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Bachelorarbeit II Die dritte Natur des Geistes Juni 2009 Institut für Bildungswissenschaft und Philosophie Eingereicht von: Mario Spassov Matrikelnummer: a0309830 Studienkennzahl: A 296 Betreuer: Dr. Christian Damböck Seminar: SE McDowells 'Mind and World' - eine 'Wende der Philosophie'? 1

Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

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Page 1: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Bachelorarbeit II

Die dritte Natur des Geistes

Juni 2009

Institut für Bildungswissenschaft und Philosophie

Eingereicht von: Mario Spassov

Matrikelnummer: a0309830

Studienkennzahl: A 296

Betreuer: Dr. Christian Damböck

Seminar: SE McDowells 'Mind and World' - eine 'Wende der Philosophie'?

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Page 2: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

InhaltsverzeichnisEinleitung.............................................................................................................................................3I. Begriffe und Anschauungen..............................................................................................................4

I. Geist und Welt..............................................................................................................................4II. Wie können Anschauungen als Rechtfertigung für Urteile dienen?...........................................6III. Drei Möglichkeiten die Beziehung von Anschauung und Begriff zu denken...........................7IV. Die Einheit von Begriff und Anschauung am Beispiel der Farberfahrung................................9VI. Tradition als Quelle der Vernunft............................................................................................12

II. Bildung als dritte Natur des Geistes..............................................................................................16I. Das Vorurteil gegenüber dem Vorurteil......................................................................................16II. Inwiefern ist Vorurteil für Erfahrung konstitutiv?....................................................................17III. Sozialisation.............................................................................................................................21IV. Bildung.....................................................................................................................................22V. Bildung als “dritte Natur” des Menschen?................................................................................24

Schluss................................................................................................................................................28Bibliographie......................................................................................................................................31

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Einleitung

In der vorliegenden Arbeit bemühen wir uns um eine Rekonstruktion des Begriffs der

“zweiten Natur” bei John McDowell. Dessen eigene Ausführungen dazu sind meist nur

Andeutungen und lassen viele Fragen offen. Indem wir uns auf den von ihm im Zusammenhang mit

diesem Begriff zitierten Gadamer beziehen, werden wir versuchen, den Begriff der zweiten Natur

zu rekonstruieren. Nachdem McDowell selbst die zweite Natur als Ergebnis von Bildung und

Erziehung versteht, werden wir zudem auch Bezug auf den Bildungs- und Erziehungsbegriff des

Pädagogen und Gadamer-Schüler Günther Buck nehmen.

Im ersten Kapitel der Arbeit stellen wir McDowells epistemologische Grundüberlegungen zur

Beziehung von Geist und Welt vor, denn McDowell selbst ist der Meinung, dass sich die von ihm

identifizierten epistemologischen Probleme erst mit Hilfe des Begriffs der zweiten Natur lösen

lassen, und uns damit als Hinleitung zu unserer Fragestellung dienen werden. McDowell zufolge

sind Beziehungen von Geist und Welt, in denen davon die Rede sein kann, dass man etwas über die

Welt etwas wisse, durchaus möglich. Was in derartigen Beziehungen jedoch nicht erwartet werden

kann, ist Infallibilität. Jedes Urteil über Welt ist fallibel. Dennoch, so McDowell, sind

gerechtfertigte Urteile über Welt möglich. Rechtfertigung aber geschieht nicht über eine

Wahrheitsgarantie, über die Garantie der Infallibilität des Urteils. Stattdessen bezieht sich

McDowell an dieser Stelle auf den Begriff der zweiten Natur: sofern Menschen zu einer zweiten

Natur erzogen und gebildet worden sind, sind sie in der Lage, auf “vernünftige” Weise aus ihrer

Erfahrung auf Welt zu schließen.

U. a. dieser Begriff einer an Erziehung und Bildung gebundenen Vernunft stellt eine große

Unbekannte in McDowells epistemologischer Gleichung dar. Im zweiten Kapitel wenden wir uns

Gadamer und Buck zu, anhand derer wir einen Bildungs- und Erziehungsbegriff differenzieren

wollen. Es wird sich jedoch zeigen, dass diese Autoren Bildung und Erziehung keineswegs

gleichsetzen. Wir werden zu fragen haben, ob der der Bildungsbegriff bei Buck und Gadamer nicht

mehr leistet, als der Begriff der zweiten Natur. McDowell, so werden wir im Schlussteil des zweiten

Kapitels zu zeigen versuchen, scheint mit seinen Andeutungen zum Begriff der zweiten Natur

Erziehung und nicht Bildung zu meinen. Gerade ein derartiger Bildungsbegriff jedoch könnte uns

nicht nur helfen, die zweite Natur besser zu verstehen, sondern auch als Ansatz für eine Konzeption

einer, wie wir es tentativ nennen wollen, “dritten Natur” dienen, die problematische Aspekte der

McDowellschen Epistemologie zu überwinden in der Lage wäre.

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I. Begriffe und Anschauungen

I. Geist und Welt

Wie der Titel seines Geist und Welt andeutet, bemüht sich McDowell um eine Klärung der

Beziehung von Geist und Welt. Einerseits hat dies einen epistemologischen Fragekomplex zur

Folge, in dem McDowell zu zeigen versucht, wie Urteile über Welt legitimiert werden können, wie

m.a.W. Aussagen über Welt gerechtfertigt werden können.1 Wir werden diese Diskussion in dieser

Arbeit zwar nicht vollständig rekonstruieren, sehr wohl aber ihre Ergebnisse, die für die Klärung

von McDowells Begriff der zweiten Natur hilfreich sein werden.

McDowell zufolge ist die Beziehung von Welt und Geist zwar nicht infallibel, dies jedoch

heißt nicht, dass Geist für Welt nicht offen sein kann und er nicht auch gerechtfertigte Weise Urteile

über Welt fällen kann.2 M.a.W. kann zwar die Wahrheit eines Urteils über Welt nie garantiert

werden, Wahrheitsgarantie jedoch ist für McDowell gerade nicht ein Kriterium für die

Rechtfertigung eines Urteils. Nach einer infalliblen Grundlage für Urteile über Welt zu suchen, so

McDowell, war der Fehler vieler Epistemologien. McDowell zufolge dagegen ist es durchaus

möglich, dass Geist Urteile über Welt fällen kann, die nicht nur wahr, sondern auch gerechtfertigt

sind, auch wenn er nie wahrheitsgarantierende Gründe für diese Urteile wird bieten wird können.

Die Verantwortung gegenüber der Welt kann Geist übernehmen, indem er Verantwortung gegenüber

seiner Erfahrung übernimmt. Die Erfahrung ist McDowell zufolge jenes, das Urteilen ein rezeptives

Moment und damit “friction” mit der Welt verleiht.3 Erfahrung alleine jedoch, ist weder

Wahrheitsgarant, noch ausreichend für die Legitimation von Urteilen. Wie dies genauer zu

verstehen ist, und wie ein vernünftiger Umgang mit Erfahrung zu verstehen ist, werden wir zu

diskutieren haben.

Wir wollen jedoch festhalten - die Epistemologie McDowells von ihren Ergebnissen her

aufrollend -, dass für ihn Urteile über Welt zumindest wahrheitsfähig sind. Wenn auch nicht alle

Urteile über Welt wahr sind, so gibt es doch zumindest einige, die es sind. McDowell sagt damit

nicht mehr, als dass man "[…] denken kann, daß z.B. der Frühling begonnen hat, und genau das,

daß der Frühling begonnen hat, auch der Fall sein kann."4 Er spricht sich damit gegen eine

ontologische Kluft zwischen dem, was der Fall sein kann, und dem, was man meinen kann, aus:

1 McDowell 2001, 112 McDowell 2001, 1713 McDowell 2001, 934 McDowell 2001, 52

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“Natürlich kann zwischen dem Gedanken und der Welt ein Abstand entstehen: dann nämlich, wenn

der Gedanke falsch ist. Doch in der bloßen Idee des Gedankens ist kein Abstand impliziert."5

Urteile machen damit, mit Wittgenstein gesprochen, nicht kurz vor den Tatsachen halt,6 sondern

können sich auf Tatsachen beziehen. Das obige Urteil über den Beginn des Frühlings bezieht sich

auf die Tatsache des Frühlings, und dies in einer potenziell wahrheitsfähigen Form, es ist m.a.W.

möglich, eine wahre Aussage darüber zu treffen, ob der Frühling schon begonnen hat oder nicht.

Wahrheitsfähigkeit von Urteilen alleine ist erst die Bedingung legitimer Aussagen.

Rechtfertigung besteht für McDowell jedoch nicht im Aufweis der notwendigen Wahrheit eines

Urteils, in der Wahrheitsgarantie, sondern in der vernünftigen Form des Zustandekommen eines

Urteils. Erst wenn das Urteil über eine Ausübung der Vernunftfähigkeit des Geistes, dem

Empfänglichwerden für die Forderungen der Vernunft,7 zustandegekommen ist, und zudem auch

noch den Fall beschreibt, d.h. wahr ist, ist das jeweilige Subjekt in Besitz von Wissen, wahrer und

gerechtfertigter Meinung. Es ist dann zwar nicht in Besitz von wahrheitsgarantierenden Gründen,

doch den Anspruch zu erheben, dass solche für gerechtfertigte Meinung überhaupt notwendig sind,

ist McDowell zufolge grundsätzlich verfehlt.8

Während wir kurzerhand McDowells These, dass Urteile potenziell wahr sein können und in

wahren Urteilen kein Abstand zur Welt besteht, sie nicht kurz vor der Welt halt machen, als

Prämisse annehmen werden, wird uns eine Klärung der zweiten zentralen These, der Möglichkeit

von vernünftiger Rechtfertigung ohne Wahrheitsgarantie, im Folgenden näher beschäftigen. Um

diese These zu klären, bezieht sich McDowell auf den Begriff der “zweiten Natur” des Menschen.9

Vernunft und zweite Natur gehen nach McDowell zusammen. Wenn wir im Verlauf dieser Arbeit

besser in der Lage sein sollten zu verstehen, wie McDowell den Begriff der zweiten Natur versteht,

sollten wir hoffentlich gegen Ende auch besser in der Lage sein, seine Epistemologie zu verstehen,

seine These der Möglichkeit gerechtfertigter Urteile ohne Wahrheitsgarantie mittels Ausübung der

Vernunft. Es ist gerade diese Fähigkeit, die Vernunft, die McDowell zufolge den Menschen vom

Tier in einem wesentlichen Punkt abhebt.10 Und diese Fähigkeit wird es für uns gelten zu

rekonstruieren.

5 McDowell 2001, 526 McDowell 2001, 547 McDowell 2001, 1048 McDowell 2001, 1419 McDowell 2001, 10910 McDowell 2001, 135

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II. Wie können Anschauungen als Rechtfertigung für Urteile dienen?

Während wir mit den Schlüssen McDowells zu seiner Epistemologie begonnen haben, wollen

wir nun seine Argumentation systematisch von ihren Anfängen her rekonstruieren. In einem ersten

Schritt der Analyse der Beziehung von Geist und Welt übernimmt McDowell Kants Differenzierung

des Geistes in Anschauung und Begriff oder auch Erfahrung und Urteil oder Gedanke.11 Gedanken

sind dieser Sicht nach auf Anschauungen angewiesen und, wo diese nicht zugrunde liegen, “leer:”

“Gerade ihre Verbindung mit einem Input aus der Erfahrung macht den Inhalt der Gedanken aus,

d.h. die Substanz, die ihnen sonst fehlen würde.“12 Während Anschauungen dem Geist rezeptiv

gegeben sind, sich dieser die Anschauung, die sich ihm präsentiert, nicht selbst willkürlich

aussuchen kann, sondern passiv mit der fertigen Tatsache des Erscheinens einer Anschauung

konfrontiert ist, macht die Begriffsfähigkeit des Geistes dessen eigentliche Spontaneität aus, dessen

Fähigkeit, sich in Ausübung von Freiheit auf Anschauung zu beziehen und zu fragen, ob das, was

sich in der Anschauung zeigt, akzeptiert wird oder nicht. Anschauungen stellen für McDowell den

Raum der Ursachen oder den Raum der Natur dar. D.h. das Affizieren unseres Geistes selbst wird

hierbei als Naturvorgang aufgefasst, der Gesetzen der Notwendigkeit, d.h. Ursachen, folgt. Begriffe

dagegen weist McDowell dem Raum der Gründe zu, d.h. dem Raum der Freiheit.13 In diesem Raum

muss sich Geist erst Urteile selbstständig durch Ausübung von Spontaneität konstruieren und ist in

der Urteilsbildung selbst frei.

Bisher stellten wir nur fest, dass McDowell zufolge Begriffe ihren Inhalt über Anschauungen

beziehen. Doch wie ist dies genau zu verstehen? Dass über Anschauung ein Kontakt, “friction,” mit

der Welt hergestellt wird, wurde von uns schlechthin angenommen und nicht weiter geklärt. Zudem

ist jedoch noch unklar, wie Anschauungen, nach dem obigen Bild dem Raum der Natur angehörend,

sich den Begriffen, die dem Raum der Gründe angehören, als „Input“ anbieten können. Denn aus

der bloßen Tatsache, dass etwas in der Anschauung gegeben ist, folgt nicht unmittelbar, dass die

Welt auch so ist, wie es unsere Anschauung uns präsentiert. Aus dem, wie uns die Welt erscheint,

können wir nicht unmittelbar darauf schließen, wie die Welt ist. Aus der bloßen Tatsache, dass uns

etwa ein Stock im Wasser gekrümmt erscheint, schließen wir ja auch tatsächlich nicht immer

unmittelbar darauf, dass der Stock gekrümmt sei.

Vielmehr findet zwischen der bloßen Anschauung und der Urteilsbildung etwas statt, das

McDowell oben Vernunftfähigkeit nannte. Wie aber ist diese zu denken, wenn dem Geist zur

11 McDowell 2001, 2712 McDowell 2001, 2813 McDowell 2001, 29

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Urteilsbildung letztlich nur Anschauungen als Material dienen? Wäre Anschauung die einzige

Quelle für die Rechtfertigung von Urteilen, müsste jeder Anschauung unmittelbar ein Urteil folgen.

Dem ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, und schon im Alltag unterstellen wir, dass man mit

Anschauungen oder Erfahrung auf vernünftige oder unvernünftige Weise umgehen kann.

III. Drei Möglichkeiten die Beziehung von Anschauung und Begriff zu denken

McDowell zufolge gibt es an dieser Stelle mindestens drei philosophische Großprojekte, die

versuchen, die Beziehung von Anschauung und Begriff zu klären.

A. Die wohl undifferenzierteste Lösung stellt der “unverblümte Naturalismus” dar.14 Dieser

dehnt das Reich der Natur auf das Reich der Gründe aus und baut auf dem Mythos des

Gegebenen.15 M.a.W. Ist diesem zufolge Anschauung ohne Erfahrung schlicht „gegeben“ und dient

der Urteilsbildung unmittelbar als Quelle. Gerechtfertigte Urteile sind dieser Position nach jene, die

der Erfahrung standhalten. Ein Kernproblem dieser Position liegt für McDowell darin, dass sie die

Beziehung von Anschauung und Begriff nicht klärt. Sie klärt m.a.W. nicht, wie bloß in der

Erfahrung natürlich Gegebenes als normativer Grund für Urteile dienen kann. McDowell hält dem

entgegen, dass “[e]in bloßes Gegenwärtiges […] keine Grundlage für irgend etwas sein [kann].”16

Angenommen Anschauungen wären bloß gegeben, dann handelte man sich im Moment des

Schließens von der Anschauung auf Welt einen naturalistischen Fehlschluss ein.

Mit Sellars unterscheidet McDowell deskriptive und normative Begriffe.17 Urteile sind

normiert, d.h. sie können richtig oder falsch gebildet werden sowie wahr oder falsch sein.

Anschauungen dagegen, so wie sie dem unverblümten Naturalismus nach als bloß Gegebenes

existieren, können nicht gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein, sie sind lediglich. Wenn jedoch

Anschauungen bloß deskriptiv und Urteile dagegen normativ sind, wird schwer vorstellbar, wie

Anschauung oder Erfahrung als Rechtfertigung für Wahrheit dienen kann, ohne einen

naturalistischen Fehlschluss zu begehen.18 Man scheint in die Lage gezwungen zu werden,

Erfahrung nicht als Gründe liefern zu sehen, sondern lediglich Entschuldigungen (exculpations):

„Das Bild [welches nahelegt, dass es nichtbegriffliche Einwirkungen der Welt auf die Begriffe über

die Anschauung gibt, M.S.] garantiert nun vielleicht, daß man uns nicht die Schuld [Hervorhebung

14 McDowell 2001, 1815 McDowell 2001, 4216 McDowell 2001, 4317 McDowell 2001, 1418 McDowell 2001, 15

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M.S.] für das geben kann, was an der Außengrenze vor sich geht und daher auch nicht für den

Einfluß, den das, was sich dort abspielt, nach Innen ausübt. Was sich dort abspielt, ist das Ergebnis

einer fremden Macht, nämlich der kausalen Einwirkung der Welt, und entzieht sich der Kontrolle

der Spontaneität. Aber es ist eine Sache, frei von Schuld zu sein, weil die Lage, in der wir sind,

letzten Endes auf eine rohe Macht zurückgeführt werden kann; es ist eine andere Sache, eine

Rechtfertigung [Hervorhebung M.S.] zu haben. Im Endeffekt bietet der Gedanke des Gegebenen

nur Entschuldigungen, wo wir nach Rechtfertigungen gesucht haben.“19 Ich deute diese Passage so,

dass Anschauung, nachdem sie keine wahrheitsgarantierenden Gründe liefert, nur als

Entschuldigung, nicht jedoch als Rechtfertigung eines Urteils dienen kann.

B. Der Kohärentismus Davidsons dagegen, so McDowell, umgeht den naturalistischen

Fehlschluss des unverblümten Naturalismus.20 Davidson lehnt den Mythos des Gegebenen ab,

ebenso wie die Forderung, dass Erfahrung alleine als Tribunal für die Rechtfertigung von Meinung

dienen könne. Nur andere Meinungen, so Davidson, können Meinungen rechtfertigen.21 Damit

umgeht er zwar naturalistischen Fehlschluss, die Schwierigkeit dieses Projektes jedoch, so

McDowell, liegt darin, dass es jegliche “friction” mit der Welt verliert und nur mehr Meinungen als

Begründung von Meinungen dienen können, dabei jedoch das rezeptive Moment des Geistes

ausgeblendet wird. Mit dem Verlust der Rezeptivität verliert das Denken im Kohärentismus die

rationale Beschränkung, die einen Bezug zur Realität gewährleisten soll.22 Wie kann m.a.W. aus

dieser Sicht vermieden werden, dass sich der Geist in einem quasi solipsistischen bloßen Meinen

hochschaukelt zu Meinungen über Welt, die nicht mehr haltbar sind? Nur weil die meisten

Meinungen aufeinander in Kohärenz verweisen, heißt das schließlich noch nicht, dass sie wahr

sind.23 Der Kohärentismus kommt vom Geist nicht in die Welt.

C. Die beiden bisherigen Positionen leugneten entweder das Reich der Gründe (so der

unverblümte Naturalismus), oder umgekehrt, das Reich der Natur (so der Kohärentismus) als für die

Urteilsbildung relevant. D.h. im unverblümten Naturalismus wurden Begriffe gestrichen und durch

Anschauungen ersetzt, im Kohärentismus dagegen die Anschauung durch Meinung. McDowells

eigene Position dagegen schlägt vor, das Reich der Gründe auf Reich der Natur auszudehnen. Zwar

bleiben Anschauung und Begriff dann immernoch differenzierbar, so McDowell, dennoch schlägt er

vor, sie als geeint zu denken, d.h. nicht von einer Erfahrung vor aller Begrifflichkeit auszugehen.

19 McDowell 2001, 3220 McDowell 2001, 37ff.21 McDowell 2001, 3822 McDowell 2001, 5023 McDowell 2001, 39

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Diese Position nennt McDowell einen “minimalen Empirismus.” Anschauungen bleiben rezeptiv,

dennoch ist aller Anschauung dieser Position nach auch ein Moment der Spontaneität enthalten,

verfügen über begrifflichen Inhalt.24

Wenn Anschauung als durch Begriffe durchsetzt verstanden wird, so McDowell, fällt der

Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses weg. Denn in gewissem Sinn sind Anschauungen bereits

normativ und nicht bloß deskriptiv. Umgekehrt jedoch kann eine “friction” mit der Welt garantiert

werden, weil Begriffe dennoch in Rezeptivität “geerdet” bleiben und sich nicht im luftleeren Raum

verlieren.25 Wie McDowells Alternative zum Kohärentismus und unverblümten Naturalismus näher

zu verstehen ist, werden wir im nächsten Abschnitt diskutieren. Es sei nur vorweggenommen, dass

McDowell die Vereinigung über den Begriff der zweiten Natur zu fassen versucht und die Klärung

der Beziehung von Begriff und Anschauung, wie wir sie im nächsten Kapitel versuchen werden,

eine Annäherung an McDowells Begriff der zweiten Natur darstellen wird.

IV. Die Einheit von Begriff und Anschauung am Beispiel der Farberfahrung

Um McDowells Vorschlag der Zusammenführung von Anschauungen und Begriffen besser

nachvollziehen zu können, beginnen wir mit einem von ihm selbst gegebenen Beispiel. Es soll uns

näherbringen, wie Anschauungen als immer schon begrifflich strukturiert verstehen können, sie

jedoch dennoch rezeptiv sind, und damit die notwendige “friction,” den Kontakt zur Welt

vermitteln.

Beginnen wir mit einem Gegenbeispiel gegen die Annahme, Begriffe und Anschauungen

seien geeint. Hierfür zieht McDowell Gareth Evans heran und zitiert seinen Einwand, dass doch am

Beispiel der Farberfahrung offensichtlich zu erkennen sei, dass Begriff und Anschauung nicht

zusammenfallen. Denn, so Evans, Anschauung sei weit “feinkörniger” als unsere Farbbegriffe.

Evans zufolge verfügen wir nämlich über eine weit differenziertere Fähigkeit zur

Farbdiskriminierung als über Farbausdrücke.26 Damit meint Evans wohl, dass unsere Farbbegriffe

gröber sind als unsere Farberfahrungen, d.h. wir weit mehr Farbnuancen diskriminieren können, als

wir benennen können.

Doch für McDowell ist gerade dieses vermeintliche Gegenbeispiel der These der Einheit von

Begriff und Anschauung ein Beleg dafür, dass wir Anschauungen nicht unabhängig von Begriffen

24 McDowell 2001, 3325 McDowell 2001, 7126 McDowell 2001, 81

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denken können. McDowell wirft die Gegenfrage auf: "[…] warum sollten wir annehmen, daß die

Fähigkeiten des begrifflichen Denkens einer Person im Fall der Farbwahrnehmung auf Begriffe

eingeschränkt ist, die sich mit den Worten 'rot' oder 'grün' und Wendungen wie 'gebranntes Siena'

ausdrücken lassen?”27 Für McDowell ist nicht das Farbwort der Begriff, sondern vielmehr ist dieses

als Zeichen zu verstehen, welches dem eigentlichen Farbbegriff angehängt ist. M.a.W. sind “rot”

und “grün” benannte Begriffe, nicht jedoch Begriffe als solche. Unbenannte Begriffe dagegen sind

jene, derer wir unmittelbar gewahr sind, jedoch keine gemeinsame Sprache kennen, sie zu

bezeichnen. Und selbst diese unbenannten Begriffe können nach McDowell mit einer sprachlichen

Äußerung versehen werden: “[…] indem wir eine Wendung wie 'diese Tönung' äußern, wobei sich

das Demonstrativum der Gegenwart des Musters bedient."28 Damit ist für McDowell das Argument

der Feinkörnigkeit keine Bedrohung der These der Begrifflichkeit von Erfahrung.

Der Begriff ist für McDowell die Fähigkeit, ein inneres Beispiel, etwa eines Farbtons, zu

gewahren.29 Sprachliche Ausdrücke benennen dieses innere konstante Bild erst. Sofern ein

Bewusstsein in seinem Erfahrungsstrom, wir wir es nennen wollen, “Ganzheiten” oder “Sinninseln”

gewahren kann, ist es zu Begriffsbildung fähig. Damit ist jedoch schon angedeutet, dass Begriffe

womöglich nicht erst im Denken wirksam werden, sondern bereits im Musterbeispiel des

Vorbegrifflichen, der sinnlichen Erfahrung, tätig sind. Zumindest im Fall des menschlichen

Bewusstseins scheinen Anschauungen immer schon begrifflich strukturiert zu sein und der Mythos

des Gegebenen, der behauptet, Erfahrung liege in Form vorbegrifflicher Empfänglichkeit vor,

scheint unhaltbar. Wann immer ein menschliches Bewusstsein eine Erfahrung als bestimmte

Erfahrung diskriminiert, fasst es schon einen Begriff der Erfahrung. Und ob vor aller

Verbegrifflichung, wie etwa im Fall von Tieren, überhaupt von Erfahrung die Rede sein kann, stellt

McDowell generell in Frage.30

V. Die Spontaneität im Begriff

Bisher diskutierten wir Begriffe lediglich unter der Hinsicht des Gewahrwerdens eines

inneren konstanten Eindrucks. Im obigen Beispiel war der Eindruck eine Farberfahrung, dies ließe

sich jedoch auch ausdehnen auf andere Sinnesmodalitäten, und wir stellen in den Raum, dass

McDowell nicht widersprechen würde, Begriffe auch auf Stimmungen anzuwenden. Diese

27 McDowell 2001, 8128 McDowell 2001, 8129 McDowell 2001, 8330 McDowell 2001, 143

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Definition von Begriff als, in unserer Terminologie, die Fähigkeit, ein “frei stehendes” inneres Bild

zu gewahren, einen “frei stehenden” multisensorischen Eindruck, ist auch in der Entwicklungs-

psychologie zu finden, kein grundsätzlich neuer Schachzug auf Seiten McDowells.31

Neben dem Gewahrensmoment, der Fähigkeit im Begriff der Erfahrungsstrom anzuhalten und

zu gewahren, liegt für McDowell darin auch die Fähigkeit die Erscheinung als eine Erscheinung

von etwas aufzufassen. Im Begriff wird m.a.W. nicht nur die Erscheinung selbst identifiziert,

sondern zudem auch ein der die Erscheinung begleitende Gegenstand in der Welt. Bewusstsein kann

sich nicht frei entscheiden, wie ihm Anschauungen “erscheinen.” Diese sind zwar begrifflich

durchwirkt, wie am obigen Beispiel der Farberfahrung, doch heißt dies nicht, dass es aktiv Einfluss

nehmen könnte, auf die Form der Erscheinung. Anschauung bleibt für McDowell, insofern sie uns

tatsächlich passiv, durchaus gegeben, ein Moment der Rezeptivität. Zudem ist ihr jedoch auch ein

Moment der Spontaneität inne, insofern wir in der Anschauung oder Erfahrung durchaus in Frage

stellen können, ob der Gegenstand in der Welt, auf den sich Erscheinung bezieht, tatsächlich auch

so ist, wie er erscheint: „Es muß zumindest möglich sein, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob

man urteilen oder nicht urteilen sollte, daß die Dinge so sind, wie sie die Erfahrung darstellt. Wie

die Erfahrung einer Person die Dinge repräsentiert, liegt außerhalb ihres Einflusses, aber es hängt

von ihr selbst ab, ob sie den Schein akzeptiert oder ablehnt.“32

Begriff ist somit für McDowell zugleich spontan und rezeptiv. Der Begriff der Rezeptivität

versucht den positiven Gehalt des Mythos des Gegebenen, einer zentralen Annahme des

unverblümten Naturalismus, zu bewahren. McDowell negiert den Empirismus damit nicht

schlechthin. Auch für McDowell ist Rezeptivität durch den Einfluss von Welt “natürlich”

verursacht und kann uns damit die notwendige “friction” liefern, um Urteile über Welt fällen zu

können. Weil jedoch in Erfahrung zugleich Rezeptivität und Spontaneität tätig sind, d.h.

Erfahrungen innerhalb des Raums der Gründe liegen, können sie als Begründungen für Urteile

dienen: „Wenn wir nach dem Grund für ein Erfahrungsurteil fragen, dann führt uns der letzte Schritt

auf Erfahrungen. Erfahrungen verfügen bereits über begrifflichen Inhalt, daher führt uns dieser

letzte Schritt nicht aus dem Raum der Begriffe hinaus. Er führt uns jedoch auf etwas, worin die

Sinnlichkeit – Rezeptivität – tätig ist.“33

Wie ist dies jedoch genau zu verstehen? McDowell scheint damit sagen zu wollen, dass erst

im Schritt der vernünftigen Auslegung von Erfahrung gerechtfertigte Urteile über Welt formuliert

31 vgl. z.B. Greenspan 2007, 3432 McDowell 2001, 3533 McDowell 2001, 34

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werden. Erst wenn Bewusstsein auf vernünftige Weise darüber entschieden hat, ob es hinnehmen

will, wie ihm etwas erscheint, oder ablehnen will, wie ihm etwas erscheint, kann von einem

gerechtfertigten Urteil über Welt gesprochen werden. Damit ist Urteilsbildung für McDowell zwar

auf Rezeptivität angewiesen, hierhin stimmt er dem unverblümten Naturalismus zu, andererseits

jedoch ist Rezeptivität alleine noch keine Rechtfertigung für Meinungen, sondern wird es erst im

Akt der Vernunftausübung und Annahme - oder Zurückweisung - von Erfahrung. Zu unserer Natur

als Menschen, so McDowell, gehört sowohl das Moment der Rezeptivität, der Raum der Natur, als

auch die Spontaneität, der Raum der Gründe. Doch fasst McDowell den Raum der Gründe als über

den Raum der Natur ausgedehnt auf.

Die Frage die ungeklärt bleibt jedoch, ist, auf welcher Grundlage von einer vernünftigen oder

unvernünftigen Zurückweisung von Erfahrung die Rede sein kann. Wenn nicht Erfahrung allein die

Vernünftigkeit eines Urteils ausmacht, sondern Erfahrung lediglich eine Quelle der Urteilsbildung

darstellt, ist von uns zu klären, was die andere Quelle der Urteilsbildung, die eigentliche

Vernunftausübung, ist.

VI. Tradition als Quelle der Vernunft

In Rekurs auf Aristoteles und u.a. Gadamer versucht McDowell zu klären, wie die Quelle der

Vernunft als Grundlage gerechtfertigter Urteile verstanden werden kann. Als negative Annäherung

sei von uns festgehalten, dass McDowell gerade diese Quelle der Vernunft den Tieren abspricht.34

D.h. Tiere haben McDowell zufolge nur eine erste Natur, Rezeptivität, jedoch keine Spontaneität.

"Stumme Tiere sind natürliche [Hervorhebung M.S.] Wesen - mehr nicht. Ihr Sein ist völlig in die

Natur [Hervorhebung M.S.] versenkt und ihre sinnlichen Interaktionen mit der Umgebung sind in

erster Linie natürliche [Hervorhebung M.S.] Vorgänge."35 McDowell stützt diese Unterstellung mit

der Beobachtung, dass Tieren eine Sprache fehlt.

Indem Tieren Sprache fehlt, so McDowell, fehlt ihnen auch die Möglichkeit sich von ihrer

“natürlichen” Erfahrung gewahrend zu distanzieren. Wölfe sind deshalb nicht vernunftfähig, weil

ihnen grundsätzlich nicht in den Sinn käme, ihre “natürlichen” Erfahrungen in Frage zu stellen. Ein

sprachfähiger Wolf dagegen, wäre nach McDowell wohl fähig, aus seiner Erfahrung

“herauszutreten” und zu fragen, warum er etwas glauben oder tun sollte.36 Vernunft auf der anderen

34 McDowell 2001, 8935 McDowell 2001, 9536 McDowell 1998, 171

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Hand, so McDowell, verpflichtet uns geradezu, uns in Distanz zu unserer Erfahrung zu begeben.37

Was aber an der Sprache ist es, das uns zu einer Distanzierung gegenüber der Erfahrung

verhilft? McDowell klärt diese Frage nicht. Doch auch wenn wir die distanzbildende Funktion von

Sprache einfach unterstellen, fehlt uns immernoch das “Vernünftige” an dieser Distanzhaltung

gegenüber der Erfahrung. Denn eine bloße Distanz zur Erfahrung ist noch nicht eine vernünftige

Urteilsbildung, sondern gerade der Zustand vor aller vernünftigen Urteilsbildung. Skepsis - im

Sinne des Fragens nach der Legitimität einer Erfahrung - kann m.a.W. verstanden werden als

notwendige Voraussetzung für vernünftige Urteilsbildung, doch ist mit ihr die vernünftige

Urteilsbildung selbst noch nicht vollzogen.

Während die Sprache eine Distanzierung zur Erfahrung hin ermöglicht, ist es die Tradition,

die für McDowell die eigentliche zweite Quelle der Vernunftausübung darstellt. In Rekurs auf

Aristoteles, versucht er zu zeigen, dass was Aristoteles zufolge für das ethisch geglückte Leben gilt,

ebenso auch auf die Urteilsbildung über Welt selbst angewandt werden kann.

McDowell zufolge beruht für Aristoteles das tugendhafte Handeln nicht auf einer infalliblen,

klaren und deutlichen Erkenntnis des Tugendhaften, sondern vielmehr auf der praktischen Vernunft,

in einer jeweiligen Situation unmittelbar aus der Situation heraus erkennen zu können, was zu tun

notwendig sei, was uns die Situation zu tun aufruft. Der tugendhafte Charakter hat nach Aristoteles

sittliche Einsicht, ist empfänglich geworden für die Forderungen der Vernunft.38 Tugend ist für

Aristoteles demnach nicht zeitloses Wissen, sondern vielmehr “[…] an ability to recognize

requirements that situations impose on one's behaviour.”39 Diese rationalen Forderungen, die an die

Vernunft gestellt werden, existieren unabhängig davon, ob sie zur Kenntnis genommen werden oder

nicht. Wenn wir jedoch recht erzogen werden, “[…] werden [wir] auf diese Forderungen

aufmerksam, indem wir die geeigneten begrifflichen Fähigkeiten erwerben. Wenn uns eine

gediegene Erziehung auf den rechten Weg des Denkens bringt, dann sind unsere Augen offen für

die Existenz dieses Gebiets im Raum der Gründe. Danach ist unser Verständnis für diesen Raum

einer beständigen Verfeinerung unterworfen, und zwar entweder in Form von reflektierender

Prüfung oder in Form von ethischem Denken."40 Damit entspringt tugendhaftes Handeln für

Aristoteles nicht aus einem der Situation unabhängigen Regelwerk, welches auf die partikuläre

Situation angewandt würde und als Wahrheitsgarant dienen könnte, sondern aus der gelungenen

Erziehung.

37 McDowell 1998, 17238 McDowell 2001, 10439 McDowell 1998, 5340 McDowell 2001, 107

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Wenn der praktische Intellekt durch die Erziehung in eine bestimmte Form gegossen wird,

entsteht die Zweite Natur im Menschen.41 Diese zweite Natur schwebt jedoch nicht über den

Möglichkeiten der ersten Natur frei herum, sondern erhält über die Rezeptivität “Bodenhaftung.”42

Diese Bodenhaftung ist für McDowell auch ausreichend, um den Naturwissenschaften und nicht nur

dem ethischen Handeln genüge zu tun.43 Den Menschen, so McDowell, müssen wir als Tier

verstehen, dessen Natur von Rationalität durchsetzt ist.44 D.h. zur menschlichen Natur gehört von

Beginn schon, wie Wittgenstein sagt, das Erzählen, Fragen, Plauschen,45 d.h. die natürliche Weise

zu sein ist beim Menschen schon durch Bedeutung geformt.46 Erziehung selbst lehrt uns unsere

Erfahrungen “vernünftig” oder “rational” zu deuten und Vernunft ist nicht außerhalb dieser

geschichtlichen Bewusstseinsbildung zu finden.

Die Erziehung als Quelle der Vernunft lässt sich nicht auf Regelbefolgung herunterbrechen,

d.h. was in der Erziehung geschieht ist grundsätzlich nicht zu verstehen als eine Schau zeitloser

Prinzipien: “In moral upbringing what one learns is not to behave in conformity with rules of

conduct, but to see situations in a special light, as constituting reasons for acting; this perceptual

capacity, once acquired, can be exercised in complex novel circumstances, not necessarily capable

of being foreseen and legislated for by a codifier of the conduct required by virtue, however wise

and thoughtful he might be.”47

Wie dies, dass die Erziehung für die Forderung der Vernunft empfänglich machen kann,

genauer verstanden werden könnte, wollen wir im nächsten Kapitel zu rekonstruieren versuchen.

Leider begnügt sich McDowell an dieser Stelle mit bloßen Anspielungen und führt gerade diesen

zentralen Teil seiner Epistemologie nicht aus. Wir werden uns auf seine Andeutungen berufen und

mit dem von ihm zitierten Gadamer und der deutschen Bildungstradition zu rekonstruieren

versuchen, inwiefern Erziehung - womöglich entgegen unserer ersten Assoziation mit diesem

Begriff, in welcher wir den Begriff als Autoritätsglaube verstehen könnten - gerade als die zweite

Quelle der Vernunft verstanden werden kann, neben der Erfahrung.

Die Berufung auf die Erziehung kann den Wunsch nach Infallibilität weder bezogen auf

ethische, noch auf erkenntnistheoretische Fragen garantieren.48 Doch ist für McDowell gerade der

41 McDowell 2001, 20942 McDowell 2001, 11043 McDowell 2001, 11044 McDowell 2001, 11145 McDowell 2001, 12146 McDowell 2001, 12247 McDowell 1998, 8548 McDowell 2001, 140

14

Page 15: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Versuch gegenstandstheoretisches und ethisches Wissen auf Infallibilität zu gründen von vornherein

verfehlt. Eben weil es keine Garantie gibt, dass die Welt sich innerhalb der Reichweite eines

Systems der Begriffe befindet, gilt es nach McDowell nachzudenken.49 Und ebensowenig wie wir in

Bezug auf Fragen nach dem Guten zu einem Ende allen Fragens gelangen, will McDowell auch

gerade den Gedanken eines Endes der Forschung vermeiden.50

Mit den bisher dargelegten zwei Schritten, in denen McDowell einerseits Anschauung oder

Erfahrung als durch Begriffe durchsetzte verstehen wollte und zudem Erfahrung an lebensweltlicher

Sozialisation hin auf ihre Implikationen für unser ethisches Handeln oder Urteilen über Welt geprüft

wird, versucht McDowell Vernunft und Natur zu versöhnen.51 McDowell selbst beschreibt diese

Position als “naturalisierten Platonismus,” dem zufolge es durchaus Vorschriften der Vernunft gibt,

etwas, wonach sich diese richten kann, doch sind diese eine Folge richtiger Erziehung und nicht

unabhängig von Sozialisation.52 In diesem Platonismus sind wir durchaus fähig, und hier beruft sich

McDowell auf Gadamer, uns “[…] über den Andrang des von der Welt her Begegnenden [zu]

erheben.”53 Entgegen dem Tiere ist dem Menschen ein freies, distanziertes Verhalten möglich.54

Doch meint das nicht eine Unabhängigkeit von der Biologie, was ein “zügelloser Platonismus”

wäre, denn diese wird im Augenblick der Übernahme der Verantwortung für unser Leben nicht

schlechthin transzendiert.55

49 McDowell 2001, 6550 McDowell 2001, 6551 McDowell 2001, 11152 McDowell 2001, 11853 Wahrheit und Methode 448, zitiert in McDowell 2001, 14354 McDowell 2001, 14355 McDowell 2001, 143

15

Page 16: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

II. Bildung als dritte Natur des Geistes

I. Das Vorurteil gegenüber dem Vorurteil

In diesem Kapitel wollen wir uns um eine Rekonstruktion von McDowells Begriff der

zweiten Natur bemühen, die zugleich eine Rekonstruktion seines Bildungsbegriffs ist.56 Gadamer,

auf den sich McDowell ausdrücklich bezieht, fasst den Bildungsbegriff in seiner Nähe zum

Kulturbegriff: “Bildung gehört […] aufs engste mit dem Begriff der Kultur zusammen und

bezeichnet zunächst die eigentümlich menschliche Weise, seine natürlichen Anlagen und Vermögen

auszubilden.”57 Seine Ausbildung erfährt der Begriff zwischen Kant und Hegel, wobei erst letzterer

ihn verwendet. “Bilden” oder “Sichbilden” meint bei Hegel wie bei Kant eine Verantwortung

gegenüber den eigenen Anlagen und Vermögen zu übernehmen. Zudem enthält der Begriff ein

normatives Moment aus der christlich-mystischen Tradition, welches die Bildung als Gott-ähnlich-

Werdung des Menschen versteht, d.h. dem Bildnis Gottes ähnlich zu werden.58 Die Bildung verhilft

dem Menschen dazu, seine vernünftige Seite zu bilden, welche in ihm von Natur, d.h. in der

Unmittelbarkeit seiner Begierden, noch nicht entfaltet ist.59 Hegel sieht Bildung nach Gadamer

gerade als den Schritt der Distanzierung vom partikulären Bedürfnis hin zum Allgemeinen. Durch

Bildung lernt der Mensch in der Abstraktion Abstand zu gewinnen von seinem besonderen

Bedürfnis und sich “allgemein” zu machen.60 Das erinnert an McDowells Ausführungen zur

Fähigkeit des Menschen sich durch Sprache in eine Distanz zu seinen Erfahrungen zu begeben.

Diese Allgemeinheit jedoch darf nicht verwechselt werden mit dem ahistorischen

Allgemeinheitsanspruch der Naturwissenschaften, so Gadamer. In den Naturwissenschaften gilt es -

und McDowell würde wohl zustimmen -, durch das zeitlos wiederholbare Experiment die

Partikularität der jeweiligen Situation abzulegen.61 Es gilt durch eine allgemein nachvollziehbare

Versuchsanordnung zu schaffen, die durch Fachkundige repliziert werden kann und die selben

Daten gefunden werden. Der Bildungsbegriff meint jedoch nicht in diesem Sinne Allgemeinheit,

d.h. Erfahrungsunabhängigkeit, sondern im Gegenteil, Allgemeines in der Erfahrung.

Erfahrung ist für Gadamer grundsätzlich nicht situationsunabhängig, sondern an die jeweilige

Deutung und Erfahrungssituation gebunden. Er versteht die Erlebniseinheit als eine Sinn- oder

56 McDowell 2001, 11057 Gadamer 1999, 7/858 Gadamer 1999, 7/859 Gadamer 1999, 8/960 Gadamer 1999, 9/1061 Gadamer 1999, 329/330

16

Page 17: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Deutungseinheit,62 die nur vor dem Hintergrund des jeweiligen Lebensvollzugs63 ihren Sinn erhält.

Diesen Lebensvollzug zu bewahren sieht Gadamer als Aufgabe von Bildung. D.h. Bildung hat für

ihn eine bewahrende und geschichtliche Funktion, woran einer und wodurch er gebildet wird,

bewahrt er. Diesen bewahrenden Charakter von Bildung sieht Gadamer auch in den

Geisteswissenschaften, die sich nicht um zeitlose sondern historische Wahrheiten bemühen.64 Es gilt

für ihn also nicht, Bildung als einen Versuch zu sehen, aus der Partikularität von Erfahrung

grundsätzlich herauszutreten und Erfahrung an einem zeitlosen Maßstab zu messen. Selbst

Descartes in der Aufklärungstradition, dem er das Vorurteil gegenüber den Vorurteilen vorwirft,

oder m.a.W. das Vorurteil gegenüber der Tradition,65 hat nach Gadamer nicht alle Lebensbereiche

versucht aus einer Vorurteilslosigkeit heraus zu rekonstruieren, sondern seine provisorische Moral

formuliert, und nicht auf die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaft hierfür gewartet.66

Entgegen der Bemühung der Aufklärung, auf Vorurteile und nach Möglichkeit auf die

partikuläre Geschichtlichkeit der eigenen Erfahrung zu verzichten, versucht Gadamer eine

Rehabilitierung des Vorurteils und zu zeigen, dass Vorurteile gerade konstitutiv sind für Erfahrung,

ebenso wie Autorität auch durchaus eine Wahrheitsquelle sein kann und nicht notwendig, wie die

Aufklärung annahm, im Gegensatz zum Gebrauch der eigenen Vernunft stehen muss.67 Autorität im

Sinne dessen, sich als Sachkundiger zu behaupten, muss nach Gadamer erst erworben werden und

das ist eine Handlung der Vernunft selbst.68 Erst die Romantik konnte nach Gadamer dieses

Vorurteil gegenüber dem Vorurteil berichtigen und zeigen, dass Tradition nicht im Widerspruch zur

Vernunft steht.69 Hierin sieht Gadamer eine Ähnlichkeit zur Antiken Ethik etwa des Aristoteles, mit

dem wir unsere Diskussion der zweiten Natur begonnen hatten, der ebenso darauf bestand, dass

tugendhaftes Handeln nicht unabhängig von einer Tradition entfaltet werden könne.70

II. Inwiefern ist Vorurteil für Erfahrung konstitutiv?

Bisher stellten wir mit Gadamer in den Raum, dass für seinen Bildungsbegriff

Geschichtlichkeit, Tradition oder Vorurteil ebenso konstitutiv sind, wie für die

62 Gadamer 1999, 61/6263 Gadamer 1999, 63/6464 Gadamer 1999, 8/965 Gadamer 1999, 254/25566 Gadamer 1999, 262/26367 Gadamer 1999, 262/26268 Gadamer 1999, 262/26369 Gadamer 1999, 264/26570 Gadamer 1999, 264/265; 295/296

17

Page 18: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Geisteswissenschaften, die sich um eine Rekonstruktion des Geistes als historisch gewordenen

bemühen. Doch wie ist das genau zu verstehen? Bisher stellten wir nur in den Raum, dass Bildung

sowohl für McDowell als auch für Gadamer mit einem vernünftigen Umgang mit Erfahrung zu tun

hat. Erfahrung nannte McDowell auch Anschauung, und ihm zufolge läge die Aufgabe der Bildung

und Erziehung darin, uns dafür empfänglich zu machen, unsere Erfahrung je nach Situation zu

bejahen oder nicht. Ähnlich die Überlegung Gadamers, der Bildung in Anlehnung an Hegel als die

Fähigkeit der Abstandnahme von der unmittelbaren Erfahrung auffasste und dies als Moment des

sich-allgemein-Machens verstand, jedoch, wie wir klärten, nicht in einem grundsätzlich

erfahrungsunabhängigen Sinne. Offen blieb aber was das Maß sein soll, nach dem wir Erfahrung

entweder bejahen oder verneinen. Bevor wir uns dieser zentralen Frage zuwenden, wollen wir kurz

näher auf Gadamers Erfahrungsbegriff eingehen, der weiter reicht, als der in Bezug auf Kant von

McDowell explizierte.

“Der Begriff der Erfahrung scheint mir - so paradox es klingt - zu den unaufgeklärtesten

Begriffen zu gehören, die wir besitzen.”71 Damit beginnt Gadamer seine Ausführungen zu seinem

Erfahrungsbegriff und deutet an, dass seine Konzeption von gängigen Auffassungen abweichen

wird. Die Naturwissenschaften, ebenso wie die historisch-kritischen Geisteswissenschaften, so

Gadamer, haben gemeinsam, dass sie nach Objektivität suchen, indem sie die Geschichtlichkeit von

Erfahrung versuchen durch Experiment zu untergraben.72 Erfahrung ist jedoch für Gadamer, der

sich damit Husserl anschließt, notwendig auf bisher Erfahrenes angewiesen. Erfahrungen stehen

immer schon in einem Erfahrungshorizont, d.h. vor einem Erfahrungshintergrund, der zugleich in

die Vergangenheit als auch in die Zukunft reicht. Gadamer lehnt damit eine Konzeption von

Erfahrung in Form atomarer Bewusstseinsinhalte ab. Gadamer-Schüler Günther Buck bringt dies

auf den Punkt: "Es gibt nicht zuerst atomare Sinneseindrücke, die dann irgendwie zu

Verstehenseinheiten zusammengesetzt würden. Vielmehr ist Verstehen das Primäre, auf Grund

wovon jede Kenntnisnahme von Momenten als Momenten einer und derselben Sache bzw. eines

Sachzusammenhanges erst möglich wird und auf Grund wovon wir Künftiges, das sich aktual noch

nicht zeigt, als möglicherweise sich Zeigendes erwarten. Jede Kenntnisnahme - und das heißt: jede

aktuale Einzel-Erfahrung - geschieht von einem Vorverständnis her. Nur weil die Erfahrung an

jedem Punkt ihres Ganges prinzipiell über jede einzelne Kenntnisnahme bzw. über den

Gesamtbestand aktualer Kenntnisnahmen hinausgreift, diese transzendiert, kann sie über- | haupt

Einzelnes kennenlernen und von da aus weiter zu umfassenderen Erfahrungen fortschreiten, d.h.

71 Gadamer 1999, 329/33072 Gadamer 1999, 329/330

18

Page 19: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

einen Gang haben."73 Damit stellen sowohl Gadamer als auch Buck sich gegen einen

Erfahrungsatomismus, im Sinne klar voneinander ablösbarer Erfahrungen, die zu einem Ganzen

eines Lebenslaufs zusammengefügt werden. Vielmehr verstehen sie Erfahrung in Analogie zum

hermeneutischen Zirkel als Ganzes und Teil zugleich. Der Ganzheit des zu interpretierenden

entspricht dabei der oben angesprochene Bewusstseinshorizont, dem Teil dagegen der Fokus des

Bewusstseins auf einen unter bestimmter Hinsicht in den Blick genommenen Bewusstseinsinhalt.

Bewusstseinsinhalte jedoch, was bei McDowell noch als Anschauung bezeichnet wurde, existieren

nur vor dem Hintergrund des Erfahrungshorizontes.

Der Horizontbegriff der Erfahrung, auf den sich sowohl Gadamer als auch Buck berufen,

legen sie folgend aus: "[…] alles, was wir als Neues zur Kenntnis nehmen, ist Neues innerhalb einer

vorgängigen Vertrautheit, auf Grund deren uns das bisher Unbekannte immer auch schon bekannt

gewesen ist. Das Neue ist Neues im Umkreis einer gewissen Bekanntheit. Es ist relativ Neues; das

absolut Neue - informationstheoretisch gesprochen: die 'absolute Information' - wäre das absolut

Unerfahrbare, weil absolut Unverständliche."74 M.a.W. setzen Gadamer und Buck vor dem

Anfangspunkt aller Erfahrung wiederum Erfahrung an. Jede Erfahrung existiert nur vor dem

Hintergrund anderer Erfahrung, deren Vorgriff sie ist. Jedes Erfahrungsmoment, im Sinne eines

Bewussthabens, greift vor in zukünftige Erfahrungen und nimmt sie vorweg. D.h. "[…] jeder

Horizont ist ein Erwartungshorizont für noch ausstehende Erfahrungen!"75

Diesen Erwartungshorizont nennt Gadamer auch das Vorurteil. Vor jeder Erfahrung steht

immer schon (bestimmtes) Vorurteil darüber, was uns in der Erfahrungssituation begegnen wird.

Buck zitiert hierbei Husserls Beispiel des Gewahrens eines Gegenstandes, dessen Rückseite wir

nicht wahrnehmen können. Nichtsdestotrotz haben wir eine (bestimmte) Vorwegnahme, dass wenn

uns die Rückseite auch nicht bekannt sein mag, sie uns dennoch nicht völlig fremd ist, sondern

wohl, als Seite eines Gegenstandes, eine Farbe haben sollte.76 Auf jeden Fall verfügen wir über eine

Hinsicht, sei sie auch noch so vage, darüber, als was uns das Unbekannte, in diesem Fall die

unbekannte Seite begegnen wird. Der weiteste Universalhorizont ist ein “[…] ‘erfahrbares

innerweltliches Seiendes’, der, als Horizont, keineswegs absolute Unbekanntheit bedeutet, sondern

von vornherein eine Bekanntheit wenigstens der Art stiftet, daß dasjenige, was uns affiziert,

überhaupt ein Etwas mit Bestimmungen ist, nach dem ich fragen kann hinsichtlich dessen, was es

73 Buck 1981, 88-8974 Buck 1981, 5075 Buck 1981, 5076 Buck 1981, 51

19

Page 20: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

ist."77

Erfahrung wird nach Gadamer und Buck gemacht, indem diese Vorgriffe bestätigt oder

enttäuscht werden. “Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem

Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen

haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen

eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine Täuschung, die durchschaut wird und

insofern eine Berichtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird. Es kann also

nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muß

so sein, daß man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher

zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt. Die Negation, kraft deren sie das leistet, ist

eine bestimmte Negation. Wir nennen diese Art der Erfahrung dialektisch.”78

In der Neagtion wird nach Gadamer und Buck nicht nur Erfahrung gemacht, sondern das

Bewusstsein zudem insofern auf sich selbst zurückgekehrt, als es sich in seinen eigenen Vorurteilen

zu fassen bekommt. Daher spricht er von dialektischer Erfahrung und beruft sich hierbei auf Hegel:

“Die Erfahrung hat nach Hegel die Struktur einer Umkehrung des Bewußtseins und deshalb ist sie

eine dialektische Bewegung.”79 Dies meint, dass in der Negation des Vorgriffs aller Erfahrung,

Erfahrung den eigenen Horizont selbst zum Gegenstand macht: “Der Erfahrende ist sich seiner

Erfahrung bewußt geworden - er ist ein Erfahrener. So hat er einen neuen Horizont gewonnen,

innerhalb dessen ihm etwas zur Erfahrung werden kann.”80

Bei Hegel mündet die dialektische Bewegung des Geistes - oder, mit Gadamer gesprochen,

der Erfahrung - im absoluten Wissen, in dem Bewusstsein und Gegenstand in Identität aufgehen.81

Für seinen Erfahrungsbegriff braucht Gadamer dagegen den Begriff absoluten Bewusstseins nicht.

Stattdessen beruft er sich auf das Ideal des “radikal Undogmatischen,” der um die Horizontstruktur

seiner Erfahrung weiß und als einer der “[…] so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen

gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen

zu lernen. Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden

Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt

wird.”82 Damit ist für Gadamer Erfahrung gerade nicht absolut und frei von Geschichtlichkeit

77 Buck 1981, 9078 Gadamer 1999, 335/33679 Gadamer 1999, 336/33780 Gadamer 1999, 335/33681 Gadamer 1999, 337/33882 Gadamer 1999, 337/338

20

Page 21: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

sondern: “Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt

wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine

Grenze.”83 D.h. “Eigentliche Erfahrung ist [...] Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit.”84

Gadamer und Buck zufolge, das sollte nun deutlich geworden sein, sehen das positive

Moment des Vorurteils darin, dass es notwendige Voraussetzung aller Erfahrung ist. Damit meinen

sie jedoch nicht ein notwendiges Übel, sondern im Gegenteil, das Konstituens von Erfahrung ist

gerade ihre Endlichkeit und in dieser Endlichkeit auch der bestimmte Vorgriff, welcher enttäuscht

oder bestätigt wird.

III. Sozialisation

Buck versteht Wissenschaft als Handlung oder Praxis. Diese stellt eine bestimmte Weise dar,

mit Erfahrung umzugehen. M.a.W. wird in der Wissenschaft die Erfahrung einem

Rationalitätsmaßstab unterworfen, welcher sich vom Alltagsbewusstsein unterscheidet.

Wissenschaft selbst wird jedoch nicht anhand eines klaren Regelkanons erlernt, sondern vielmehr

anhand von “Pragmata” - Analogien, die uns mit Neuem vertraut machen, indem sie an unsere

bereits vorhandene Vorerfahrung anschließen -, die “eingeübt” werden müssen. “Die Welt der

Pragmata ist eine Welt, in der man sich an Beispielen orientiert, d.h. den Horizont des vertrauten im

Fortgang von Analogon zu Analogon ausfüllt und zugleich wandelt.”85 Der oben diskutierte

Erfahrungshorizont wird nach Buck m.a.W. in der Praxis der Wissenschaft transformiert.

Das Einüben der Praxis selbst jedoch anhand der Pragmata lässt sich nicht systematisieren:

“Alle Handlungs- und Verfahrensweisen [d.h. Pragmata, Anm. M.S.] sind hier nicht präzise

definiert und methodisiert, auch wenn sie durchaus ‘gekonnt’ sind. Jedes gekonnte Verfahren (jede

alltägliche, nicht durch Wissenschaft angeleitete ‘Technik’) und jede gekonnte ‘Kunst’ (etwa

handwerklicher Art) weist, bei aller Treffsicherheit, diese merkwürdige Unbestimmtheit und

Unbestimmbarkeit auf. Aus diesem Grund muß jedes Verfahren und jede ‘Kunst’ eingeübt werden -

eingeübt durch einen Spielraum von Variationen hindurch, der die Abwandlungsmöglichkeiten

eines Verfahrens vergegenwärtigt.”86 Eine ähnliche Formulierung fanden wir bei McDowell, der in

Rekurs auf Aristoteles darauf bestand, dass ethisches Handeln nicht als Anwendung eines

83 Gadamer 1999, 339/34084 Gadamer 1999, 339/34085 Buck 1989, 21486 Buck 1989, 214

21

Page 22: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Regelkanons verstanden werden kann.

Diesen Prozess der Einübung einer Praxis, welche zwar über Pragmata an den jeweiligen

Erfahrungshorizont ansetzt, diesen jedoch auch verändert, indem neue Rationalitätsprinzipien an die

Erfahrung herangetragen werden, wollen wir als „Sozialisation” oder „Erziehung“ bezeichnen.

Sozialisation, welche durch Erziehung geleistet wird, und Bildung, sind sowohl für Gadamer als

auch für Buck zwei unterschiedliche Prozesse. In der Sozialisation etwa in wissenschaftliche Praxis

oder andere Formen von Praxis, werden nicht einfach Tatsachen gelernt, sondern vielmehr, auf

welche Weise innerhalb der jeweiligen Praxis legitim mit Erfahrung umgegangen wird. Diese

Umgangsweise ist in der angewandten Ethik eine andere, als in der Theologie oder Physik.

Nichtsdestotrotz haben alle drei gemeinsam, dass sie einerseits über Pragmata eingeübt werden

müssen und implizit unterschiedlich mit Erfahrung umgehen, und diesen Umgang selbst nicht

eigens zum Thema ihres Tuns erheben.

IV. Bildung

Nach den bisherigen Ausführungen können wir nun mit Buck versuchen einen auf diesen

Grundlagen fußenden Bildungsbegriff zu formulieren. Bildung ist für Buck Aufdeckung

handlungsleitenden, latenten Sinns.87 Ihm zufolge sind unsere Handlungen (auch Wissenschaft als

Handlungssystem) teils selbstvergessen.88 "Handeln als Handeln ist nämlich immer Darstellung

seiner selbst, ist Darstellung eines in ihm leitenden Sinnes, der nicht notwendigerweise auch

bewußter, dem Handelnden gegenwärtiger Sinn ist."89 Unter “Sinn” scheint er dabei nicht die

verborgenen Motive einer Handlung zu meinen, im Sinne des Unbewusst-Gewordenen Freuds,90

sondern vielmehr die notwendig unbewussten Aspekte im Vollzug der Handlung. Buck könnte

damit meinen, dass wir im Moment der Erfahrung m.a.W. nicht der Bedingung der Möglichkeit von

Erfahrung bewusst sind, wir sind uns nicht dessen eigens bewusst, wie wir mit Erfahrung umgehen.

Auch im Moment der Handlung ist uns die Rahmung innerhalb deren Handlung stattfindet nicht

bewusst.

Bildungsprozesse sind für Buck hermeneutische Reflexionsprozesse, in denen sich

Bewusstsein dieses notwendig Unbewussten bewusst wird: “[…] Reflexion heißt hier Sich-seiner-

87 Buck 1981, 2688 Buck 1981, 22; 2889 Buck 1981, 2590 Buck 1981, 32

22

Page 23: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

Bewußtwerden, d.h. Sich-zu-sehen-Bekommen bei dem, womit man vorgängig schon befaßt ist.”91

Erfahrung wird dabei nicht einem außerhalb ihrer stehenden zeitlosen Maßstab in Dienste rationaler

Urteilsbildung unterworfen, sondern in dieser Handlungshermeneutik scheint es Buck um eine

Bewusstmachung der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu gehen. Darum versteht er

diese Handlungshermeneutik zugleich auch als Transzendentalphilosophie, welche die

handlungsleitenden Prinzipien zu ergründen hat.92 Ähnlich wie bei McDowell fehlen auch bei Buck

an dieser theoretisch zentralen Stelle anschauliche Beispiele, welche klären würden, wie er sich

derartige Prinzipien vorstellt. Doch vor dem Hintergrund der Ausführungen Gadamers zur

Bedeutung der Tradition für Erfahrung, welche Buck übernimmt, können wir annehmen, dass es

ihm um eine Bewusstmachung der Umgangsweise mit Erfahrung innerhalb einer sozialen Praxis

geht.

Auf dieser Deutung aufbauend wird auch folgende These Bucks leichter verständlich: ”Die

Vollendung der Bildung, die Gebildetheit des Gebildeten, besteht in Wahrheit darin, daß einer nicht

fertig und angekommen ist, sondern offen bleibt für neue Erfahrung und Selbsterfahrung."93

Bildung hat für Buck nicht die Funktion, die Erfahrung selbst einem überzeitlichen

Rationalitätsmaßstab zu unterwerfen, sondern vielmehr die soziale Praxis, jene Praxis, in die

Bewusstsein hineinsozialisiert wurde, bewusst zu machen. Diese Bewusstmachung befreit das

Bewusstsein und macht es frei für andere Formen des Umgangs mit Erfahrung, indem sie frei macht

für das Einüben anderer sozialer Praxis.

Wenn wir etwa die Praxis des Wissenschaft-Tuns heranziehen, besteht Sozialisation zunächst

in einem Einüben der Pragmata. Von Bildung wäre nach Buck jedoch erst dann die Rede, wenn die

soziale Praxis selbst eigens Thema des Bewusstseins würde, es sich m.a.W. bewusst würde, wie es

im Rahmen dieser Praxis mit Erfahrungen umgeht, was die Rationalitätsmaßstäbe sind, die in der

jeweiligen Praxis an Erfahrung herangetragen werden. D.h. "[e]s genügt zum Beispiel nicht, zum

Zweck der Bildung ein bestimmtes wissenschaftliches Geschäft, etwa Physik, zu treiben. Der

Handlungszusammenhang, den wir Physik nennen, muß als Handeln, wie alle anderen

Handlungszusammenhänge, wissenschaftliche und unmittelbar lebenspraktische, noch einmal

reflektiert und ausdrücklich gewußt werden."94

Diese Bewusstmachung relativiert nicht die Praxis als solche, nimmt nicht einen Standpunkt

ein, von dem her die Validität des in der Praxis Vollzogenen beurteilt werden könnte, doch sie

91 Buck 1981, 3592 Buck 1981, 4493 Buck 1981, 3594 Buck 1981, 23

23

Page 24: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

befreit das Bewusstsein insofern, als es frei werden kann für andere Praxis und zudem seinen

eigenen Rationalitätsmaßstab innerhalb einer Praxis zu sehen bekommt. M.a.W. wird damit ein

Bewusstsein der Unbefangenheit sowie, wie Buck formuliert, der radikal undogmatischen Haltung

entfaltet,95 was wohl meint, nicht die der jeweiligen Praxis gültigen Rationalitätsmaßstäbe

fallenzulassen, sondern in einem Bewusstsein der Notwendigkeit derartiger Vorurteile Raum zu

schaffen für andere Maßstäbe.

V. Bildung als “dritte Natur” des Menschen?

Der bisher in Anschluss an Gadamer und Buck von uns diskutierte Bildungsbegriff, der uns

McDowells Begriff der zweiten Natur näherbringen sollte, steht zu diesem in einer gewissen Nähe,

geht darüber jedoch hinaus. McDowell scheint mit seinem Begriff der zweiten Natur nicht über das,

was wir oben als Sozialisationsbegriff diskutierten, hinauszugehen. Denn im von ihm angeführten

Beispiel der Ethik des Aristoteles scheint es durchaus nicht notwendig, die in der jeweiligen

(ethischen) Praxis mitgängigen Prinzipien, nach denen Erfahrung einem Rationalitätsmaßstab

unterworfen wird, oder, um in McDowells Sprache zu bleiben, die Erfahrung empfänglich wird für

die in der jeweiligen Situation gültigen Vernunftansprüche, mitzureflektieren. M.a.W. scheint die

Ethik bei Aristoteles in ähnlicher Weise eine Form der Praxis, wie Buck oben die Wissenschaft

darstellte, als an Pragmata orientierter, und über Analogien an die Alltagserfahrung anschließende

Praxis, die jedoch sich selbst als Praxis nicht eigens thematisiert. Um etwa tugendhaft zu handeln,

muss die jeweilige Person genausowenig notwendig mitreflektieren, was die in der jeweiligen

Praxis mitgängigen notwendig unbewussten Aspekte sind, wie ein guter Physiker reflektieren muss,

wie genau er mit Erfahrungen umgeht. Für Pädagogen wäre dies in beiden Fällen eine durchaus

interessante Frage, nachdem diese sich explizit mit dem “Einüben” der jeweiligen Praxis

beschäftigen und fragen, welche Hindernisse das Einüben dem einen schwerer zu machen scheinen,

als dem anderen. Den Tugendhaften selbst jedoch ebenso wie den Wissenschaftler brauchen diese

indes nicht notwendig zu interessieren. Um m.a.W. für in der jeweiligen Praxis geltende Kriterien

des Umgangs mit Erfahrung empfänglich zu werden, muss man nicht notwendig gebildet sein, im

Sinne von Gadamer und Buck.

Was McDowell unter zweiter Natur versteht, könnte das Erlernen einer bestimmten sozialen

Praxis meinen. D.h. die zweite Natur des Menschen läge darin zu lernen, in sozialer Praxis in der

jeweiligen Situation “das Richtige” zu tun. Vor dieser Herausforderung stehen Tiere scheinbar

95 Buck 1981, 179

24

Page 25: Bachelorarbeit 'Die Dritte Natur Des Geistes' (WS2008)

tatsächlich nicht, sofern nicht nachgewiesen werden kann, dass auch sie Fürsorgepraktiken kennen,

in denen dem Nachwuchs beigebracht wird, wie etwas auf “richtige” Weise zu tun ist. Sie kennen

m.a.W. offenbar nicht die Frage, ob sie, wenn sie sich in bestimmten normativen Kontexten

befinden - in solchen also, in denen Erwartungen an sie gerichtet werden -, sie auf legitime Weise

den Handlungsaufrufen entsprechen können. Praxis, ob die Wissenschaft oder Ethik, ruft uns zum

im jeweiligen Kontext legitimen Handeln auf. Dieser Handlungsaufrufe Folge leisten zu können,

darin könnten wir die zweite Natur des Menschen identifizieren. Dies bleibt jedoch höchst

spekulativ, nachdem McDowell, wie eingangs schon erwähnt, an dieser Stelle leider keine

konkreten Beispiele und Ausführungen folgen lässt.

Das von Buck und Gadamer als “Bildung” Bezeichnete dagegen, könnten wir tentativ als

“dritte Natur” des Menschen bezeichnen. Tatsächlich ist diesen Autoren zufolge Bildung ja auch

etwas, das zusätzlich zur Sozialisation gefördert werden muss und nicht schon mit dieser geleistet

wäre. Neben der Sozialisationsbemühung, die nach den Ausführungen Bucks als ein Prozess des

Einübens verstanden werden kann, könnten wir Bildung als den Reflexionsprozess auf jenes

verstehen, das mit uns geschieht, während wir eine soziale Praxis einüben. Damit wird ein

Bewusstsein für die Grenzen einer sozialen Praxis geschaffen. Wie Buck oben schilderte, schafft

dies ein Freiheitsgefühl gegenüber der Praxis, der Gebildete wird frei für andere Formen der Praxis.

Keiner der diskutierten Autoren scheint sich für eine Privilegierung bestimmter Formen der Praxis

vor einer anderen einzusetzen, sie alle scheinen sich darin einig, dass ein Pluralismus im Umgang

mit Erfahrung unvermeidbar scheint und gerade der Rekurs auf ahistorische Bemühungen der

Naturwissenschaft, die mittels dem Experiment versuchen, hinter die Geschichtlichkeit der

Erfahrung zurückzutreten, nicht die einzige Möglichkeit des Umgangs mit Erfahrung ist und

anderen Formen der Praxis zumindest nicht unmittelbar, d.h. vor aller Praxis, vorgezogen werden

kann. Was bei McDowell jedoch, indem er beim Sozialisationsbegriff stehenbleibt, zu fehlen

scheint, ist die gerade mit Gadamer und Buck angesprochene Möglichkeit des reflexiven

Heraustretens-aus, Freiwerdens-von einer Praxis. Gerade dies kann den Autoren zufolge Bildung

jedoch leisten.

Vielleicht kann das bisher Diskutierte an einem Beispiel illustriert werden. Nachdem allen

drei Autoren jedoch gemeinsam ist, mit Beispielen zu sparen, dagegen jedoch hochabstrakte

Begriffe wie “Praxis” oder “Vernunft” zu verwenden, wollen wir nicht aus dem Blick verlieren,

dass es sich im Folgenden um ein eine spekulative Interpretation des von den Autoren Gemeinten

handelt und in dieser Form nicht von ihnen präsentiert wurde.

Angenommen wir stehen vor der Frage, ob es heute regnen werde. Uns stehen dabei zwei

25

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Formen von Praxis zur Verfügung, mittels welcher wir auf diese Frage über Welt eine Antwort

geben könnten. Die erste ist die vorwissenschaftliche Alltagspraxis, die andere dagegen die

wissenschaftliche Praxis der Wettervorhersage. Wenn wir in einer Alltagssituation nach dem Wetter

gefragt werden, reicht uns üblicher Weise ein kurzer Blick aus dem Fenster, um uns ein Urteil

bilden zu können. Aus der Erfahrung, Regen wahrzunehmen, schließen wir, dass Regen tatsächlich

auch der Fall sei. Dieser Schluss jedoch ist kein Unmittelbarer, sondern wurde von uns, wenn

McDowell, Gadamer und Buck recht haben, eingeübt und angelernt. Anders gesagt, wäre ja auch

denkbar, dass wir so einsozialisiert worden wären, dass uns das bloße aus-dem-Fenster-Blicken

gerade nicht als legitime Begründung für ein Urteil über die Verfasstheit von Welt aufgefasst würde.

Eine derartige Praxis ist etwa die wissenschaftliche Praxis der Wettervorhersage. Die bloße

Seherfahrung ist innerhalb dieser Praxis nicht mehr Hauptkriterium für legitime Urteilsbildung.

Dies jedoch heißt nicht, dass die Alltagspraxis illegitim gewesen sei, sondern, sofern wir die

Autoren nicht falsch interpretiert haben, scheint was als Rechtfertigung gilt an einen jeweiligen

Praxisbezug gebunden zu sein. Innerhalb des Alltags m.a.W. ist ein Schließen aus der bloßen

Seherfahrung durchaus legitimes Schließverfahren, ein Raten dagegen wäre es nicht. Angenommen

wir würden nicht einmal aus dem Fenster sehen, dann könnten wir selbst in der Alltagssituation

nicht darauf bestehen, verantwortungsvoll ein Urteil gebildet zu haben. Selbst im Alltag gelten

bestimmte Kriterien dafür, wie verantwortungsvoll mit Erfahrung umzugehen ist.

Diese Kriterien nun, dieser Rationalitätsmaßstab, kann den diskutierten Autoren zufolge nicht

von Außerhalb einer Praxis situationsunabhängig festgelegt werden. Vielmehr müssen wir den

Sprung in verschiedene Formen der Praxis hineinwagen, ohne über ein letztes, außerhalb ihrer

stehendes, Kriterium zu verfügen, welches ihre Legitimität garantieren könnte. Wir müssen sowohl

den Sprung in die Alltagspraxis als auch in die Praxis der Wissenschaft wagen, beide einüben. Die

Fallibilität der Aussage über das Wetter bleibt in beiden Praxen erhalten, wie uns McDowell

hinwies. Doch ist dies nicht Hindernis für die Möglichkeit gerechtfertigter Urteile. Diese sind

durchaus möglich, dann nämlich, wenn man den Rationalitätskriterien der jeweiligen Praxis gerecht

wird. Womöglich meint McDowell gerade dies, wenn er davon spricht, dass der Mensch mit Hilfe

seiner zweiten Natur über die Fähigkeit verfüge, Erfahrungen auch abzulehnen. Der Kriterium

dabei, was akzeptiert oder abgelehnt wird, geschieht nicht aus einem hinsichtslosen Standpunkt

heraus, sondern aus den Hinsichten, die eine bestimmte Praxis an Erfahrung heranträgt. So würde

etwa unter den Hinsichten der wissenschaftlichen Regenvorhersage die Alltagspraxis wohl

zurückgewiesen.

Bildung, die dritte Natur des Menschen, bestünde in diesem Beispiel erst darin, sich der

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jeweiligen Kriterien bewusst zu werden, welche die Praxis, in die man sich stellt, an die Erfahrung

heranträgt. Dies ist wie betont wurde kein Maßstab für diese Kriterien, sondern lediglich ein

Freiwerden-für andere Kriterien, andere Formen von Praxis. Es ist ein seiner-Bewusstwerden als

innerhalb einer Praxis stehend, deren Rationalitätskriterien wir zwar anwenden, jedoch nicht eigens

schon bewusst haben sondern erst in hermeneutischen Entwürfen “entwerfen” müssen. Was etwa

die Rationalitätskriterien in den obigen Beispielen sind, ist keineswegs schlechthin offensichtlich -

wenn auch die Beispiele so gewählt wurden, relativ offensichtliche Rationalitätskriterien zu

veranschaulichen -, vielmehr müssen diese erst gedeutet werden.

Der Gebildete würde Gadamer und Buck zufolge der Bedingung einer legitimen Aussage

innerhalb dieser Praxen eigens bewusst. D.h. er wüsste, was er tun müsste, um eine den Kriterien

der jeweiligen Praxis entsprechende legitime Aussage über das Wetter formulieren zu können. In

beiden Praxen muss erst interpretiert und offengelegt werden, was die geltenden Kriterien sind.

Zwar ist dies allen in einer Praxis stehenden und diese auch Beherrschenden, wie Buck sagt,

implizit immer schon möglich, die Kriterien zu erfüllen, zu “treffen,” doch muss das In-Sprache-

Heben dieser Kriterien selbst erst durch Reflexionsbemühung geleistet werden. Anstelle von

wahrheitsgarantierenden Gründen tritt in dieser Konzeption somit ein Bewusstsein um die

Rationalitätskriterien, die erfüllt werden müssen, sodass man innerhalb einer Praxis “Wissen” oder

legitime Aussagen verteidigen kann.

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Schluss

Unsere Hoffnung war, McDowells Begriff der zweiten Natur über einen Umweg in die

Bildungsphilosophie Gadamers und Bucks rekonstruieren zu können. Es galt für uns zu verstehen,

was McDowell mit der Vernunftfähigkeit des Menschen meint, welche seine Erfahrungen ob ihrer

Legitimität befragt. Um den Begriff der zweiten Natur besser in McDowells philosophischem

Gesamtprojekt lokalisieren zu können, begannen wir mit Ausführungen zu seiner Epistemologie.

Wir hielten fest, dass McDowell einerseits die Wahrheitsfähigkeit von Sätzen, d.h. die Identität von

Aussage und Welt, unterstellte. Wissen erforderte für McDowell jedoch neben der Wahrheit der

Aussage auch diese auf vernünftige Weise aus der Erfahrung geschlossen zu haben.

Die Verbindung zur Welt geschah für McDowell über die Erfahrung. Neben der

Wahrheitsfähigkeit von Urteilen über Welt unterstellte er auch, dass Erfahrung die notwendige

“friction” mit Welt leisten kann. An dieser Stelle jedoch, wie von Erfahrung auf vernünftige Weise

Urteile über Welt gebildet werden können, sah er eine philosophische Sackgasse. Denn das

Großprojekt des unverblümten Naturalismus war nach McDowell letztlich genauso unbefriedigend

wie das Gegenprogramm des Kohärentismus, sofern die Frage nach vernünftigen Urteilen über Welt

betroffen war. Der unverblümte Naturalismus beging nach McDowell einen naturalistischen

Fehlschluss, indem er unmittelbar von Erfahrung auf Welt schließen wollte und dabei den Mythos

des Gegebenen unterstellte, unterstellte, dass Erfahrung schlechthin gegeben und durch Welt

gewirkt sei. Die Schwierigkeit dieses Programms war, bloße Entschuldigungen von legitimen

Begründungen für Urteile über Welt zu unterscheiden. Davidsons Kohärentismus dagegen, während

er den Fehlschluss des Versuchs eines unmittelbaren Schlusses von Erfahrung auf ein Urteil über

Welt vermied, indem er als Begründungen für Meinungen nur andere Meinungen gelten ließ, konnte

nach McDowell nicht umhin, sich in einem ungeerdeten Idealismus zu verlieren.

Diesen beiden Programmen hielt McDowell seinen minimalen Empirismus entgegen, welcher

deren Schwierigkeit hätte umgehen sollen. Entgegen dem unverblümten Naturalismus, lehnte

McDowell den Mythos des Gegebenen ab und bestand darauf, dass alle Anschauung schon durch

Begriffe durchwirkt sei. Er veranschaulichte am Beispiel der bloßen Farbwahrnehmung, dass

bereits in dieser begriffliche Fähigkeiten insofern zum Tragen kämen, als dass eine bestimmte

Farberfahrung von einer anderen differenziert und ins Gewahrsein gebracht werde. Im

Gewahrwerden einer bestimmten Farberfahrung, so McDowell, ist bereits begriffliche Fähigkeit

am Werk, die er Tieren nicht unterstellt. Damit leugnet er nicht ihre Fähigkeit der

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Farbdiskrimination, sondern vielmehr ihre Fähigkeit eine bestimmte Farbe als bestimmte Farbe zu

identifizieren und etwa mittels Zeigegeste darauf zu verweisen. Sofern aber Erfahrung schon

begrifflich durchwirkt ist, so McDowell, könne sie als Begründung von Urteilen über Welt

herangezogen werden. Und gegenüber dem Kohärentismus Davidsons, sollte McDowells

Programm den Kontakt zur Welt über Erfahrung garantieren.

Der Begriff der zweiten Natur war in diesem Ansatz an jener Stelle von Bedeutung, wo es um

die vernünftige Weise des Umgangs mit Erfahrung ging. McDowells eigene Ausführungen dazu

beliefen sich auf einen Hinweis auf die Ethik des Aristoteles, in der gezeigt werde, dass im

ethischen Handeln insofern eine Vernunftfähigkeit zum Ausdruck komme, als man lerne, den

Erfordernissen der Situation gerecht zu werden. Ähnlich in Aussagen über Welt, so McDowell,

lerne das Individuum durch Erziehung und Sozialisation seine Erfahrungen auf vernünftige Weise

zu deuten.

Dieses Starkmachen von Tradition für die Entfaltung einer Vernunftfähigkeit führten wir in

Gadamer fort, über den Begriff des Horizontbewusstseins. Erfahrung, so Gadamer, sei nicht

atomistisch sondern immer schon als kontextualisiert in bestimmte Lebenspraxis zu verstehen und

stets auf bisher Erfahrenes sowie Vorweggenommenes angewiesen. Diese, wie wir es hier nennen

wollen, “Historizität” von Erfahrung, so Gadamer, sei nicht deren zu überwindende Schwäche,

sondern gerade für sie konstitutiv. In der Sozialisation, so führten wir mit Buck diesen Gedanken

weiter, würde dieses historische Horizontbewusstsein erweitert und mit neuen Formen von

Lebenspraxis konfrontiert, die eigens eingeübt werden müssen. Wir identifizierten in diesem Begriff

der Sozialisation McDowells Ausführungen zur zweiten Natur des Menschen. McDowell jedoch

schien Sozialisation mit Bildung gleichzusetzen, was weder bei Gadamer noch bei Buck so zu

finden ist.

Die Historizität des Bewusstseins selbst zum Thema des Bewusstseins zu erheben, die - mit

Buck gesprochen - notwendig unbewussten Aspekte der Erfahrung zu rekonstruieren, sich der

eigenen Vorgriffe bewusst zu werden sowie der Rationalitätsmaßstäbe, die in sozialer Praxis auf

Erfahrung angewandt werden, darin lag für Buck Bildung. Bildung hob sich damit emanzipatorisch

von Sozialisation ab, indem sie diese eigens zum Thema machte. Dieses emanzipatorische Moment,

so stellten wir in der Diskussion von McDowells Begriff der zweiten Natur fest, ist bei ihm nicht zu

finden. McDowell versucht zwar die Rolle der Tradition für den legitimen Umgang mit Erfahrung,

gegen ahistorische Ansätze, welche meinen Erfahrung aus einem zeitlosen Prinzip heraus befragen

zu können, zu retten. Doch schien er damit - insofern ihm der Begriff der, wie wir es tentativ

nannten, “dritten Natur” des Menschen fehlt - auch den positiven emanzipatorischen Charakter der

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Aufklärung zu verlieren. Doch weder Buck noch Gadamer96 wollen hinter die Aufklärung, im Sinne

der Kritik an der Tradition, zurück. Wir versuchten mit ihnen zu zeigen, dass Tradition im Sinne der

Praxis Rationalitätsmaßstäbe generiert, denen Erfahrung unterworfen wird und Bildung im Sinne

der Transparentmachung von Tradition wohl das stärkste emanzipatorische Moment gegenüber der

Tradition bleibt.

96 Gadamer 1999, 265/266

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Bibliographie

Buck, G. (1981). Hermeneutik und Bildung. München: Wilhelm Fink.

Buck, G. (1989). Lernen und Erfahrung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Gadamer, H. G. (1999). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (6.

Auflage). Tübingen: Mohr Siebeck.

Greenspan, S. I., & Shanker, S. G. (2007). Der erste Gedanke. Beltz.

McDowell, J. (1998). Mind, Value, and Reality. Cambridge: Harvard University Press.

McDowell, J. (2001). Geist und Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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