalten besteht (in obigem Beispiel ist z = 12, s = 4 ) und in die s·z ganze Zahlen so eingetragen sind, daß dieSumme aller in ein und derselben Zeile stehenden Zahlen (die Zeilensumme) für jede Zeile denselben Wert Z

35 44 40 5519 18 22 11541 72 24 3744 75 24 3119 29 87 3927 41 48 5834 70 40 3086 42 26 2035 38 54 47

19 24 104 2787 35 24 2876 34 29 35

Zählt man in jedem der 48 Stücke des „Wohltemperierten Klaviers“ Teil 1die Anzahl der Takte, so ergeben sich 48 Zahlen, die man so in eine Tabelleaus 12 Zeilen und 4 Spalten eintragen kann, daß in jeder Zeile die Summeihrer 4 Zahlen den Wert 174 ergibt und in jeder ihrer Spalten die Summeihrer 12 Zahlen 522 ist (ein „magisches Rechteck“, siehe die nebenstehendeTabelle).Es werden in dem Artikel hieraus Folgerungen gezogen, die man so zu-sammenfassen kann:(1) Es ist überraschend, daß eine Anordnung der 48 Zahlen in der ge-

schilderten Form überhaupt möglich ist.(2) Bach muß diese Tabelle selbst aufgestellt haben, und er hat das Wohl-

temperierte Klavier so komponiert, daß die Taktanzahlen der 48 Stückegenau die der Tabelle sind.(3) Die Zeilensumme 174 ist eine gematrische Codierung der Worte „Meine

Temperatur“.(4) Von vorliegenden früheren Fassungen einzelner Präludien und Fugen

hat Bach 10 Präludien und 2 Fugen in ihren Längen erweitert, um die inder Tabelle stehenden Zahlen zu erreichen.

Page 2: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 2/6

2

hat (im Beispiel ist Z = 174) und daß die Summe aller in einer Spalte stehenden Zahlen (die Spaltensumme)denselben Wert S hat (im Beispiel ist S = 522).Ein magisches Rechteck bleibt offenbar ein solches, wenn man seine Zeilen in einer anderen Reihenfolgehinschreibt, analoges gilt für die Spalten. Zwei magische Rechtecke, die durch wiederholte und kombinierteÄnderung der Reihenfolge ihrer Zeilen und Spalten auseinander hervorgehen, mögen als  äquivalent bezeichnetwerden (es handelt sich hier tatsächlich um eine Äquivalenzrelation im Sinne der Mathematik). Die Mathematik

lehrt, daß man n Objekte in n! = 1 · 2 · 3 · 4 · . . . . · n verschiedenen Reihenfolgen anordnen kann. (Beispiel:n = 3, Objekte a, b, c; die 2 · 3 = 6 Reihenfolgen sind: a b c, a c b, b a c, b c a, c a b, c b a.) Zu einemvorgelegten magischen Rechteck aus z Zeilen und s Spalten gibt es somit (2·3·4·....·z)·(2·3·4·....·s) äquivalente,sie lassen sich alle durch Änderungen der Reihenfolge ihrer Zeilen und Spalten ineinander überführen. DieseAnzahl schrumpft natürlich, wenn unter den Zahlen des magischen Rechtecks einige einander gleich sind. Imallgemeinen ist schon für relativ kleine Zahlen z und s die Zahl der äquivalenten magischen Rechtecke rechtgroß. Zum Beispiel ist für den Fall des in 2. angegebenen Rechtecks z = 12 und s = 4, die Zahl der äquiva-lenten wird 2·3·4·2·3·4·5·6·7·8·9·10·11·12 = 11 496 038 400 = 1,14890384·1010, also reichlich elf Milliarden(die bestehenden Gleichheiten einiger Zahlen in diesem magischen Rechteck erniedrigt diese große Zahl nichtwesentlich).Man wird äquivalente magische Rechtecke nicht als wesentlich verschieden ansehen wollen – sie unterscheidensich ja nur in den Reihenfolgen ihrer Zeilen und Spalten. Wie stellt man nun fest, ob zwei aus denselben Zahlenbestehende magische Rechtecke äquivalent sind? Auf Grund der i.a. sehr großen Zahl möglicher Reihenfolgen

bzw. Änderungsmöglichkeiten der Reihenfolgen scheint das schwierig zu sein. Es wird aber recht einfach, wennman die Zahlen geeignet anordnet. Durch Spaltenvertauschung kann man eine Spalte, die die kleinste Zahl ent-hält (da die kleinste Zahl auch mehrfach vorkommen kann, können es mehrere Spalten sein) ganz links an dieerste Stelle bringen, und durch Zeilenvertauschung bringt man die kleinste Zahl in die oberste Zeile, so daß„links oben“ die kleinste Zahl steht. Dann kann man analog durch Zeilenvertauschungen dafür sorgen, daß in derersten Spalte die Zahlen von oben nach unten der Größe nach geordnet stehen (wenn zwei Zahlen gleich seinsollten, setzt man diejenige Zeile höher, in der in der gleichen Zeile, aber nächsten Spalte die kleinere Zahlsteht). Anschließend ordnet man durch Spaltenvertauschungen analog die Zahlen der ersten Zeile der Größe nachvon links nach rechts. Auf diese Weise entsteht ein eindeutig bestimmtes magisches Rechteck, es möge als Normalform bezeichnet werden. Alle äquivalenten magischen Rechtecke können durch Kombination geeigneterZeilen- und Spaltenvertauschungen in die Normalfom übergeführt werden. Zwei Normalformen aber, die sich anirgendeiner Stelle voneinander unterscheiden, können dagegen nicht äquivalent sein. Es folgt: Wenn man zweimagische Rechtecke auf Äquivalenz prüfen will, führt man beide durch Zeilen- und Spaltenvertauschungen in

Normalform über und prüft, ob diese gleich sind oder nicht. Normalformen magischer Rechtecke sind alsodadurch gekennzeichnet, daß in der ersten Spalte und in der ersten Zeile die Zahlen der Größe nach geordnetstehen.Es ist auf der einen Seite auf sehr vielfältige Weise möglich, magische Rechtecke zu erzeugen; man kann(z – 1) · (s - 1) beliebig gegebene Zahlen stets zu einem magischen Rechteck aus z Zeilen und s Spalten er-gänzen. Auf der anderen Seite ist es nicht selbstverständlich, daß man aus beliebig vorgegebenen s · z ganzenZahlen ein magisches Rechteck bilden kann. Vielmehr müssen die gegebenen Zahlen gewisse Bedingungenerfüllen. Dies ergeben sich aus folgenden Überlegungen. Es liege ein magisches Rechteck aus z Zeilen und sSpalten vor, Z und S seien wie oben die Zeilen- und Spaltensumme, außerdem sei G die Gesamtsumme allers·z Zahlen des Rechtecks. Wenn man alle z Zeilensummen aufaddiert, bekommt man offenbar die Gesamt-summe G , da aber alle Zeilensummen denselben Wert Z haben und es z Zeilen gibt, ist

G = z · Z .

Analog gilt für die Spalten:G = s · S .

Man kann die Zeilen- und Spaltensummen auch mit dem Mittelwert der eingetragenen Zahlen in Verbindungbringen. Der Mittelwert ist bekanntlich die Summe der Zahlen, dividiert durch ihre Anzahl. Wird der Mittelwertmit M bezeichnet so ist also

M = G/( s·z) ,

hieraus folgt

S = G/s = M · z und Z = G/z = M · s,

d.h., die konstante Zeilensumme ist das s-fache des Mittelwertes aller Zahlen, die Spaltensumme ist das z-fachedes Mittelwertes. Zeilen- und Spaltensumme sind also durch die gegebenen Zahlen und durch die Zeilen- undSpaltenanzahlen z und s schon eindeutig festgelegt. Nun müssen aber Z und S als Summen ganzer Zahlenwiederum ganze Zahlen sein. Somit ist es eine notwendige Bedingung für die Existenz eines magischen

Page 3: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 3/6

3

Rechtecks mit z Zeilen und s Spalten aus gegebenen z·s Zahlen mit der Summe G, daß die Werte G/s undG/z ganzzahlig sind. (Es ist eine Frage für den Mathematiker, inwieweit diese Bedingung auch hinreichend ist.Es gibt Fälle, wo sie es nicht ist, aber bei nicht zu kleinen Werten z und s und entsprechend streuenden Zahlenist sie es; insbesondere ist sie es jedenfalls für alle in diesem Artikel betrachteten magischen Rechtecke.)Die geschilderten Sachverhalte mögen an zwei einfachen Beispielen erläutert werden.

Beispiel 1: Es soll aus den Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 ein magisches Rechteck aus vier Zeilen und zwei Spaltengebildet werden. Da der Mittelwert

noch 47 weitere äquivalente, zum Beispiel: und . Man kann durch Ausprobieren

leicht feststellen, daß es außer diesen 48 magischen Rechtecke keine weiteren der geforderten Art gibt. Denn einnicht äquivalentes müßte in der Normalform in der ersten Spalte mindestens eine der Zahlen 2, 3, 5 enthalten(die 8 muß wegen der Zeilensumme 9 immer links neben der Eins stehen!), aber dann kann die Spaltensumme18 nicht mehr erreicht werden.

Beispiel 2: Es soll aus den zwölf Zahlen 1, 2, 3, 4, . . . , 11, 12 ein magisches Rechteck mit 4 Zeilen und 3Spalten aufgestellt werden. Ein solches magisches Rechteck gibt es jedoch nicht, denn die Summe der ge-gebenen Zahlen ist 78, aber 78/4 ist keine ganze Zahl. Durch eine einzige Abänderung der gegebenen Zahlenwird die Aufgabe aber dann lösbar: Die Summe der Zahlen muß ja durch 4 und durch 3, also durch 12ganzzahlig teilbar sein. Das erreicht man z.B., wenn man die 12 durch eine weitere 6 ersetzt, also aus denZahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 6, 7, 8, 9, 10, 11 ein magisches Rechteck aufzustellen versucht. Die Gesamtsumme istdann 72 und die Spaltensumme muß 72/3 = 24, die Zeilensumme 72/4 = 18 werden. Eine Lösung ist durchfolgende Tabelle

gegeben: Dazu gehören noch 2·3·4·2·3 – 1 = 143 weitere, äquivalente Rechtecke.

44

4. Die Taktanzahlen des Wohltemperierten Klaviers als magisches Rechteck

Mit den in 3. gewonnenen Einsichten sollen nun die in 2. angegebenen Behauptungen kritisch beleuchtetwerden.Zunächst ist festzustellen, daß in der Festlegung, die 48 Zahlen in ein magisches Rechteck aus 12 Zeilen und 4Spalten zu schreiben, eine Willkür liegt (von der Willkür, zwischen Präludien und Fugen nicht zu unterscheiden,abgesehen). Es wären ja auch magische Rechtecke aus 8 Zeilen und 6 Spalten oder 24 Zeilen und 2 Spaltendenkbar. (Oder warum wird nicht gar z.B. ein Quadrat aus 49 Feldern betrachtet, bei dem das mittlere Feld aus-gespart bleibt, eine sehr symmetrische Figur?!)Nachdem man sich auf 12 Zeilen und 4 Spalten festgelegt hat, stellt man fest, daß die Ganzzahligkeitsbedingungerfüllt ist, und da die Summe aller Taktanzahlen 2088 beträgt, muß die Zeilensumme G/z = 2088/12 = 174und die Spaltensumme G/s = 2088/4 = 522 werden. Und das in 1. angegebene magische Rechteck erbringtden Existenzbeweis. Die Normalform dazu lautet:

1 84 56 37 2

M = (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 )/8 = 36/8 = 4,5

ist, muß die Zeilensumme 2 · 4,5 = 9 und die Spaltensumme 4 · 4,5 = 18 sein. Die Ganzzahlig-keitsbedingung ist erfüllt, und nebenstehend ist ein entsprechendes magisches Rechteck in Normal-form angegeben. Dazu gibt es wegen 2·3·4·2·3 = 48

2 75 48 13 6

7 26 31 84 5

1 6 114 6 89 7 210 5 3

Im Gegensatz zu Beispiel 1 gibt es in diesem Fall darüber hinausnoch weitere, zu den 144 genannten nicht äquivalente Rechtecke, wiedie folgende Normalform zeigt:

1 6 116 10 28 3 79 5 4

Page 4: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 4/6

4

 

Man beachte, daß es hierzu noch etwa elf Milliarden äquivalente Rechtecke gibt. Natürlich entsteht sofort dieFrage, ob es darüber hinaus weitere magische Rechtecke zu den 48 Taktanzahlen gibt. Wenn nein, dann gäbe es

  ja bis auf die Reihenfolge doch nur ein einziges. Aber dem ist nicht so. Wie man aus den folgenden in

Normalform angegebenen magischen Rechtecken ablesen kann, gibt es weitere magische Rechtecke, die zu demin 2. angegebenen Rechteck und auch untereinander nicht äquivalent sind:

Dies sind bei weitem nicht alle, ihre Anzahl liegt im dreistelligen Bereich. Somit hat man ein paar hundertMilliarden magischer Rechtecke zu den Taktzahlen des Wohltemperierten Klaviers. In diesem Licht erscheintdie in 2. schon erwähnte Aussage „... muß es Bach selbst gewesen sein, der diese Taktlängen ..... diesemmagischen Rechteck unterworfen hat“ doch sehr zweifelhaft. Selbst wenn man äquivalente magische Rechteckeals nicht verschieden ansieht (die in dem genannten Artikel erwähnten Symmetrieeigenschaften des magischenRechtecks von H.Dieben gehen dann natürlich verloren), bleibt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß Bach, wenn erdenn ein solches Rechteck aufgesetzt hat, genau ein zum Diebenschen äquivalentes aufgeschrieben hat, nochunter einem Prozent. Wenn man unterschiedliche, aber äquivalente magische Rechtecke auch als verschiedenansieht, liegt die betreffende Wahrscheinlichkeit beim reziproken Wert von einer Billion, ist also praktisch Null.

In dem genannten Artikel von A.H.Kellner werden auch gewisse Frühformen von Präludien und Fugen ins Augegefaßt. Nimmt man die dort angegebenen („Frühfassung Konwitschny“), die in 14 Stücken andere Längenhaben als die Endfassungen, so erhält man als Summe der Taktzahlen den Wert 1959. Diese Zahl ist aber nichtganzzahlig durch 4 teilbar, so daß nach den Erkenntnissen aus 3. kein magisches Rechteck aus 12 Zeilen und 4Spalten gebildet werden kann. Da nun 1959 zwischen 1956 = 12·163 und 1968 = 12·164 liegt, hätte es genügt,insgesamt 9 Takte mehr zu schreiben, um eine rechteckfähige Zahl zu bekommen. Die Differenz von 9 Taktenzwischen Früh- und Endfassung eines Stückes kommt nicht vor, wohl aber 8 (Präludium es-Moll) und 1 (FugeG-Dur). Nimmt man also von diesen beiden Stücken die Taktzahlen der Endfassung, so ergibt sich dieGesamttaktzahl 1968, die Zeilensumme muß dann 164, die Spaltensumme 492 sein, und dazu gibt es wiederumzahlreiche, auch nicht äquivalente magische Rechtecke, hier seien nur zwei Beispiele in Normalform angegeben:

18 19 22 11524 19 104 2729 19 87 3934 76 29 3535 87 24 28

38 35 54 4741 27 48 5842 86 26 2044 35 40 5570 34 40 3072 41 24 3775 44 24 31

18 19 22 11524 37 26 8724 44 87 1930 40 75 2931 104 19 2034 35 70 3539 42 58 3540 55 44 3548 47 41 38

72 24 24 5476 41 29 2886 34 27 27

18 19 22 11529 76 41 2831 20 19 10434 27 86 2734 70 35 3535 55 44 4037 26 87 2440 75 30 2947 41 48 38

58 35 42 3972 54 24 2487 24 44 19

18 22 19 11531 19 20 10435 70 34 3539 24 87 2440 75 30 2941 76 29 2842 27 86 1944 55 40 3544 58 37 35

47 38 41 4854 24 72 2487 34 27 26

Page 5: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 5/6

5

 

Es hätten also nicht zehn Präludien und zwei Fugen verlängert werden müssen, um ein magisches Rechteck zuerzielen. Freilich hat sich nun eine andere Zeilensumme ergeben, doch es gibt Möglichkeiten, auch die Zahl 164als „gematrischen“ Code geeignet erscheinender Wörter zu deuten. Aber der Gedanke, daß Bach bei denUmarbeitungen der Frühfassungen das magische Rechteck von Dieben als Zielgröße im Auge hatte, erscheint

nunmehr doch recht zweifelhaft. Motiv und Ziel der Umarbeitungen dürften wohl doch im innermusikalischenBereich zu suchen sein.Daß die Zahl 174 als „gematrischer“ Code der Wörter „Meine Temperatur“ gedeutet werden kann, ist gewissrichtig, aber diese Wörter sind bei weitem nicht die einzigen, die auf die Codezahl 174 führen. Es gibt einfach zuviele Möglichkeiten, die Zahl 174 als Summe von ganzen Zahlen zwischen 1 und 25 (den Nummern derBuchstaben a bis z ohne j) darzustellen. Schon wenn man sich auf zwei Wörter beschränkt und fordert, daß daserste, so wie das Worte „meine“ aus fünf Buchstaben besteht und den gematrischen Code 44 hat (m = 12, e = 5,i = 9, n = 13) - was eine sehr starke Einschränkung ist -, so gibt es immerhin 104 030 „Wörter“ mit fünf Buchstaben und dem gematrischen Code 44, das lexikographisch erste lautet „Aaarz“, das letzte „Zraaa“ . DieseBuchstabenfolgen sind natürlich zum überwiegenden Teil keine sinnvollen Wörter der deutschen Sprache, aberes finden sich auch viele sinnvolle Wörter darunter, z.B.: Aktie, Ampel, blond, Chaos, darin, Lampe, Elias,fremd, Kniff, Koben, Lauge, Agnes, Miene.

Zusammenfassend kann zu den vier in 2. genannten Thesen bemerkt werden:Zu (1): Die Überraschung, daß sich aus den 48 Taktanzahlen des Wohltemperierten Klaviers ein magisches

Rechteck aus 12 Zeilen und 4 Spalten bilden läßt ist nicht größer als die, daß eine willkürlichangegebene ganze Zahl durch 12 ganzzahlig teilbar ist.

Zu (2): Die Menge der aus den 48 Taktanzahlen bildbaren magischen Rechtecke ist so groß, daß dieWahrscheinlichkeit dafür, daß schon Bach die von H.Dieben aufgestellte Tabelle notiert hat, praktischNull ist.

Zu (3): Die Zahl 174 ist gematrischer Code einer sehr großen Menge von Wörtern, unter denen die Wortver-bindung „meine Temperatur“ von der Zahl 174 her in keiner Weise zwingend oder ausgezeichnet ist.

Zu (4): Schon die Hinzunahme von 9 Takten zu dem gesamten Zyklus von 24 Präludien und Fugen (oder dasAusmerzen von 3 Takten) würden das Aufstellen eines magischen Rechtecks ermöglichen.

5. Eine Bemerkung von Glenn Gould

Zum Schluß möge noch Glenn Gould zitiert werden, der ja nicht nur ein exzellenter Pianist und insbesondereInterpret Bachscher Werke war, sondern auch ein fantasiereicher Komponist und Autor geistvoller Aufsätze.Sein Urteil zur Zahlensymbolik bei Bach dürfte nicht ganz ohne Belang sein. In einer Rezension eines Buchesvon E.Bodky über Bachs Klavierwerke schreibt Glenn Gould (zitiert nach: Glenn Gould, Von Bach bis Boulez,Schriften zur Musik 1, Hrsg. Tim Page, München 1986):„Es scheint kaum glaublich, daß derselbe Mann, der den Bach-Forscher eindringlich mahnt, seine Interpretationdurch eine Analyse der inneren Evidenz einer Komposition zu entwickeln, einige Kapitel später ernsthaft dieganzzahligen Beziehungen erörtern kann zwischen dem aus vierzehn Noten bestehenden Thema der C-Dur-Fugeaus Band 1 des Wohltemperierten Klaviers und der Tatsache, daß die Positionen der Buchstaben des NamenBach im Alphabet sich zu der Zahl 14 summieren, und weiterhin, daß wir durch Hinzufügung der Initialen J.S.die umgekehrte Zahl 41 erhalten können.“Und am Schluß seines Aufsatzes kommt Glenn Gould auf diese Bemerkung zurück:

„Übrigens, inspiriert durch Professor Bodky, habe ich mich kürzlich in die numerologische Bedeutung meinereigenen Familien- und Vornamen vertieft und bin entzückt, mitteilen zu können, daß die jeweiligen Summen 52und 59 sind, wovon, wie jeder sehen kann, die Zahlen 7 und 14 die Quersummen sind. Zudem möchte ich darauf hinweisen, daß sie zusammen 111 ergeben – eine Zahl, die jeden weiteren Kommentar überflüssig macht.“

15 15 19 11519 87 17 4122 23 72 4724 76 24 4027 24 58 55

28 34 74 2833 34 68 2935 44 54 3148 44 35 3768 42 27 2786 40 20 1887 29 24 24

15 15 19 11517 42 18 8724 72 44 2424 76 40 2427 24 55 58

27 74 35 2833 34 68 2940 48 47 2944 35 54 3168 27 41 2886 22 37 1987 23 34 20

Page 6: Bach Und Zahlensymbolik

5/13/2018 Bach Und Zahlensymbolik - slidepdf.com

http://slidepdf.com/reader/full/bach-und-zahlensymbolik 6/6

6

Anhang: Zur Herstellung der magischen Rechtecke in Abschnitt 4

Die in 4. angegebenen magischen Rechtecke wurden auf folgendem Wege mit dem Computer hergestellt:Der gegebene Satz von 48 Zahlen wird mit den Indizes 1 bis 48 versehen. Dann wird eine Liste von solchenIndexquadrupeln i1, i2, i3, i4 mit i1 < i2 < i3 < i4 hergestellt, für die die Summe der zugehörigen Zahlen 174(bzw. bei den letzten beiden der Rechtecke 164) ergibt, diese Liste besteht aus 1636 (im zweiten Fall aus

1753) Quadrupeln. Da für das aufzustellende Rechteck alle 48 Indizes vorkommen müssen, dürfen für dasRechteck der Indizes keine zwei Zeilen dieselben Indizes aufweisen. Daher werden durch systematischesProbieren solche Zwölfermengen von Indizesquadrupeln gesucht, die die Zahlenmenge 1 bis 48 überdecken.Dies geschieht z.B. so: Mit Hilfe einer Prozedur, die von einem Quadrupel entscheidet, ob es mit k gegebenenanderen Quadrupeln eine Zahl gemeinsam hat oder nicht, wird ausgehend vom ersten Quadrupel der Liste dasnächste mit diesem durchschnittsfremde gesucht, dann das nächste zu den ersten beiden fremde usf. Da beidiesem Vorgehen i.a. die Quadrupel-Liste fertig durchlaufen ist, ohne daß zwölf Quadrupel zustande gekommensind, die alle Zahlen von 1 bis 48 enthalten, wird zurückgegangen und im letzten Schritt statt des nächsten dasübernächste durchschnittsfremde Quadrupel genommen; dieses Zurückgehen erfolgt u.U. wiederholt und auchmehrere Schritte zurück. Es ergibt sich auf diese Weise je eine umfangreiche Liste von Rechtecken aus denIndizes 1 bis 48 , für die die Zeilensummen der zugehörigen Zahlen 174 bzw. 164 sind. Aus diesen Listenwurden für die Beispiele einige herausgegriffen, durch Umordnen innerhalb einzelner Zeilen die Spaltensummen522 (bzw. 492) für alle vier Spalten realisiert und schließlich die angegebenen Normalformen hergestellt.

Walter Börner, September 2003