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BERGISCHE UNIVERSITÄT WUPPERTAL Doz e nt : Dr. Filippo Smerilli Se mest e r : WS 2013/14 Handout zur Ringvorl esung Sitzung: 06.11.2013 1 Barock 1. Wort- und Begriffsgeschichte Barock bezeichnet: die Kunst und Literatur des 17. Jh. die deutsche Literatur der Zeit zwischen ca. 1600 und 1720 der B. ist ein Teil der Frühen Neuzeit GHU %HJULII Ã%DURFNµ LVW HLQ 3URGXNW VSlWHUHU =HLW Etymologisch LVW Ã%DURFNµ ZDKUVFKHLQOLFK abgeleitet aus portug. barocco VFKUlJ XQUHJHOPlLJ ÃVFKLHIUXQGHµ %HVFKDIIHQKHLW YRQ 3HUOHQ pUlJHQG IU OLWHUDWXUZLVVHQVFKDIWOLFKH 9HUZHQGXQJ )ULW] 6WULFK Ä'HU O\ULVFKH StLO GHV -DKUKXQGHUWV³ in der Kunstgeschichte wird der Begriff lange abwertend gebraucht zur Bezeich- nung des Ä6FKZHOJHULVFKH[n], Üppige[n], Extreme[n] und Schwülstige[n]³ (vgl. Niefanger 2006: S. 11). 2. Geschichte Prägend für das Jahrhundert ist an erster Stelle ein Ereignis: x der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) x Bevölkerung Zentraleuropas wurde ein dieser Zeit ungefähr von 17 auf 10 Milli- onen dezimiert. B e zugst e xt : Andreas Gryphius (1616-1664): Ä7KUlQHQ GHV 9DWHUODQGHV $QQR ³ (1663). Gleichzeitig gilt das 17. Jh. als .RQVWLWXWLRQVSKDVH GHU Ã)UKHQ 1HX]HLWµ PLW ZLFKWLJHQ Neuerungen in: Politik: x Reform der Verwaltung, des Beamtenwesens nach frz. Vorbild Wissenschaft:

Barock - germanistik.uni-wuppertal.de¤cher/NDL... · BERGISCHE UNIVERSITÄT WUPPERTAL Dozent: Dr. Filippo Smerilli Semester: WS 2013/14 Handout zur Ringvorlesung Sitzung: 06.11.2013

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B E R G ISC H E UNI V E RSI T Ä T W UPPE R T A L Dozent: Dr. Filippo Smerilli Semester: WS 2013/14 Handout zur Ringvorlesung Sitzung: 06.11.2013

1

Barock

1. Wort- und Begriffsgeschichte

Barock bezeichnet:

die Kunst und Literatur des 17. Jh.

die deutsche Literatur der Zeit zwischen ca. 1600 und 1720

der B. ist ein Teil der Frühen Neuzeit

Etymologisch abgeleitet aus

portug. barocco

p

St

in der Kunstgeschichte wird der Begriff lange abwertend gebraucht zur Bezeich-

nung des [n], Üppige[n], Extreme[n] und Schwülstige[n] (vgl.

Niefanger 2006: S. 11).

2. Geschichte

Prägend für das Jahrhundert ist an erster Stelle ein Ereignis:

der Dreißigjährige Krieg (1618-1648)

Bevölkerung Zentraleuropas wurde ein dieser Zeit ungefähr von 17 auf 10 Milli-

onen dezimiert.

Bezugstext: Andreas Gryphius (1616-1664):

(1663).

Gleichzeitig gilt das 17. Jh. als

Neuerungen in:

Politik:

Reform der Verwaltung, des Beamtenwesens nach frz. Vorbild

Wissenschaft:

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Entdeckungen: Blutkreislauf, Teleskop, Mikroskop, Thermometer, Rechenma-

schine

Philosophie:

Rationalismus (René Descartes).

3. Politik und Gesellschaft

Deutschland ist im 17 Jh. kein einheitliches Staatengebilde, sondern nur ein Teil

des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen, das in eine Vielzahl klei-

ner Länder und Kleinstaaten mit anderen Verfassungen und Regierungsformen

zersplittert ist.

Es gibt allerdings bereits die Vorstellung einer gemeinsamen Kulturnation

Vorstellung treiben maßgeblich verschiedene Sprachgesellschaften voran.

Die Gesellschaft ist zu dieser Zeit nach einer ständischen Ordnung organisiert.

Die meisten Menschen leben auf dem Land (80-90 %), während selbst die größ-

ten Städte noch relativ klein sind (gegen Ende des 17. Jh. z.B. Berlin 50 000,

Dresden 40 000, Köln 40 000, Hamburg 70 000 und Wien 114 000 Einwohner).

Gesellschaft ist stark höfisch orientiert, Vorbildfunktion hat der Hof von Versail-

les unter Ludwig XIV. (1643-

4. Denkkategorien

Konfessionalismus

Denken ist geprägt durch den Streit zwischen den beiden großen christlichen

Konfessionen, der im Dreißigjährigen Krieg mündet.

Vor allem aber ist das gesamte b. Denken noch stark durch den christlichen

Glauben geprägt. Er bildet den Hintergrund für die Wert- und Moralvorstellun-

gen, für das gesamte Weltbild im B. jedenfalls bis zum Ende des Jahrhunderts.

Erst dann, mit dem Beginn der Aufklärung, verändert sich das allmählich.

vanitas-Gedanke

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wörtl.: Nichtigkeit, Vergeblichkeit, Eitelkeit. Alles Irdische ist in dem Sinne

ganz eitel, dass es endlich und vergänglich ist. Angesichts der Vergänglichkeit

alles Irdischen Ausrichtung auf das Leben im Jenseits.

Bezugstext: Andreas Gryphius (1616-1664): Es ist alles e (1663)

memento mori und carpe diem:

memento mori (wörtl.: gedenke des Todes)

carpe diem (wörtl.: ergreife den Tag)

verbindbar durch: media vita in morte sumus (wörtl.: mitten im Leben sind wir

im Tod).

Bezugstext: Robert Roberthin (1600-

5. Emblematik

E. bezeichnet eine stark konventionalisierte und normierte Kunstform der Frü-

hen Neuzeit.

Besonderheit: Verbindung von Text und Bild.

E. existiert bereits im 16. Jahrhundert, von besonderer Bedeutung für ihre Ent-

wicklung ist die Emblemsammlung von Andrea Alciati (1492-1555):

Emblematum Liber (1531).

Der zeitgenössische deutsche Name für das Emblem ist: Sinn- oder Sinnenbild.

Ein Emblem besteht aus drei Teilen: 1. inscriptio (Überschrift, auch Lemma,

Motto), 2. pictura ([Sinn]Bild, auch Icon, Imago), 3. subscriptio ([Sinn]Spruch,

erläuternder Text, Epigramm)

Beispielemblem: Daniel Cramer (1568- aus der

Emblemsammlung Emblemata sacra (1622) (vgl. Anhang).

Die drei Elemente eines E., inscriptio, pictura, subscriptio, müssen bei einer

Deutung immer miteinander verbunden werden.

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Ziel eines E.: Vermittlung einer bestimmten Lehre, z.B. eines bestimmten Glau-

benssatzes oder einer bestimmten Moral; meist in der subscriptio formuliert,

ergibt sich normalerweise nicht von selbst aus dem Bild.

subscriptio ist meist in Form eines Epigramms (gr.: In-, Aufschrift; dt.: Sinnge-

dicht; eine kurze pointiert formulierte Aussage in Versen, im Normalfall 2-4,

manchmal bis zu 8 Verse, verschiedene Versmaße sind möglich, z.B. der Ale-

xandriner oder das Distichon [= Hexameter + Pentameter]) versifiziert.

das Emblem zählt zum Genre des Lehrgedichts, die Besonderheit des E. besteht

in der beschriebenen dreiteiligen Text-Bild-Verbindung.

6. Barocke Literatur zwischen Rhetorik und Poetik.

Im 17 Jh. gilt die Dichtung gilt als gelehrte Dichtung und der Dichter als gelehr-

ter Dichter (poeta doctus).

Ohne rhetorische Bildung ist das Dichten zu dieser Zeit undenkbar.

Rhetorik ist Teil der septem artes liberales (der ).Die

septem artes liberales bestehen aus dem Trivium (sprachlich): Grammatik, Rhe-

torik, Dialektik und dem Quadrivium (mathematisch): Geometrie, Arithmetik,

Astronomie und Musik.

Wichtig sind zudem die b. Poetiken, d.h. die zeitgenössischen Dichtungstheo-

rien; diese regeln u.a. die Verwendung der rhetorischen Mittel in den literari-

schen Texten.

Rhetorik und Poetik bilden im B. eine untrennbare Verbindung.

Bezugszitat: Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658): Poetischer Trichter (1647-53)

Zwei wichtige rhetorische Prinzipien für die b. Literatur: Topik

(Fundstättenlehre, Lehre von den Gemeinplätzen) und argutia (Scharfsinn). Die

argutia ermöglicht die Erfindung neuer Variationen eigentlich stereotyper To-

poi. Dadurch wird die Literatur im B. teilweise eine Art Spiel mit Variationen

vorgegebener Bild-, Argumentations- und Denkmuster (den Topoi).

Die wichtigste b. Poetik stammt von

Martin Opitz (1597-1639): Buch von der deutschen Poeterey (1624).

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Zwei Punkte machen dieses Buch so wichtig:

Opitz fördert maßgeblich die Einführung der deutschen Sprache als Literatur-

sprache.

Er setzt in diesem Zusammenhang eine die deutschsprachige Dichtung der Fol-

gezeit prägende Versreform durch.

7. Die einzelnen Gattungen

Lyrik

Konsequenzen von Opitz Versreform für die deutschsprachige Lyrik d. B.:

Statt der Länge und Kürze der Silben wie in den antiken Sprachen unterscheidet

Opitz im Deutschen hohe (betonte) und niedrige (unbetonte) Silben; Kriterium

ist der gesprochene, der natürliche Wortakzent (= akzentuierendes Prinzip).

Opitz legte außerdem fest, dass auf dieser metrischen Grundlage ausschließlich

zwei Versfüße streng alternierend für die deutsche Sprache verwendet werden

sollen: Jambus und Trochäus.

Auf dieser Grundlage ist das beliebteste Versmaß im Barock der

Alexandriner (im Deutschen 12 oder 13-silbig, jambisch, mit Mittelzäsur, metri-

sches Schema: v - v - v - / v - v - v - (v) [v = Senkung; - = Hebung; / = Zäsur].

Bezugstext: Andreas Gryphius (1616-1664):

(1663)

Zur Lyrik allgemein:

Geistliche und weltliche Lyrik

Genres: Lehrgedichte, Lieder, Bukolik und Pastorallyrik, große Menge reiner

Gebrauchs- und Kasuallyrik in verschiedenen Gedichtformen

Themen: Glaubensdinge im engeren Sinne ebenso wie Liebe, Tod, Moral, Krieg,

Schönheit, Vergänglichkeit, Erotik u.v.m.

Die häufigste und wichtigste Gedichtform im B. ist das Sonett

vierstrophige Gedichtform

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zwei Quartette + zwei Terzette

Versmaß: im Barock oft 6-hebiger jambischer Alexandriner.

Bezugstext

Die wichtigsten rhetorischen Mittel in der barocken Lyrik:

Insistierende Nennung (z.B. durch Amplifikation)

Definition: die Erweiterung einer Aussage durch wiederholende und variierende Nen-

nung (= Amplifikation).

Bezugstext: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1617-1679):

(1695)

Häufung

Definition: die unstrukturierte, oft asyndetische Aufzählung von Elementen zu einem

bestimmten Stichwort.

Bezugstext: Quirinus Kuhlmann (1651-

(1671)

Antithetik

Definition: Die direkte Gegenüberstellung von gegensätzlichen Begriffen oder Gedan-

ken in einem Satz oder einer Satzfolge ohne logischen Widerspruch.

Bezugstext: Martin Opitz (1597-1639)

Wortspiel und Klangmalerei

Definition: Das W. ist eine Stilfigur, die mit ähnlichem Lautbild verschiedener Wörter

arbeitet und deren Bedeutungen einander annähert oder entgegensetzt (vgl. Burdorf u.a.

[Hg.] 2007: S. 834).

Definition: Bei der K. geht es um die Erzeugung von Klangeffekten, entweder durch

klangliche Ähnlichkeit der Wörter (Assonanz) oder durch Lautnachahmung von Geräu-

schen (Onomatopoeie).

Bezugstext: Georg Philipp Harsdörffer (1607-

(1650)

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Drama

I. Konfessionell gebundenes Drama

Ordensdrama (Jesuitendrama, Benediktinerdrama = Theater der gleichnamigen

katholischen Orden)

protestantisches Schultheater (schlesische Trauerspiele, schlesische Lustspiele)

II. Weltliches Drama

Wanderbühnen (engl. Komödianten

Oper

das höfische Festspiel (Höhepunkt: trionfo)

das Schäferspiel.

Thematisch-inhaltliche Typen

Märtyrerdrama (z.B. Andreas Gryphius, viele Jesuitenstücke)

Geschichtsdrama (z.B. Andreas Gryphius, Daniel Casper von Lohenstein)

Theatergeschichtliche Bedeutung des 17 Jh. im deutschsprachigen Raum

Zuschauer erleben die ersten Bühnen mit wechselnden Kulissen, erstmals den

Einsatz aufwendiger Theatermaschinerien und ihrer Effekte

die ersten festen Theaterhäuser entstehen (1604/05 das Ottoneum am Kasseler

Hof)

der Beruf des Schauspielers an festen Theatern entsteht

Oper beginnt sich herauszubilden (Jacopo Peri: La Daphne [1598] und Euridice

[1600]).

Wichtige deutschsprachige Dramentheorie: Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer

Trichter (1647-1653).

Zentrale Denkkategorie im Kontext Drama:

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theatrum mundi (die Welt als Theater): a) auch im Leben, in der Natur spielt das

(Schau)Spielen eine wichtige Rolle; b) Problem des Verhältnisses von Schein

und Sein, von Spiel und Wirklichkeit.

Bezugstext 1: Widmung von Daniel Casper von Lohenstein zu: Sophonisbe (1680)

Bezugstext 2: Calderón de la Barca: (1635) (dt. Das Leben ist ein

Traum)

Drama und Rhetorik: Dreistillehre

Drei genera dicendi werden hinsichtlich der Wirkungsabsicht, des

dramatischen Genres und des Personals (Ständeklausel) unterschieden:

1) hoher Stil (genus grande/sublime), bewegen (movere), Tragödie, hoher Stand

2) mittlerer Stil (genus medium), unterhalten (delectare), /, mittlerer Stand

3) niederer Stil (genus subtile/humile), belehren (docere), Komödie, niederer

Stand.

Rhetorisches Beurteilungskriterium für die Umsetzung der genera dicendi ist die Frage

nach der Angemessenheit (aptum).

Epik

In der Epik dominiert lange Zeit das Epos die andere epischen Formen, also eine

in Versen, nicht in Prosa, verfasste narrative Großform.

Im Barock des deutschsprachigen Raums wird das allmählich anders: immer

wichtiger wird die erzählende Dichtung in Prosa, und zwar v.a. in Form des

Romans.

Gegen Ende des 17. Jh. nimmt parallel zur Zunahme der Lesefähigkeit auch die

Romanproduktion zu. So erscheinen im deutschsprachigen Raum von 1615 bis

1669 gerade einmal 87 Romane, von denen 58 Übersetzungen waren. Von 1670-

1724 erscheinen dann schon 466 Romane, von denen nur noch 151 Übersetzun-

gen sind (vgl. Niefanger 2006: S. 186).

Romantypen

höfisch-historischer Roman (= hoher Roman)

Schäferroman

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satirischer Roman (= niederer Roman) mit der Sonderform des Pikaro-Romans

galanter Roman.

Kennzeichen des hohen Romans

hochrangiges Personal, das in etwa dem des b. Trauerspiels entspricht, zum Teil

treten historische oder auch biblische Figuren auf

der h. R. will Werte vermitteln

Haupthandlung ist meist von vielen Einschüben unterbrochen und von vielen

Nebenhandlungen durchsetzt.

Kennzeichen des niederen Romans

Personal wie in der Komödie aus dem niederen Stand (z.B. Bauern, Diener, Dir-

nen, Komödianten, Räuber, Soldaten)

Figuren sind nicht historisch, sie sind überzeichnet und typisiert

Vermittlung von Tugenden durch die Überzeichnung der entsprechenden Untu-

genden

Handlung ist in Episoden unterteilt, die nur lose miteinander verbunden sind, oft

ist die Identität des Helden das einzige verknüpfende Element

Wechselhaftigkeit und Unstetigkeit des Helden.

Eine Sonderform des niederen Romans ist der Pikaro-Roman:

nach spanischen Vorbildern konventionalisierte Form des Schelmenromans

typische Kennzeichen: episodische Struktur, Fiktion einer Autobiografie, Held

niederer Herkunft, Prozess der Desillusionierung, der in der Regel mit einem

Bekehrungserlebnis (weltlich und/oder religiös) und einer Wandlung der Haupt-

figur einhergeht.

Der wichtigste deutschsprachiger Roman des B. steht in dieser Tradition:

Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1621 [wahrscheinlich]-1676):

Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch a-

tiert auf 1669).

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DER ABENTHEURLICHE || SIMPLICISSIMUS

TEUTSCH / || Das ist: || Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vagan-

ten / genant Melchior Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher gestalt Er

nemlich in diese Welt kommen / was er darinn gesehen / gelernet / erfahren und

außgestanden / auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. || Überauß lus-

tig / und maenniglich nutzlich zu lesen. || An Tag geben || Von German Schleif-

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Anhang: Textbeispiele (in alphabetischer Ordnung)

Calderón de la Barca: (1635) (dt. Das Leben ist ein Traum)

bloß! / Was ist Leben? Eitler Schaum, / Truggebild, ein Schatten kaum, / Und das größ-

(Barca 1955 [1635]: S. 63)

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Daniel Cramer (1568-Emblemata sacra (1622)

inscriptio

pictura

subscriptio

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Andreas Gryphius (1616-1664): Es ist alles e (1663)

DU sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff erden.

Was diser heute baut / reist jener morgen ein:

Wo itzund Staedte stehn / wird eine Wisen seyn /

Auff der ein Schaefers-Kind wird spilen mit den Herden:

Was itzund praechtig blueht / sol bald zutretten werden.

Was itzt so pocht undt trotzt ist Morgen Asch und Bein /

Nichts ist / das ewig sey / kein Ertz / kein Marmorstein.

Itzt lacht das Glueck uns an / bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.

Soll den das Spil der Zeit / der leichte Mensch bestehn?

Ach! was ist alles diß / was wir vor koestlich achten /

Als schlechte Nichtikeit / als Schatten / Staub und Wind;

Als eine Wisen-Blum / die man nicht wider find t.

Noch wil was Ewig ist kein einig Mensch betrachten!

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 114)

Andreas Gryphius (1616-1664): n-

r sind doch nunmehr gantz / ja mehr dann gantz verheeret!

Der frechen Voelcker Schaar / die rasende Posaun

Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /

Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.

Die Tuerme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.

Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /

Die t / und wo wir hin nur schaun

Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfaehret.

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Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.

Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Stroeme Flutt/

Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen

Doch schweig ich noch von dem / was aerger als der Tod /

Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth

Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 116)

Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658): Poetischer Trichter (1647-53)

ie Poeterey und Redkunst [ist] miteinander verbrüdert und verschwestert /

verbunden und verknüpfet / daß keine sonder die andre gelehret / erlernet / getrieben

und geübet .

Georg Philipp Harsdörffer (1607- n-

Ein Laub, das grunt und falbt geschwind.

Ein Staub, der leicht vertreibt den Wind.

Ein Schnee, der in dem Nu vergehet.

Ein See, der niemals stille stehet.

Die Blum, so nach der Blüt verfällt.

Der Ruhm, auf kurze Zeit gestellt.

Ein Gras, das leichtlich wird verdrucket.

Ein Glas, das leichter wird zerstucket.

Ein Traum, der mit dem Schlaf aufhört.

Ein Schaum, den Flut und Wind verzehrt.

Ein Heu, das kurze Zeite bleibet.

Die Spreu, so mancher Wind vertreibet.

Ein Kauf, den man am End bereut.

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Ein Lauf, der schnaufend schnell erfreut.

Ein Wasserstrom, der pfeilt geschwind.

Ein Schatten, der und macht schabab [= schab ab! = geh weg! F.S.].

Die Matten, s

(zitiert nach Conrady 2008: S. 177)

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1617-1679):

Mund! der viel suesser ist als starcker himmels-wein /

Mund! der du alikant des lebens schenckest ein /

Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schaetzen /

Mund! dessen balsam uns kann staercken und verletzen /

Mund! der vergnuegter blueht / als aller rosen schein.

Mund! welchem kein rubin kann gleich und aehnlich seyn.

Mund! den die Gratien mit ihren quellen netzen;

Mund! Ach corallen-mund / mein eintziges ergetzen!

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 276)

Quirinus Kuhlmann (1651-Sache

Sonn / Feur und Plagen /

Folgt Tag / Glanz/ Blutt / Schnee / Still / Land / Blitz / Waermd / Hitz / Luft / Kaelt /

Licht / Brand und Noth:

Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen:

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 268f.)

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Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683): Sophonisbe (1680)

mag

Nur immer ernsthaft seyn / und alle Spiele schelten?

Die Weißheit bildet sich nicht stets auf einen Schlag;

Ja Tugend muß oft selbst nur in der Larve gelten.

Wer Schertz und Ernst vermischt / und mit der Klugheit spielt /

hat oftermals zuerst den rechten Zweck erzielt.

(Lohenstein 1957 [1680]: S. 244, Widmung, Vers 19-25)

-Lauf

Sich in der Kindheit pflegt mit Spielen anzufangen /

So hört das Leben auch mit eitel Spielen auf.

Und unsre kurtze Zeit ist nichts als ein Getichte.

Ein Spiel / in dem bald der tritt auf / bald jener ab;

Mit Thränen fängt es an / mit Weinen wirds zu nichte.

Ja nach dem Tode pflegt mit uns die Zeit zu spieln /

Wenn Fäule / Mad'

(Lohenstein 1957 [1680]: S. 251, Widmung Vers 229-231 u. Vers 242-246.)

Martin Opitz (1597-

(= Übersetzung des Sonnetts CXXXII aus Canzoniere v. F.P.)

nichts / wie daß sie mich entzuendet?

Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?

Ist sie auch gut und recht / wie bringt sie boese Lust?

Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd

Zwang / wie kann ich Schmertzen tragen?

Muß

ungern an / wer dann befihlt es mir?

Thue ich es aber gern

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Ich wancke wie das Graß so von den kuehlen Winden

Umb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:

Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer

Von Wellen umbgejagt nicht kan zu Rande finden.

Ich weis nicht was ich will / ich will nicht was ich weis:

Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 26)

Martin Opitz (1597-(1630)

Der helden krafft undt muth mitt ihrer schoenheit macht:

Nicht goetter; himmel mehr; dann ihrer farbe pracht

Ist himmelblaw / ihr lauff ist ueber menschen sinnen:

Nicht himmel; sonnen selbst / die also blenden koennen

Daß wir umb mittagszeit nur sehen lauter nacht:

Nicht sonnen; sondern plitz / der schnell undt unbedacht

Herab schlegt wann es ie zue donnern will beginnen.

Doch keines: goetter nicht / die boeses nie begehen;

Nicht himmel / dann der lauff des himmels wancket nicht;

Nicht sonnen / dann es ist nur einer Sonne liecht;

Plitz auch nicht / weil kein plitz so lange kann bestehen:

Iedennoch siehet sie des volckes blinder wahn

Fuer himme

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 27)

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Robert Roberthin (1600-164

1. Mein liebstes Seelchen lasst uns leben

So lang wir noch im Leben seyn!

Bald bricht der schlimme Tod herein /

So muessen wir das uebergeben

Was uns so sanfft und linde that /

Was uns so offt ergetzet hat!

(zitiert nach Maché/Meid 1980: S. 90f.)

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Literaturverzeichnis Alexander, Robert John: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart: Metzler 1984 (= Samm-

lung Metzler. Abt. D. Literaturgeschichte Bd. 209).

Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundla-

gen. Tübingen: Niemeyer 1970 [zugl.: Habilitationsschrift Universität Tübingen

1968/69].

Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Sechs

Bände. Bd. II: Das Theater im 17 Jahrhundert. Zwischen Renaissance und Aufklä-

rung. Stuttgart/Weimar: Metzler 1996.

Buck, August u. See, Klaus von: Renaissance und Barock. In zwei Teilbänden. Frank-

furt a.M.: Akademische Verlags-Gesellschaft Athenaion 1972 (= Neues Handbuch

der Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus von See. Bd. 9 u. 10).

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