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K 48 3 . 08 Von: Anthony Spiri W enn es am völlig anderen Wesen der Kla- viere vor der Mitte des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu den heutigen läge, müssten Bach und Mozart ein ebensolches Nischendasein führen: Sie kannten das Klavier im heutigen Sinn ge- nauso wenig wie ihre zuletzt genannten Tastenge- nossen. Der Siegeszug der gleichschwebenden Tem- peratur am Klavier hat die Tonsprache der bisheri- gen Musik ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhun- derts stark nivelliert; doch trotz des riesigen Verlustes an intervallischer Vielfalt – wir haben ja „nur“ noch 12 Töne pro Oktave und keine reelle Tonartencha- rakteristik mehr – hat ein gewisser Corpus von Musik aus der Zeit von Bach bis Beethoven die Übertragung auf das moderne Instrument und ein anderes Ska- lensystem ‚überlebt’. Daher verwundert die Vernachlässigung der drei prominentesten Söhne Johann Sebastian Bachs. Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bach waren alle drei berühmte Tastenvirtuosen und wurden auch in anderen Gat- tungen zu den wertvollsten Komponisten ihrer Zeit gezählt. Johann Christoph Friedrich Bach (1732–95) wollen wir hier nicht ganz unerwähnt lassen, doch scheint seine Musik nicht annähernd das Niveau der drei Brüder bzw. Halbbrüder zu erreichen und stellt keine wirkliche Bereicherung des Klavier-Repertoires dar. Andere mögen vielleicht zu einer positiveren Die Bach-Söhne im Klavierrepertoire K OMPONISTEN K OMPONISTEN Ja, es gibt tatsächlich so etwas (Suspektes) wie ein ‚Standard-Repertoire’ am Klavier, angeb- lich aus einem breiten Spektrum vieler Länder und Epochen, doch in der Tat recht einge- schränkt. Denn wie oft begegnen wir im Konzertsaal Klaviermusik beispielsweise von Dvorák oder Fauré? Bedeutende Klavierkomponisten des 20. Jahrhunderts wie Roger Sessions oder Paul Hindemith scheinen ausrangiert zu sein. Oder wenn wir überlegen, welche Musik aus der Zeit vor Beethoven zum ‚Repertoire’ gehört, also älter als ungefähr 200 Jahre ist, dann fallen uns eigentlich nur vier Namen ein: Mozart, Haydn, Domenico Scarlatti und Johann Sebastian Bach; kein Rameau, kein Händel, keiner der Couperins, um von den Meistern des 17. Jahrhunderts wie Froberger, Frescobaldi oder Sweelinck ganz zu schweigen. Diese werden in die sogenannte Alte Musik-Ecke gestellt und sind den meisten Pianisten oft nur aus den Geschichtsbüchern bekannt. Natürlich ist das heutige Klavier ein relativ neues Mitglied unseres Gesamtinstrumentariums. Dennoch können die Tasteninstrumente als ‚Familie’ – mit ihrem einzigartigen Potenzial in Bezug auf Umfang, Intonation und Mehrstimmigkeit – bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken. Je nachdem, wo man die Grenzen der Gattung zieht, dürften wir die Ent- wicklung mindestens bis zu der von Heron von Alexandrien vor 2000 Jahren kreierten Orgel zurückverfolgen können. Und obwohl keine andere Kunst über eine so kurze Geschichte ver- fügt wie die Musik, darf man die Frage stellen, warum wir uns generell, aber besonders am Klavier, so selektiv aus bestimmten Perioden ‚bedienen’. Wilhelm Friedemann Bach Carl Philipp Emanuel Bach Carl Johann Christian Bach

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48 3.08

Von: Anthony Spiri

Wenn es am völlig anderen Wesen der Kla-viere vor der Mitte des 19. Jahrhunderts imVergleich zu den heutigen läge, müssten

Bach und Mozart ein ebensolches Nischendaseinführen: Sie kannten das Klavier im heutigen Sinn ge-nauso wenig wie ihre zuletzt genannten Tastenge-nossen. Der Siegeszug der gleichschwebenden Tem-peratur am Klavier hat die Tonsprache der bisheri-gen Musik ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhun-derts stark nivelliert; doch trotz des riesigen Verlustesan intervallischer Vielfalt – wir haben ja „nur“ noch12 Töne pro Oktave und keine reelle Tonartencha-rakteristik mehr – hat ein gewisser Corpus von Musikaus der Zeit von Bach bis Beethoven die Übertragung

auf das moderne Instrument und ein anderes Ska-lensystem ‚überlebt’.

Daher verwundert die Vernachlässigung der dreiprominentesten Söhne Johann Sebastian Bachs.Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel undJohann Christian Bach waren alle drei berühmteTastenvirtuosen und wurden auch in anderen Gat-tungen zu den wertvollsten Komponisten ihrer Zeitgezählt. Johann Christoph Friedrich Bach (1732–95)wollen wir hier nicht ganz unerwähnt lassen, dochscheint seine Musik nicht annähernd das Niveau derdrei Brüder bzw. Halbbrüder zu erreichen und stelltkeine wirkliche Bereicherung des Klavier-Repertoiresdar. Andere mögen vielleicht zu einer positiveren

Die Bach-Söhneim Klavierrepertoire

K O M P O N I S T E NK O M P O N I S T E N

Ja, es gibt tatsächlich so etwas (Suspektes) wie ein ‚Standard-Repertoire’ am Klavier, angeb-lich aus einem breiten Spektrum vieler Länder und Epochen, doch in der Tat recht einge-schränkt. Denn wie oft begegnen wir im Konzertsaal Klaviermusik beispielsweise von Dvorákoder Fauré? Bedeutende Klavierkomponisten des 20. Jahrhunderts wie Roger Sessions oderPaul Hindemith scheinen ausrangiert zu sein. Oder wenn wir überlegen, welche Musik ausder Zeit vor Beethoven zum ‚Repertoire’ gehört, also älter als ungefähr 200 Jahre ist, dannfallen uns eigentlich nur vier Namen ein: Mozart, Haydn, Domenico Scarlatti und JohannSebastian Bach; kein Rameau, kein Händel, keiner der Couperins, um von den Meistern des17. Jahrhunderts wie Froberger, Frescobaldi oder Sweelinck ganz zu schweigen. Diese werdenin die sogenannte Alte Musik-Ecke gestellt und sind den meisten Pianisten oft nur aus denGeschichtsbüchern bekannt. Natürlich ist das heutige Klavier ein relativ neues Mitglied unseres Gesamtinstrumentariums.Dennoch können die Tasteninstrumente als ‚Familie’ – mit ihrem einzigartigen Potenzial inBezug auf Umfang, Intonation und Mehrstimmigkeit – bereits auf eine lange Geschichtezurückblicken. Je nachdem, wo man die Grenzen der Gattung zieht, dürften wir die Ent-wicklung mindestens bis zu der von Heron von Alexandrien vor 2000 Jahren kreierten Orgelzurückverfolgen können. Und obwohl keine andere Kunst über eine so kurze Geschichte ver-fügt wie die Musik, darf man die Frage stellen, warum wir uns generell, aber besonders amKlavier, so selektiv aus bestimmten Perioden ‚bedienen’.

Wilhelm Friedemann Bach Carl Philipp Emanuel Bach Carl Johann Christian Bach

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Ansicht gelangen. Verhärtete Strukturen bei Prüfungen und Wettbewer-

ben mögen Klavierstudenten wenig Spielraum zwischenden Pflichtwerken J. S. Bachs und den Sonaten der WienerKlassik lassen, doch bei Profis kann diese Erklärung nichtmehr überzeugen. Stärker ins Gewicht fällt die Tatsache,dass diese Musik bis vor wenigen Jahren nur spärlich inmodernen Ausgaben vorhanden war. Bei Wilhelm Frie-demann Bach ist das immer noch der Fall. Und auch beiden anderen beiden Bach-Söhnen ist bis heute keine mo-derne Gesamtausgabe ihrer Klavierwerke erschienen, wiewir sie jeweils mehrfach für Domenico Scarlatti, Mozart,Haydn und Beethoven besitzen, sondern ‚nur’ Faksimile-Reihen, die als unerlässliche Referenz, aber nicht zumpraktischen Gebrauch geeignet sind (siehe Bibliographieam Ende dieses Artikels). Dies stellt sicherlich ein Hinder-nis dar für alle, die sich mit diesen Werken beschäftigenwollen. Obwohl Berufsmusiker eigentlich nicht von mo-dern gedruckten Ausgaben und ihren Herausgebern ab-hängig sein sollten, sondern selber in der Lage sein müss-ten, die Quellen nutzbar zu machen, können wir hier ei-nen Grund für eine fehlende Aufführungstradition dieserMusik ausmachen.

Ein weiterer Grund ist unser musikhistorisches Gesamt-bild, das mit der Periode zwischen den bereits unzutref-fend bezeichneten ‚barocken’ und ‚klassischen’ Epochennicht viel anzufangen weiß. Die meisten Werke der Zeitzwischen 1735 und 1780, die Epoche der Bach-Söhne,sind gängigen Stil-Kategorien wie ‚galant’, ‚empfindsam’oder ‚vorklassisch’ nicht zuzuordnen. Im Gegenteil: DieseBegriffe haben sich schon längst als Hindernisse erwiesen,die uns den Zugang zu dieser Musik eher erschweren.Dass die Komponisten selbst keineswegs in solchen Kate-gorien dachten, beweist die Selbstverständlichkeit, mitder sie Sonaten oder Einzelsätze aus älterer Zeit viele Jahr-zehnte später wieder aufgriffen oder in neuere Werke ein-fügten. In Wirklichkeit existierten die verschiedenen Stil-richtungen, falls wir sie überhaupt als solche identifizie-ren können, nebeneinander, oft in ein und demselbenSatz, nicht chronologisch nacheinander.

Die Bach-Söhne unterscheiden häufig im Klavierwerkzwischen pädagogisch konzipierten Sammlungen undrepräsentativer Konzertmusik für Profis, eine Unterschei-dung, wie wir sie, eher stufenweise ausgeprägt, auch beiJ. S. Bach kennen. Dazu kommt eine neue Art kommerzi-eller Unterhaltungsmusik, die über neue Massenmedienbetrieben wurde und als deren Vorreiter Telemann gese-hen wird. J. S. Bach lieferte nur wenig in dieser Richtung,hauptsächlich Lieder und quasi anonym. Wilhelm Frie-demann weigerte sich ganz, so etwas ‚Niederes’ zu schrei-ben. Carl Philipp Emanuel machte keinen Hehl aus seinenkommerziellen Machwerken; völlig bewusst strich er dieGewinne ein, um künstlerisch wertvollere Projekte finan-zieren zu können. Erst spät konnte er den schmerzhaftenGegensatz zwischen Kunst und Kommerz überwinden.Johann Christian Bach erntete den Spott seiner Brüder,weil er von Anfang an gar nichts anderes vorhatte, als dieWünsche der zahlenden Masse mit den eigenen hohenAnsprüchen auf einen Nenner zu bringen.

Diese Zeilen wollen einen kleinen Überblick über dasSoloklavierwerk der drei Meister bieten, eine praktischeHilfe zum Einstieg in diesen breit gestreuten, einen Zeit-raum von mehr als 50 Jahren ausfüllenden Werkkomplex.Von allen drei Meistern gibt es auch reichlich Solokon-zerte für Tasteninstrumente mit Orchester und Kammer-musik mit einem modernen, von der reinen Continuo-Funktion losgelösten Klaviersatz, also beides Gattungen,

die von J. S. Bach nicht erfunden, doch zum ersten Malkonsequent gepflegt wurden. Die Entwicklung desvierhändigen Spiels war ein besonderes Anliegen JohannChristian Bachs und hängt anscheinend mit der speziel-len Art der geselligen Musikausübung in England zusam-men, eine Mode, die sich von dort aus bald überall ver-breiten sollte. Doch müssen diese Formen einem späterenDiskurs vorbehalten bleiben, während wir zu den Einzel-darstellungen schreiten.

Anthony SpiriFoto: Theresia Linke

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Wilhelm Friedemann Bach (1710–1784)

Der älteste und brillanteste der Bach-Söhne ist zu-gleich der problematischste, sein Leben am schlech-testen dokumentiert. Er hinterließ sein kompositori-sches Œuvre in einem äußerst lückenhaften Zustand.Genauso sorglos wie er die vom Vater geerbten Kir-chenkantaten verwaltete, ging er mit der eigenenProduktion um. Unter dem dünnen Quellenbefundleidet die Rezeption seiner Musik noch heute.

Bis neue Dokumente auftauchen, können wir überdie Ursachen und Einzelheiten seiner offenbarschwer gestörten Persönlichkeit nur raten. GeistigeInstabilität war in der Familie Bach keine Seltenheit.

Im Falle Wilhelm Friedemann Bachs mag eine lang-sam wachsende, selbstzerstörerische Hassliebe ge-genüber dem Vater dahinterstecken, später durchMisanthropie und Alkoholismus denkbar ungünstigergänzt. Immerhin wurde er über 70 Jahre alt undgerade sein letztes Jahrzehnt scheint sehr produktivgewesen zu sein. Und die biographischen Umständesollten unseren Blick auf die erhaltenen Werke nichttrüben, die von erhabener Schönheit und sehrhohem musikalisch-technischen Anspruch geprägtsind.

Viele Sätze aus dem Klavierschaffen sind strengpolyphon, wirklich eine Anomalie in dieser Periodeder Kehrtwende vom Kontrapunkt und ihrer fast pro-grammatischen Fixierung auf Oberstimmen-Gesang-lichkeit. Bachs typische Dreistimmigkeit lässt diemittlere Stimme virtuos zwischen den beiden Hän-den hin und her springen. Andere Sätze zeigen einenbrüchigen, sarkastischen Humor, den zeitgemäßenModestil durch Übertreibung gleichsam verspottend.Manche scheinbar leichteren Werke treiben ein ‚ver-rücktes’ motivisches Spiel. Seine Musik sträubt sich injedem Takt gegen bloße Gefälligkeit und wartet im-mer wieder mit dramatischen Momenten und Ge-fühlstiefe auf.

Unter den damals gedruckten Werken sind dieZwölf Polonaisen von 1765, fast alle langsam undkaum noch als Tänze zu interpretieren, möglicher-weise sogar als ‚Tanzverweigerung’ gemeint! 1778erschienen Acht Fugen (ohne Präludien!), der Kon-trapunkt liebenden Prinzessin Amalie von Preußen,Schwester Friedrichs des Großen und selbst Profimu-sikerin, gewidmet. Trotz ihrer Kürze sind diese Fugenäußerst dicht gearbeitet und zugleich anmutig. Sieerinnern uns mehr an die Fugen Mendelssohns alsan Johann Sebastian Bach. Ein Juwel ist auch die1745 gedruckte Sonate in D-Dur Falck 3. Viele, aberlängst nicht alle handschriftlich überlieferten Werkesind inzwischen veröffentlicht und wir können hof-fen, dass die mit viel Geld zurückgekaufte und mitviel Werbung angekündigte Notensammlung derehemaligen Berliner Singakademie weitere Schätzeaus Friedemann Bachs Feder freigeben wird. Weiterehandschriftliche Funde lassen Martin Falcks wichti-ges, aber bereits vor einem halben Jahrhundert fertiggestelltes Werkverzeichnis inzwischen überholterscheinen.

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J. C. Bach Sechs Klaviersonaten op. 17Arte Nova / SonyBMG 74321 84431 2

C. P. E. Bach Sonaten, Fantasien, Rondos, Vol. 1Orfeo C 639 061 A

W. F. Bach 3 Sonaten, 3 Fugen und 3 FantasienOehmsClassics / HM OC 56

C. P. E. BachKlavierwerke, Vol. 2 (Sonaten, Fantasien,Fugen)Aufnahme Februar 2007 BR/ OrfeoInternational(noch nicht erschienen)

C. P. E. Bach Fünf Klaviertrios (1776/77)Mit Ariadne Daskalakis, Violine undSebastian Hess, VioloncelloAufnahme Dezember 2006 BR/ Orfeo(noch nicht erschienen)

CD-Hinweise zu Anthony Spiri

Friedemann Bach: Fantasia e

Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788)

Die Geschäftstüchtigkeit des zweitältesten Bach-Soh-nes ist ein Glücksfall für uns, denn wegen seiner jahr-zehntelangen Wirksamkeit nach außen ist sein kom-positorisches Œuvre besonders gut überliefert. In Ber-lin und Hamburg pflegte er Umgang mit den großenPhilosophen, Wissenschaftlern und Dichtern seinerZeit. In seinen anspruchsvollsten Werken war erbestrebt, ethischen und ästhetischen Idealen musika-lischen Ausdruck zu verleihen, was damals bei ‚Ken-nern’ durchaus registriert wurde. Hierin nimmt erBeethovens Haltung auf erstaunlicher Weise vorweg.Manches fiel so radikal aus, dass Bach an eine Veröf-fentlichung gar nicht denken wollte und die Werkeunter der Hand im Bekanntenkreis vorzeigte; zweiBeispiele dafür: die Sonaten in C-Dur, Helm 248 undin c-Moll, Helm 298. Andere Werke wurden, wie Bachselber zugab, den Marktchancen zugeschnitten undbesaßen in seinen Augen nur minimalen Kunstwert;auch hier eine Parallele zu Beethoven. Weder mitdem alten, feudalen System noch mit dem Geist derAufklärung konnte er voll sympathisieren, und sowird es vielen seiner Generation ergangen sein!

Wenn wir in Hinblick auf das moderne Instrumenteines der Klavierwerke Emanuel Bachs an erste Stellesetzen wollten, dann fiele die Wahl auf seine sechsgedruckten Folgen von Sonaten, Fantasien und Rondos‚für Kenner und Liebhaber’, die im letzten Lebensjahr-zehnt des Komponisten erschienen und sofort riesi-gen Erfolg hatten. Besonders die Rondos wurdenexplizit für das Fortepiano konzipiert und lassen sichauch am modernen Flügel bestens darstellen. Diedankbare Sonate in A-Dur, Helm 186 bietet sich demheutigen Pianisten ebenso an wie Bachs letztes Kla-vierwerk, die Fantasie in fis-Moll, Helm 300.

Variationszyklen für Klavier waren zu dieser Zeitals Kompositionen nicht hoch geschätzt. Meistenswurden sie im Konzert auf gängigen Themen impro-visiert, aber nicht aufgeschrieben. Daher überraschtes, dass Bach zwei Meisterwerke in dieser Form liefer-te, die C-Dur-Variationen über ein eigenes Thema, Helm259, aus dem Jahre 1777 und die d-Moll-Variationenüber das berühmte, aber sehr altmodische La Folia,Helm 263, aus dem Jahre 1778. Von den früherenKlavierwerken sind zum Beispiel die ‚Württember-gischen’ Sonaten, erschienen 1744, von höchster Qua-lität und für das moderne Klavier besser geeignet alsdie meisten Klavierwerke Johann Sebastian Bachs.

In vielen seiner gedruckten und ungedrucktenSonaten vermittelt uns Bach durch das Ausschreibender normalerweise improvisierten ‚variierten Re-prisen’ die Musizierpraxis. Dabei wurden wiederholteAbschnitte, wie die gesamte Exposition eines Sona-tensatzes, nicht einfach mit frischen Verzierungenversehen, sondern völlig neu und konsequent umge-staltet, bis in die Motivik und Dynamik hinein. DassMozart und Haydn mit dieser Praxis vertraut warenund sie auch ausübten, können wir kaum bezweifeln.Trotzdem weigern wir uns heute, die Konsequenzendaraus zu ziehen.

So ist auch das ‚Präludieren’ und ‚Fantasieren’ –von Bach in seinem berühmten, bis weit ins 19.Jahrhundert tonangebenden Buch Versuch über diewahre Art, das Clavier zu spielen (1753) dargelegt – wiees auch später von Czerny und Hummel ausgeübt

wurde, heutzutageeine ausgestorbe-ne Praxis. Unsstört es heutenicht, eine Suitedirekt mit derAllemande odereine Sonate mitdem Beginn desnotierten erstenSatzes zu begin-nen; damals hättedas für einen pro-fessionellen Musi-ker als kreativesA r m u t s z e u g n i sund Formfehlergegolten.

Der Überblickauf Philipp Ema-nuel Bachs riesigesKlavierschaffenwird durch diehartnäckige Ver-wendung des 1905erstellten Werk-verzeichnisses desBelgiers AlfredWotquenne er-schwert, obwohldies damals einebahnbrechendeLeistung war, istes längst durchdas chronologischaufgebaute und um viele Werke ergänzte Verzeichnisvon E. Eugene Helm abgelöst worden.

Johann Christian Bach (1735–1782)

Schon durch seine späte Geburt war Johann Chris-tian Bach kein Kind des Barocks (mehr). Die Ober-stimmenseligkeit war ihm nicht Programm, sondernSelbstverständlichkeit. Seine Mutter Anna Magdale-na Bach war, im Gegensatz zu Maria Barbara Bach(Mutter von Wilhelm Friedemann und Carl PhilippEmanuel), eine ausgebildete Opernsängerin und wirwundern uns nicht, dass er schon in jungen Jahreneine Laufbahn als Opernkomponist anstrebte, auchwenn ‚so etwas’ in der Familie noch nie vorgekom-men war und der Clan es als Skandal empfand.

Wahrscheinlich musste er dem Druck des berühm-ten, doch komplizierten und nicht immer harmoni-schen Familienverbands förmlich entkommen, umseine eigene Entwicklung nicht zu ersticken. DerVergleich mit Domenico Scarlatti, der zunächst imSchatten seines Vaters, der legendären und langlebi-gen Ikone der italienischen Vokalmusik AlessandroScarlatti, stand, drängt sich fast auf. Ihm bliebschließlich auch nichts anderes übrig, als auszuwan-dern und sich eben der Musikgattung zu widmen, dieseinem Vater immer fremd geblieben war: der So-loklaviermusik. Johann Christian Bachs Eigenstän-digkeit stand jedenfalls früh fest, als er 18-jährignach Italien durchbrannte. Böse Zungen mögenmunkeln, er ging als Liebhaber einer italienischen

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Carl Philipp Emanuel Bach:Handschrift einer der „verbotenen Sonaten“

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Opernsängerin, doch hatte er immerhin die bestenEmpfehlungen nach Mailand und den Segen desVaters dazu.

Sein stilbildender Einfluss auf Mozart und dessenGeneration ist hinlänglich bekannt. Dennoch sollteman ihn nicht als eine Art ‚Prä-Mozart’ abstempeln,wie es heute oft geschieht. Man findet bei ihm nochreichlich Spuren des polyphonen Zeitalters und in

vielen Sätzen eine Nähe zu Domenico Scarlatti, derdurch seine gedruckten Esercizii in Johann ChristianBachs Wahlheimat England viel bekannter war alsauf dem Kontinent. Seine Formstringenz, was Leo-pold Mozart ‚il filo’ nannte, verließ ihn nie.

Neben den beiden wichtigen Sonatenzyklen op. 15und op. 17, beide jeweils sechs Sonaten mit anstei-gendem Schwierigkeitsgrad enthaltend, hinterließBach weitere Einzelwerke für Klavier und viel Kam-

mermusik mit ‚obligatem’ Klavier. Bei vielen dieserWerke mag das Klischee-Wort galant tatsächlich pas-sen! Er galt als Pionier in der Verwendung des Forte-pianos gegenüber dem Cembalo und ebenso fort-schrittlich in der Entwicklung des vierhändigenKlavierspiels und des Klavierkonzerts. Die Übertra-gung seiner Musik auf das moderne Instrument istgenerell weniger problematisch als bei seinen älterenBrüdern, und sein häufig Mozart naher Stil scheintuns weniger fremd. Doch seine etwas pauschaleNotationsweise und die Sparsamkeit seiner Vortrags-bezeichnungen lassen viele Fragen zu Tempo, Dyna-mik und Artikulation offen.

Besonders glänzend und mit einem der schönstenlangsamen Sätze der Epoche ausgestattet ist die B-Dur-Sonate op. 17/6. Die ebenso wirkungsvolle Sonatein c-Moll op. 5/6 beweist, dass Johann Christian Bachden Fugenstil nicht verlernt hatte, den er aber völliganders handhabt als der Rest seiner Familie. AlsZeugnis von Bachs Lehrtätigkeit dient die Mitarbeitan einem Schulwerk pour le forte-piano ou clavecin,das für das Konservatorium in Neapel geplant war,aber erst posthum gedruckt werden konnte.

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Jede Periode bewertet ihr musikalisches Erbe anders.Die Musik Johann Sebastian Bachs wurde zu seinerZeit nur von einem kleinen Kreis als genießbar emp-funden und wir wundern uns über TschaikowskysÄußerungen zur Matthäus-Passion oder SchumannsMeinung zu Joseph Haydn. Es hat über hundertJahre gedauert, bis die Bedeutung der späten WerkeBeethovens allgemein erkannt wurde und dieMeinung, ihre Schwierigkeiten seien dessen Taubheitzuzuschreiben, aussterben durfte. Die Renaissancedes späten Schumann hat erst vor 20 Jahren einge-setzt.

Dabei werden künftige Generationen wahrschein-lich über unsere Festspielprogramme lachen – undweinen. In meiner Jugend habe ich über die Kla-vierabend-Programme meiner Großtante, der kana-dischen Pianistin Mariette Gauthier, den Kopf ge-schüttelt. Heute empfinde ich sie als erfrischend undintelligent zusammengestellt: Sie atmen den Geistder Epoche Robert Lortats und Nadia Boulangers

Anthony SpiriDer Pianist Anthony Spiri gilt als einer der vielfältigsten und an-gesehensten Liedbegleiter, Kammermusiker und Solisten der heu-tigen Musikszene. Geboren in den USA, erhielt er seine Ausbildungin Cleveland und Boston, bevor ihn sein künstlerischer Werde-gang nach Europa führte, wo er am Salzburger Mozarteum seinStudium abschloss.Sein umfangreiches Repertoire, das von Alter Musik bis zu Werkendes 21. Jahrhunderts reicht, hat Anthony Spiri mit Klavier-abenden durch viele Länder Europas, nach Asien und Amerikageführt. Als Klaviersolist ist er mit dem Chamber Orchestra of Europe un-ter Nikolaus Harnoncourt und Michael Tilson-Thomas, derCamerata Academia Salzburg unter Sandor Végh, der JungenDeutschen Philharmonie, dem Ensemble Wien Modern, demKammerorchester Basel unter Christopher Hogwood, demMozarteum Orchester Salzburg unter Leopold Hager und anderenOrchestern aufgetreten. Als Liedbegleiter hat Anthony Spiri mitvielen renommierten Sängern wie Peter Schreier, MarjanaLipovšek, Edith Mathis, Bernarda Fink und anderen konzertiert.Zu seinen Kammermusikpartnern zählen prominente Instrumen-

talisten, Streichquartette und Ensembles unserer Zeit. Von1987–1993 war er Assistent von Nikolaus Harnoncourt am Salz-burger Mozarteum.Anthony Spiri engagiert sich auch für die zeitgenössische Musikund spielte beispielsweise Uraufführungen von Werken derKomponisten Wolfgang Rihm, Rainer Bischof, Ernst Krenek undSofia Gubaidulina. Als Entdecker betätigt sich Spiri bei Klavier-werken und Liedern von Eduard Marxsen, dem Kompositions-lehrer von Johannes Brahms, sowie bei französischen Komponis-ten der Epoche Gabriel Faurés. Im Mozart-Jahr 2006 führte erzyklisch sämtliche Klavier- und Violinsonaten des SalzburgerKomponisten auf.Seine umfangreiche Diskographie ist ein weiterer Beleg seinerVielseitigkeit. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Pianist denWerken der Söhne Johann Sebastian Bachs, deren Kompositionener mit zahlreichen Aufnahmen auf CD festhielt. Er ist somit einerder wenigen Interpreten der Klaviermusik von Wilhelm Friede-mann, Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bach auf demmodernen Flügel. Heute lebt Anthony Spiri in München und ist alsProfessor für Klavierkammermusik an der Musikhochschule Kölntätig.

www.anthony.spiri.com

Johann Christian Bach: Sonate Op. 17 Nr. 3 in der Frühfassung

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und sind alles andere als dummoder unkünstlerisch zu bezeich-nen.

Heute werden Händel, Puccini,Schostakowitsch, Messiaen undArvo Pärt viel gespielt – wer weiß,wie es damit in zehn, fünfzig oderin 200 Jahren aussehen wird? Alsowäre es höchst interessant, zuhören, was die jetzige Generationvon Pianisten aus dem Klavier-schaffen der Bach-Söhne ‚machen’kann, würde sie sich damit be-schäftigen. Eine wertvolle Berei-cherung unserer Klavierlandschaftkönnte das Ergebnis sein!

Wilhelm Friedemann Bach (1710–1784)– Klavierwerke (Sonaten und Fantasien) aus

der Hs. P883 Berlin (Hänssler-Verlag) – Zwölf Polonaisen (1765), Hrsg. A. Bohnert (Henle)

– Neun Klaviersonaten, Hrsg. F. Blume (Nagel/ Kalmus)

– Ausgewählte Klavierwerke (Suite, 3 Sonaten, 2 Fantasien), Hrsg. A. Böhnert (Henle)

– Klavierfantasien, Hrsg. P. Schleuning (Schott)

– Sonate in F-Dur für zwei Klaviere, Hrsg. C.A. Martienssen (C.F. Peters)

– Martin Falck: W.F. Bach, sein Leben und seine Werke, mit thematischem

Verzeichnis(Kahnt, 1956)

Carl Philipp Emanuel Bach(1714–1788)– Solo Keyboard Works, Faksimile-Ausgabe in

6 Bänden, Hrsg. D. Berg (Garland)– Ausgewählte Klaviersonaten in drei

Bänden, Hrsg. D. Berg (Henle)– Great Keyboard Sonatas (2 Bände),Dover,

Reprint der Ausgabe: Le trésor despianistes,

Hrsg. A. & L. Ferrenc, (1860–74)– Die sechs Preußischen Sonaten(1742),

Hrsg. R. Steglich (Nagel)– Die sechs WürttembergischenSonaten

(1744) Hrsg. R. Steglich(Bärenreiter)– Die sechs Sammlungen für Kennerund

Liebhaber (Sonaten, Fantasien,Rondos),

1779-87), Hrsg. C. Krebs, RevisionL.

Hoffmann-Erbrecht (Breitkopf &Härtel)– Sonaten und Stücke, Hrsg. K.Herrmann

(C.F. Peters)

Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spie-len in zwei Teilen (1753/1762) Faksimile-Nachdruck, Hrsg. L. Hoffmann-Erbrecht (Breitkopf & Härtel)Sechs Sonaten (Probestücke aus dem Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen, 1. Teil, 1753), Hrsg. E. Doflein(Schott)– E. Eugene Helm: Thematic Catalogue of the

Works of C.P.E. Bach, (Yale Univ. Press 1987)

Johann Christian Bach (1735–1782)– Collected Works, Faksimile-Ausgabe, Hrsg.

S. Roe (Garland)

– Sechs Sonaten op. 5 (17), Hrsg. E. Heinemann (Henle)

– Sechs Sonaten op. 17 (17), Hrsg. E. Heinemann (Henle)

– Sonate in Es-Dur op. 17/3 (Erste Fassung), Hrsg. S. Staral (Heinrichshofen)

– Solo und Sonate, Hrsg. S. Staral (Heinrichshofen)

Méthode ou receuil des connoissances élémen-taires pour le forte-piano ou clavecin (MitautorF.P. Ricci), Faksimile der Pariser Ausgabe von1786 (Minkoff)

Ausgewählte Notenausgaben