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ROM – Papst Benedikt XVI. hat eine his- torische Wende der katholischen Kirche vollzogen und die Benutzung von Kondo- men für „begründete Einzelfälle“ für er- laubt erklärt. Wenn es darum gehe, die Ansteckungsgefahr zu verringern, könne der Einsatz von Kondomen „ein erster Schritt sein auf dem Weg hin zu einer an- ders gelebten, menschlicheren Sexuali- tät“, sagte der Papst laut einem Buch, das am Mittwoch erscheint. Bislang vertrat die katholische Kirche die Position, dass auch im Kampf gegen Aids der Einsatz von Präservativen auf keinen Fall gestat- tet werden dürfe. Der Papst erlaubt Kondome Politik, Seite 12 VON DIRK BANSE UND LUCAS WIEGELMANN I n einem der spektakulärsten Politkrimis der bundesdeut- schen Geschichte gibt es eine neue Wendung. Einer der wich- tigsten wissenschaftlichen Gut- achter im Fall Barschel ver- dächtigt in einem neuen Gut- achten den israelischen Geheimdienst Mossad, den früheren schleswig-holstei- nischen Ministerpräsidenten ermordet zu haben. Die Daten der chemischen Analy- sen stimmen bis in Details mit den To- desumständen überein, wie sie der ehe- malige Mossad-Agent Victor Ostrovsky in einem Buch schildert. Zu diesem Ergeb- nis kommt der renommierte Schweizer Toxikologe Professor Hans Brandenber- ger in einem exklusiven Aufsatz für die „Welt am Sonntag“. Im Unterschied zu anderen Bekenner-Erklärungen oder Ver- mutungen „beschreibt Ostrovsky ein Sze- nario, das mit den Analysendaten er- staunlich gut übereinstimmt“, heißt es in dem Papier. Auffällige Details in Ostrov- skys Bericht, zum Beispiel die rektale Zu- fuhr von Beruhigungsmittel und die zeit- lich versetzte Verabreichung von Medika- menten, spiegelten sich im chemischen Befund wider, so Brandenberger. Es ist das erste Mal, dass sich der Wis- senschaftler zur Frage nach den Tätern äußert. Nach seiner Einschätzung belegen toxikologische Untersuchungen des Bar- schel-Leichnams, dass der CDU-Spitzen- politiker weder durch Selbstmord noch durch Sterbehilfe ums Leben gekommen sein kann. „Die chemischen Befunde indi- zieren einen Mord, wobei (…) aufgrund der Komplexität des Mordgeschehens da- von ausgegangen werden muss, dass ein Profiteam am Werk war, nicht eine Ein- zelperson.“ Der frühere Chefermittler im Fall Barschel, Heinrich Wille, sieht nun den Verdacht erhärtet, dass der ehemali- ge Ministerpräsident von einem profes- sionellen Killerkommando getötet wurde. „Brandenbergers Aufsatz enthält neue Erkenntnisse, die geprüft werden soll- ten“, sagte der ehemalige Leitende Ober- staatsanwalt von Lübeck dieser Zeitung. Einen konkreten Verdächtigen gebe es bis heute nicht. Uwe Barschel wurde am 11. Oktober 1987 tot in einer Badewanne des Genfer Luxushotels „Beau-Rivage“ gefunden. Nur wenige Tage zuvor war er nach einer Affäre um eine Verleumdungskampagne gegen seinen politischen Widersacher Björn Engholm und einer verlorenen Landtagswahl als Ministerpräsident zu- rückgetreten. Bis heute ist nicht geklärt, wie Barschel ums Leben kam. Im Gegen- satz zu anderen Toxikologen vertrat Brandenberger von Anfang an die These, dass der Politiker das tödlich wirkende Mittel Cyclobarbital nicht selbst einge- nommen haben könne. „Damit stach ich in ein Wespennest“, schreibt Brandenber- ger. Seine Untersuchungen trugen dazu bei, dass die Staatsanwaltschaft Lübeck ein Ermittlungsverfahren wegen Mord- verdachts aufnahm. In den vergangenen Jahren analysierte der Toxikologe immer wieder die chemischen Daten und stieß dabei auf die neue Spur. Seine neuen Er- kenntnisse wolle er nicht verheimlichen: „Das bin ich der Familie Barschel schul- dig“, sagt er. Brandenberger plant, seine Thesen dem- nächst in einer wissenschaft- lichen Fachzeitschrift weiter auszuführen. In seinem neuen Aufsatz weist Brandenberger nach, dass Barschel zusätzlich zum Cyclobarbi- tal ein starkes Beruhigungsmittel rektal verabreicht wurde. Dies sei „mit der Hy- pothese eines Selbstmordes mit fremder Hilfe (humanes Sterben) unvereinbar“. Der ehemalige Mossad-Agent Ostrovsky schreibt in seinem Buch ebenfalls, dass man Barschel ein starkes Beruhigungs- mittel rektal eingeführt habe. Auch die Betäubung durch präparierten Wein und die Zufuhr einer tödlichen Schlafmittel- dosis per Magenschlauch, die Ostrovsky beschreibt, decken sich mit Brandenber- gers Analysen. Der ehemalige Agent Ostrovsky hatte sein Buch „Geheimakte Mossad“ 1994 veröffentlicht. Er lebt als Autor und Verleger in Arizona (USA). Ein mögliches Motiv für den Mord ist nach Aussagen verschiedener Zeugen Barschels angebliche Verstrickung in du- biose Rüstungsgeschäfte. Der CDU-Poli- tiker soll von illegalen Waffenlieferungen in den Nahen Osten und nach Südafrika gewusst und damit gedroht haben, diese öffentlich zu machen. Nach Darstellung von Ostrovsky hatte Barschel Kenntnis von angeblichen Rüstungsgeschäften Is- raels mit dem Iran, die über Schleswig- Holstein abgewickelt worden seien. Die Staatsanwaltschaft Lübeck war der Spur Mossad bereits in ihrem Mordverfahren nachgegangen. Damals waren die Ermitt- ler zu der Einschätzung gelangt, dass es Widersprüche zwi- schen den toxiko- logischen Befunden und der Darstellung Ostrovskys gebe. Nach Brandenbergers neuem Gutachten erscheint die Theorie jetzt in ganz neuem Licht. Der Fall Barschel ist seit nunmehr 23 Jahren ungelöst. Ex-Staatsanwalt Wille stellte das Verfahren 1998 ein, obwohl sich der Verdacht auf Mord seiner Mei- nung nach im Laufe der Ermittlungen er- härtet hatte. Immer wieder werden auch Geheimdienste wie die DDR-Staatssicher- heit, die US-amerikanische CIA und der Bundesnachrichtendienst verdächtigt, an dem Tod beteiligt gewesen zu sein. Wille, der demnächst ein Buch über den Fall veröffentlichen will, sagte: „Bei meinen Ermittlungen habe ich den Eindruck ge- wonnen, dass es starke Kräfte gibt, die die Aufklärung des Falles unter allen Um- ständen verhindern wollen.“ Die „Welt am Sonntag“ hat den ehe- maligen Agenten Victor Ostrovsky mit den neuen Erkenntnissen konfrontiert. „Wenn ein Wissenschaftler meine Dar- stellung belegt, ist das großartig“, sagte Ostrovsky. „Aber es überrascht mich nicht. Ich weiß ja, dass es so war.“ Der Autor, der bis heute nie offiziell von deutschen Ermittlern zum Geschehen von Genf befragt wurde, erklärte sich au- ßerdem zu einer Aussage bereit: „Ich ste- he den deutschen Strafverfolgungsbehör- den jederzeit als Zeuge zur Verfügung, solange ich dabei in den USA bleiben kann.“ Gutachter belastet in einer neuen Analyse den israelischen Geheimdienst – Staatsanwalt sieht Mordverdacht erhärtet Titelthema, Seite 17 bis 22 Neue Spur im Fall Barschel Sie führt zum Mossad EISERMANN/LAIF ; THOMAS DEMAND VG BILDKUNST 2010 + Abgezeichnet von: Abgezeichnet von: WER IST KATE MIDDLETON? INSIDE DEUTSCHE BAHN Immer dieser böse Schnee Seite 38/39 ISSN 0949 – 7188 Raúl verzaubert Schalke Seite 29 0,14 ¤/Min. aus dem dt. Festnetz; Mobilfunk max. 0,42 ¤/Min. SERVICE: 01805/6 300 30 Deutschlands groß e Sonntagszeitung | Gegründet 1948 | welt.de Ihre Vorfahren schufteten noch im Bergwerk Seite 24 Politik, Seiten 4 bis 6 / Forum, Seite 15 BERLIN/LISSABON – Wegen der jüngs- ten Terrorbedrohung ist eine Sicher- heitsdebatte entbrannt. Bundesjustizmi- nisterin Sabine Leutheusser-Schnarren- berger kündigte eine Prüfung der Geset- ze an, neue hält sie für unnötig. „Wir ha- ben uns im Kreis der Rechts- und Innen- politiker der Koalition darauf verstän- digt, dass es kein neues Anti-Terror-Pa- ket geben wird“, sagte die FDP-Politike- rin der „Welt am Sonntag“. Leutheusser- Schnarrenberger rief dazu auf, mehr Poli- zisten einzustellen: „Wenn wir nicht ge- nügend Beamte haben, nützen die besten Gesetze nichts.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach am Rande des Nato-Gipfels von einer „realen Gefährdung“, mahnte aber, nicht in Panik zu verfallen. Ähnlich äußerte sich BKA-Präsident Jörg Ziercke. Die Be- richte über einen angeblich auf den Reichstag geplanten Anschlag wirkten hinein in die konkreten verdeckten Er- mittlungen, sagte Ziercke. Daher wolle er dazu keine Angaben machen. Solche Äu- ßerungen würden die Ermittlungen und Quellen gefährden. „Natürlich ist es so (...), dass symbolträchtige Objekte in Deutschland insgesamt im Fokus stehen könnten“, gestand der BKA-Präsident ein. Deshalb gebe es auch zusätzliche Präsenz der Polizei an solchen Orten. Zuvor hatte der „Spiegel“ berichtet, Terroristen planten möglicherweise, das Parlamentsgebäude zu stürmen und dort ein Blutbad anzurichten. Nach Informa- tionen der „Welt am Sonntag“ ist dies ei- nes von mehr als einem Dutzend Szena- rien, mit denen sich die Terrorbekämpfer zurzeit beschäftigen. Bei den Nachrich- tendiensten werden die Hinweise eines vorgeblich ausstiegswilligen Terroristen aus dem Ausland jedoch skeptisch gese- hen. Eine abschließende Beurteilung ge- be es bislang noch nicht. Nach dem falschen Alarm in Namibia wurde der Chef der dortigen Flughafen- polizei festgenommen. Der Mann soll be- reits gestanden haben, das verdächtige Gepäckstück auf ein Band zur Gepäckbe- förderung gelegt zu haben. tju/banjo Terror – Ministerin für mehr Polizei LISSABON – Russland hat das Angebot der Nato zu Verhandlungen über die Be- teiligung an einem Raketenabwehrschirm angenommen. Dies gab Nato-Generalse- kretär Anders Fogh Rasmussen nach ei- nem Treffen des Nato-Russland-Rats in Lissabon bekannt: „Von heute an werden wir zusammenarbeiten.“ Russlands Prä- sident Dmitri Medwedjew schränkte ein, eine Entscheidung über eine tatsächliche Beteiligung sei aber noch nicht gefallen: „Wir werden gleichberechtigt beteiligt oder wir werden uns nicht beteiligen.“ Außerdem hat die Nato die Weichen für einen schrittweisen Abzug bis Ende 2014 aus Afghanistan gestellt. Russland will unter den Nato-Raketenschirm Politik, Seiten 10/11 BERLIN – Autofahrer auf Sommerreifen müssen ab diesem Winter mit höheren Bußgeldern rechnen. Das Verkehrsminis- terium präzisierte zudem die Winterrei- fen-Pflicht auf Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Eis oder Reifglätte. Ver- kehrsminister Peter Ramsauer (CSU) sagte der „Welt am Sonntag“, es werde kein konkretes Datum geben, ab wann Winterreifen aufgezogen werden müs- sen. Dafür falle der Winter in Deutsch- land zu unterschiedlich aus. Die Bußgel- der beim Fahren ohne Winterreifen wer- den auf 40 Euro verdoppelt. Wer dadurch andere behindert, muss 80 Euro zahlen. 40 Euro Bußgeld für Sommerreifen im Winter Politik, Seite 8 ANZEIGE ANZEIGE N ach der Terrorwarnung fragen sich viele Bürger, ob sie auf Weihnachts- märkte gehen sollten. Kein Problem. Dort ist es jetzt besonders sicher. Denn Deut- sche im Adventsstress können wehrhafter und verbiesterter sein als ein Glaubenskrieger. Auf beliebten Märkten ist damit zu rechnen, dass Attentäter im Gedränge rechtzeitig zusam- mengeknufft werden. Ansonsten stehen Si- cherheitskräfte bereit, die darin geschult sind, über- lebende Extremisten durch das Selbstdrehen von Bienenwachskerzen abzulenken oder sie hoffnungs- los in die Strohsternproblematik zu verstricken. Bei der Gefahrenabwehr kommt Heintjes „Heidschi Bumbeidschi“ als Endlosschleife zum Einsatz, und zwar mit „bum bum“. Die Zivilbevölkerung ist gegen diesen Sound längst resistent und reagiert lediglich mit einem Orientierungsverlust, der „Besinn- lichkeit“ genannt wird. Der soeben aus dem Orient angereiste Islamist glaubt, hier würde bereits ein Anschlag verübt. Er müsse sich also einen frischen Tatort suchen. Dort begegnen ihm Glühweinbudeninhaber mit ihrer Aktion „Unser Kopfschmerz ist stärker als euer Hass“. Schausteller werden ihre Fahrgeschäfte als mobile Arrestzellen einsetzen. Angeblich för- dern ein paar Runden mit dem „Monster Spider“ ein Geständnis eher als fünf Jahre Guantánamo. Eine subtilere Taktik sieht vor, Terroristen ins „Spuk- schloss“ zu locken und sie dort so lange vor einem Terrorakt zu warnen, bis sie sich nicht mehr heraus- trauen. Alle Weihnachtsmarkt-Besucher sind ange- halten, auffällige Personen den Behörden zu melden, außer den Weißbart im roten Mantel. André Mielke Fanatiker mit Bart und rotem Mantel B 3,50 ¤ • GR 4,00 ¤ • A 3,50 ¤ • CZ 150 czk • NL 3,50 ¤ GB 3,50 GBP • MA 50 MAD • DK 32,00 dkr • IRL 4,50 ¤ ZA 70,00 SAR • P 4,00 ¤ (Cont.) • I 4,00 ¤ E 4,00 ¤ / I. C. 4,20 ¤ • F 4,20 ¤ • L 3,50 ¤ • PL 19 PLZ TN 6,50 TD FIN 5,90 ¤ • S 50 SEK • H 1050 Ft N 42,00 NOK • CH 5,30 sfr Erhältlich bei Chopard Boutiquen und führenden Juwelieren. Für weitere Informationen: Chopard Deutschland, Tel. 07231/4867. IMPERIALE COLLECTION Wahre Werte - beginnen in einer wahren Manufaktur 07231-28.40.10 • www.wellendorff.de Abo & mehr [email protected] E-Mail an die Redaktion: [email protected] Wir twittern, was uns bewegt: twitter.com/welt Treffpunkt für Fans facebook.com/welt titelthema Das neue Ressort der „Welt am Sonntag“ auf sechs Seiten DREI TORE GEGEN BREMEN NR. 47 AUSGABE B * SONNTAG, 21. NOVEMBER 2010 PREIS D ¤ 3,10

Barschel - Werner · PDF fileUwe Barschel wurde am 11. Oktober 1987 tot in einer Badewanne des Genfer Luxushotels „Beau-Rivage“ gefunden. Nur wenige Tage zuvor war er nach einer

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Ihr persönliches Händlerexemplar – Kein Verkauf! – Keine Remission!

ROM – Papst Benedikt XVI. hat eine his-torische Wende der katholischen Kirchevollzogen und die Benutzung von Kondo-men für „begründete Einzelfälle“ für er-laubt erklärt. Wenn es darum gehe, dieAnsteckungsgefahr zu verringern, könneder Einsatz von Kondomen „ein ersterSchritt sein auf dem Weg hin zu einer an-ders gelebten, menschlicheren Sexuali-tät“, sagte der Papst laut einem Buch, dasam Mittwoch erscheint. Bislang vertratdie katholische Kirche die Position, dassauch im Kampf gegen Aids der Einsatzvon Präservativen auf keinen Fall gestat-tet werden dürfe.

Der Papst erlaubt Kondome

Politik, Seite 12

VON DIRK BANSE UND LUCAS WIEGELMANN

In einem der spektakulärstenPolitkrimis der bundesdeut-schen Geschichte gibt es eineneue Wendung. Einer der wich-tigsten wissenschaftlichen Gut-achter im Fall Barschel ver-dächtigt in einem neuen Gut-

achten den israelischen GeheimdienstMossad, den früheren schleswig-holstei-nischen Ministerpräsidenten ermordet zuhaben. Die Daten der chemischen Analy-sen stimmen bis in Details mit den To-desumständen überein, wie sie der ehe-malige Mossad-Agent Victor Ostrovsky ineinem Buch schildert. Zu diesem Ergeb-nis kommt der renommierte SchweizerToxikologe Professor Hans Brandenber-ger in einem exklusiven Aufsatz für die„Welt am Sonntag“. Im Unterschied zuanderen Bekenner-Erklärungen oder Ver-mutungen „beschreibt Ostrovsky ein Sze-nario, das mit den Analysendaten er-staunlich gut übereinstimmt“, heißt es indem Papier. Auffällige Details in Ostrov-skys Bericht, zum Beispiel die rektale Zu-fuhr von Beruhigungsmittel und die zeit-lich versetzte Verabreichung von Medika-menten, spiegelten sich im chemischenBefund wider, so Brandenberger.

Es ist das erste Mal, dass sich der Wis-senschaftler zur Frage nach den Täternäußert. Nach seiner Einschätzung belegentoxikologische Untersuchungen des Bar-schel-Leichnams, dass der CDU-Spitzen-politiker weder durch Selbstmord nochdurch Sterbehilfe ums Leben gekommensein kann. „Die chemischen Befunde indi-

zieren einen Mord, wobei (…) aufgrundder Komplexität des Mordgeschehens da-von ausgegangen werden muss, dass einProfiteam am Werk war, nicht eine Ein-zelperson.“ Der frühere Chefermittler imFall Barschel, Heinrich Wille, sieht nunden Verdacht erhärtet, dass der ehemali-ge Ministerpräsident von einem profes-sionellen Killerkommando getötet wurde.„Brandenbergers Aufsatz enthält neue Erkenntnisse, die geprüft werden soll-ten“, sagte der ehemalige Leitende Ober-staatsanwalt von Lübeck dieser Zeitung.Einen konkreten Verdächtigen gebe es bisheute nicht.

Uwe Barschel wurde am 11. Oktober1987 tot in einer Badewanne des GenferLuxushotels „Beau-Rivage“ gefunden.Nur wenige Tage zuvor war er nach einerAffäre um eine Verleumdungskampagnegegen seinen politischen WidersacherBjörn Engholm und einer verlorenenLandtagswahl als Ministerpräsident zu-rückgetreten. Bis heute ist nicht geklärt,wie Barschel ums Leben kam. Im Gegen-satz zu anderen Toxikologen vertratBrandenberger von Anfang an die These,dass der Politiker das tödlich wirkendeMittel Cyclobarbital nicht selbst einge-nommen haben könne. „Damit stach ichin ein Wespennest“, schreibt Brandenber-ger. Seine Untersuchungen trugen dazubei, dass die Staatsanwaltschaft Lübeckein Ermittlungsverfahren wegen Mord-verdachts aufnahm. In den vergangenenJahren analysierte der Toxikologe immerwieder die chemischen Daten und stießdabei auf die neue Spur. Seine neuen Er-kenntnisse wolle er nicht verheimlichen:„Das bin ich der Familie Barschel schul-

dig“, sagt er. Brandenbergerplant, seine Thesen dem-nächst in einer wissenschaft-lichen Fachzeitschrift weiterauszuführen.

In seinem neuen Aufsatzweist Brandenberger nach,dass Barschel zusätzlich zum Cyclobarbi-tal ein starkes Beruhigungsmittel rektalverabreicht wurde. Dies sei „mit der Hy-pothese eines Selbstmordes mit fremderHilfe (humanes Sterben) unvereinbar“.Der ehemalige Mossad-Agent Ostrovskyschreibt in seinem Buch ebenfalls, dassman Barschel ein starkes Beruhigungs-mittel rektal eingeführt habe. Auch dieBetäubung durch präparierten Wein unddie Zufuhr einer tödlichen Schlafmittel-dosis per Magenschlauch, die Ostrovskybeschreibt, decken sich mit Brandenber-gers Analysen. Der ehemalige AgentOstrovsky hatte sein Buch „GeheimakteMossad“ 1994 veröffentlicht. Er lebt alsAutor und Verleger in Arizona (USA).

Ein mögliches Motiv für den Mord istnach Aussagen verschiedener ZeugenBarschels angebliche Verstrickung in du-biose Rüstungsgeschäfte. Der CDU-Poli-tiker soll von illegalen Waffenlieferungenin den Nahen Osten und nach Südafrikagewusst und damit gedroht haben, dieseöffentlich zu machen. Nach Darstellungvon Ostrovsky hatte Barschel Kenntnisvon angeblichen Rüstungsgeschäften Is-raels mit dem Iran, die über Schleswig-Holstein abgewickelt worden seien. DieStaatsanwaltschaft Lübeck war der SpurMossad bereits in ihrem Mordverfahrennachgegangen. Damals waren die Ermitt-ler zu der Einschätzung gelangt, dass es

Widersprüche zwi-schen den toxiko-logischen Befundenund der DarstellungOstrovskys gebe. NachBrandenbergers neuemGutachten erscheint die

Theorie jetzt in ganz neuem Licht. Der Fall Barschel ist seit nunmehr 23

Jahren ungelöst. Ex-Staatsanwalt Willestellte das Verfahren 1998 ein, obwohlsich der Verdacht auf Mord seiner Mei-nung nach im Laufe der Ermittlungen er-härtet hatte. Immer wieder werden auchGeheimdienste wie die DDR-Staatssicher-heit, die US-amerikanische CIA und derBundesnachrichtendienst verdächtigt, andem Tod beteiligt gewesen zu sein. Wille,der demnächst ein Buch über den Fallveröffentlichen will, sagte: „Bei meinenErmittlungen habe ich den Eindruck ge-wonnen, dass es starke Kräfte gibt, die dieAufklärung des Falles unter allen Um-ständen verhindern wollen.“

Die „Welt am Sonntag“ hat den ehe-maligen Agenten Victor Ostrovsky mitden neuen Erkenntnissen konfrontiert.„Wenn ein Wissenschaftler meine Dar-stellung belegt, ist das großartig“, sagteOstrovsky. „Aber es überrascht michnicht. Ich weiß ja, dass es so war.“ DerAutor, der bis heute nie offiziell vondeutschen Ermittlern zum Geschehenvon Genf befragt wurde, erklärte sich au-ßerdem zu einer Aussage bereit: „Ich ste-he den deutschen Strafverfolgungsbehör-den jederzeit als Zeuge zur Verfügung,solange ich dabei in den USA bleibenkann.“

Gutachter belastet in einer neuen Analyse den israelischenGeheimdienst – Staatsanwalt sieht Mordverdacht erhärtet

Titelthema, Seite 17 bis 22

Neue Spur im Fall

BarschelSie führt zum Mossad

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WER IST KATE MIDDLETON? INSIDE DEUTSCHE BAHN

Immer dieser böse Schnee Seite 38/39

ISSN 0949 – 7188

RaúlverzaubertSchalke Seite 29

0,14 ¤/Min. aus dem dt. Festnetz;Mobilfunk max. 0,42 ¤/Min.

SERVICE: 01805 /6 300 30

Deutschlands groß e Sonntagszeitung | Gegründet 1948 | welt.de

Ihre Vorfahren schuftetennoch im Bergwerk Seite 24

Politik, Seiten 4 bis 6 / Forum, Seite 15

BERLIN/LISSABON – Wegen der jüngs-ten Terrorbedrohung ist eine Sicher-heitsdebatte entbrannt. Bundesjustizmi-nisterin Sabine Leutheusser-Schnarren-berger kündigte eine Prüfung der Geset-ze an, neue hält sie für unnötig. „Wir ha-ben uns im Kreis der Rechts- und Innen-politiker der Koalition darauf verstän-digt, dass es kein neues Anti-Terror-Pa-ket geben wird“, sagte die FDP-Politike-rin der „Welt am Sonntag“. Leutheusser-Schnarrenberger rief dazu auf, mehr Poli-zisten einzustellen: „Wenn wir nicht ge-nügend Beamte haben, nützen die bestenGesetze nichts.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel spracham Rande des Nato-Gipfels von einer„realen Gefährdung“, mahnte aber, nichtin Panik zu verfallen. Ähnlich äußertesich BKA-Präsident Jörg Ziercke. Die Be-richte über einen angeblich auf denReichstag geplanten Anschlag wirktenhinein in die konkreten verdeckten Er-mittlungen, sagte Ziercke. Daher wolle erdazu keine Angaben machen. Solche Äu-ßerungen würden die Ermittlungen undQuellen gefährden. „Natürlich ist es so(...), dass symbolträchtige Objekte inDeutschland insgesamt im Fokus stehenkönnten“, gestand der BKA-Präsidentein. Deshalb gebe es auch zusätzlichePräsenz der Polizei an solchen Orten.

Zuvor hatte der „Spiegel“ berichtet,Terroristen planten möglicherweise, dasParlamentsgebäude zu stürmen und dortein Blutbad anzurichten. Nach Informa-tionen der „Welt am Sonntag“ ist dies ei-nes von mehr als einem Dutzend Szena-rien, mit denen sich die Terrorbekämpferzurzeit beschäftigen. Bei den Nachrich-tendiensten werden die Hinweise einesvorgeblich ausstiegswilligen Terroristenaus dem Ausland jedoch skeptisch gese-hen. Eine abschließende Beurteilung ge-be es bislang noch nicht.

Nach dem falschen Alarm in Namibiawurde der Chef der dortigen Flughafen-polizei festgenommen. Der Mann soll be-reits gestanden haben, das verdächtigeGepäckstück auf ein Band zur Gepäckbe-förderung gelegt zu haben. tju/banjo

Terror –Ministerin für mehr Polizei

LISSABON – Russland hat das Angebotder Nato zu Verhandlungen über die Be-teiligung an einem Raketenabwehrschirmangenommen. Dies gab Nato-Generalse-kretär Anders Fogh Rasmussen nach ei-nem Treffen des Nato-Russland-Rats inLissabon bekannt: „Von heute an werdenwir zusammenarbeiten.“ Russlands Prä-sident Dmitri Medwedjew schränkte ein,eine Entscheidung über eine tatsächlicheBeteiligung sei aber noch nicht gefallen:„Wir werden gleichberechtigt beteiligtoder wir werden uns nicht beteiligen.“Außerdem hat die Nato die Weichen füreinen schrittweisen Abzug bis Ende 2014aus Afghanistan gestellt.

Russland will unter denNato-Raketenschirm

Politik, Seiten 10/11

BERLIN – Autofahrer auf Sommerreifenmüssen ab diesem Winter mit höherenBußgeldern rechnen. Das Verkehrsminis-terium präzisierte zudem die Winterrei-fen-Pflicht auf Glatteis, Schneeglätte,Schneematsch, Eis oder Reifglätte. Ver-kehrsminister Peter Ramsauer (CSU)sagte der „Welt am Sonntag“, es werdekein konkretes Datum geben, ab wannWinterreifen aufgezogen werden müs-sen. Dafür falle der Winter in Deutsch-land zu unterschiedlich aus. Die Bußgel-der beim Fahren ohne Winterreifen wer-den auf 40 Euro verdoppelt. Wer dadurchandere behindert, muss 80 Euro zahlen.

40 Euro Bußgeldfür Sommerreifenim Winter

Politik, Seite 8

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Nach der Terrorwarnung fragen sichviele Bürger, ob sie auf Weihnachts-märkte gehen sollten. Kein Problem.

Dort ist es jetzt besonders sicher. Denn Deut-sche im Adventsstress können wehrhafter undverbiesterter sein als ein Glaubenskrieger. Aufbeliebten Märkten ist damit zu rechnen, dassAttentäter im Gedränge rechtzeitig zusam-mengeknufft werden. Ansonsten stehen Si-cherheitskräfte bereit, die darin geschult sind, über-lebende Extremisten durch das Selbstdrehen vonBienenwachskerzen abzulenken oder sie hoffnungs-los in die Strohsternproblematik zu verstricken. Beider Gefahrenabwehr kommt Heintjes „HeidschiBumbeidschi“ als Endlosschleife zum Einsatz, undzwar mit „bum bum“. Die Zivilbevölkerung ist gegendiesen Sound längst resistent und reagiert lediglich

mit einem Orientierungsverlust, der „Besinn-lichkeit“ genannt wird. Der soeben aus demOrient angereiste Islamist glaubt, hier würdebereits ein Anschlag verübt. Er müsse sich alsoeinen frischen Tatort suchen. Dort begegnenihm Glühweinbudeninhaber mit ihrer Aktion„Unser Kopfschmerz ist stärker als euer Hass“.Schausteller werden ihre Fahrgeschäfte alsmobile Arrestzellen einsetzen. Angeblich för-

dern ein paar Runden mit dem „Monster Spider“ einGeständnis eher als fünf Jahre Guantánamo. Einesubtilere Taktik sieht vor, Terroristen ins „Spuk-schloss“ zu locken und sie dort so lange vor einemTerrorakt zu warnen, bis sie sich nicht mehr heraus-trauen. Alle Weihnachtsmarkt-Besucher sind ange-halten, auffällige Personen den Behörden zu melden,außer den Weißbart im roten Mantel. André Mielke

Fanatiker mit Bart und rotem Mantel

B 3,50 ¤ • GR 4,00 ¤ • A 3,50 ¤ • CZ 150 czk • NL 3,50 ¤GB 3,50 GBP • MA 50 MAD • DK 32,00 dkr • IRL 4,50 ¤ZA 70,00 SAR • P 4,00 ¤ (Cont.) • I 4,00 ¤ • E 4,00 ¤ /I. C. 4,20 ¤ • F 4,20 ¤ • L 3,50 ¤ • PL 19 PLZ TN 6,50 TDFIN 5,90 ¤ • S 50 SEK • H 1050 Ft N 42,00 NOK • CH 5,30 sfr

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titelthema

Das neue Ressort der„Welt am Sonntag“auf sechs Seiten

DREI TORE GEGEN BREMEN

N R. 4 7 AU S G A B E B * SONNTAG, 21. NOVEMBER 2010 P R E I S D ¤ 3 ,10

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Abgezeichnet von: Abgezeichnet von:

W E L T A M S O N N T A G , 2 1 . N O V E M B E R 2 0 1 0 S E I T E 1 7

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DER TOTEIN ZIMMER

Nach einem der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit wurde der

schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel am 11. Oktober 1987 tot in

der Badewanne eines Genfer Hotels aufgefunden.War es Mord? Das Gutachten eines

Schweizer Toxikologen deutet auf mehrereProfi-Täter hin. Spuren führen nach Israel

317Von Dirk Banse und Lucas Wiegelmann

Foto: Thomas Demand

Der Tatort - der Künstler ThomasDemand baute für seinFoto „Badezimmer“aus Pappe und Papier1997 ein Bild nach, daszehn Jahre zuvor umdie Welt gegangenwar: Es zeigte den Ort,an dem die LeicheUwe Barschels ent-deckt wurde. Auf demOriginalfoto war seintoter Körper zu sehen THOMAS DEMAND,

VG BILD-KUNST BONN 2010

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W E LT A M S O N N TA G N R . 4 7 2 1 . N O V E M B E R 2 01018 TITELTHEMA

schwörungstheorien, die sich um denmysteriösen Tod Barschels ranken. DieBarschel-Ermittler prüften ihn, konntenihn aber nicht belegen. Zu spektakulär er-schien die Vorstellung einer professio-nellen Mörderbande, zu bizarr klangendie Details, die Ostrovsky nennt. Das giltzum Beispiel für das Eiswasser in der Ba-dewanne und vor allem die Beschreibungder rektalen Medikamentenzufuhr. De-tails, die sich so gar nicht mit dem Be-fund der Obduktion und den übrigen Er-mittlungen zu decken schienen. Zudemirrte sich Ostrovsky in politischen Fra-gen, schrieb zum Beispiel von einer en-gen Freundschaft zwischen Barschel unddem damaligen Kanzler Helmut Kohl.

Mossad-Spur führte in eine Sackgasse

Die Lübecker Staatsanwaltschaft hielt1998 in ihrem Abschlussbericht fest: „MitRücksicht auf die geschilderten offen-kundigen Diskrepanzen wurde von derbeabsichtigten zeugenschaftlichen Ver-nehmung des Ostrovsky dann Abstandgenommen.“ Die Mossad-Spur führte ineine Sackgasse.

Doch nun fordert ausgerechnet einNaturwissenschaftler eine neue Bewer-tung von Ostrovskys Aussagen. HansBrandenberger, der Schweizer Chemie-professor und frühere toxikologischeGutachter im Barschel-Ermittlungsver-fahren, hat nach jahrelanger Beschäfti-gung mit dem Fall erstaunliche Parallelenzwischen Ostrovskys Schilderungen unddem chemischen Befund nachgewiesen,die er in der „Welt am Sonntag“ heutezum ersten Mal veröffentlicht.

Brandenberger ist Spezialist für Stoff-wechselforschung: Er untersucht den Ab-bau chemischer Stoffe im Menschen.Wenn der Körper Substanzen aufnimmt,baut dieser sie nach komplizierten Re-geln zu anderen Substanzen um, zerlegtsie in Einzelteile oder fügt sie zu neuenMolekülen zusammen. Erkenntnisse da-rüber, welche Stoffe dabei entstehen, wosie im Körper auftauchen und wie langedie Prozesse dauern, erlauben unter an-derem Rückschlüsse auf den Zeitpunktund die Art der Medikamenteneinnahme.

So kam Brandenberger bereits in sei-nem toxikologischen Gutachten für dieSchweizer Justiz aus dem Jahr 1994 zudem Ergebnis, dass Uwe Barschel dastödlich wirkende Mittel Cyclobarbitalerst spät verabreicht bekam – deutlichspäter als andere Beruhigungs- und

Das Angebot machteihn wütend. „Geldspielt keine Rolle“,hatte der geheimnis-volle Fremde gesagt,aber Barschel wolltekein Geld. Es ging

ihm um seinen Ruf. Der Politiker war hef-tig geworden, er hatte den Mann ange-fahren: Er wolle nichts mit ihm zu tunhaben, wenn er nicht endlich Beweise lie-fere, die Barschel reinwaschen könnten.Der Fremde hatte geantwortet, er müssekurz etwas holen, und war aus dem Ho-telzimmer gegangen. Nun saß der Ex-Re-gierungschef alleine in seinem Stuhl undnippte an dem Beaujolais, den der Frem-de aufs Zimmer bestellt hatte. Er dachtevielleicht darüber nach, was alles schief-gelaufen war in den vergangenen Mona-ten. Welche Fehler er begangen hatte.Und dass dieser seltsame Unbekannte,der so viel zu wissen schien und ihm of-fenbar helfen wollte, sein Leben viel-leicht wieder in die richtige Richtung len-ken würde.

Etwa eine Stunde später kam das Kil-lerkommando.

Sie waren zu fünft. Als sie die Tür zumZimmer 317 des Genfer Hotels „Beau-Ri-vage“ öffneten, lag Barschel auf dem Fuß-boden. Ohnmächtig vom Schlafmittel,das man ihm in den Wein gemischt hatte.Professionell beendeten die Attentäterdas Leben des 43 Jahre alten Politikers:Sie legten ihn verkehrt herum aufs Bett,den Kopf ans Fußende, steckten ihm ei-nen geölten Gummischlauch in denMund und trichterten ihm verschiedeneMedikamente ein, in tödlicher Dosis.

Dann zogen sie ihm die Hose aus, zweivon ihnen hielten seine Beine in die Hö-he, ein dritter führte ihm Zäpfchen mitstarkem Schlafmittel ein. Es würde diegiftige Wirkung der anderen Substanzenverstärken. Als sie ihm die Hose wiederangezogen und eine Weile gewartet hat-ten, schleppten sie ihr bewusstloses Op-fer zur Badewanne, die mit Eiswasser ge-füllt war, und legten ihn hinein. WenigeMinuten und einige heftige Krämpfe spä-ter war Uwe Barschel tot. Die fünf Atten-täter flüchteten nicht, bevor sie das Zim-mer aufgeräumt und ihre Spuren ver-wischt hatten. Das versteht sich vonselbst für Profis vom israelischen Ge-heimdienst Mossad.

So hat der frühere Mossad-AgentVictor Ostrovsky die Nacht vom 10. zum11. Oktober 1987 beschrieben. In seinemBuch „Geheimakte Mossad“, das 1994 er-schien, behauptet Ostrovsky, Barschelhabe eine Bedrohung für Israels Geheim-agenten dargestellt und sei deshalb er-mordet worden. Das will er von Agenten-kollegen erfahren haben. Ist Barschel sogestorben?

Bisher galt Ostrovskys abenteuerlicherBericht nur als eine von zahllosen Ver-

Schlafmittel. Cyclobarbital fand sichnämlich in hoher Konzentration im Ma-gen des toten Uwe Barschel, und zwar inseiner unabgebauten Form. In der Blaseließ es sich nicht nachweisen. Der Körperhatte offenbar gerade erst begonnen, dieSubstanz abzubauen. Die anderen Medi-kamente waren im Urin stärker konzen-triert als in Blut und Magen – demnachbefanden sie sich schon länger im Körperund bereits in der Phase der Ausschei-dung. Brandenbergers Schlussfolgerung:Barschel sei handlungsunfähig gewesen,als das todbringende Mittel Cyclobarbi-tal in seinen Körper gelangte. Er habe esdeshalb unmöglich selbst einnehmenkönnen.

Diese Ansicht war umstritten, andereGutachter wollten nicht so weit gehenwie Brandenberger. Doch es gab auchFürsprecher. Seine These war jedenfallsein wichtiger Grund dafür, dass die Lübe-cker Staatsanwaltschaft 1994 das Mord-verfahren „705.JS.33247/87“ gegen unbe-kannt einleitete.

Nun legt Brandenberger seinen neuenAufsatz vor, den er erst vor wenigen Ta-

gen verfasst hat.Dem Toxikolo-gen lässt der Fallkeine Ruhe. Im-mer wieder ana-lysierte er in denvergangenen Jah-ren die chemi-schen Daten undstieß dabei auf

die neue Spur. Er will sie nicht mit insGrab nehmen. „Das bin ich der FamilieBarschel schuldig“, sagt Brandenberger.

Die Asservate hat er nicht neu untersu-chen können. Aber er hat mit den bereitsseit Jahren vorliegenden Analysedatenneue Überlegungen angestellt, die er indieser Zeitung erstmals der Öffentlich-keit zugänglich macht. In einem zweitenSchritt plant er, seine Thesen mit chemi-schen Formeln zu belegen und in einerwissenschaftlichen Fachzeitschrift zu pu-blizieren.

Brandenberger glaubt, anhand deschemischen Befundes nicht mehr nurAussagen über die Todesart Barschels,sondern auch über den oder die Tätertreffen zu können. Dabei stützt er sichvor allem auf ein anderes Medikament,das bereits vor Jahren in Barschels Urinnachgewiesen wurde, bisher aber keinewichtige Rolle in der gutachterlichen Dis-kussion gespielt hat: das stark wirkende,süchtig machende Schlafmittel Noludar.

Brandenberger, der das Medikamentjahrelang erforscht und darüber publi-ziert hat, schreibt, er habe sich langenicht erklären können, warum das Nolu-dar in der Blase nicht in seiner abgebau-ten (metabolisierten) Form vorlag. DerStoff werde nämlich normalerweise sehrschnell im Körper in verschiedene ande-

re Substanzen umgewandelt. Außerdemhielt der Forscher es für auffällig, dassdas Noludar im Urin, nicht aber im Ma-gen zu finden war, wie es bei einer nor-malen Einnahme etwa in Form von Ta-bletten zu erwarten gewesen wäre.

Sterbehilfe ausgeschlossen

Wie der mittlerweile 89 Jahre alte Bran-denberger schreibt, erklärt er sich denBefund nun so, dass „das starke Hypnoti-kum Noludar mit an Sicherheit grenzen-der Wahrscheinlichkeit kurz vor Todes-eintritt rektal verabreicht“ worden sei –wohl noch nach dem Cyclobarbital.Denkbarer Grund: Vielleicht wollten dieAttentäter sichergehen für den Fall, dassman Barschel noch vor seinem Tod fin-den und ihm den Magen auspumpenwürde. Das Noludar wäre dann trotzdemim Körper geblieben und hätte die Gift-wirkung entscheidend verlängert.

Brandenbergers Schlussfolgerung istbrisant: Träfe sie zu, wäre erstens die ver-breitete Theorie widerlegt, wonach UweBarschel freiwillig mithilfe von Sterbe-helfern aus dem Leben gegangen sei. Or-ganisationen für „humanes Sterben“ ar-beiten mit vergleichbaren Medikamen-tenkombinationen, wie sie Barschel imKörper hatte – aber nicht mit rektalenVerabreichungen.

Zweitens meint Brandenberger, ausder chemischen Analyse Hinweise auf ei-ne von langer Hand geplante und vonmehreren Personen ausgeführte Mordtatherauslesen zu können: Dafür sprecheneben der schwierigen rektalen Verabrei-chung seine bekannte These, dass dasCyclobarbital Barschel in einem wehrlo-sen Zustand zugeführt worden sei. Manmüsse sich eine Prozedur mit einem Ma-genschlauch oder Ähnlichem vorstellen.Brandenberger: „Die chemischen Befun-de indizieren einen Mord, wobei (…) auf-grund der Komplexität des Mordgesche-hens davon ausgegangen werden muss,dass ein Profiteam am Werk war, nicht ei-ne Einzelperson.“

Mit Brandenbergers Aufsatz liegt nunerstmals eine wissenschaftlich fundierteBestätigung des umstrittenen Ostrovsky-Berichtes vor. Es gebe auffällige Paralle-len zwischen Mossad-Buch und chemi-scher Untersuchung, so Brandenberger.Ostrovsky beschreibe ein „Szenario, dasmit den Analysendaten erstaunlich gutübereinstimmt“. Anders gesagt: Bran-denbergers Forschungen belasten denMossad. Der Wissenschaftler betont da-bei, dass er seine Schlüsse (Profi-Mord,Magenschlauch, zeitlich versetzte Verab-reichung der Medikamente, zum Schlusseine rektale Zufuhr) bereits gezogen ha-be, bevor er das Ostrovsky-Buch kannte.Wenn das zutrifft, hätten zwei Quellenunabhängig voneinander Bilder des Tat-geschehens gezeichnet, die sich bis inkleinste Einzelheiten ähneln.

Sein Name steht für einen der größten politischen Skandale, den die Bundesrepublik in ihrer Geschichte erlebte: Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel, 43, am 12. August 1987 in Neumünster

„Ein Profi-Team war am Werk,nicht eine Einzelperson“Hans Brandenberger, Toxikologe, in seinem Gutachten

PA/SVEN SIMON

Die sogenannte Waterkantgate-Affärein Schleswig-Holstein wurde vor 20Jahren zu einem der größten politi-schen Skandale der deutschen Nach-kriegsgeschichte:12. September 1987: Am Tag vor derLandtagswahl berichtet das Nach-richtenmagazin „Der Spiegel“ überSchmutzaktionen gegen SPD-Op-positionsführer Björn Engholm. Urhe-ber sei Reiner Pfeiffer, Medienreferentin der Staatskanzlei von CDU-Minister-präsident Uwe Barschel. Bei der Wahlverliert die CDU die absolute Mehrheit;es gibt ein politisches Patt. 18. September 1987: Mit einem „Eh-renwort“ weist Barschel alle Vorwürfe

zurück – undkündigt eine Wo-che später seinenRücktritt an. 9. Oktober 1987:In einem Unter-suchungsaus-schuss gebenSPD-Politiker zu,schon vor derWahl Kontakt zuPfeiffer gehabt zuhaben.11. Oktober 1987:

Barschel wird tot im Genfer Hotel„Beau-Rivage“ gefunden. Die SchweizerBehörden erkennen auf Selbstmord,doch bald kommen Zweifel auf. 3. Februar 1988: Der Untersuchungs-ausschuss kommt zu dem Ergebnis,dass der Anstoß zur Schmutzkampagnegegen Engholm von Barschel kam. 8. Mai 1988: Die SPD holt bei einerNeuwahl die absolute Mehrheit. 1. März 1993: SPD-Sozialminister Gün-ther Jansen gibt zu, 40 000 Markgesammelt und an Pfeiffer gezahlt zuhaben. Er tritt am 23. März zurück.

3. Mai 1993: Björn Engholm tritt alsMinisterpräsident und SPD-Chef zurück.Er habe früher als im Ausschuss gesagtvon Pfeiffer gewusst. 1. Dezember 1994: Die Lübecker Staats-anwaltschaft leitet ein Ermittlungsver-fahren wegen Mordverdachts im FallBarschel ein.23. Oktober 1995: Ein zweiter Ausschussermittelt, dass SPD-Politiker früh vonPfeiffer als Drahtzieher der Kampagnewussten.

Schmutzige Tricks, Verleumdungen und ein rätselhafter Tod: Die Stationen eines beispiellosen Skandals

DIE CHRONOLOGIE VONWATERKANTGATE

„Ich gebe ihnen mein Ehrenwort“:Uwe Barschel vor der Presse in Kiel

SPD-Mann Günther Jansen

Ministerpräsident Björn Engholm(SPD) trat 1993 zurück

Staatsanwalt Heinrich Wille erklärt1998 Indizien für die Mord-Theorie

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2. Juni 1998: Die Staatsanwaltschaftstellt das Mordverfahren im Fall Barschelein. Ob der Tod Selbstmord oder Mordwar, bleibt offen. Der Chefermittler undBehördenleiter Heinrich Wille erklärtjedoch später, dass sich im Zuge derErmittlungen aus seiner Sicht der Mord-verdacht erhärtet habe.27. September 2007: Schleswig-Hol-steins Generalstaatsanwalt Erhard Rexwarnt nach Publikationen vor einseitigenMord-Spekulationen. Es gebe Indiziensowohl für Mord als auch für Selbstmord.

Regal mit Wäsche und Koffer Die Tür ist nicht abgeschlossen

Nachttisch

Buch

Pyjama

Bett

Schreibtisch

Minibar

Nachttisch

Kleider-ständer

Fernseher

Zeitschriften

Kleiderschrank mit Jacke und Mantel

Knopf vonBarschels Hemd

geöffneter Schuh

Notizblöcke

Bidet

Wasch-tisch

Fax an StaatssekretärHebbeln

Aschenbecher

Fenster und Vorhangsind geschlossen

Barschel liegt an-gezogen in der gefüllten Badewanne

geschnürter Schuh

gespültes Weinglas

Duschvorhang

Badematte

leeres Whiskey-fläschchen imAbfalleimer

Toilette

Lampe

Stift

Grafik: Markus K

luger

„Auf dem Bett lag aufgeschlagen dasBuch ‚Gesammelte Erzählungen‘ vonJean-Paul Sartre sowie ein Schlaf-anzug. Der Schlafanzug war unbenutzt,er befand sich in einem zusammenge-legten Zustand. Daneben lag eineangebrochene Rolle mit ‚Mentos Pep-permint‘-Drops.“ In der Akte derStaatsanwaltschaft Lübeck wird detail-liert beschrieben, was die GenferErmittler im Zimmer des kurz zuvorgestorbenen Uwe Barschel vorfanden.„Der bekleidete Leichnam Dr. Bar-schels lag ausgestreckt auf dem Rü-cken mit dem Kopf zum Eingang hin inder Badewanne und war teilweise imBereich der Beine von der ausgehak-ten Dusche samt Duschschlauch be-deckt. Der Kopf des Leichnams ragteaus dem Wasser und war nach rechtsgewandt. Er ruhte auf der rechtenHand, welche mit einem weißen, eben-falls aus dem Hotel stammendenHandtuch umwickelt war. Die Augenwaren geschlossen. Der linke Arm lagauf der Brust. Außer dem Kopf ragtennoch die Fußspitzen aus dem Wasser.Die Haare des Leichnams waren nass,das Gesicht hingegen trocken“, heißtes im Tatortbericht. Im Abfallbehälter wurde unter ande-rem ein zerbrochenes Stielglas undeine kleine geleerte Whiskyflasche derMarke „Jack Daniels“ gefunden. Siestammte aus der Minibar. Das Bett warunbenutzt und mit einer Tagesdeckeüberzogen.Im Flur lag ein Knopf, der gewaltsamvom Hemd gerissen worden war. FürLübecks Ex-Chefermittler HeinrichWille ist das ein Indiz für Mord.

DAS HOTELZIMMER 317 IN GENFAm 10. Oktober 1987 checkte Uwe Barschel in Genf im Hotel „Beau-Rivage“ ein. Einen Tag später wurde er tot aufgefunden

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Abgezeichnet von: Abgezeichnet von:

2 1 . N O V E M B E R 2 010 W E LT A M S O N N TA G N R . 4 7 TITELTHEMA 19

ANZEIGEDennoch scheint es auf den erstenBlick Ungereimtheiten zu geben. ZumBeispiel schreibt Brandenberger, das Me-dikament Noludar sei zur Tatzeit nichtals Zäpfchen im Handel gewesen. Aller-dings brauche man für eine rektale Zu-fuhr von Noludar keine Zäpfchen – mankönne auch einen Wattebausch in K.-o.-Tropfen tunken und ihn einführen, dasentspreche demselben Wirkstoff. Außer-dem schreibt Mossad-Aussteiger Ostrov-sky von Pillen, die man Barschel per Ma-genschlauch verabreicht habe. Davonhätten im Magen des Leichnams Rück-stände zu sehen sein müssen. Der GenferGerichtschemiker, der Barschel als Erstertoxikologisch untersuchte, erwähnt inseinem Bericht aber keine Pillenreste. Erschrieb allerdings auch nicht, dass es kei-ne Reste gegeben habe – und nachschau-en konnte später keiner mehr. Der größteTeil des Mageninhalts wurde weggewor-fen. Trotz der vermeintlichen Differen-zen solle man deshalb der Ostrovsky-Spur nachgehen, meint Brandenberger.

Dubiose Waffengeschäfte

Auch beim Fall Barschel stellt sich diesel-be Frage wie bei jedem anderen Verdachtauf Mord: Was ist das Motiv? Warum hät-te der israelische Geheimdienst odersonst jemand Barschel töten sollen? DerCDU-Politiker stand nach einer undurch-sichtigen Schmutzkampagne gegen sei-nen SPD-Kontrahenten Björn Engholmund wegen der verlorenen Landtagswahlvor dem politischen Aus. Als Regierungs-chef war er bereits zurückgetreten.Konnte er in dieser Situation überhauptnoch jemandem gefährlich werden?

Viele Zeugen sagen: Ja, gerade weilBarschel schwer angeschlagen war, habeer eine Bedrohung dargestellt. In der Er-mittlungsakte der Lübecker Staatsan-waltschaft gibt es eine Reihe von Aussa-gen, die Barschel in die Nähe von dubio-sen Waffengeschäften mit Transit überSchleswig-Holstein rücken. Je nach Hin-weisgeber soll der Ministerpräsident vonschmutzigen Deals mit der Tschechoslo-wakei, dem Apartheid-Regime in Südafri-ka oder dem Nahen Osten gewusst odersie unterstützt haben. Die Meinungen ge-hen auseinander, ob Barschel nur wider-willig Geschäfte dulden musste, die be-reits sein Vorgänger als Ministerpräsi-dent, Gerhard Stoltenberg (CDU), einge-fädelt haben soll, oder ob er selbst trei-bende Kraft war. Beweise für BarschelsVerstrickung gibt es nicht, aber zahlrei-che Aussagen von Zeugen. Viele sehendarin das Mordmotiv. Barschel habe sei-ne bevorstehende Aussage vor dem Kie-ler Untersuchungsausschuss zur Pfeiffer-Affäre nutzen wollen, um die düsterenMachenschaften auffliegen zu lassen.

Glaubt man dem Mossad-AussteigerVictor Ostrovsky, handelte es sich dabeium geheime Geschäfte Israels mit dem

verfeindeten Iran, die den Namen „Ope-ration Hannibal“ getragen haben sollen.Israel habe heimlich Teile für Jagdflug-zeuge des Typs F-4 Phantom an Teherangeliefert. Iran erhoffte sich davon mehrDurchschlagskraft im Krieg gegen denIrak. Um die Herkunft der Rüstungsteilezu verschleiern, seien die heiklen Liefe-rungen unter anderem über Kiel abgewi-ckelt worden. Außerdem sollen Israelisiranische Piloten auf deutschem Bodenan Flugsimulatoren ausgebildet haben –ebenfalls in Schleswig-Holstein.

Neben dem Mossad sei auch der Bun-desnachrichtendienst in die Geschäfteinvolviert gewesen. Als die Sache ausge-weitet werden sollte, habe Barschel seineZustimmung verweigert und nach derPfeiffer-Affäre geplant, alles öffentlich zumachen. Das Risiko habe der Mossadnicht eingehen können, behauptetOstrovsky.

Den Fall Barschel juristisch zu lösengelang bislang nicht. Die LübeckerStaatsanwaltschaft ermittelte wegenMordes, sah also einen hinreichendenAnfangsverdacht – allerdings gegen un-bekannt. Im Zuge der Ermittlungen häuf-ten sich die Hinweise darauf, dass derCDU-Politiker tatsächlich nicht freiwilligaus dem Leben geschieden ist. Trotzdemwurde das Verfahren 1998 eingestellt. DieStaatsanwaltschaft kann es allerdings je-derzeit wieder aufnehmen, wenn neueErkenntnisse vorliegen.

Tote Zeugen, verschwundene Akten

Der Tod Uwe Barschels war von Beginnan mysteriös und bleibt es bis heute. Im-mer wieder ereigneten sich danach rät-selhafte Zwischenfälle, die die Ermittlun-gen ins Stocken brachten. Wichtige Zeu-gen starben unter ungeklärten Umstän-den, sie fielen aus dem Fenster oder erlit-ten Herzattacken. Akten verschwanden.Archive brannten ohne ersichtliche Ursa-che aus. Je mehr sie sich bemühten, destostärker entstand bei den Ermittlern derEindruck, dass die Geheimdienste ihreFinger im Spiel hatten – und bis heutehaben.

Die Serie von Merkwürdigkeiten be-gann bereits mit der Spurensicherung amTatort. Sie war „schlampig bis desaströs“,wie es der „Spiegel“ beschrieb. In einemgeheimen Protokoll einer Sitzung vom 16.Oktober 1987 bei der Schweizer Untersu-chungsrichterin, das dieser Zeitung vor-liegt, heißt es beispielsweise, dass keineProbe des Badewannenwassers entnom-men worden sei. Laut Lübecker Ermitt-lungsakte wurde nicht einmal die Tempe-ratur des Wassers gemessen. Die Aufnah-men des Polizeifotografen waren unter-belichtet und damit unbrauchbar.

Obwohl Barschel ein deutlich sichtba-res Hämatom am Kopf hatte, gingen dieGenfer Ermittler nicht von Gewaltein-wirkung aus. Und das, obwohl man nachihrer eigenen Einschätzung „dem Um-stand Rechnung tragen müsse, dass daein abgerissener Knopf, ein fehlenderSchlips, Flecken auf einer Decke und zer-brochene Gläser waren“. Finger- undHandabdrücke wurden so dilettantischgenommen, dass sie später nicht verwer-tet werden konnten.

Angesichts solcher Zustände diskutier-ten die Lübecker Staatsanwälte früh da-rüber, ob in Genf Spuren absichtlich lü-ckenhaft ermittelt wurden. Die „BaslerZeitung“ (BaZ) berichtete am 15. Oktober1987 über eine mögliche politische Ein-flussnahme: „Nach sehr zuverlässigen In-formationen, welche die BaZ bekam, ha-ben die politischen und Justizbehördenvon gewichtiger deutscher Seite und übermehrere Kanäle den Wunsch übermitteltbekommen, dass es in aller Interesse wä-re, wenn man diesen Fall als Selbstmordeinstufen könnte.“

Erst der Lübecker OberstaatsanwaltHeinrich Wille, der das Barschel-Verfah-ren von 1994 bis 1998 in Deutschlandführte, ermittelte akribischer. In seinemGesamtbericht listet er zahlreiche Indizi-en für einen gewaltsamen Tod auf. Ob-wohl er das Verfahren einstellte, weil erkeine Beweise finden konnte, sieht er denMordverdacht erhärtet. „Die Krawatte ander Leiche war so gebunden, dass einAusriss des Knopfes nicht so ohne Weite-res möglich gewesen wäre. Zudem hatteder Tote ein Hämatom auf der rechtenStirnseite, das auf Gewalteinwirkung hin-deutete“, sagt Wille.

In seinem Abschlussbericht heißt es,dass sich in der Whiskey-Flasche, die indem Zimmer gefunden worden war, nurverdünnter Alkohol befunden habe. Siemuss also ausgespült worden sein. Wille:„Aus Barschels Umfeld war zu erfahren,dass er keine Suizidgedanken gehegt ha-be. Den Entschluss zu einem Selbstmordhätte er frühestens zum Zeitpunkt seinesRücktritts als Ministerpräsident fassenkönnen. Bis zu seinem Tode hatte er abernicht die Möglichkeit, einen etwaigen

Der politische Kontrahent: SPD-Spitzenkandidat Björn Engholm wurde im Landtags-wahlkampf das Opfer einer gegen ihn persönlich gerichteten Kampagne. Als sieaufgedeckt wird, tritt Uwe Barschel vom Amt des Ministerpräsidenten zurück

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Fortsetzung auf Seite 20

„Aus BarschelsUmfeld war zu erfahren, dass er keineSuizidgedankengehegt habe“Heinrich Wille, ehemaliger Lübecker Oberstaatsanwalt

nannte auch richtig den Hauptmetaboli-ten, den er allerdings nicht gesucht hat.Nachdem ich ihn nicht auffinden konnte,änderte er seine Ansicht und gab am 21.Februar 1995 der Genfer Richterin Barbeydie folgende Aussage zu Protokoll: „VonCyclobarbital ist jedoch bekannt, dass eseine schwierige Metabolisierung hat.“

Am 20. Februar 1995 übergab Dr. Staubdie im Genfer Institut nochvorhandenen Sektionsma-terialien von Uwe Barschelan den Lübecker Kriminal-beamten Koop, nämlich:

12 g Mageninhalt (denHamburger Experten vor-enthalten), 25 ml Blut und115 g Leber,

28 g Galle, 5 ml Urin und67 g Niere (uns 1992 ver-heimlicht). Sie gingen zueiner Nachuntersuchung andie Münchner Gerichtsme-dizin. Und diese ergab er-staunliche Resultate:

1. In Blut und Urin hatProf. von Meyer Spurenvon flüchtigen Verbindun-gen festgestellt und schlossauf Einnahme von Alkohol.Seine Begutachtung: „Dieerhobenen Befunde lassensich mit einer Aufnahmevon Whisky und/oder Rot-wein in einer Menge, die inetwa den aufgefundenenund bestellten Flaschenentspricht, vereinbaren.“

2. In Blut, Galle und Urinhat er massenspektrometrisch die Anwe-senheit von Noludar (Methyprylon) fest-gestellt und geschrieben, dieses läge inder Enolform vor. Zudem hätte er Methy-prylon UV-spektrophotometrisch auch inBlut und Galle festgestellt und in allenExtrakten vermessen. Er kam dabei aufunglaublich hohe Werte, nämlich 2 mg/lfür Blut (gaschromatographisch nur 0,19mg/l, also zehnmal weniger), 35,9 mg/l fürUrin und 158 mg/l für Galle.

3. Im Urin hat er drei Metabolite vonDiphenhydramin festgestellt sowie: „Hin-weise auf Anwesenheit einer Oxoverbin-dung von Cyclobarbital, deren Spektrumjedoch nicht mit dem bei Pfleger/Maurer/Weber angegebenen identisch ist“.

am 27. Mai 1994 zu: mein Gutachten (21Seiten) mit drei Beilagen (sieben Seitenmit Strukturbeweisen und Literaturanga-ben für die chemischen Experten).

Münchner Untersuchungen

Ende September 1994 übergab die GenferJustiz mein Gutachten an den leitendenOberstaatsanwalt in Lübeck, Herrn Wille.Dieser übermittelte esdem Institut für Rechts-medizin der UniversitätMünchen mit dem Auf-trag, eine kurze gutach-terliche Stellungnahmezu seiner Plausibilität zuerstellen. Die Professorenvon Meyer und Eisen-menger faxten diese am5. Oktober 1994 nach Lü-beck. Sie gaben an, dassder Urin des Verstorbe-nen sauer gewesen seinkönnte und das hätte dieAusscheidung der saurenVerbindung Cyclobarbitalhemmen können.

Diese Überlegungstammte allerdings nichtaus ihrer Küche. Sie istbereits früher in einemSchreiben des US-Toxi-kologen Basselt an dasMagazin „Stern“ geäu-ßert worden, und ichhatte sie wie folgt beant-wortet: Der Persedon-Wirkstoff Pyrithyldion,der sich sicherlich in derAusscheidungsphase befand, ist auch eineschwache Säure wie Cyclobarbital undnicht etwa basisch oder neutral, wie Bas-selt dachte. Ein saurer Urin hätte auchseine Ausscheidung hemmen müssen.Übrigens habe die Sektion keinerlei Hin-weise auf eine Erkrankung ergeben, diestark sauren Urin liefert.

Trotzdem ging das „Glaubwürdigkeits-Gutachten“ aus München an die Presse.Meine Ausführungen dagegen blieben un-ter Verschluss. Später wurden noch ande-re Theorien geäußert, um zu illustrieren,was die Ausscheidung von Cyclobarbitalhätte hemmen können. Keine hatte fes-ten Grund und Boden. Nur eine Aussagewill ich noch nennen: An der Tagung inEgerkingen sagte Dr. Staub (richtig), dasCyclobarbital baue sich gut ab, und be-

Körper gelangt, ließ sich demnach durchdie Metabolitensuche bestätigen, ledig-lich durch Sichtung des bestehendenGenfer Datenmaterials. Sehr erstaunt hatmich der Nachweis von Noludar (Methy-prylon) im Urin, wird doch dieses Schlaf-mittel im Köper schnell umgebaut und inder Regel nur in Form von Oxydations-produkten ausgeschieden. Es war übri-gens einmal in wässeriger Lösung imHandel, oxydiert aber bei Luftkontakt be-reits in Lösung. Sein Erst-Oxidationspro-dukt wirkt noch stärker hypnotisch alsNoludar. Darauf ist die überaus starke

und schnelle Wirkung der „K.-o.-Trop-fen“ zurückzuführen, die erstmals imHamburger Milieu und später in derSchweiz zur Betäubung von Freiern ein-gesetzt worden sind.

Mein Gutachten

Meinen Anteil des Berichtes habe ich denGenfern geliefert, aber nicht von ihnengehört. Als ich darum Dr. Staub im Mai1994 kontaktierte, meinte er, die Überset-zung sei fast bereit, aber Prof. Fryc und erhätten sich entschlossen, die Metaboli-ten-Nachweise sowie meine Aufdeckungvon Noludar aus dem Bericht zu strei-chen, um die Sache nicht zu sehr zu kom-plizieren. Die Schlussfolgerungen, so sag-te er, möchten sie ohnehin getrennt vonmir formulieren.

Wichtige Informationen zu verbergenist gleichbedeutend mit Fakten fälschen.Ich habe darum am 14. Mai 1994 der Rich-terin Barbey mitgeteilt, dass ich von dervon ihr erwähnten Möglichkeit zur ge-trennten Einreichung des Berichtes Ge-brauch machen müsse und sandte ihn ihr

worfen worden. Ich zog unverrichteterDinge ab, im Glauben, die Untersu-chungsrichterin werde nach dem Rechtensehen. Das war aber nicht der Fall.

Heute halte ich es nicht mehr für un-möglich, dass Professor Fryc Hauptantei-le von Mageninhalt und Urin wegge-schüttet hat, weiß aber auch, dass nochgenügend Nierenmaterial vorlag (Ersatzfür Urin), gingen doch im Februar 1995gut 67 Gramm nach München.

Nachdem es der Genfer Gerichtsmedi-zin gelungen war, zusätzliche Analysenmit ihren Extrakten sowie Neuextraktio-

nen vorläufig zu verhindern, hat Dr. EikeBarschel Einsicht in die Analysedatenverlangt. Dr. Staub wollte das lediglichauf richterliche Anordnung gestatten,denn die Daten stünden unter Geheim-haltepflicht. Diese Einstellung ist mir un-verständlich. Als Zürcher Gerichtschemi-ker habe ich die analytische Beweisfüh-rung auf Anfrage von Opfern oder Ange-schuldigten stets offengelegt. Sie konntenmit ihrem Advokaten oder Experten Ein-sicht nehmen. Wenn man eine Aussagemit Konsequenzen macht, darf man sichauch nicht zieren, die Beweise vorzule-gen.

Am 4. November 1991 hat die Untersu-chungsrichterin Carol Barbey die HerrenProf. Fryc, Dr. Staub und mich vorgela-den. Sie wollte wissen, was Metabolitesind und was für Informationen ihre Er-fassung bringen könnte. Ich erklärte, dasseine totale Abwesenheit oder nur spuren-weise Anwesenheit von Cyclobarbital-Metaboliten die Einnahme einer gestaf-felten Zufuhr (Cyclobarbital später als dieanderen Wirkstoffe in den Körper ge-langt) beweisen würde, insbesondere beiVorliegen von wesentlichen Gehalten anUmbauprodukten der anderen Pharmaka.Umgekehrt würde der Nachweis von we-sentlichen Mengen Cyclobarbital-Meta-boliten im Urin gegen die Annahme einerzeitlich gestaffelten Zufuhr sprechen. DieGenfer Kollegen schienen mit dieser Aus-sage einverstanden.

Ich erwartete nun, die Bewilligung zurEinsicht in die Analysedaten bald zu er-halten. Aber erst nach langem Seilziehenerteilte die Untersuchungsrichterin am10. Februar 1993 den Experten Fryc undStaub sowie mir den Auftrag, die beste-henden Daten zu sichten und eventuellauch zusätzliche kleine Untersuchungendurchzuführen mit dem Ziel, mehr zurChronologie der Medikamentenzufuhr zuerfahren, sowie zur Frage, ob Uwe Bar-schel zum Zeitpunkt der Cyclobarbital-Zufuhr noch handlungsfähig gewesen sei.Bei einem Auftrag an mehrere Expertenwird im Allgemeinen ein gemeinsamerBericht erwartet. Ich fragte darum dieRichterin, was geschehen solle, falls wirnicht einig würden. Ihre Antwort: Dannschreibt halt jeder seinen eigenen Be-richt.

Meine Einsichtnahme in die Daten vonDr. Staub erfolgte am 4. März 1993. In derletzten halben Stunde erschien auchProf. Fryc, und wir setzten für den 31.März 1993 eine Zusatzanalyse mit 5 mlUrin an, um die Diskrepanz zwischen denGenfer und den Hamburger Daten zu klä-ren. Ich übernahm es, den Entwurf überdie Sichtung und Auswertung des Daten-materials auf Deutsch abzufassen, batKollege Staub, über die Zusatzanalyse zuberichten und hoffte, dass Prof. Fryc mei-nen Text übersetzen würde. Hier nurkurz die neuen Erkenntnisse:- Im Urin waren keinerlei Cyclobarbital-Metabolite nachweisbar, der Körper hattedemnach keine Zeit mehr, diese Substanzumzubauen.- Im Urin lag eine ganze Reihe von Di-phenhydramin-Metaboliten vor, der Kör-per war demnach noch in der Lage, Di-phenhydramin abzubauen.- Im Urin, aber merkwürdigerweise nichtin Magen und Blut, gelang mir der Nach-weis von geringen Mengen eines weiterenstarken Schlafmittels, nämlich von Me-thyprylon, den Wirkstoff von Noludar.- Die Zusatzanalyse mit Urin (Suche nachBenzodiazepinen) bewies die Einnahmevon Lorazepam (Wirkstoff von Tavor undTemesta) oder Lormetazepam (Wirkstoffvon Noctamid und Loramet), in vielleichtetwas hochtherapeutischer Dosierung,aber kaum von Bedeutung für das Ge-schehen.

Meine Aussage vom Dezember 1987,das todbringende Cyclobarbital sei erstnach den übrigen Medikamenten in den

Hamburgs „Cocktail“-Hypothese

Anschließend an die Genfer Untersu-chung wurden noch im Jahr 1987 einigeOrgane von Uwe Barschel in Hamburgnachuntersucht. Diese Gutachter bestä-tigten die Genfer Hauptbefunde und wie-sen zusätzlich nach, dass der Verstorbeneauch eine recht hohe Dosis des Beruhi-gungsmittels Tavor eingenommen hatte.Der Hamburger Gerichtsmediziner be-richtete den Medien, die am Todesge-schehen beteiligten Wirkstoffe seien inForm eines Cocktails eingenommen wor-

den. Ich wundere mich, wie er zu einersolchen Behauptung kommen konnte,stand doch den Hamburgern weder Ma-geninhalt noch Urin für ihre Untersu-chung zur Verfügung, und auch kein Glasoder anderer Behälter für den angebli-chen Cocktail.

Dr. Staub hatte in seinem Gutachtenkeinen solchen Schluss gezogen, die Aus-sage des Hamburger Gerichtsmedizinersspäter aber übernommen. Im „AnalyticalForum 88“, einer öffentlichen Tagungüber Instrumentalanalytik in Egerkingen(Schweiz) im Februar 1988, referierte erüber seine Untersuchungen im TodesfallBarschel. Die Frage, ob die Medikamentezusammen oder nacheinander eingenom-men worden seien, beantwortete er mit:„Zusammen, als Cocktail“. Zur Nachfra-ge, warum dann der Uringehalt von Cy-clobarbital so niedrig sei, meinte er, die-ses Schlafmittel werde im Körper raschumgebaut und liege im Urin als Metabolitvor. Warum hat er ihn dann nicht erfasst?

Metabolitensuche

Die Familie des Verstorbenen hat in derFolge in einem aufwendigen mehrjähri-gen Kampf mit der Gerichtsmedizin undJustiz versucht, eine Suche nach Metabo-liten zu ermöglichen. Das sei, hatte ichihr berichtet, auf verschiedenen Wegenmöglich:- durch Nachuntersuchung der beste-henden Extrakte von Urin oder Nieren-gewebe;- durch Neuextraktionen mit Untersu-chung der neuen Extrakte dieser Materia-lien;- durch Sichtung der bereits vorliegendenGenfer Daten (Computer-Ausdrucke).

Als die Untersuchungsrichterin nachdrei Jahren endlich das Genfer Institutanwies, Dr. Eike Barschel (Bruder vonUwe Barschel) und mir Urin und Magen-inhalt des Verstorbenen zu übergeben, er-lebten wir eine böse Überraschung.Dr. Staub zeigte uns in seinem Institutzehn Milliliter (ml) Urin in einem mitFettstift beschrifteten Plastikröhrchenund bot uns die Hälfte an. Mehr sei nichtvorhanden, auch von Nierengewebe nurein kleinster Rest. Professor Fryc behaup-tete, sowohl der nicht untersuchte Urin(über 0,5 Liter) sowie der Mageninhalt(der nicht einmal vorher vermessen wor-den war) seien fortgeworfen worden.

Das habe ich selbstverständlich nichtgeglaubt. Untersuchungsmaterialien ver-werfen ist gleichbedeutend mit Beweis-material zerstören und strafbar. Auch dieExtrakte, sagte Dr. Staub, seien alle ver-

Die chemische Unter-suchung von Körper-flüssigkeiten und Or-ganen von Vergiftetenkann erstaunliche In-formationen liefern.Die für die Vergiftung

verantwortlichen Stoffe lassen sich nach-weisen und quantifizieren. Der Vergleichihrer Gehalte in Magen, Blut und Urin so-wie die Miterfassung der möglichen Um-und Abbauprodukte im Körper (Metabo-lite) gestattet Rückschlüsse auf den zeit-lichen Ablauf des Geschehens. Nicht sel-ten geben die Analysedaten auch Aus-künfte über die Hintergründe der Vergif-tung, zum Beispiel über die Frage, ob vonUnfall, Selbstmord oder Mord ausgegan-gen werden kann, es finden sich sogar In-dizien über die Täterschaft.

Die Ansprüche an den Analytiker sindhoch. Er muss die Techniken der Analysevon biologischem Material beherrschen,ein guter Instrumentalanalytiker sein,über Umbau und Abbau von Fremdstof-fen im Körper (Metabolismus) Bescheidwissen und darf bei der Interpretationder Daten nicht belastet sein von den äu-ßeren Umständen des Ereignisses.

Zur unmittelbaren Todesursache

Als Schweizer mit amerikanischer Familiebin ich eher westorientiert und kenne diedeutsche Politik wenig. Von Uwe Bar-schel hörte ich erstmals am 11. Oktober1987, als der Rundfunk die Nachrichtdurchgab, er sei tot in einem Genfer Ho-tel aufgefunden worden. Ich weilte auf ei-ner Sitzung einer Senatskommission derDeutschen Forschungsgemeinschaft(DFG) in München. Einige meiner Kolle-gen sprachen sogleich von klarem Selbst-mord. Meine Frage, warum sie das ohnenähere Informationen behaupten könn-ten, wurde nicht beantwortet. Ich musstedie Sitzung leiten, dachte nicht mehr andas Ereignis, hatte lediglich mitbekom-men, dass Dr. Barschel Spitzenpolitikerund Ministerpräsident eines deutschenLandes gewesen sei. Ich kannte nicht ein-mal seine Parteizugehörigkeit.

Erst am 20. Dezember 1987 kam ich er-neut in Kontakt mit der Angelegenheit.Ein Schweizer Journalist, dem ich frühertoxikologische Fragen beantwortet hatte,kontaktierte mich. Er sei mit einem Kol-legen in Genf, um Informationen zumTodesfall Barschel zu sammeln. Sie hät-ten sich den Bericht der Genfer Gerichts-chemie, damals noch unter strengem Ver-schluss gehalten, verschaffen können(wie, wollte er nicht sagen). Er las mir dieZusammenfassung vor mit den Gehalts-angaben von vier in Magen, Blut und Urinvorgefundenen Pharmazeutika. MeinKommentar: Das tödlich dosierte Schlaf-mittel Cyclobarbital sei erst nach den an-deren ebenfalls hoch dosierten hypno-tisch und/oder sedierend wirkenden Mit-teln in den Körper gelangt.

Damit stach ich in ein Wespennest, amfolgenden Nachmittag rückten die zweiHerren mit einer TV-Equipe an und er-suchten mich, meine Aussage öffentlichzu wiederholen. Ich erbat mir eine Stun-de Zeit, um den Bericht des Genfer Ge-richtschemikers Dr. Staub zu lesen, standdann Rede und Antwort. Ich nannte dieUntersuchung solide, die Schlussfolge-rung (tödliche Dosis des SchlafmittelsCyclobarbital, wirkungsverstärkt durchdie ebenfalls toxisch dosierten drei wei-teren Pharmaka Pyrithyldion, Diphenhy-dramin und Perazin) vernünftig, sagteweiter, dass das todbringende Cyclobar-bital sehr wahrscheinlich erst nach denanderen Mitteln eingenommen wordensei, denn es befinde sich erst in Anflu-tung (hoher Gehalt im Magen, höhereKonzentration im Blut als im Urin), dieanderen Medikamente bereits in Aus-scheidung (Konzentration im Blut tieferals im Urin).

Streng beweisen ließe sich das durchSuche nach den Pharmaka-Abbauproduk-ten (Metabolite). Die Frage, ob Dr. Bar-schel trotz der toxischen Dosen von dreihypnotisch und sedierend wirkendenPharmaka bei der Zufuhr von Cyclobar-bital noch handlungsfähig gewesen sei,beantwortete ich mit: „Es ist unwahr-scheinlich, dass er wusste, was er tatoder was mit ihm geschah.“

Im Hinblick auf die Reaktionen meinerKollegen an der DFG-Sitzung war ichnicht allzu sehr erstaunt, dass nach Aus-strahlung der Befragung nicht wenigePresseorgane über mich herfielen. Dassmir hingegen der Genfer Gerichtschemi-ker Dr. Staub die Anregung verübelte,noch nach Metaboliten zu suchen, kannich nicht verstehen. Die Miterfassungvon Giftstoff-Umbauprodukten ist fürmich ein integraler Teil jeder toxikologi-schen Analyse, gibt es doch Stoffe, diesich nur in metabolisierter Form nach-weisen lassen. Auf meine spätere Frage,warum er es nicht getan habe, antworte-te Dr. Staub, man habe das nicht ver-langt. Aber wer sollte denn einen solchenAuftrag stellen? Sicher nicht die sachun-kundige Untersuchungsrichterin (Juris-tin). Oder dachte der Chemiker vielleichtan seinen Kollegen, den Gerichtspatholo-gen Professor Fryc?

Das GutachtenDer Schweizer Toxikologe Hans Brandenberger erklärt, welche

chemischen Hinweise auf professionelle Täter deuten

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A Metabolismus: Fachwort für Stoff-wechsel, also die Verarbeitung vonStoffen im menschlichen Körper. DieZwischenprodukte, die dabei entste-hen, nennt man Metabolite. A Cyclobarbital: Ein Beruhigungsmittel,das zu den Barbituraten zählt. Nacheinhelliger Meinung aller Experten wardas Cyclobarbital das Mittel, das UweBarschel getötet hat. A Noludar: Ein Beruhigungsmittel desSchweizer Pharmaherstellers Roche. Eskam 1955 in den deutschen Handel undkann abhängig machen. Noludar (Wirk-stoff: Methyprylon, ein Barbiturat) wirdheute kaum noch verwendet.A Massenspektrometrie: Verfahren,mit dem man chemische Teilchen undVerbindungen identifizieren kann. EinVorteil ist, dass es auch bei sehr kleinenProben anwendbar ist.

GLOSSAR Die wichtigsten Begriffe aus dem

toxikologischen Aufsatz

PROF. HANS BRANDENBERGER

Der Chemieprofessor undForensiker war einer derwichtigsten Gutachter beiden Ermittlungen zum TodUwe Barschels. Branden-berger war jahrelangLeiter der ChemischenAbteilung am Gerichts-medizinischen Institut derUniversität Zürich undPräsident der Internatio-nal Association of ForensicToxicologists. Er ist heute89 Jahre alt.

Fortsetzung auf Seite 22

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Abgezeichnet von: Abgezeichnet von:

2 1 . N O V E M B E R 2 010 W E LT A M S O N N TA G N R . 4 7 TITELTHEMA 21

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W E LT A M S O N N TA G N R . 4 7 2 1 . N O V E M B E R 2 01022 AUS ALLER WELT

Für Gimli wird es eng,findet Nick. Gimli istseine kasachischeZwerghamsterin. Ichwürde sagen, für sie istes überall eng, denn sieist stark übergewichtig.

War sie immer schon und bleibt sieauch, obwohl unser Sohn seine Anver-traute mit einem überaus straffen Sport-programm fit hält. Er ist der Magath derHamsterbesitzer. Nicht nur, dass Gimlitäglich im Laufrad mehrere HundertRunden dreht, sie turnt auch am Gitterihres Käfigs herum und macht Purzel-bäume, indem sie vom Dach ihres Häus-chens fällt. Trotzdem will sie irgendwienicht abnehmen. Dies veranlasste Nickzu dem Befund, dass nichtsie zu dick für ihren Hams-terkäfig sei, sondern der Kä-fig zu klein für Gimli. Siebrauche mehr Auslauf,meinte er.

Also fuhren wir gemein-sam zum örtlichen Bau–und Gartencenter. Wir woll-ten Gimli aus dem sozialenWohnungsbau rausholenund in einen Palast umzie-hen lassen, irgendwie Cin-dy-aus-Marzahn-mäßig, nurohne Perücke. Man sagt üb-rigens nicht mehr Hamster-käfig, genauso wenig wieman noch Nudel sagt oder Sprudel.Sprudel ist Wasser mit Gas, Nudel istPasta und Hamsterkäfig heißt imSprachgebrauch der Kleintierindustriejetzt Nagerheim. Das klingt sehr nachSchwäbisch Hall, finde ich. Wir fuhrenjedenfalls in das örtliche Bau- und Gar-tencenter und steuerten direkt auf dieNagetierabteilung zu. Das erste schonvon Weitem sichtbare Nagerheim gefielNick sehr und war so groß, dass er be-quem selber darin hätte einziehen kön-nen. Er wollte es unbedingt haben. DasModell hieß „Nagerheim Hoppel“.

„Nick, wir werden Gimliin diesem Ding niemalswiederfinden. Wir wer-den nicht einmal mer-ken, wenn sie in denHamsterhimmelgeht“, mahnte ich.

„Geht sie ja nicht“,gab er bestimmt zu-rück und darüberwollte ich nicht disku-tieren, das hätte zu weitgeführt. Das Argument, dass„Hoppel“ mehr auf Kanin-chen und Hasen gemünztsei, überzeugte ihn im-merhin. Er lenkte sei-

ne Aufmerksamkeit auf das „NagerheimToscana“, ein aprikosenfarbenes Mach-werk mit kleinen Säulen und mehrerenTerrassen. Ich sagte Nein, denn Gimlisoll nicht wohnen wie Bauherren inBrandenburg.

Nick schwenkte auf das „NagerheimBonanza“ um, danach auf „Celeste“,aber ich konnte ihn davon überzeugen,dass er vom ständigen Ansehen diesesscheußlichen rosa Plastikhäuschenswahrscheinlich erst Albträume und mitder Zeit eine posttraumatische Belas-tungsstörung bekommen würde. VonGimli ganz zu schweigen. Hamsterkäfigesollten freundlich aussehen, aber nichtviel farbenfroher als das restliche Lebeneines Achtjährigen. Nachdem wir einenVerkäufer verschlissen hatten, der sichin die Mittagspause absetzte und nichtzurückkehrte, entschieden wir uns fürdas recht funktionale und farblich un-auffällige Modell „Alexander“, in wel-chem man mehrere Ebenen einziehenkann, sodass Gimli abwechslungsreichwohnt, aber davon nicht überfordertwird.

Bei der Einrichtung erlahmte NicksInteresse, er wanderte ab in die Fisch-Abteilung, wo er ein Spongebob-Aquari-um entdeckte, das ihm beinahe denAtem raubte. Ob Gimli nicht darin woh-

nen könnte, fragte er bebenden Her-zens. Ich zeigte ihm einen Vogel, denn

Hamster können meines Wissens nichttauchen. Nein, auch nicht, wenn man ih-nen einen langen Strohhalm zum At-

men gibt. Nein und abermals nein.„Dann eben ohne Wasser“,

bettelte Nick, aber ich finde,Hamster gehören in Nager-heime und nicht in Fischhei-me. Wir einigten uns nacheiner quälenden Diskussionauf einen Kompromiss und

erwarben das Nagerheim„Alexander“ mit der Spongebob-

Möblierung des Aquariums. In Gim-lis neuem Wohnkomplex hängt alsoein Wasserfilter, neben dem Hams-terrad steht eine kleine Palme. Dar-

unter sitzen der Seestern Patrick undsein Freund Spongebob. Gimli besitzteine Ananas zum Durchschwimmen,eine Schatztruhe für ihr Futter undkann sich in die Nachbildung einesMotorbootes setzen. Sie schläft in ei-nem großen vermoosten Totenkopfaus Plastik, den sie mit Heu undStreu vollgestopft hat. Bisher wis-sen wir nicht, ob sie sich wohl-fühlt, wir haben sie seit Tagen

nicht mehr gesehen. Ich glaube,sie traut sich nicht raus.

Oder sie ist in denHamsterhimmel ge-

gangen.

Ein neuesHeim fürGimli

Prinzessin Madeleine erzähltvon ihrer TrennungINTERVIEW Die Zeit der Trennung vonihrem früheren Verlobten Jonas Berg-ström im April dieses Jahres sei diebisher schwierigste Zeit in ihrem Le-ben gewesen, hat Prinzessin Madeleinevon Schweden, 28, der Zeitung „Da-gens Industri“ erzählt. „Was ich durch-lebt habe, war sehr privat, aber dassalles so öffentlich wurde, machte es fürmich noch schwerer“, sagte das jüngsteder drei Kinder von König Carl XVI.Gustaf und Königin Silvia. Es sei einegute Entscheidung gewesen, Schwedenzu verlassen und nach New York zugehen. Kronprinzessin Victoria, ihreältere Schwester, habe ihr in dieser Zeitsehr geholfen. Der schwedische Königspalast hatte imAugust 2009 Madeleines Verlobung mitdem Stockholmer Juristen Bergströmbekannt gegeben. Die beiden warendamals seit sieben Jahren ein Paar.Nach Berichten über eine angeblicheGeliebte Bergströms und weitere Be-ziehungsprobleme gab der Palastim April die Trennung desPaars bekannt. Madeleine zogkurz darauf nach New York,wo sie für die von ihrerMutter gegründete StiftungWorld Childhood Founda-tion arbeitet. Seither kehr-

entschloss sich, sie zu bekämpfen. Der48-jährige Pastor der „Living WorldChristian Fellowship“ im US-Bundes-staat New Jersey hat die Verheiratetenseiner Gemeinde aufgerufen, der In-ternetplattform Facebook zu entsagen.Denn der Pastor sieht in ihr eine Ge-fahr für das eheliche Glück. Allein imvergangenen halben Jahr, so berichteteer einer Zeitung, hätten rund 20 Paarewegen Eheproblemen seinen Rat ge-sucht. Der Grund: Einer der Partner(oder beide) hatte über Facebook mitfrüheren Partnern Kontakt aufgenom-men oder gar Fremde, die sich aufFacebook als Single deklarierten, kon-taktiert. KNA

Ursache für Brand auf Fähre:Technischer Defekt bei BusSCHIFFFAHRT Kurz vor dem RostockerHafen ist am Freitagabend auf derFähre „Mecklenburg-Vorpommern“ einFeuer ausgebrochen. Auf dem Auto-deck geriet ein Kleinbus in Brand, wiedie Wasserschutzpolizei mitteilte.Ursache sei mit „sehr hoher Wahr-scheinlichkeit“ ein technischer Defekt.Der Kleinbus wurde völlig zerstört. DieFlammen griffen auf den Lastwagen,der den Kleinbus transportierte, sowieauf die beiden weiteren geladenenFahrzeuge über. Ein weiterer Lastwa-gen wurde beschädigt. Die Schadens-höhe war zunächst noch unklar. Vonden 136 Passagieren wurde niemandverletzt. Die „Mecklenburg-Vorpom-mern“ befand sich auf dem Rückwegvon Schweden. dapd

zeigten, dass es nach der Explosionweiter zu unsicher sei, die Mine zubetreten, sagte der örtliche PolizeichefGary Knowles. Die Helfer befürchtengefährliche Gase in der Grube und einezweite Explosion. Ob die Bergleute imAlter zwischen 17 und 62 Jahren noch

leben, weiß niemand. Die Familien derMänner warten verzweifelt auf guteNachrichten. Bei der Methangas-Ex-plosion in der abgelegenen Pike-River-Mine nördlich von Greymouth auf derSüdinsel waren am Freitag der Stromund die Belüftung ausgefallen. Nurzwei Bergleute retteten sich mit leich-ten Verletzungen aus dem Stollen. DieBehörden befragten die beiden Über-lebenden, um den Hergang des Un-glücks zu klären. Was die Explosionverursachte, lag noch im Dunkeln. dpa

US-Pastor auf Kreuzzuggegen FacebookEHEKRISE Reverend Cedric Miller hatder Sünde ins Auge gesehen – und er

te sie nur selten nach Schweden zu-rück, unter anderem zu VictoriasHochzeit im Juni. Während eines kur-zen Stockholm-Besuchs kündigte sienun an, sie werde erst wieder an Weih-nachten zurückkommen. AFP

Urteil zu Kachelmann sollfrühestens Ende März fallenPROZESS Das Landgericht in Mann-heim, wo derzeit der Vergewaltigungs-Prozess gegen den WettermoderatorJörg Kachelmann verhandelt wird, sollbereits weitere 19 Verhandlungstage fürdas kommende Jahr terminiert haben.Das meldet der „Focus“. Demnachwerde das Urteil frühestens Ende März2011 fallen. Grund für die Verlängerungsei die Vernehmung neuer Zeugen.Dem Magazin zufolge gibt es konkreteHinweise auf weitere frühere Part-nerinnen von Kachelmann, die sichbisher noch nicht bei den Ermittlungs-behörden gemeldet hätten. Diese Frau-en sollten jetzt gesucht und vernom-men werden, hieß es. dapd

Angst um verschütteteBergarbeiter in

NeuseelandGRUBENUNGLÜCK In Neusee-land wächst die Sorge um die 29verschütteten Bergleute – aucham Samstag gab es von ihnen

noch kein Lebenszeichen.Wann ein Rettungs-

versuch starten kann,ist unklar. Luftproben

AUS ALLER WELTkurz & knapp

Prinzessin Madeleineerzählte ungewohntoffen

Ratlose Helfer vor der UnglücksminePike River in Neuseeland

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MELDUNGEN AKTUELLwww.welt.de

JAN WEILER

„Mein Leben als Mensch“

LARISSA BERTONASCO

Der erste Befund: Bei der Alterungvon so geringen Mengen biologischemMaterial tritt immer eine geringe Fäulnisein. Es entstehen Spuren von den flüch-tigen Verbindungen, die Prof. von Meyeraufgelistet hat. Am sogenannten rundenTisch in Lübeck vom 5. Juni 1997 hatProf. Schmoldt seinen Kollegen vonMeyer gefragt, ob seine flüchtigen Ver-bindungen nicht durch Fäulnis verur-sacht sein könnten. Seine Antwort: „Dasist schon möglich.“ Im Gutachten an dierechtliche Behörde steht das nicht.

Der zweite Befund: Um 1965 musstenwir in Zürich eine große Zahl Noludar-Vergiftungen untersuchen. Ich kenneden Metabolismus dieser Substanz, habeauch viel darüber vom Roche-ChemikerDr. Schnyder erfahren, der Noludar syn-thetisiert hat, sowie von Mediziner undChemiker Prof. Pribilla (Kiel & Lübeck),dessen Habilitationsschrift den Noludar-Metabolismus beinhaltet. Auch ich habezu diesem Thema publiziert.

Bereits bei der Auffindung von nichtmetabolisiertem Noludar im GenferUrinextrakt (und nicht im Magen undBlut) war ich verunsichert. Ich hatte denEindruck, diese Substanz könnte kurzvor dem Tode rektal verabreicht wordensein. Das Münchner Gutachten ist aberdamit unvereinbar. Prof. von Meyerschreibt, Methyprylon liege in Enolformvor und sei UV-spektrophotometrischvermessen worden. Aber massenspektro-metrisch kann man nicht zwischen Enol-und Ketoform unterscheiden. Und dieFarbintensität von Noludar (im nichtsichtbaren UV-Spektralbereich) ist so ge-ring, dass sie in einem Extrakt aus biolo-gischem Material kaum erkennbar, ge-schweige denn messbar ist. Ich habe mei-ne Bedenken am 10. Oktober 1995 derStaatsanwaltschaft Lübeck (Herrn Wille)mit Kopien an die Genfer Justiz (Gene-ralstaatsanwalt Bertossa sowie Untersu-chungsrichterin Barbey) schriftlich mit-geteilt. Ich ließ durchblicken, dass eineAbklärung dieser Fragen für die Untersu-chung von Wichtigkeit sein könnte, er-hielt jedoch kein Echo.

Auf meine Bitte sandte mir der Lübe-cker Staatsanwalt Sela am 6. Mai 1996 ei-nige aus München mit großem Verzugangelieferte Dokumente zu den Noludar-Analysen. Die massenspektrometrischeIdentifikation in Urin und Galle scheintkorrekt. Die der UV-spektrophotometri-schen Nachweise allerdings nicht. Nolu-dar besitzt ein Absorptionsmaximum um295 nm. Die Münchner haben eine Ver-bindung mit Maximum um 306 nm aus-gemessen, wahrscheinlich Persedon(Pyrithyldion), dessen Farbintensität (imUV) circa zwei Zehnerpotenzen intensi-ver ist. Ich habe Herrn Sela geraten,Prof. Pribilla (Lübeck!) zur Begutachtungzuzuziehen. Er wollte nicht.

Der dritte Befund: Er stützt die An-sicht, dass Cyclobarbital nach Diphenhy-dramin eingenommen wurde. Doch vonMeyer hält dem erneut die Theorie vonBasselt entgegen. Meine Erwiderung da-zu hat er wohl nicht gelesen. Er bemän-gelte zusätzlich, dass meine Metaboliten-suche nicht auch Pyrithyldion und Pera-zin umfasst, trotzdem er weiß, dass Ers-teres im Körper sehr stabil ist und keinemessbaren Metabolite liefert und dassuns Material für eine gezielte Neuextrak-tion auf Perazin-Metabolite fehlte.

Wie ist das Noludar in den Körper gelangt?

Nach dem Studium weiterer mir überHerrn Sela zugesandter Analysendoku-mente aus München erläuterte ich ihmam 27. Juli 96 nochmals (ich hatte das be-reits bei meiner Vorladung nach Lübeckam 14. Mai getan) meine Befunde, haupt-sächlich die Kritik an den Münchner Aus-sagen und Daten über Noludar.

In einem PS zu diesem Schreiben führ-te ich an: „Das Methyprylon [Wirkstoffvon Noludar] hat beim Geschehen sicher-lich eine Rolle gespielt. Ist es Stunden(oder länger) vor dem Tod oral in denKörper gelangt, müssten seine Metaboli-ten nachweisbar sein. Sind sie nicht er-fassbar, so sollte auch die Möglichkeit ei-ner rektalen Verabreichung kurz vor demTode in Betracht gezogen werden“.

Lübecker Besprechungen

An der vorerwähnten Vorladung vom 14.Mai 96 hat Oberstaatsanwalt Wille nuran meiner Begrüßung und Verabschie-dung teilgenommen. An der Bespre-chung zugegen waren Staatsanwalt Sela,ein Polizeibeamter sowie der LübeckerChemiker Dr. Reiter. Gut zugehört hatder Polizist. Staatsanwalt Sela hat stän-dig meine Dokumente fotokopiert, trotzmeines Hinweises, dass alles bereits imDossier vorhanden sei. Dr. Reiter hat ei-nige merkwürdige Kommentare beige-steuert (z. B.: Vielleicht war das Münch-ner Spektrophotometer falsch kali-briert). Etwas später erhielt ich dann ei-nen aus Reiters Feder stammendenÜberblick über meine Ausführungen, inder wesentliche Punkte fehlten.

Am 5. Juni 1997 war ich beim „Run-

den Tisch“ in Lübeck. Leiter warDr. Reiter. Am Vormittag wurden dieDaten aus Genf, Hamburg und Mün-chen gemittelt. Warum, verstand ichnicht, denn die Untersuchungsmateria-lien waren sicherlich nicht identisch.Am Nachmittag wurde theoretisiert,was die Ausscheidung von Cyclobarbitalund seine Metabolisierung verhinderthaben könnte. Ich habe wenig beigetra-gen. In der Forensik sollte man Faktensprechen lassen, nicht unmotivierteVermutungen.

Interessant war, dass einige Teilneh-mer immer wieder auf die Möglichkeiteiner Selbsttötung mit Beihilfe hinwie-sen. Damit geben sie aber zu, dass einezeitlich getrennte Einnahme der Wirk-stoffe auch ihnen plausibel erscheint.Der Noludar-Nachweis passt aber si-cherlich nicht zu einer Sterbehilfe, sowenig wie die zeitlichen Umstände.

Untersuchungsmängel

Eingangs ist erwähnt, dass chemischeToxikologen viele Anforderungen erfüllenmüssen. Ist das im Fall Barschel gelun-gen? Der Genfer Chemiker hat die unmit-telbare Todesursache solide herausgear-beitet, wollte die Umstände ohne Auftragaber nicht weiter beleuchten. Doch Auf-traggeber gibt es in solchen Fällen nicht,weil die übergeordneten Instanzen überdie analytisch-chemischen Möglichkeitennicht Bescheid wissen. Dass vom Patho-logen wichtige Asservate einfach verwor-fen wurden, hat die Untersuchung natür-lich erschwert und ist unverständlich.

Das Hamburger Gutachten wurde vomBerliner Sachverständigen Dr. Katzungstark kritisiert. Das Münchner Gutachtenhätte er wahrscheinlich noch schlechterbeurteilt. Die gerichtschemischen Labo-ratorien sind sicherlich gut ausgerüstet,aber es bestehen Lücken im instrumen-tal-analytischen „Know-how“. So sollteetwa der Chemiker in der Lage sein,Spektren auch deduktiv, also ohne Com-puter-Bibliothek, auszuwerten, denn Ein-träge können in diesen fehlen (wie vor 25Jahren die Diphenhydramin-Metabolite)oder falsch registriert sein (wie damalsdas Noludar).

Wahrscheinlich den größten Fehler ha-ben jedoch die Auftraggeber gemacht, alssie Nachanalysen an Experten vergaben,die sich über das Geschehen schon einUrteil gebildet hatten. Das gilt sicher fürMünchen. Aber auch die Aussage desHamburger Gerichtsmediziners über diekombinierte Wirkstoffeinnahme als„Cocktail“ basierte ja nicht auf den Ana-lysendaten seines Institutes.

Hinweise auf Täterschaft

Ich kannte weder die politischen Ver-hältnisse noch die Vorgeschichte und ha-be die deutschen Zeitungen mit ihrenAussagen auch nach meiner Involvierungin die Untersuchung kaum gelesen. Ichwollte so gut wie möglich unbeeinflusstbleiben. Nach Sistierung der Angelegen-heit und als Pensionär mit etwas mehrZeit habe ich jedoch die Bücher zum Falldurchgesehen und bin auch auf den Be-richt von Victor Ostrovsky gestoßen:„The other side of the Deception“ (Har-per Collins, 1994), auf den mich ein Gen-fer Journalist bereits früher einmal auf-merksam machen wollte. Dort wird de-tailliert ein Mordszenario an Uwe Bar-schel durch eine Gruppe von Mossad-Leuten beschrieben.

Im Unterschied zu anderen Bekenner-Erklärungen oder Vermutungen sindOstrovskys Angaben über die Verabrei-chung der Wirkstoffe recht gut vereinbarmit den analytisch-chemischen Daten:Zuerst die Betäubung durch den Wein-Zusatz, dann – nach einer guten Stunde– die Zufuhr einer tödlichen Schlafmit-teldosis über einen Magenschlauch, ge-folgt durch rektale Eingabe eines Suppo-sitoriums mit einem starkem Sedativ.

Allerdings bestehen auch Differenzen:Ostrovsky schreibt, dass durch den Ma-genschlauch Pillen eingespült wordenseien. Doch das Genfer Gutachten er-wähnt keine Pillenrückstände im Magen,sagt aber auch nicht, dass keine vorhan-den waren. Das aufgrund der Analysen-daten rektal verabreichte Noludar war inSuppositorienform nicht im Handel;durch Tränken eines porösen Materials(Watte) in K.-o.-Tropfen ist es aberleicht herstellbar. Trotz dieser Differen-zen beschreibt Ostrovsky ein Szenario,das mit den Analysendaten erstaunlichgut übereinstimmt. Die chemischen Be-funde indizieren einen Mord, wobei:1. mit Sicherheit feststeht, dass das tod-bringende Cyclobarbital nach stark se-dierenden Wirkstoffen in den Körpergelangt ist, sehr wahrscheinlich im Zu-stand der Handlungsunfähigkeit;2. das starke Hypnotikum Noludar mitan Sicherheit grenzender Wahrschein-lichkeit kurz vor Todeseintritt rektal ver-abreicht wurde, was mit der Hypotheseeines Selbstmordes mit fremder Hilfe(„humanes Sterben“) unvereinbar ist;3. aufgrund der Komplexität des Mord-geschehens davon ausgegangen werdenmuss, dass ein Profiteam am Werk war,nicht eine Einzelperson.

Fortsetzung von Seite 21