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BEA NADI MÄRCHEN VON DEN GÖTTERN Diese Märchen erzählen von einem ungezügelten Streben sich über die Allgemeinheit zu erheben, von einem Höhenflug der Individualität. Und dennoch - diesem Bestreben liegt die Sehnsucht nach Vereinigung zugrunde, nach dem Glück der Gemeinsamkeit, nach dem Auslöschen eben dieser Individualität und dem erneuten Versinken in der Gemeinschaft. Sich von seinem Ursprung losreißend vervollkommnet sich der Geist, um eines Tages zu ihm zurückzukehren. Bea Nadi Das Leben auf der Erde wurde von Weowa mit Hilfe des Steins der Weisheit und den Kräften der rechten Seite erschaffen. Aber die Gesetze des Weltalls lassen so eine einseitige Kraftverteilung nicht zu und die Erde zieht aus dem Chaos die Kräfte der linken Seite an. Das System steht vor seinem Untergang. Satara, Weowas erster Gehilfe, schlägt vor, ein neues System mit gleichmäßig verteilten Kräften zu errichten. Weowa ist dagegen. Daraufhin stiehlt Satara den Stein und erschafft auf Satarius ein physisches System mit den Kräften der linken Seite, denn er besitzt nur diese. Erwartungsgemäß treten auch hier Probleme auf wie bei der Erde. Weowa und Satara suchen nach einer Möglichkeit, ihre Systeme vor dem Untergang zu bewahren. Den Problemen ihrer Schöpfungen liegt der Konflikt zwischen beiden Schöpfern zugrunde. Ihn lösend, retten sie ihre Systeme. I. DAS MÄRCHEN VOM STEIN ERSTER TEIL Das grelle Licht verblasste immer mehr und Ani erwachte aus einem tiefen Traum. Vergeblich versuchte sie, seine seltsamen Bilder im Gedächtnis zu behalten. Bald gab sie es mit Bedauern auf. Zurück blieb nur ein unerklärliches Gefühl der Trauer. Ani öffnete die Augen und aus der Dunkelheit des Schlafzimmers tauchten die Umrisse der Gegenstände auf. Hellwach geworden, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihren schlafenden Mann und stand leise auf, um nach den Kindern im Nachbarzimmer zu sehen. Ihr jüngerer Sohn deckte sich nachts oft ab und war noch dazu leicht erkältet. Auch jetzt ragten beide Beine unter der Decke hervor. Ani zog sie vorsichtig zurecht und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Durch die offene Balkontür in die warme Sommernacht tretend hob sie den Blick zum Himmel. Der Mond hatte sich irgendwo versteckt und die Sterne zeichneten sich hell am dunklen Himmelsgewölbe ab. Plötzlich überkam Sie eine unerklärlich starke Sehnsucht, der Wunsch, sich von diesem Körper zu lösen und in den weiten Raum davonzufliegen, frei und ewig wie das Weltall selbst. Ein Beben der

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BEA NADI

MÄRCHEN VON DEN GÖTTERN

Diese Märchen erzählen von einem ungezügelten Streben sich über

die Allgemeinheit zu erheben, von einem Höhenflug der Individualität. Und dennoch - diesem Bestreben liegt die Sehnsucht nach Vereinigung zugrunde, nach dem Glück der Gemeinsamkeit, nach dem Auslöschen eben dieser Individualität und dem erneuten Versinken in der Gemeinschaft.

Sich von seinem Ursprung losreißend vervollkommnet sich der Geist, um eines Tages zu ihm zurückzukehren.

Bea Nadi

Das Leben auf der Erde wurde von Weowa mit Hilfe des Steins der Weisheit und den Kräften der

rechten Seite erschaffen. Aber die Gesetze des Weltalls lassen so eine einseitige Kraftverteilung nicht zu und die Erde zieht aus dem Chaos die Kräfte der linken Seite an. Das System steht vor seinem Untergang.

Satara, Weowas erster Gehilfe, schlägt vor, ein neues System mit gleichmäßig verteilten Kräften zu errichten. Weowa ist dagegen. Daraufhin stiehlt Satara den Stein und erschafft auf Satarius ein physisches System mit den Kräften der linken Seite, denn er besitzt nur diese. Erwartungsgemäß treten auch hier Probleme auf wie bei der Erde. Weowa und Satara suchen nach einer Möglichkeit, ihre Systeme vor dem Untergang zu bewahren.

Den Problemen ihrer Schöpfungen liegt der Konflikt zwischen beiden Schöpfern zugrunde. Ihn

lösend, retten sie ihre Systeme.

I. DAS MÄRCHEN VOM STEIN

ERSTER TEIL Das grelle Licht verblasste immer mehr und Ani erwachte aus einem tiefen Traum. Vergeblich

versuchte sie, seine seltsamen Bilder im Gedächtnis zu behalten. Bald gab sie es mit Bedauern auf. Zurück blieb nur ein unerklärliches Gefühl der Trauer. Ani öffnete die Augen und aus der Dunkelheit des Schlafzimmers tauchten die Umrisse der Gegenstände auf. Hellwach geworden, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihren schlafenden Mann und stand leise auf, um nach den Kindern im Nachbarzimmer zu sehen. Ihr jüngerer Sohn deckte sich nachts oft ab und war noch dazu leicht erkältet. Auch jetzt ragten beide Beine unter der Decke hervor. Ani zog sie vorsichtig zurecht und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Durch die offene Balkontür in die warme Sommernacht tretend hob sie den Blick zum Himmel. Der Mond hatte sich irgendwo versteckt und die Sterne zeichneten sich hell am dunklen Himmelsgewölbe ab.

Plötzlich überkam Sie eine unerklärlich starke Sehnsucht, der Wunsch, sich von diesem Körper zu lösen und in den weiten Raum davonzufliegen, frei und ewig wie das Weltall selbst. Ein Beben der

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Seligkeit durchlief ihren ganzen Körper und sie schloss die Augen mit einem glücklichen Lächeln. Wunderbare Erinnerungen wurden in ihrem Körper und ihrer Seele wach - Erinnerungen eher an einen Traum als an eine wahre Begebenheit. Fasziniert genoss Ani dieses Gefühl bis sie ein Lärm von der Straße aus ihrem abgerückten Zustand holte.

Erstaunt sah sie sich um und schüttelte verwirrt den Kopf. Offensichtlich war sie, an das Geländer gelehnt, für einen Augenblick eingenickt und hatte einen wunderschönen Traum gehabt.

Mit dem Wunsch, erneut in ihm zu versinken, kehrte Ani ins Bett zurück und schlief bald wieder tief ein.

----- In der Zentrale des Angarenreiches1 herrschte helle Aufregung - endlich hatte man den Menschen

entdeckt, der ihnen den Stein der Weisheit zurückholen könnte! Also waren die Anstrengungen so vieler Angaren nicht umsonst gewesen und die langwierige, aufreibende Arbeit trug nun doch noch ihre Früchte. Hoffentlich würde es ihnen diesmal gelingen Satara zu überlisten!

Die Theoren2 hatten den Stein vor langer Zeit Weowa und den Angaren überlassen, damit sie mit seiner Hilfe die Grundlagen für das Leben auf der Erde legten. Später nahm die Entwicklung ihren eigenen Lauf und sie benötigten die Dienste des Steins nicht mehr. Aber in letzter Zeit verschlechterte sich die Lage auf der Erde zusehends. Der Chef - wie Weowa heimlich von den Angaren genannt wurde - wusste nicht, was er noch unternehmen sollte, um die Menschen wieder auf den rechtschaffenen Weg zu bringen. Und weil er nicht wieder eine verheerende Sintflut schicken wollte verblieb ihm nur eine Hoffnung - die Weisheit des Steins könnte ihm eine andere Möglichkeit weisen. Aber der Stein war in Sataras Besitz, seinem ehemaligen ersten Gehilfen, dem klügsten Angar, den es je gegeben hatte.

Begeistert von Sataras Begabung und Können hatte ihm Weowa einst eine der notwendigen Kräfte zum Aufbau eines solchen Systems überlassen - die “Kraft der linken Hand”. Er selbst benutzte diese nicht bei seiner Arbeit und genau das war der Grund, warum sich die beiden später zerstritten. Als es dann um die Erde immer schlechter stand, stahl Satara den Stein, um auf dem Planeten Satarius ein eigenes physisches System3 aufzubauen.

Jetzt bewohnte er die Festung der dortigen Hauptstadt und leitete, verkörpert als Imperator, die von ihm geschaffene physische Rasse. Anfangs glaubten weder Weowa noch die Angaren, dass Satara in der Lage sein würde, nur mit den Kräften der linken Hand und dem Stein der Weisheit ein ganzes System zu errichten. Bislang wurden physische Systeme auf Planeten ausschließlich von Theoren geschaffen, Satara aber war nur ein Angar, wenn auch der klügste und stärkste unter ihnen.

Die Theoren lehnten es strickt ab, den Angaren bei der Wiederbeschaffung des Steins zu helfen. Sie wollten sich nicht in deren innere Angelegenheiten einmischen. Die Angaren und Weowa mussten selbst sehen, wie sie zurechtkommen.

Alle bisherigen Versuche, sich den Stein wieder zu beschaffen, waren fehlgeschlagen. Satara lebte in seiner Festung und hatte sich ein schlaues Signalsystem ausgedacht, das astrale und mentale Eindringlinge auf seinem Planeten sofort entlarvte.

Einmal waren sie dem erträumten Ziel sehr nah gewesen. Es gelang ihnen, in einen Traum des Ersten Ratgebers des Imperators einzudringen und ihm die Idee, den Stein zu stehlen, einzureden. Die Satarianen mochten ihren Imperator nicht besonders wegen der tyrannischen Methoden, mit denen er sie regierte. Der ehrgeizige Ratgeber träumte davon, ihn vom Thron zu stürzen und seinen Platz einzunehmen. Nachdem ihm die Angaren erklärt hatten, dass sich die Macht des Imperators ohne den Stein verringern würde, erklärte er sich bereit, ihnen das kostbare Stück auszuhändigen. Allerdings unterließen sie es ihn zu warnen, dass Satara auch ohne den Stein unvergleichlich stärker als er sein würde.

Zur verabredeten Stunde schickten sie eine Gruppe Mitjanen - eine gut entwickelte physische Rasse eines anderen Systems - auf Satarius. Diese erwartete den Ratgeber an einem versteckten Ort. Doch anstelle des Steins übergab ihnen ein Diener den leblosen Körper des Ratgebers zusammen mit einer Nachricht von Satara. Seine höhnischen und beleidigenden Worte schmerzten die Angaren immer noch.

1 Angar - Engel, ein Astralwesen. 2 Theor - Gott, ein Mentalwesen. 3 System - Gesamtheit alles physischen Lebens auf einem Planeten.

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Wie sich herausstellte, konnte Satara ungehindert in die Gedanken seiner Untertanen eindringen und wusste seit langem von den Plänen seines Ratgebers.

Nur ein Trost blieb ihnen - Satara hatte in seiner Überheblichkeit auch einen Fehler begangen. Sie konnten dem Körper des Ratgebers sein ganzes Gedächtnis entziehen. Nun verfügten die Angaren über eine ausführliche Beschreibung der Festung und diese Informationen würden ihnen jetzt gute Arbeit leisten.

Nach dem letzten Misserfolg kam Mariel auf eine neue Idee. Da sich die Bedingungen auf Satarius und auf der Erde sehr ähnelten, genügte es einen Erdenmenschen zu finden; ihn mit den Erinnerungen des Ratgebers auszustatten; ihn in einen Satarianen zu verwandeln und nach Satarius zu schicken, um den Stein zu entwenden. Satara würde dessen Gedanken nicht lesen können, da die Erdenmenschen nicht seine Schöpfung waren. Als physisches Wesen würden ihn die Signalanlagen nicht registrieren. Die Erdenmenschen waren außerdem ausreichend abenteuerlustig, schlau und hinterlistig, um mit so einer Aufgabe zurechtzukommen. Endlich konnte man diese widerwärtigen Eigenschaften der physischen Rassen zu etwas Nützlichem verwenden!

Anfangs hielten die Angaren die Idee ihres Mitbruders für verrückt, doch dem Chef gefiel sie. Da das natürlich keine Aufgabe für den ersten Besten war, machte sich Weowa persönlich an die Berechnungen der Kriterien, denen dieser Mensch entsprechen musste. Doch als die Angaren das Ergebnis sahen, glaubten sie nicht an die Existenz eines solchen Menschen. Von ihm wurde so viel innere Kraft und Anpassungsvermögen verlangt, dass man selbst auf den oberen Ebenen4 kaum ein derartiges Wesen hätte finden können. Aber Weowa ließ sich nicht entmutigen. Seiner Meinung nach seien auf der Erde alle möglichen geistigen Wesen verkörpert. Da er diese Resultate erhalten hatte, gab es die Möglichkeit einen solchen Menschen zu finden. Man müsse ihn nur suchen.

Das hörte sich einfach an, doch für die Angaren begann eine Ermittlungsarbeit ohnegleichen. Einige Milliarden Menschen einen nach dem anderen zu untersuchen; ihre Eigenschaften mit den schwierigen Parametern der Matrize zu vergleichen und die laufenden Veränderungen im Auge zu behalten - diese Arbeit war ein Alptraum. Nur die völlige Verzweiflung konnte sie dazu bringen, sich an diesen Strohhalm zu klammern. Sie hatten es schon lange aufgegeben an den Erfolg dieser Aktion zu glauben, als sich eines Tages die freudige Neuigkeit verbreitete: “Wir haben ihn gefunden, wir haben ihn gefunden ...!”

Sollte es wirklich so einen Menschen geben? Als dann die Einzelheiten bekannt wurden, waren die Angaren völlig verblüfft. Es war eine Frau! Keiner hätte das erwartet. Alle notwendigen Eigenschaften deuteten auf einen Menschen männlichen Geschlechts hin. Anfangs wollten sie sogar nur Männer überprüfen, der Chef aber bestand auf einer Überprüfung aller. Erneut bestätigte sich, dass er der Weitsichtigere war.

Die Frau entsprach den Parametern der Matrize, als wäre sie speziell für sie hergestellt worden. Die Angaren wollten ihren Augen nicht trauen. Weowa aber schwelgte in Zufriedenheit und erinnerte sie daran, dass sich richtige Berechnungen immer bestätigen.

Jetzt musste man nur noch einen passenden Partner von einer der höher entwickelten physischen Rassen aus einem anderen System finden. Einen Menschen allein auszuschicken um Satara zu überlisten, wäre völliger Unsinn gewesen. Irgendein Klügerer müsste ihm dabei helfen.

Weowa machte sich daran, auch die Kriterien für diesen Begleiter zu berechnen, fand aber keine eindeutige Lösung. Schließlich bestimmte er neun potentielle Partner und kam nach langen zusätzlichen Berechnungen zu dem Schluss, dass sich ihr Mensch selbst einen von ihnen aussuchen musste, wenn die Mission erfolgreich sein sollte.

Alles andere war einfach. Sie mussten die Apparatur zur Übertragung der Erinnerungen des Ratgebers vorbereiten, das Raumschiff für den Flug nach Satarius einrichten und die neun Partnerkandidaten herbringen und unterweisen. Schließlich war alles bereit und die Angaren überführten die Frau in die Zentrale.

----- Bündel ineinander überfließender Lichtfasern durchdrangen den unendlichen Raum. Das scheinbare

Chaos von schillernden Farben reizte die Sinne nicht - das feine Gespinst zeichnete sich zart am

4 Ebene - die Welt ist entsprechend ihrem Schwingungsbereich in Ebenen unterteilt. Die unterste Ebene ist die physische, es folgt die astrale, dann die mentale. Es gibt noch andere Ebenen über ihnen.

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schwarzen Hintergrund ab. Jede Bewegung, jede Farbe, jede Lichtstärke formte eine Melodie ohne Anfang und Ende, eine Melodie, die daran erinnerte, dass alles Existierende nur aus Ton und Licht bestand.

Boar liebte diese Musik der Sphäriten. Sie erfüllte seine Seele mit süßer Sehnsucht nach einem Zustand völliger Ruhe, Liebe und Glückseligkeit. Irgendwann einmal hatte er dieses Gefühl erlebt, doch es schien für immer verloren. Trauer ergriff Boar, bis sie ihn gänzlich eroberte. Mit jeder Faser seines neuen Körpers empfand er seine Zerrissenheit.

Er war ein „Geteilter” - entstammte einem Wesen einer sehr hohen Ebene. Um irgendeine Aufgabe zu erfüllen hatte es sich in zwei Wesen der niederen Ebenen geteilt. Boar erinnerte sich nicht, was diese Teilung erforderlich gemacht hatte. Aber er wusste, dass er ohne einen außerordentlich wichtigen Grund jetzt nicht als Theor existieren würde.

Boar kannte auch andere Paare “Geteilter”. Jedoch war bei keinen von ihnen die Teilung so ungleich. Sein anderer Teil befand sich auf der physischen Ebene. Im Unterschied zu anderen “Geteilten” wusste Boar nicht nur, woher er kam und was er darstellte, sondern blieb auch in ständiger Verbindung zu seinem zweiten Ich und nahm all dessen Gedanken und Gefühle wahr. Und das machte diesen Zustand nur noch qualvoller für ihn.

Er beneidete sein anderes Ich darum, dass es nichts von seinem eigentlichen Wesen wusste und wie ein ganz gewöhnlicher Mensch lebte. Und zugleich schämte er sich dieses Neides, weil ihm durchaus bewusst war, dass die Bedingungen eines physischen Lebens viel schwieriger waren als die, in denen er existierte. Irgendwann einmal, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, würden sie sich erneut vereinen. Seit Boar als Theor lebte, träumte er von diesem Augenblick.

Erneut seine Aufmerksamkeit der zarten Musik der Sphäriten zuwendend versank Boar in diesem unaufhörlichen Treiben, bis jedes Teilchen seines Körpers als ein Teil der allgegenwärtigen Melodie auf den Wellen des Universums mitschwang.

Plötzlich leuchtete ein blendend weißer Punkt vor ihm auf und vergrößerte sich zu einer milchigen Sphäre. Sein Freund Kador kam ihn besuchen. Ebenfalls seit langer Zeit einer der “Geteilten” half Kador Boar, besser mit diesem Zustand zurechtzukommen. Kadors zweites Ich war ein Diabo5, ein astrales Wesen der unteren Ebene, und Kador ertrug die Teilung wesentlich leichter als Boar.

Die milchige Wolke zog sich zusammen und nahm die Gestalt eines Theors an. Erstaunt blickte Boar in das besorgte Gesicht seines Freundes.

“Du gibst dich wieder deinen Gefühlen hin”, warf ihm Kador vor, einen zerstreuten Blick auf die Umgebung werfend. “Aber jetzt erwartet dich richtig Arbeit. Es ist etwas Unvorhergesehenes und ziemlich Unangenehmes passiert.”

Kador verstummte und Boar schärfte alle seine Sinne, um herauszufinden, was geschehen war. “Dieser Unglücksrabe Weowa”, fuhr Kador fort, “der die Angaren leitet, hat schon wieder alles

durcheinander gebracht. Du weißt, sie grübeln schon lange darüber nach, wie sie sich den Stein der Weisheit, der ihnen von Satara geklaut wurde, wiederbeschaffen können. Jemand hatte die glorreiche Idee, einen Menschen der ihnen unterstellten Erde zu diesem Zweck zu benutzen. Zum ersten Mal brachte es Weowa fertig, fehlerfrei auszurechnen, was genau für ein Individuum sie dafür brauchen. Ein echter Erfolg für den alten Esel! Stumpfsinn geht wie immer Hand in Hand einher mit Fleiß. Und so haben sie die ganze Erde auf der Suche nach einem passenden Exemplar umgestülpt.”

Boar hörte mit Vergnügen der groben Rede Kadors zu. Respektlosigkeit war dessen neue Leidenschaft und selbst in diesem offenbar wichtigen Moment vergaß er nicht, sich darin zu üben.

“Nur ein höheres geistiges Wesen als sie selbst ist in der Lage, diese Arbeit zu erledigen. Und genau so eins haben sie gefunden”, fuhr Kador fort. “Rate mal, wen!”

Eine Gefühlswelle wie ein explodiertes Welten-Ei ergriff Boar. In einem Augenblick durchlebte er Vergangenheit und Zukunft. Sofort wusste Boar, was ihm bevorstand, und Freude und Leid verschmolzen zu Eins.

Kador betrachtete ihn mit einem Gemisch aus Bewunderung und Rührung, Mitleid und Neid. Er ahnte, wie schwer es für Boar sein würde, die bevorstehende Prüfung zu bestehen. Aber er würde alles in der Welt dafür geben, an seiner Stelle zu sein und sich wenigstens einmal seinem zweiten Ich zu nähern. Die “Geteilten” konnten der mächtigen Anziehung zueinander nicht entgehen. Solange sie sich in diesem Zustand befanden, trugen sie den Schmerz dieser unnatürlichen Existenz in sich.

5 Diabo - Teufel, ein Astralwesen.

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Boar war in einer besonders schwierigen Lage. Damit sein anderes Ich unter den Bedingungen einer physischen Welt leben konnte, standen ihm der größte Teil des Durchhaltevermögens, der Ausdauer und des Selbsterhaltungstriebs zu. Boar litt unter ihrem Mangel; selbst für einen Theor war er zu zart und verletzlich. Zum Glück war sein zweites Ich eine Frau und so blieb ihm ein großer Teil der männlichen Eigenschaften erhalten.

Boar kam schnell wieder zu sich und fragte: “Weiß Weowa, wer sie ist?” “Nein, natürlich nicht”, antwortete Kador. “Bevor wir uns teilen, sorgen wir dafür, dass die Wesen

der unteren Ebenen nicht mitbekommen, mit wem sie es zu tun haben. Wenn er klug genug ist, wird er es jetzt erfahren. Wir können nicht das Ende ihres Lebens vor der bestimmten Zeit riskieren und deshalb muss sie Erfolg haben.”

Dann fügte er Einzelheiten hinzu: “Der alte Dummkopf begriff, dass sie allein nichts ausrichten kann, aber hier war er mit seinem

Latein am Ende. Er suchte nach einem passenden Partner unter den physischen Rassen und fand natürlich keinen. Nur eins erkannte er richtig: Sie muss ihn sich selbst auswählen. Jetzt haben sie in ihrer Zentrale neun Ungeheuer versammelt und bald beginnt der große Wettbewerb.”

“Ich gehe!” “Warte einen Augenblick”, hielt ihn Kador zurück. “Ich weiß, du verstehst die absurde Situation, in

die euch dieser Hohlkopf bringt. Nur gemeinsam könnt ihr erfolgreich sein, aber du musst dich deinem zweiten Ich sehr nähern und das kann recht gefährlich werden.”

Kador wusste um die Stärke seines Freundes und trotzdem hatte er Angst um ihn. Selten kam es zu Begegnungen von zwei “Geteilten” eines Paares und wenn doch, dann waren sie immer problematisch. Die starke Anziehung zwischen ihnen war ein Naturgesetz und jedes Mal bestand die Gefahr, dass sie sich vereinten, bevor sie ihre Aufgabe erfüllt hatten. Letzteres kam einer Katastrophe gleich. In diesem Fall musste alles von neuem begonnen werden. Wenn Geteilte gezwungen waren, zusammen in einer Gemeinschaft zu leben und sie nichts über die Verbindung zwischen ihnen wussten, hegten sie oft unbewusst Hassgefühle anstelle Liebe zueinander. So schützten sie sich vor dieser Gefahr.

“Wenn sie den Stein kriegt”, fuhr Kador fort, “wird sie von ihm erfahren, wer sie ist und wer du bist. Deshalb wird wohl das Klügste sein, sie darauf vorzubereiten. Zeige dich ihr aber nicht in deiner jetzigen Gestalt als Theor, bleibe nur in deiner Energieform. Sonst wird sie die erneute Trennung von dir nur schwer überleben.”

Sie könnten Weowa dieses Abenteuer auf fremde Kosten einfach verbieten, aber das widersprach ihrem Prinzip, sich nicht in die Angelegenheiten der unteren Ebenen einzumischen, soweit das nicht unbedingt notwendig war. Es wurde sowieso Zeit, Satara den Stein zu entnehmen. Der kluge Angar war auf dem Weg, Weowa zu überholen, und das sollte vorerst nicht geschehen. Möge er sich noch ein wenig mehr zur Erreichung seines Ziels anstrengen. Für den Stein war die Zeit gekommen, zu seinem Ursprung zurückzukehren. Weowa würde eine große Enttäuschung erleben.

Boar wartete ungeduldig und Kador sagte besorgt zum Abschied: “Seid vorsichtig, ich liebe dich und möchte dich wiedersehen. Du weißt: Ich habe kein Recht, euch

zu helfen. Viel Erfolg!” “Danke”, antwortete lächelnd Boar. “Sei unbesorgt, wir werden es schaffen. Ich fühle unsere

Stärke.” Er verwandelte sich in eine milchweiße Wolke und zog sich zu einer kleinen Kugel zusammen.

Über ihre Oberfläche liefen regenbogenfarbige Bänder. Dann kollabierte die Kugel plötzlich zu einem Punkt und verschwand.

Kador hielt noch eine Weile inne und horchte auf seine unruhigen Gefühle, bevor er dem Beispiel seines Freundes folgte.

----- Gedämpfter Lärm und helles Licht, das durch ihre Lider drang, ließ Ani erwachen. Immer noch

schläfrig und mit geschlossenen Augen wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr in ihrem Bett lag und von vielen Leuten umgeben war. Eine unerklärliche Angst überkam sie, aber sie konnte sie unterdrücken und öffnete entschlossen die Augen. Geblendet von grellem Licht setzte sich Ani auf, um sich umzusehen. Sie befand sich in einem gewaltigen Raum. Ihr gegenüber stand ein goldener Thron mit einem hellen Dreieck darüber, das mit unbekannten, leuchtenden Zeichen beschrieben war. Der

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Fußboden war nicht eben, sondern stufenartig und vielleicht das einzige hier, was nicht so viel Licht ausstrahlte. Instinktiv ließ Ani die Augen auf ihm ruhen. Sie hatte irgendwelche seltsamen Wesen bemerkt, aber bevor sie diese genauer betrachten konnte, musste sie sich erst an das störende Licht gewöhnen.

Nachdem der Schmerz in den Augen verging, hob sie den Kopf. Sicher war das ein Traum. Ani hatte das Gefühl, einem Schultheater zu Weihnachten beizuwohnen. Auf dem Thron saß ein trauriger Alter mit langen weißen Haaren und Bart, dessen Augen sie aufmerksam studierten. Ringsherum machten sich jüngere Leute zu schaffen, von denen sie nicht sagen konnte, ob es Männer oder Frauen waren. Sie sahen erstaunlich gleich aus. Die weiße, frei fallende Kleidung, die langen goldenen und lockigen Haare, ihre grünen Augen - sie waren wie aus ein und derselben Form gegossen. Wie alles hier strahlten auch sie Licht aus.

Sie selbst saß im Nachthemd auf einer Art Krankenhausliege. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie am Abend wenigstens das Nachthemd zu Ehren dieses Empfangs gewechselt hatte und musste über den in dieser Situation absurden Gedanken lachen. Diejenigen, die sich in der Nähe der Liege befanden, reagierten mit Erstaunen: Sie rissen ihre grünen Augen weit auf und sahen so komisch aus, dass Ani mit dem Lachen fort fuhr. Sie wusste, dass sie so am einfachsten ihrer Verwirrung Herr werden konnte.

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, wandte sich eins der Wesen an sie: “Du befindest dich in der Zentrale der Angaren. Wir sind für die Verwaltung der Erde zuständig

und dem Schöpfer eures Systems, der dir gegenüber auf dem Thron sitzt, unterstellt. Die Schicksale der Erdenmenschen liegen in seiner Hand. Wir haben dich hierher gebracht, damit du einen schwierigen und gefährlichen Auftrag erledigst. Wenn du ihn erfolgreich bewältigst, bringen wir dich zurück. Vorerst gehe zum Schöpfer und erweise ihm die gebührende Ehre.”

Offensichtlich verlor man hier seine Zeit nicht mit Willkommensgrüßen. Ani mochte es gar nicht, wenn sie jemand herumkommandierte. Der Ton des Gesprächs ließ keinen Zweifel aufkommen, dass man genau das beabsichtigte. Da sie gern trotzig war, obwohl sie gewöhnlich dafür büßen musste, konnte sie sich auch jetzt nicht zurückhalten.

“Ich habe nicht die Absicht, schwierige und gefährliche Aufträge für euch zu erfüllen. Erfüllt sie euch selbst! Morgen erwartet mich viel Arbeit, also übergebt dem Alten viele Grüße von mir und bringt mich ins Bett zurück, damit ich ausschlafen kann.”

Ani ließ sich auf die Liege zurückfallen und schloss die Augen. Sie spürte die allgemeine Verblüffung um sich herum und es tat ihr leid, dass sie sie nicht sehen konnte. Aber eine einmal angenommene Rolle muss zu Ende gespielt werden und Ani widerstand der Versuchung, sich umzusehen.

Eine starke Erschütterung und Schmerz ließ sie auffahren. Ani fand sich am Boden wieder. Irgendjemand musste Strom durch die Liege gejagt haben und offensichtlich irrte sie sich in Bezug auf ihre Sicherheit. Nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, richtete sich Ani auf. Die anderen waren mindestens einen Kopf größer als sie und sahen sie erstaunt an. Offenbar waren sie nicht an Reaktionen wie die ihre gewöhnt.

Plötzlich veranlasste sie etwas zum Thron zu gehen. Es war, als hätte ein anderer die Führung ihres Körpers übernommen und ihr nur die Fähigkeit zum Denken überlassen. Sie konnte nicht anhalten. Kurz danach verbeugte sich ihr Körper vor dem Alten und sie hörte sich irgendwelchen Unsinn wie “Ehrwürdigster, Unnachahmbarer ...” usw. faseln. Ani fühlte sich sagenhaft blöd. Offensichtlich hatte sie die Möglichkeiten der anderen nicht richtig eingeschätzt. „Ich rate dir, dich nicht weiter zu widersetzen und dich anständig zu benehmen“, hörte sie die Stimme des jetzt lächelnden Alten in ihrem Kopf, als würden sich dort fremde Gedanken formen. „Du tust, was wir dir sagen. Wir sind unvergleichlich mächtiger als die Erdenmenschen. Bis ihr unser Niveau erreicht habt, werden Äonen vergehen“'

Danach hörte der fremde Einfluss auf und der Alte fuhr bereits laut fort: “Wir werden dich auf Satarius schicken, einen Planeten, der der Erde sehr ähnlich ist. Wir kümmern uns darum, dass du nicht erkannt wirst. Dein Ziel ist, dich in die Festung des Imperators einzuschleichen und die größte Kostbarkeit aller Zeiten zu entwenden - den Stein der Weisheit. Der Imperator ist kein gewöhnlicher Satariane, sondern der verkörperte Schöpfer dieses Systems und der klügste Angar, der je existiert hat. Sieh zu, dass du ihm nicht unter die Augen kommst. Vorerst übertragen wir in dein Gedächtnis die notwendigen Informationen über den Planeten Satarius.”

Er gab seinen Untergebenen ein Zeichen und einige Angaren führten Ani zu einem entlegenen Ende des Saals. Dort sah sie ein seltsames Gebilde. Es ähnelte einem kleinen Hügel mit einer Höhle, wie für

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einen Menschen bestimmt. Der Hügel bestand aus verstrickten Drähten, Steinen, Blättern und Körnchen zwischen ihnen. Man wies ihr an, sich durch das Loch in die Höhle zu zwängen, wo sie sich in den dortigen bequem geformten Sessel setzte.

Ani schloss die Augen und fragte sich, ob sie diesen sonderbaren Traum wohl in Erinnerung behalten würde, um ihn am Morgen ihren Kindern zu erzählen. Schon lange nicht hatte sie so etwas Interessantes geträumt. Sie entspannte sich und schlief ein.

----- Ani erwachte mit dem Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment platzen. Das war kein Schmerz

sondern das Eindringen von unzähligen Erinnerungen in ihr Bewusstsein - Erinnerungen eines anderen Menschen, eines Mannes von einem anderen Planeten:

...Er sah eine zerklüftete Landschaft und das weite, rotbraune, von vielen Flüssen durchfurchte Tal.

Über die Ebene, in strengen Reihen und zur Erde gebeugt, gingen Menschen in Lederkleidung und sammelten etwas. Er wusste, was sie taten. Sie sammelten die Rigosen-Ernte. Diese schnell wachsenden, rosagrauen Steine waren die Hauptenergiequelle auf Satarius. Sie arbeiteten im Takt mit der Trommel: Beim ersten Schlag brachen sie die Steine an der Basis ab und beim zweiten steckten sie sie in die auf den Rücken gebundenen Säcke...

Die seltsame Erinnerung wurde von einer anderen abgelöst: ...Er befand sich in der Hauptstadt, in seinem Haus nahe der Festung und sah aus dem Fenster. Das

Wetter war schön und neben dem großen Turm sah man die Kleine Sonne und den Großen Mond. Selbst ihm flößte der Turm Angst ein, obwohl er die Lage der Zimmer und dort befindlichen Gegenstände besser kannte als jeder andere. Mit Ausnahme des Imperators vielleicht. Schon allein der Gedanke an ihn ließ ihn erzittern. Wenn der Imperator herausbekäme, was er vorhatte, wäre es um ihn geschehen. Trotzdem hatte er sich zu dem gefährlichen Vorhaben entschlossen nachdem ihm jenes gelbhaarige Wesen im Traum erschienen war und ihm gesagt hatte, was er tun solle. Ohne den Stein würde sich die Macht des Imperators verringern und vielleicht wären sie dann in der Lage, ihn vom Thron zu stürzen. Er hatte herausbekommen, wo sich der Stein befand, aber vorerst keinen Anlass gefunden, ihn an sich zu nehmen...

Alles verwirrte sich in Anis Kopf und aus der Tiefe ihres neuen Gedächtnisses tauchte eine neue Erinnerung auf:

...Vor ihm stand der Imperator und lachte laut. Bis auf den Grund seiner Seele hasste er ihn! Dieses Ungeheuer hatte von Anfang an gewusst, was er vorhatte und abgewartet, bis er wirklich einen Weg fand, das Kästchen mit dem Stein zu entwenden. Der Imperator erfreute sich an der Handlung wie an einem Theaterstück und hielt ihn genau in dem Moment auf, als er meinte, es geschafft zu haben. Brennender Schmerz der Kränkung und Machtlosigkeit überkam ihn. Er hatte seinen Feind unterschätzt! Seinen eigenen gewaltigen Fehler einsehend konnte er gleichzeitig nicht umhin, ihn zu bewundern. Es gibt Kräfte, gegen die man nicht ankämpfen kann und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass hinter dem Imperator eben so eine Kraft stand. Mit geschlossenen Augen erwartete er seinen Tod...

Die fremden Erinnerungen hatten sich wie ein einprägsamer Traum in ihrem Gehirn eingenistet und

störten Ani nicht, sich als eine abgesonderte, unabhängige Persönlichkeit zu fühlen. Sie kroch aus der “Höhle” und sah die zufriedenen Gesichter der Angaren um sich herum. Jetzt

wusste sie etwas mehr darüber, wo sie sich befand und mit wem sie verkehrte. Man hatte ihr nicht nur die Erinnerungen des unglückseligen Ratgebers eingetrichtert. Ani orientierte sich gut in der Umgebung und wusste, dass sie nicht träumte. Trotzdem empfand sie keine Angst. Alles war einfach interessant.

“Nun weißt du, was von dir erwartet wird”, sagte einer von ihnen. “Allein kannst du diesen Auftrag nicht erfüllen und deshalb haben wir einige andere physische Wesen ausgesucht, damit du dir einen Partner wählen kannst. Nur von dir hängt ab, mit wem du dich auf die Reise begibst.”

Man führte sie etwas weiter weg, wo in Reih und Glied neun Ungeheuer standen und sie mit angespannter Erwartung bald mit einem, bald mit mindestens zehn Augen anstarrten. Erneut war Ani zum Lachen zumute und nur mit größter Willensanstrengung konnte sie es unterdrücken. Die Situation hatte etwas unendlich Komisches an sich. Ani fühlte sich wie in ein Märchen mit Helden, Prinzessinnen und Drachen versetzt. Noch immer konnte sie sich nicht völlig des Gefühls erwehren, dass sie träume

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und beschloss, zu scherzen. Mit dem möglichst ernstesten Gesicht drehte sie sich zu den hinter ihr stehenden Angaren um und fragte:

“Und wo ist der Apfel?” Die Augen der Angaren weiteten sich in völliger Verwirrung und Ani konnte sich das Lachen kaum

verbeißen. Offensichtlich hatte man keine Ahnung, wovon sie sprach. Schadenfroh beschloss Ani, ihnen eine Lektion in Mythologie zu erteilen und sagte mit theatralischem Pathos:

“Habt ihr nie davon gehört, dass jede existentielle Auswahl mit einem Apfel getroffen wird? Wir wollen gar nicht erst von Adam und Eva im Paradies reden, sondern von den unzähligen Prinzessinnen, die ihren Gatten auf diese Weise wählten und den Prinzen und Bettlern, die eben mit dieser Frucht bestimmten, wer von den verschleierten Personen vor ihnen ihre Geliebte ist. Jetzt haben wir eine ähnliche Situation. Ich muss mir einen Partner nicht fürs Leben sondern fürs Sterben aussuchen. Das verdient einen Apfel!”

Ani war zufrieden mit dem Effekt ihrer Aufführung. Die goldhaarigen Wesen vor ihr litten offenbar unter einem Mangel an Schlagfertigkeit und hatten überhaupt kein Gefühl für Humor. Trotzdem sie sich voll bewusst war, dass sie sich weder intellektuell noch in der Stärke mit ihnen messen konnte, fühlte sie sich nicht minderwertiger. Woher dieses Selbstbewusstsein kam, wusste sie nicht.

In ihrer Hand erschien ein wunderbarer, gelbroter Apfel. Ani roch an ihm und der herrliche Duft zog ihren Magen zusammen. Plötzlich verspürte sie Heißhunger und biss fast unbewusst in die prächtige Frucht. Vor Überraschung stöhnten die Ungeheuer und Angaren einstimmig auf.

Es fehlte nicht viel, und Ani hätte sich vor Lachen verschluckt. Sie aß den Apfel schamlos auf und betrachtete nachdenklich den Griebs.

“Sicher beleidige ich jemanden, wenn ich ihm diesen abgenagten Rest aushändige. Habt ihr einen Mülleimer?”

Da ertönte eine mächtige Stimme hinter ihr: “Schluss mit dem Affentheater! Du bist hier, um eine Arbeit zu erledigen und nicht, um dich zu amüsieren. Vergiss nicht, dass ich dich bestrafen kann, wann immer ich will!”

Das war der Chef. Ani kannte seinen Spitznamen. Offensichtlich hatte man nicht besonders aufgepasst, als man ihr Informationen über diese Welt übertrug. Der Apfelgriebs verschwand aus ihrer Hand und Ani beschloss, dass sie die Grenze erreicht hatte, bis zu der sie sie reizen konnte, und es klüger wäre, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren.

Ihr war durchaus bewusst, dass die Dinge gar nicht günstig für sie standen. Wie sollte sie dort besser zurechtkommen, wo der Eingeweihteste versagt hatte? Ihr einziger Vorteil war, dass der Imperator ihre Gedanken nicht lesen konnte. Aber das könnte sich auch als Problem herausstellen. Sicher würde er diese Anomalie bemerken, wenn sie sich begegneten. Aber zuerst einmal musste sie überhaupt bis dahin kommen.

Ani wandte sich den Partnerkandidaten zu und fragte sich, wie sie an die Auswahl herangehen solle. Sie wusste - das Äußere spielte keine Rolle und man würde sowohl sie als auch ihren Partner in echte Satarianen verwandeln, ehe man sie losschickte. Sie fasste den Entschluss, alles der Intuition zu überlassen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie immer etwas falsch machte wenn sie versuchte, eine Entscheidung bei so vielen Unbekannten mit dem Verstand zu treffen. Deshalb richtete Ani ihre Aufmerksamkeit nach innen, um den inneren Widerhall bei der Begegnung mit jedem einzelnen aufzufangen. Dann trat sie zum ersten.

Er war zweimal größer als sie, seltsam nach vorn gebeugt und mit einem schuppigen Panzer bedeckt. Ein einziges, großes, gelbes Auge sah sie aus der Mitte des an den Körper gedrückten Kopfes an. Trotz der Furcht einflößenden Maße stufte sie ihn als sympathisch ein. Etwas wie ein Typ, an den du dich mit den Worten: “Hallo, Freund, wie geht's?” wenden kannst und dir die Antwort völlig egal ist. Da bestimmtere Gefühle nicht aufkamen, ging sie zum nächsten.

Eine behaarte Spinne von der Größe eines Kalbs. Die Augen umsäumten ihren Kopf wie eine Perlenkette und zwinkerten nacheinander. Die Spinne betrachtete Ani aufmerksam, war klug und kleinlich. Wie sie das herausbekam, wusste Ani nicht. Sie fühlte es einfach; wie auch, dass sie der Spinne nicht gefiel und Ani wandte sich beleidigt dem nächsten zu.

Er ähnelte einem Menschen, war ungefähr so groß wie sie. Seine Augen waren groß, ohne Pupillen, die Nase und der Mund klein. Er hatte eine schlanke, biegsame Figur und lange Arme. Ani lauschte nach innen, um irgendein Gefühl zu entdecken, aber nichts rührte sich in ihr. Absolute Funkstille. Erstaunt zog sie die Schultern hoch und ging weiter.

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Der vierte reichte ihr bis zum Knie und hatte etwas mit einer Schildkröte gemein. Unter dem Panzer reckten unzählige Beinchen hervor und zappelten unentwegt. Um ihn besser betrachten zu können, hockte sich Ani vor ihn nieder. Da war nichts, worauf sie ihren Blick hätte haften können und sie streckte die Hände nach ihm aus. Erschrocken sprang das Wesen zurück. Ani ließ von ihm ab und wandte sich den anderen zu.

Alle waren verschieden, es gab keine zwei von ein und derselben Rasse. Sie verspürte unterschiedliche, ihr zugewandte Gefühle - Interesse, Neugier, Misstrauen und Wohlwollen, doch negativ waren sie eigentlich nie. Offensichtlich hatte man sie nach dem Kriterium der Verträglichkeit ausgewählt. Ani hätte gern jeden von ihnen näher kennen gelernt, doch als sie das Ende der Reihe erreicht hatte, konnte sie von keinem behaupten: der ist es und kein anderer. Enttäuscht seufzte sie auf und gedachte gerade, zurückzukehren und sie erneut zu betrachten, als neben dem neunten auf der Höhe ihrer Brust so etwas wie ein Tennisball erschien.

Ani blieb wie angenagelt stehen, keiner Bewegung oder Gedanken fähig. Dieses Etwas überschwemmte sie mit einer solchen Welle von Gefühlen, dass sie fast das Bewusstsein verlor. Ihr Herz begann wie verrückt zu schlagen und plötzlich überkam sie der starke Wunsch zu sterben. Sie wollte einfach für immer verschwinden.

Ein starker Kraftstrom brachte sie zur Besinnung. Ani streckte ihre zitternden Hände nach dem Ball aus. Er sprang leicht in ihre Handflächen. Ein Beben von Seligkeit ging durch ihren Körper. Ani hatte das Gefühl, dieses Empfinden von Liebe und Freude aus einem fernen Traum zu kennen. Sie schloss die Augen und wünschte nur eins - ewig so zu verbleiben.

Etwas durchrüttelte sie kräftig und beharrlich. Zu sich kommend erinnerte sich Ani plötzlich, wo sie war und was sie tun musste. Sie drehte sich um und streckte ihre Hände mit dem drei Zentimeter von ihren Handflächen entfernt schwebenden Ball zum Chef hin.

“Ich wähle diesen!” Mit Erstaunen bemerkte sie die Aufregung, die alle ringsum ergriffen hatte. “Wer hat diesem Etwas erlaubt, in der Zentrale zu erscheinen?”, hörte sie die verärgerte Stimme

Weowas. Dann wandte er sich an den Ball und fragte ihn: “Wer bist du und was willst du?” Der Ball hob sich in die Höhe, wurde etwas größer und erleuchtete in Regenbogenfarben. Jetzt sah

er einer Weihnachtskugel ähnlich. Ani hörte die Antwort in ihrem Kopf: “Ich konnte mir die einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen, an dem Wettbewerb

teilzunehmen, der zur Vervollständigung des Paares, das die verrückteste Mission im Weltall ausführen soll, durchgeführt wird. Und ich habe ihn gewonnen! Wer ich bin, ist dabei völlig bedeutungslos.“

„Du kommst von der oberen Ebene und bist überhaupt nicht für diesen Auftrag geeignet“, antwortete wütend, aber gedanklich Weowa. „Du müsstest eigentlich wissen, dass du nicht unbemerkt auf Satarius eindringen kannst.“

„Überlass dieses Problem mir. Die Bedingung war, dass sie ihren Partner selbst wählt, und die ist erfüllt.“

Der Chef wandte sich Ani zu und befahl mit strenger Stimme: “Ich weiß nicht, was dir an diesem Wesen gefällt, aber es kann dir keinen Nutzen bringen. Lass ab

von ihm und such dir einen der auserwählten Kandidaten aus.” “Ich habe meine Wahl getroffen!” Ani war von dem erneuten Versuch des Schöpfers, ihr seinen Willen aufzuzwingen, empört. Sie war

sich der Richtigkeit der Wahl sicher und außerdem fühlte sie sich überhaupt nicht in der Lage, sich von dem Etwas vor ihr zu trennen. Es war ihr egal, was es darstellte - es vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Trotz der betäubenden Gefühlswelle klärte es ihren Verstand bis zu einem unbekannten Zustand und sie fühlte ungeahnte Kräfte in sich. Zusammen mit ihren gestiegenen Möglichkeiten wurde ihr erst jetzt die Gefährlichkeit des bevorstehenden Auftrages bewusst. Bisher schien ihr das Ganze ein Spiel zu sein - als träume sie noch. Aber das war keine dumme Posse mehr, an der sie gezwungen war teilzunehmen. Das plötzlich in ihr aufgetauchte Verantwortungsgefühl, nicht nur für sich und ihren Partner, sondern auch für das gesamte System, überraschte Ani. Sie wusste nicht einmal, um welches System es dabei ging, aber sie wusste, dass sie eine wichtige Rolle in ihm spielte und diese ausführen musste.

“Ich werde es nicht erlauben, den Erfolg der Mission zu gefährden!” Der Ton des Chefs ließ keinen Zweifel an seiner festen Absicht aufkommen, sich einzumischen.

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“Der Stein wird zur Erhaltung des Lebens auf der Erde gebraucht. Ich verstehe nicht, was die Theoren veranlasst, sich in diese Sache einzumischen. Eine erfolgreiche Kombination von Theor und Mensch ist undenkbar.”

Die Kugel vergrößerte sich noch etwas: „Es liegt nicht in deiner Macht zu entscheiden, was die Theoren machen sollen. Du hast den Stein

verloren, nicht wir! Wenn ich jetzt hier bin, so ist es wegen deiner Unfähigkeit. Urteile nicht über unsere Entscheidungen! Du brauchtest ein zweites Wesen - nun hast du es. Ich entspreche der wichtigsten aller Bedingungen für den Erfolg - sie hat mich erwählt! Achte wenigstens deine eigenen Entscheidungen!“

Der Chef kochte innerlich vor Wut, konnte aber nichts dagegenhalten. Da er selbst ein Theor war, musste er die Richtigkeit der Anschuldigungen anerkennen. Zum Glück konnten die Angaren ihr gedankliches Gespräch nicht mitverfolgen. Erstaunt stellte Weowa jedoch fest, dass die Frau offensichtlich verstand, worum es ging.

“Ich denke es wird Zeit, uns auf den Weg zu machen”, meldete sich Ani. Sie war des Streites überdrüssig und wollte möglichst bald von hier weg und mit dem sphärischen Wesen, das der Chef einen Theor nannte, allein bleiben.

Die Kugel vor ihr überschüttete sie mit einer neuen Zärtlichkeitswelle und Ani schloss die Augen, vergaß die anderen und gab sich dem wunderbaren Gefühl von Ruhe und Geborgenheit hin.

----- Sie reisten mit einem Raumschiff von der Grenze zwischen den Reichen Weowas und Sataras nach

Satarius. Das war ein vorsintflutliches Verkehrsmittel und diese Reise würde ganze sieben Satariustage dauern, aber außerhalb seines Reiches konnte ihnen Weowa keinen anderen Transport bieten. Trotzdem sich Boar im Raum versetzten konnte, indem er seinen Energiekörper auf Nullgröße zusammenzog und einfach dort auftauchte, wo er hinwollte, ärgerte er sich nicht über diese Verzögerung. Er brauchte diese Zeit, um sich an die Anwesenheit seines zweiten Ich's zu gewöhnen und um mit dem ewigen Wunsch nach Vereinigung mit Ani fertig zu werden.

Dieses Bestreben drückte sich in einer starken Sehnsucht und dem Gefühl der unendlichen Liebe zu seinem anderen Ich aus. Diese Liebe war etwas von ihrer Natur als Paar “Geteilter” von selbst Gegebenes; sie musste weder erschaffen noch aufrechterhalten werden. Keinerlei Schicksalsschläge könnten sie je zerstören.

Als er das erste Mal vor Ani erschien hätte er sie mit seinen starken Gefühlen fast umgebracht. Ihre große Empfänglichkeit, trotz des physischen Körpers, in dem sie sich befand, überraschte ihn. Zum Glück konnte er ihr etwas von seiner Kraft übertragen und sie in einem verhältnismäßig guten physischen und geistigen Zustand stabilisieren.

Seitdem ihr Weowa den Körper einer Satarianin gegeben hatte, war Ani ausgeglichener und kam besser mit den sie ergreifenden Gefühlen zurecht. Boar probierte ständig, bis zu welcher Grenze er einen gegenseitigen Energieaustausch riskieren konnte. Aber er musste aufpassen, dass er sich nicht hinreißen ließ, wenn er sich mit Ani verband. Die reale Gefahr, den Abbruch eines solchen Kontaktes nicht mehr zu wünschen und sich völlig mit ihr zu vereinen, war immer präsent. Das aber würde nicht nur das Ende dieses Abenteuers zum Diebstahl des Steins der Weisheit bedeuten sondern auch das Scheitern der Mission, wegen der sie sich überhaupt erst getrennt hatten. Und die war mit Sicherheit von wichtigerer Bedeutung für dieses Weltall.

Die bevorstehende Aufgabe war auch für ihn nicht leicht. Weowa hatte Recht als er meinte, ein Theor sei für diese Arbeit nicht besonders geeignet. Boar musste in physischer Form auf Satarius eindringen, um nicht von Sataras Signalanlagen entdeckt zu werden. Für mentale Wesen wie es die Theoren waren, war das eine ihre Kräfte fast übersteigende Aufgabe. Nur für ganz kurze Zeit konnten sie astrale und besonders physische Körper aufbauen und aufrechterhalten. Selbst die wenigen Sekunden, die sie benötigten, um die Oberfläche des Planeten zu erreichen, würden seine Energieressourcen erschöpfen.

Es war zu früh, sich über dieses Problem Gedanken zu machen. Boar nutzte die Reise, um die Nähe seines zweiten Ich's zu genießen. Erneut schickte er Ani einen kleinen Teil der Gefühle, die er für sie empfand und die sie ertragen konnte.

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Ani schmolz in der neuen Welle voll Zärtlichkeit, die jedes Teilchen ihres neuen Körpers durchdrang, dahin. Mit Boar fühlte sie sich auf eine Weise glücklich, die sich mit bisher empfundenen Glücksmomenten nicht vergleichen ließ. Wenn er ihr seine zärtlichen Gefühle schickte, verging sie fast vor Wohlbehagen. Boar hatte versucht, ihr diesen Zustand zu erklären, aber sie konnte es nicht ganz begreifen. Sie waren “Geteilte”, ihre Seelen waren zwei Teile eines anderen Wesens. Deshalb strebten sie unermüdlich nach Vereinigung. Doch das konnte nur geschehen, wenn sie beide in ihrer jetzigen Gestalt starben. Das erklärte auch ihr seltsames Streben nach dem Tod, das sie bei ihrer ersten Begegnung empfunden hatte.

Der Gedanke an diese “vorprogrammierte” Verliebtheit gefiel ihr nicht, aber Ani wusste, dass sie einfach Hals über Kopf in diese Energiekugel verliebt war. Boar erriet jeden ihrer Gedanken, jedes ihrer Gefühle. Im Gegensatz dazu wusste sie so gut wie gar nichts über ihn. Er hatte ihr nur seinen Namen genannt. Sie erfuhr, dass sie, wenn sie sich den Stein beschaffe, mehr erfahren würde. Ob dieses Versprechen nur ein dummer Anreiz war? Nein, Boar hatte es nicht nötig, sie auf diese Weise anzuspornen. Sie war ohnehin bereit, alles für ihn zu tun. Ani wusste: Der Chef der Angaren wollte den Stein wiederhaben, Boar aber nahm an dem Abenteuer teil, damit sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Und sie musste einfach erfolgreich sein. Sonst würde sie nicht nur sich sondern auch ihn blamieren. Ani fürchtete sich nicht vor dem Imperator und dem Tod, sie fürchtete, Boar zu enttäuschen.

Seine Gedanken berührten sie sanft. Er versicherte ihr, dass sie es nicht nötig habe, auf diese Weise ihre Liebe zu ihm zu beweisen. Er würde sie immer lieben, egal was passieren würde.

Ani errötete vor Scham; sie konnte sich nicht daran gewöhnen, dass ihm auch ihre intimsten Gedanken zugänglich waren. Boar aber überschüttete sie erneut mit so einer Welle von Wärme, dass sie alles andere auf der Welt vergaß.

----- Sie landeten in einer kleinen Kluft, in einem Gebirgsmassiv nahe der Hauptstadt. Der Ort war gut

gewählt - hohe Bäume auf dem Grund der Schlucht versteckten das Raumschiff vor neugierigen Blicken von oben und die Granitfelsen erlaubten Sataras Signalanlagen nicht, die hochfrequenten Schwingungen Boars wahrzunehmen.

Während des Eindringens in die Atmosphäre gelang es ihm, sich in irgendeiner physischen Form zu stabilisieren und jetzt war er völlig erschöpft. Die vielfarbigen Bänder waren von seiner Oberfläche verschwunden und Boar sah mattgrau aus. Ani konnte ihm nicht helfen; sie musste warten, bis er seine Kräfte wiederhergestellt hatte.

Sie sprang aus dem Schiff und stellte zufrieden fest, dass sie sich gut in dem neuen Körper bewegen konnte. Er ähnelte einem irdischen, war stark und gewandt, hatte eine schokoladenfarbige Haut und langes schwarzes Haar. In den Augen der Satarianen war sie sicher recht schön. Das könnte ihr helfen, sich beim Hof des Imperators einzuschleusen. Ani hatte keinen konkreten Plan, was sie unternehmen wollte - alles hing von den Gegebenheiten ab. Boar würde sie begleiten, soweit es ihm möglich war. Aber in der Stadt war sie auf sich selbst angewiesen.

Ani sah sich in der Gegend um. Alles ähnelte sehr der Erde. Die Farben waren gesättigter, der Himmel mehr grün, als blau. Aber die Erde war braun, die Felsen grau und die Pflanzen grün. Ob sich wohl alle physischen Welten so ähnlich sahen? Wohl kaum, aber wenn es hier viel anders wäre, würde sie sicher nicht zurechtkommen.

Ein hoher Baum, der einer Kiefer ähnelte, versperrte ihr den Weg. Der Stamm war nicht glatt; die Zweige begannen in einer Höhe von zehn-zwölf Metern. Es kam ihr in den Sinn, auf ihn zu klettern. Ihre weichen Stiefel hatten Sohlen aus festem Leder. Sie umklammerte mit beiden Händen den Stamm und klebte mit einem Sprung die Füße an die Rinde. Ohne besonders zu ermüden erreichte sie die ersten Äste, setzte sich und betrachtete den Felsen gegenüber. Tiefe Spalten und Löcher konnten ihr zum Festklammern dienen. Es würde nicht schwer sein, ihn zu erklimmen.

Ani schwang sich zum Stamm zurück, stieg ein paar Meter herunter und sprang. Glücklich landete sie im Nadelteppich.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie getan hatte. Sie sah zum Baum auf und erschauerte. War sie es, die vorhin da hinaufgeklettert war und aus dieser Höhe sprang? Sie hatte impulsiv gehandelt, ohne nachzudenken. Da ihr nichts fehlte, bedeutete das, dass die Instinkte ihres neuen Körpers gute Arbeit leisteten. Sie musste ihnen vertrauen und die Dinge nicht mit Erdenmaßen messen. Viel Zeit zum Eingewöhnen blieb ihr nicht.

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Ani fiel auf, dass sie seltener nachdachte, oder besser gesagt, dass sie nicht so viel herumphantasierte. Sie hatte keine Ahnung, worauf das zurückzuführen sei - ob die Psyche der Satarianen nicht so vielschichtig war oder ob ihr jemand das Gehirn gewaschen hatte. Sie könnte Boar danach fragen, verspürte aber, dass die Antwort keinerlei Bedeutung für die Erfüllung der bevorstehenden Aufgabe hatte und sie eigentlich gar nicht interessierte. Und genau das machte ihr Angst. Sie wollte nicht ihre eigene Identität verlieren.

Ani rannte zum Schiff zurück und suchte mit den Augen Boar. Da sie ihn nicht entdecken konnte, verfiel sie in Panik, fühlte sich verlassen und einsam.

„Mach dir keine Sorgen, ich bin hier“, hörte sie Boars Stimme im Kopf. „Sieh nach oben!“ Er hing in der Luft in der Höhe der größten Bäume und leuchtete erneut wie eine Weihnachtskugel.

Seine Kräfte waren wiederhergestellt. Ani atmete erleichtert auf. Es würde ihr nicht leicht fallen, sich von ihm zu trennen. Er war die

Quelle ihres Gefühls für Sicherheit. Plötzlich erahnte sie die sie erwartende Einsamkeit - umgeben von fremden, feindlich gesinnten Menschen - und ihr war zum Heulen zumute.

Boar senkte sich zu ihr und erfüllte sie mit seiner Wärme. In diesen Augenblicken vergaß Ani glücklich alles um sich herum. Sie versuchte, ihre eigenen

Gefühle zu ihm zurückzuschicken und spürte seine verstärkte Zärtlichkeit. Sie könnte so weitermachen bis zu immer größeren Höhen des Glücks, aber Boar zog sich jedes Mal ab einem Moment an zurück. Nie überschritt er eine bestimmte Grenze. Dann fühlte sich Ani enttäuscht, aber sie war ihm nicht böse. Er wusste sicher, was er tat. Seltsam war nur, dass sie trotz der starken Gefühle ihre Fähigkeit, klar zu denken, nicht eingebüßt hatte.

„Es wird Zeit zu gehen“, meldete sich Boar. „Wir können den Stadtrand genau vor Untergang der beiden Sonnen erreichen.“

Ani hatte fast kein Gepäck. Nur etwas Trockennahrung, eine Börse mit bunten Kristallen, die als Geld auf Satarius dienten, und einen dünnen Lederumhang. Zum Glück kannte man hier noch keine Ausweise, Geburts- und Eheurkunden, Gerichtsbescheinigungen und Empfehlungen für Arbeit, mit denen sich die armen Erdenmenschen abquälten.

Sie band die Börse an den Gürtel und befestigte den Umhang an ihren Schultern. Schnell, aber gründlich, betrachtete sie den Fels nach dem besten Weg und trat entschlossen auf eine Ausbuchtung.

----- Das Klettern bereitete ihr Vergnügen. Jeden Muskel ihres starken Körpers fühlend kam sie schnell

voran. Bald befand sie sich auf der Felskippe. Vor ihr erhoben sich zwei weitere Felsreihen und sie musste erneut runter- und raufklettern. Nachdem sie die letzte Kippe erreicht hatte, setzte sie sich um auszuruhen und genoss das sich eröffnende Panorama. Ein weites Feld, zerteilt durch einen tief eingeschnittenen Flussgraben, erstreckte sich vor ihr. Der Fluss selbst war breit und flach. Er entsprang irgendwo in der Nähe aus dem Fels unter ihr und verlor sich zwischen den Mauern des großen steinernen Walls, der die Stadt umgab. Dicht vor der Stadt endete der tiefe Flussgraben. Das Ufer war hier begradigt und mit Steinen befestigt. In der Ferne sah man zwei Sonnen. Die große war bereits dicht am Horizont und der kleinen, etwas mehr links, blieben vielleicht noch zwei Stunden bis zum Untergang.

Ein rosa Schimmer färbte den Himmel und vom Feld her stieg der Geruch nach feuchter Erde, vermischt mit dem süßen Aroma der Papanen6, auf. Jetzt, mitten im Herbst, waren diese Früchte fast reif. Die Erinnerungen des Ratgebers kamen in Ani hoch. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte sie sie. Sie musste zum Fluss hinunter, wo Boar auf sie wartete. Er hatte irgendeinen versteckten Weg zum Flussgraben durch die Felsen gefunden, so dass er im Schatten der allgegenwärtigen Apparate zur Registrierung der hohen Schwingungen blieb.

Am Grund des Grabens, dicht am Wasser, erwartete sie Boar bereits. Gemeinsam wechselten sie

zum gegenüberliegenden Ufer, um sich im Schatten zu bewegen. Nach Untergang der kleinen Sonne würde man die Stadttore schließen und sie mussten sich beeilen. Während Ani energisch voranging, schwebte Boar neben ihrer Schulter. Der Gedanke an die bevorstehende Trennung lastete auf Ani wie

6 Papanen - große Früchte, ähnlich Zuckermelonen.

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ein Mühlstein. Unbewusst verlangsamte sie ihre Schritte. Boar trieb sie nicht zur Eile an; Ani war sich sicher, dass auch ihn dieser Gedanke quälte.

Vielleicht blieb nur ein halber Kilometer, als die Glocke ertönte und die großen Flügel des Tores knarrten. Ani hatte sich verspätet. Sie verspürte keine Gewissensbisse, doch die Finsternis verdichtete sich schnell und über die Ebene wehte ein kalter Wind. Der Flussgraben war flach und breit geworden und bot keinen ausreichenden Schutz gegen die Kälte. Ani wickelte sich fester in ihren dünnen Umhang und sah sich nach Boar um, der wie ein großes Glühwürmchen in der eintretenden Dunkelheit leuchtete.

“Ich könnte dich unterwegs als Taschenlampe benutzen”, versuchte sie zu scherzen. „Besser du versteckst mich irgendwo, damit man uns nicht sieht“, klangen seine Gedanken in ihrem

Kopf. Einen Moment lang fragte sich Ani, was sie mit ihm machen sollte, packte ihn dann einfach mit der

Hand und steckte ihn unter den Umhang. Tausende Nadeln stachen in ihren Leib. Bisher hatte sie Boar nie direkt berührt; Ani stöhnte laut auf

und fiel auf die Knie. Die Stiche gingen in ein zärtliches Kribbeln über, ihr Herz erfüllte sich mit Freude, sie vergaß sofort den Schmerz und genoss die Zärtlichkeit Boars.

„Entschuldige, darauf war ich nicht vorbereitet und im ersten Moment war ich wie betäubt“, meldete er sich. „Ich konnte nicht gleich mein Oberflächenpotential verringern. Geht es dir jetzt besser?“

“Du bringst mir noch die Reflexe eines Masochisten bei. Ich könnte mein ganzes Leben so mit dir verbringen.”

„Werd nicht weich! Ich glaube wir bekommen Ärger. Sprich nicht und lausche!“ Mit größter Anstrengung konzentrierte sich Ani wieder auf die Umwelt. In der Ferne waren Schritte

von schweren Stiefeln zu hören und das flackernde Licht von zwei Fackeln kam schnell näher. Bald würde man sie bemerken.

Ani drehte sich um und lief dorthin zurück, woher sie gerade gekommen war. Aber in der Nähe des niedrigen Flussufers war nichts, wo sie sich hätte verstecken können. Hier gab es weder Baum noch Strauch, nur kleine Steine und die glatten Wände des gemauerten Flussbettes. Die Verfolger waren Männer und kamen schnell näher. Ani sah sich verzweifelt nach einem Versteck um, als sie Boar anordnen hörte: „Nach zwei Metern ist eine kleine Mulde in der Wand. Stell dich da rein!“ Zwar verstand Ani nicht, wie ihr das helfen sollte, befolgte aber instinktiv seinen Befehl. Sie drückte sich an die Wand, als wolle sie von ihr verschlungen werden, schloss die Augen und hielt den Atem an. Die Männer hatten sich inzwischen genähert und Ani konnte ihr Gespräch verstehen.

“Sie muss ganz in der Nähe sein. Hier ist nichts, wo man sich verstecken kann.” Die Männer standen in einem Abstand von anderthalb Metern vor ihr und unterhielten sich atemlos. “Wohin, zum Teufel, ist sie verschwunden? Hier habe ich sie zuletzt gesehen, da bin ich mir ganz

sicher.” Ein wenig die Augenlider öffnend sah Ani die Männer wie durch einen Nebel vor sich. Sie drehten

sich bald in die eine, bald in die andere Richtung und fluchten. Offensichtlich sahen sie sie nicht. “Vielleicht war es doch nur irgendein Tier” vermutete der eine. “Unsinn! Ich habe das Licht deutlich gesehen und auch das Stöhnen gehört. Dann rannte sie wie

eine Frau. Schließlich haben wir sie leicht eingeholt, oder etwa nicht?” “Ja, aber jetzt ist sie nirgends zu sehen. Vielleicht hat sie jemand anderes nach oben gezogen und

jetzt sind sie in der Ebene.” “Nein, dann würden wir sie sehen. Es sei denn sie haben hier in der Nähe ein ausgegrabenes Loch

als Versteck.” Er erhob sich auf die Fußspitzen und betrachtete die Ebene über Anis Kopf. “Verfluchte Schmuggler! Jede Nacht bringen sie ganze Kilos von dem Kraut7 in die Stadt. Wir

machen so oft Jagd auf sie, aber bisher haben wir nur wenige gefasst. Ich kann nicht begreifen, wie sie es immer wieder schaffen zu entkommen.”

“Vielleicht sind die Gerüchte wahr und der Imperator selbst hat hier seine Hand im Spiel.” “Psst! Bist du verrückt? Solche Sachen denkt man nicht, und erst recht sagt man sie nicht laut! Der

Imperator hat überall Augen und Ohren.” “Lass uns gehen. Jetzt können wir sowieso nichts machen und außerdem wird es kalt. Morgen, im

Hellen, kehren wir zurück und sehen uns den Ort genauer an. Vielleicht gibt es wirklich ein Versteck in der Nähe.”

7 Kraut - rauschgifthaltige Pflanze, wird in geringen Mengen als Arznei verwendet

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Die in Uniform gekleideten Männer machten kehrt und Ani atmete erleichtert auf. Sie verstand

nicht, was passiert war und warum man sie nicht bemerkt hatte. Der Nebel stand immer noch vor ihren Augen und bedeckte ihren ganzen Körper. Sie ließ sich an der Wand herunter gleiten und setzte sich, um ihre Herzschläge zu beruhigen. Der Nebel strahlte eine weiche Wärme aus und erst jetzt begriff Ani, was geschehen war. In ihrer Angst hatte sie Boar ganz vergessen. Dieser Nebel vor ihr konnte nur er sein.

“Was hast du gemacht?” fragte sie verwirrt. „Ich habe mich in einen Teil des Gemäuers verwandelt. Sie konnten dich dahinter nicht sehen.“ “Aber die physischen Formen erschöpfen dich!” Ani machte sich Sorgen um ihn. Sie waren dicht

bei der Stadt, und dort hatte Satara empfindlichere Sensoren zur Entdeckung mentaler Strahlungen aufgestellt. Boar musste sich unentwegt hinter ausreichend dichten Hindernissen verstecken, um keinen Alarm auszulösen. Das verlangte seine ganze Aufmerksamkeit und Energie.

„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme zurecht. Außerdem habe ich keine physische, sondern nur eine ausreichend dichte astrale Form angenommen. Ihre Reflexion macht einen festen Eindruck. Wenn die Männer beschlossen hätten, das Gemäuer zu berühren, ständen die Dinge wesentlich schlechter für uns.“

Ani erschauerte. Ihre Erdenphantasie begann wieder zu arbeiten und sie sah sich schon in irgendeinem satarianischen Gefängnis zusammen mit anderen Schmugglern. Aus den Erinnerungen des Ratgebers wusste sie, dass das bei weitem nicht der beste Ort war, an den man gelangen konnte.

Sie befreite sich von diesen finsteren Gedanken und wollte sich mit Boar unterhalten, bemerkte aber sehr schnell seine Müdigkeit.

“Warum erhältst du immer noch diese Form aufrecht, wo sie dich so erschöpft? Die Männer sind weg und werden so bald nicht zurückkommen.”

“Weil du sonst in dieser Kälte erfrierst. Es sind bereits 18 Grad Celsius unter Null, und du bist für solche Temperaturen nicht entsprechend gekleidet. Zur Nachtzeit können die Satarianen nicht draußen bleiben. Das wäre ihr Tod. Nach einigen Stunden werden hier Minus 30 Grad sein. Du hättest die Stadt rechtzeitig erreichen und eine Unterkunft finden sollen. Aber ich freue mich, dass ich die Möglichkeit habe, noch ein bisschen bei dir zu sein. Von Morgen an werde ich genug Zeit haben, meine Kräfte wiederherzustellen, während ich auf dich warte.”

Wenn sie gekonnt hätte, würde sie ihn umarmen. Irgendwo aus ihr quoll das Gefühl von Dankbarkeit und Liebe. Sie machte den bewussten Versuch, ihm diese Energie zu übermitteln. Obwohl sie nicht wusste, ob er einen Nutzen daraus ziehen konnte, wollte sie ihm mit etwas helfen. Sein Wesen blieb ihr völlig unverständlich. Trotzdem fühlte sie ihre Vertrautheit, die gemeinsame Art, sich auszudrücken. Und das sie eins mit ihm war, so absurd das auch klang. Ani sammelte weiter Energie in sich und strahlte sie zu Boar aus; er wiederum umgab sie zärtlich mit seiner Wärme. Die Zeit war stehen geblieben und nichts anderes existierte außer ihnen...

Warme Sonnenstrahlen weckten Ani. Der Himmel war schon ganz hell und die Große Sonne

begann, die Steinmauer des Flussgrabens zu erwärmen. Ani saß immer noch in der kleinen Mulde mit an die Brust gedrückten Knien. Sie erinnerte sich an die Männer vom Abend und ihre Absicht zurückzukehren, stand schnell auf und brachte ihre steifen Beine in Bewegung. Nach einigen Sprüngen auf der Stelle spürte sie, wie ihre Kräfte wiederkehrten. Sie war voller Energie.

Aus Gewohnheit sah sich Ani nach Boar um und erst jetzt bemerkte sie seine Abwesenheit. Sie begann, ihn ringsum zu suchen, konnte ihn aber nicht entdecken. Die Erinnerungen vom Abend drangen ihr in den Kopf und Ani fing an, sich Sorgen zu machen. Da vernahm sie Boars Stimme:

„Such mich nicht und mach dir keine Gedanken um mich. Ich musste mich sofort zurückziehen, sobald das die Temperaturen erlaubten. Jetzt bin ich wieder im Gebirge. Nach Sonnenaufgang sind die Sensoren empfindlicher als bei Sonnenuntergang. Es geht dabei nicht um meine Sicherheit. Wenn Satara herausbekommt, dass sich hier ein mentales Wesen befindet, kannst du die ganze Mission abschreiben. Das kann ich nicht riskieren. Selbst der jetzige Kontakt mit dir ist gefährlich. Im Rahmen der Stadt können wir uns nicht unterhalten. Trotzdem denke nicht, dass dir ein anderer Partner von größerem Nutzen gewesen wäre. Man hätte ihn schon bald als Spion entdeckt und er hätte nicht genug Kraft gehabt, den Verhören Sataras standzuhalten. Du bist anders als sie, aber dieser Unterschied wird erst ersichtlich, wenn du in sehr schwierige Situationen gerätst.“

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Boar verstummte und Ani überlegte, was sie wohl so passender für die Erfüllung dieses Auftrags machte, als alle anderen Milliarden Menschen auf der Erde.

„Denke jetzt nicht darüber nach“, fuhr Boar fort, „konzentriere dich auf die bevorstehende Aufgabe. Ich werde dich hören, wo du auch bist, obwohl ich nicht antworten darf. Nachdem du den Stein entwendet hast, nimm ihn in die Hand und vertraue auf ihn. Er wird dir den Weg zur Flucht zeigen. Ich erwarte dich in einer Gegend außerhalb der Festung, sobald die Auslösung des Alarms bedeutungslos wird. Steig auf die Ebene und geh, denn bald werden die beiden von gestern Abend hier sein. Viel Erfolg! Wisse, dass ich dich liebe und dass wir zusammen sein werden - lebendig wie tot. Viel Glück!“

Für einen Augenblick war Ani wie betäubt. Von nun an würde sie allein sein. Selbstmitleid stieg kurz in ihr auf, doch sie warf es einfach aus ihrem Bewusstsein und spürte eine außerordentliche Klarheit im Kopf. Sie kletterte die niedrige Mauer auf die Ebene hoch und ging entschlossen auf die Pforten der Stadtmauer zu. Trotz der frühen Stunde waren nicht wenige Satarianen unterwegs, begleitet von Ochsenwagen voller Waren für die Hauptstadt.

ZWEITER TEIL Nachdem man sie untersucht hatte, ob sie Kraut bei sich trug, ließ man Ani ohne weitere Fragen in

die Stadt. Entlang der Innenseite der Stadtmauer zog sich eine Ringstraße hin, die sich vor dem Stadttor zu einem kleinen Platz erweiterte. Hier erwarteten Bäcker bereits die frühen Gäste der Stadt mit ihren frisch gebackenen Imbissen. Die Bauern verließen ihre Häuser, sobald die Große Sonne aufging, um beim Aufgang der Kleinen die Tore der Stadt zu erreichen. Sie hatten keine Zeit, zu Hause zu frühstücken, und die Bäcker machten einen beneidenswerten Umsatz in dieser frühen Stunde.

Ani erinnerte sich, welche Hörnchen nach Meinung des Ratgebers am besten schmeckten, und kaufte sich davon. Noch warm waren sie wirklich vortrefflich. Zusammen mit dem großen Menschenstrom machte sie sich auf den Weg ins Zentrum der Stadt. Die meisten Bauern verkauften ihre Waren auf dem Quartalsmarkt, etwa zehn Kilometer vom Stadttor entfernt. Nur wenige von Ihnen würden weiterziehen, um spät abends den Zentralen Markt in der Nähe der Festung zu erreichen. Dort waren die Preise höher, aber die Kosten für die Übernachtung glichen den größeren Gewinn teilweise aus.

Die große Stadt bot keinen Transport für die Bauern und ihre Waren. Nur die Hofleute, die Polizei und einige reiche Kaufleute hatten das Recht auf einen Agator – eine Art Luftkissenfahrzeug.

Ihr Besitz unterlag der persönlichen Erlaubnis des Imperators. In der Festung befand sich eine Werkstatt, wo die Agators hergestellt und an die autorisierten Leute verkauft wurden. Das Geheimnis ihrer Antriebskraft kannte nur der Imperator selbst. Niemand verstand, wie die Energie der Rigosen diese Maschinen in die Luft hob und sie in Bewegung versetzte. Genauso stand es um die Beleuchtung und Heizung in der Festung. Die Leute schrieben ihre Wirkung den magischen Kräften des Imperators zu. Zu sehr fürchteten sie ihn, um neugierig zu sein.

Der ehemalige Ratgeber besaß natürlich einen Agator und Ani wusste, wie er aussah und gefahren wurde. Er hatte die Form eines ovalen umgekehrten Tellers mit einer Höhe von siebzig Zentimeter bis ein Meter zwanzig. Abhängig von der Größe hatte er ein bis acht Sitze. Die Größten erreichten bis zu sechs Meter Länge und drei Meter Breite. Aber sie konnten sich nicht in den engen Straßen der Stadt bewegen, sondern wurden als Kampfmaschinen auf dem Feld benutzt.

Obwohl man auf Satarius den Krieg nicht kannte - weil sie ein Volk mit zentralisierter Verwaltung waren - gab es von Zeit zu Zeit aufständische Gruppen unter der Bevölkerung und es kam zu blutigen Auseinandersetzungen. Außerdem musste die Polizei mit Räubern und Schmugglern kämpfen.

Die einsitzigen Agators waren nicht größer als anderthalb Meter in der Länge und ein Meter in der Breite, bewegten sich schnell und lautlos und waren außerordentlich wendig. Nur die nächsten Verwandten und höchsten Angestellten des Imperators besaßen diese Maschinen - er selbst, sein Sohn, seine Frau, der Haupwachtmeister und die beiden Ersten Ratgeber. Er wurde auf eine andere Weise gesteuert, die man unter Androhung der Todesstrafe geheim hielt.

Was würde geschehen, wenn der Imperator herausbekam, dass Ani wusste, wie man sowohl einen großen, als auch einen kleinen Agator steuerte? Sie musste nur ihre Finger etwas trainieren, um diesen Prozess zu automatisieren.

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Die Menge um sie herum verdichtete sich und daraus schlussfolgerte sie, dass der Markt nicht weit

war. Ani sah sich um. Außer an die Agators hatte sie auch Erinnerungen an die Stadt. Der Ratgeber war in ihr aufgewachsen und kannte sie gut. Zwar befand sie sich nicht in einem Stadtviertel, das er oft besucht hatte, aber sie hatte so etwas wie einen Plan im Kopf und orientierte sich nach ihm. Weowa hatte Recht - Satara hatte einen großen Fehler begangen, als er ihnen den Körper des Verräters als Geschenk übergab. Sie würde nie in diesem Tumult ohne dessen Erinnerungen zurechtkommen.

Der riesige Marktplatz war voller Leute, die sich zwischen den Ständen der Händler hindurchzwängten. Die unterschiedlichsten Früchte und Gemüse wurden angeboten. Am anderen Ende verkaufte man Haushaltswaren. Ani betrachtete sie neugierig. Leider sie hatte keine Zeit, sich länger aufzuhalten. Bis zum Abend musste sie das Stadtzentrum erreichen und dabei konnte sie nur auf ihre Beine zählen.

Nach einem Nerven raubenden Feilschen mit dem Händler kaufte sich Ani einen wärmeren Umhang für die Nacht und einen Rucksack. Sie verfügte über genügend Geld, aber es würde auffallen, wenn sie nicht um den Preis handelte. Nachdem sie die anderen Käufer beobachtet hatte, kam sie verhältnismäßig gut zurecht. Mit dem Kompliment, einer so schönen Frau nichts abschlagen zu können, erhielt sie beides zum halben Preis und wiederholte das Gleiche beim Einkauf von ein paar Früchten und Nüssen. Nur das Brot hatte einen festen Preis und sie kaufte genug für zwei Tage.

Vielleicht war es sinnlos, diese Sachen jetzt zu kaufen, aber in dem Trubel auf dem Markt fühlte sich Ani verhältnismäßig sicher. Sie hatte die Absicht so wenig wie möglich mit den hiesigen Einwohnern in Berührung zu kommen. Ani fürchtete, etwas Ungewöhnliches zu tun oder zu sagen und aufzufallen.

Sie stopfte den Einkauf in den Rucksack und warf ihn auf den Rücken. Obwohl er schwer war, trug sie ihn mit Leichtigkeit. Die Angaren hatten ihr einen kräftigen Körper gegeben, stark selbst für eine Satarianin.

Hier waren die Frauen stärker als die Männer. Sie verrichteten die schwere, körperliche Arbeit und die Männer beschäftigten sich mit der Buchhaltung, dem Handel, der Verwaltung und der Bewahrung des gesammelten Wissens. Im Allgemeinen - nichts Neues. Auch auf der Erde war es nicht anders, nur dass dort die Frauen zusätzlich von der Natur - oder eher vom Schöpfer, wie Ani bereits wusste - mit einem schwächeren Körper als den der Männer bestraft wurden. So verfielen sie in deren Macht, etwas, was man auf Satarius nicht kannte. Hier hatte die Arbeitsteilung einen gerechteren Charakter und es gab keine Machtkämpfe zwischen den Geschlechtern.

Das zentrale Verwaltungssystem auf dem Planeten gestattete ein Aufsteigen in der Hierarchie von der untersten Ebene an. So wurde die soziale Aufgliederung auf einem natürlichen Weg erreicht. Es spielte keine besondere Rolle, ob man in einem Schloss oder in einer Dorfhütte geboren wurde - wichtig waren die Fähigkeiten des Individuums. Natürlich hatten auch hier die Reichen bessere Möglichkeiten, ihren Söhnen eine gute Ausbildung zu geben, aber Talent wurde mehr geschätzt. Es gab speziell ausgebildete Beamte, die um den Planeten reisten und nach begabten Kindern suchten. Man sammelte sie in Internaten und bildete sie gut aus. Die Fähigsten konnten auf eine Karriere am Hof hoffen. Frauen wurden in praktischen Sachen unterrichtet, sie waren die Meister der Produktion.

Ihr war durchaus bewusst, dass sich ihre geistige Welt ziemlich von der einer Satarianin unterschied. Sie besaß die Gefühle einer Erdenfrau, kombiniert mit dem Wissen eines Satarianen-Mannes. Deshalb hatte sie Angst, dieser Unterschied könnte auffallen und zog es vor, mit niemandem in Kontakt zu treten.

Ani zwängte sich durch die engen Straßen. Die richtige Richtung einzuhalten war nicht schwer. Trotz der auf den ersten Blick chaotischen Bauweise gab es ein streng eingehaltenes System. Die Hauptboulevarde führten sternenförmig zur Festung im Zentrum der Stadt und die Hauptstraßen verbanden sie ringförmig. Aus der Vogelperspektive gesehen war die Stadt streng nach Plan gebaut. Aber innerhalb der Stadtviertel, zwischen den Hauptboulevarden und den Hauptstraßen, baute jede Gemeinde wie sie wollte. Die Vielfalt von Geschmack und Stil war bewundernswert.

----- Am Abend erreichte sie, nicht weit von der Festung entfernt, den Zentralen Markt. Leicht müde sah

sie sich nach einer Herberge um, wo sie über Nacht bleiben konnte. Die Bauern übernachteten immer in der Nähe des Marktes, um ihre Waren am nächsten Tag auszulegen. Ringsum gab es viele Gebäude mit

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Tabellen, auf denen so etwas wie eine Liege aufgemalt war. Die Herbergen boten keinen besonderen Luxus. In einem Raum gab es gewöhnlich fünf bis zehn Pritschen, aber den müden Gästen erfüllten sie ihren Zweck.

Ihr gefiel ein dreistöckiges Gebäude, verhältnismäßig gut erhalten und von unterschiedlicher Kundschaft besucht. Ani trat ein, näherte sich der Registratur, hinter der ein Junge stand, und verlangte einen Platz zum Übernachten. Der Junge betrachtete sie neugierig, mit gierigen Augen.

“Oh Mam, Sie haben großes Glück. Ein Bett in einem Zweibettzimmer ist frei. Es ist zwar ein bisschen teuer, aber Sie können es sich sicher leisten. Woanders werden Sie nichts finden. Morgen ist die dritte in diesem Jahr öffentliche Gerichtsvollstreckung. Der Sohn des Imperators wird persönlich dem Schauspiel beiwohnen. Sowohl die halbe Stadt, als auch viele Leute aus der Provinz sind gekommen um zuschauen, so dass es überall voll sein wird. Vor kurzem ist zufällig ein Bett frei geworden.”

Der geschwätzige Junge ging ihr auf die Nerven, aber die Information war nicht uninteressant. Ani hörte aufmerksam zu, als er erklärte, wo die Bestrafungen stattfinden würden und was es für Urteile gab. Aus den Erinnerungen des Ratgebers wusste sie von der Schwäche Ursus, dem Sohn des Imperators, für diese Vorstellungen.

“Aber was erzähle ich ihnen da”, fuhr der Junge fort, “Sie sind sicher speziell hergekommen, um die Urteilsvollstreckungen zu sehen. Schade, dass diesmal keine Exekution dabei ist, nur zweimal konnte ich so ein Schauspiel miterleben. Diesmal sind es nur Peitschen- und Rutenschläge, und Messerschnitte.”

Das Rechtssystem auf Satarius unterschied sich ebenfalls von dem auf der Erde. Über den ganzen

Planeten zog sich ein Polizeinetz und die Gebietsverwalter trugen die Verantwortung für die Erhaltung der Ordnung in den Provinzen. Selten gab es schwere Verbrechen wie Mord und Raubüberfälle, die mit dem Tod bestraft wurden. Die häufigsten Vergehen waren unerlaubter Handel, Schmuggel und Diebstahl. Bis zum Ende der Saison wurden die gefassten Verbrecher vorübergehend ins Gefängnis geworfen. Dann versammelte sich in jeder Provinz das Gericht für ein-zwei Tage und bearbeitete alle anliegenden Fälle. Für gewöhnlich gestanden die Gefangenen selbst ihre Verbrechen um eine geringere Strafe zu bekommen. Es hatte keinen Sinn zu lügen. Man würde ihnen sonst den Komoro-Stern geben und der konnte nicht betrogen werden. Danach würde sich die Strafe nur verdoppeln.

Die Todesstrafen sprach der Imperator persönlich aus. Für Schmuggelei mit dem Kraut - der hiesigen Droge - bekam man Messerschnitte auf den Armen und im Gesicht. So blieben dauerhafte Narben und man konnte die Schmuggler besser kontrollieren. Für Wirtschaftsverbrechen gab es eine Geldstrafe und Rutenhiebe. Für Diebstähle - Peitschenhiebe. Ani bewunderte die Einfachheit und Wirksamkeit dieses Systems. Die Fähigkeit des Imperators, die Gedanken seiner Untertanen lesen zu können, hatte auch ihre guten Seiten. Und für dort, wo er nicht selbst anwesend war, hatte er diesen Lügendetektor erfunden - den Komoro-Stern.

Das Imperium auf Satarius existierte seit langer Zeit. Ani wusste von Boar, dass kurz bevor dem Imperator ein Enkel geboren wurde, er bei irgendeinem Unfall oder durch eine Krankheit starb. Danach wurde Satara in seinem Enkel wiedergeboren und entwendete, nachdem er herangewachsen war, seinem Vater den Thron. In der Zwischenzeit funktionierte die eingespielte Verwaltungsmaschine des Planeten von selbst. Auf diese Art und Weise leitete Satara die Entwicklung dieses Planeten fast ohne Unterbrechung direkt von der physischen Ebene aus.

Die Stabilität des Systems hatte auch ihren Preis. Der Progress dieser Zivilisation ging nur sehr langsam voran. Einzuschätzen, inwieweit das ein Mangel war, wollte sich Ani nicht herausnehmen. Sicher würde diese Maschine irgendwann einmal ins Stocken kommen und dann kämen entweder alle um, oder es würde einen Evolutionssprung in der Entwicklung geben.

Man zeigte ihr das Zimmer und sie warf ihre Sachen aufs Bett. Diese Bezeichnung war zu luxuriös

für die Pritsche mit den zwei Fellen zum Zudecken an der einen Wand des Zimmers. An der gegenüberliegenden Wand stand ebenso ein Bett mit verstreutem Gepäck darauf. Von dem Mitbewohner war nichts zu sehen und Ani fragte sich, was sie bis zum Untergang der Kleinen Sonne tun solle. Sie verließ die Herberge und schlenderte über den Markt. Die Händler packten ihre Waren ein und fuhren sie zu den Lagern, einige Querstraßen weiter entfernt. Morgen würden sie mit dem Verkauf fortfahren oder sich auf den Heimweg begeben. Alles verlief geordnet und zügig. Trotz der Enge hörte man selten jemanden schimpfen. Auf dem bepflasterten Platz machten nur die Hufe der Ochsen Krach.

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Von der Festung waren nur die Mauer und der große Turm zu sehen. Sie nahm eine Fläche von etwa einem Quadratkilometer ein. Ani hatte weder Zeit, noch hatte es Sinn, sie zu umgehen. Beim Anblick dieses Ortes erwachten in ihr die Erinnerungen des Ratgebers und Ani identifizierte sich fast mit ihm. Jedes Gebäude in der Festung war ihr bekannt. Erinnerungen an Geliebte, Freunde und Familie kamen hoch. Er besaß eine Wohnung in der Festung, seine Familie aber hatte er außerhalb von ihr nahe dem Haupteingang untergebracht. Dort fühlte er sich sicherer. In der Nähe des Imperators zu wohnen war alles andere als angenehm. Es gab keinen Satarianen, der sich nicht vor ihm gefürchtet hätte. Seine Anwesenheit in der Festung spürte man überall.

Ani unterbrach die Erinnerungen des Ratgebers absichtlich an dieser Stelle. Sie wollte sich nicht von dessen Angst beeinflussen lassen und ließ Platz für eigene Eindrücke. Aber selbst so, von außen betrachtet, machte die Festung keinen freundlichen Eindruck.

Sie strich noch ein bisschen herum und entdeckte den Ort, wo morgen die Strafvollstreckungen stattfinden würden. Der riesige Platz war in der Mitte mit größeren Steinen gepflastert, die von einer dicken, weißen Linie umgeben waren. Hier und dort standen kleine Gruppen von “Touristen”, die speziell wegen dem Spektakel eingetroffen waren und das bevorstehende Ereignis erörterten.

Plötzlich fühlte sich Ani einsam. Hier, in dieser Stadt, auf diesem Planeten, war sie nicht an ihrem Platz. Sie erinnerte sich an ihre Kinder und ihren Mann und fragte sich, was diese wohl ohne sie machen würden. Dann musste sie innerlich über sich selbst lachen. Die Angaren hatten ihr erklärt, dass sie zum selben Zeitpunkt zurückgebracht werden würde, zu dem man sie geholt hatte. Ani befand sich in einem Zeitfenster. Keiner würde ihre Abwesenheit bemerken. Auch sie selbst würde sich später an nichts mehr erinnern. Wenn ihr hier etwas passierte, würde man ihren Leichnam zurückbringen. Aus unerklärlichen Gründen wäre sie dann einfach über Nacht gestorben. Ob von diesem unangenehmen Gedanken oder von der Kälte - ein Schauer überlief Ani und sie eilte in die Herberge zurück.

Auf dem anderen Bett schlief eine ältere Satarianin. Ani zog sich leise die Stiefel aus und legte sich auf die Liege. Die Augen schließend dachte sie an Boar. Aus Gewohnheit wünschte sie ihm “Gute Nacht” und erwartete eine Antwort. Die kam nicht und Ani erinnerte sich an seine letzten Worte. Enttäuscht seufzte sie auf, drehte sich um und schlief ein.

----- Der Morgen war kühl und regnerisch. Die ersten Anzeichen des herankommenden Winters machten

sich bemerkbar und Ani holte ihren neuen Umhang hervor. Die Bettnachbarin warf ihr einen leicht neidischen Blick zu. Sie hatten sich nicht begrüßt. Zwischen Gleichgestellten waren Formalitäten nicht üblich. Ani nahm ihren Ranzen und verließ das Zimmer. Draußen war schon recht viel Betrieb. Gestern Abend hatte sie einen Park in der Nähe entdeckt und machte sich nun auf den Weg zu ihm. Sie setzte sich unter einen Baum und aß ihr Frühstück. Gelangweilt beobachtete sie die Kinder, die in der Nähe spielten. Mädchen rauften sich und Jungen spielten mit bunten Bällen. Ani musste lächeln. Es war, als sehe sie ein umgekehrtes Erdenbild. Erwachsene passten nicht auf die Kleinen auf. Satarius war ein ungefährlicher Ort für Kinder. Hier kannte man keine Verkehrsunfälle, außer vielleicht ab und zu Überfahrene von Ochsenkarren. Aber das war sehr unwahrscheinlich, wenn man bedachte, wie langsam sie sich fortbewegten.

Einer der Jungen trat zu ihr und studierte sie aufmerksam. “Mam, Sie sind sehr schön. Kommen Sie von weit her?” “Ja, vom Gebirge Kibu”, antwortete Ani. Dieses Gebirge war der möglichst abgelegenste Ort, der

ihr im Moment in den Sinn kam. “Müsstet ihr nicht in der Schule sein?” fragte sie seinerseits. “Nein, heute haben wir frei wegen der Urteilsvollstreckung. Sobald der Regen aufhört gehen wir

auf den Platz um zuzusehen. Kommen Sie mit?” Der Junge war aufgeweckt und neugierig. “Ja. Zum ersten Mal sehe ich so etwas.” Ani hielt das Gespräch aus Langeweile aufrecht. Außerdem

erhoffte sie, noch etwas über Ursu zu erfahren. “Man hat mir gesagt, dass der Sohn des Imperators anwesend sein wird. Ich habe ihn noch nie gesehen. Ist er ein hübscher Mann?”

“Mir gefällt er nicht”, schmollte der Junge. “Er ist ein großer Angeber und macht sich mit seinen Juwelen nur wichtig. Er ist sehr verwöhnt, will alles besitzen und alle sollen auf ihn hören. Ich bin erst zehn Jahre alt und bin eher ein Mann als er!”

“Oh, ich glaube, jetzt übertreibst du etwas”, lachte Ani auf, “was wird passieren, wenn der Imperator erfährt, wie du über seinen Sohn redest?”

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Der Junge bekam keine Angst. “Er wird mir nichts tun. Alle wissen, dass er mit seinem Sohn auch nicht zufrieden ist und ihn jeden Tag wegen seines Unfugs tadelt.”

Das war neu für Ani. Der Ratgeber war vor einigen Jahren gestorben und obwohl sich hier fast nichts veränderte, so war Ursu doch herangewachsen. Offensichtlich hatten sich seine schwachen Seiten in der Zwischenzeit weiterentwickelt. Der Junge fuhr entrüstet fort:

“Er mag schöne Frauen sehr, vor allem, wenn sie gut mit der Peitsche umgehen können. Man sagt, dass er als Junge selbst versucht hat die Verbrecher mit Hieben zu bestrafen. Aber jetzt liebt er es mehr, zuzuschauen.”

“Ist dir nicht unangenehm mit anzusehen, wie diese Leute geschlagen werden?” fragte Ani ihren kleinen Gesprächspartner.

“Wieso? Das sind Diebe und Gauner. Man muss sie richtig doll verhauen!” Er holte mit der Hand aus, als wenn er eine Rute in ihr hielte und einen großen Übeltäter bestrafe.

Der Regen hatte aufgehört. Die anderen Kinder versammelten sich und riefen nach dem Jungen. “Kommt mit uns! Wir müssen aufbrechen, um einen Platz in der ersten Reihe zu bekommen. Später

wird es voll sein.” Ani stand auf, der Junge nahm sie bei der Hand und sie rannten los. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen.

Hier waren die Männer schwächer als die Frauen, dafür aber wesentlich schneller. Auch die anderen Jungen überholten die Mädchen.

Nach fünf Minuten kamen sie auf dem Platz an, wo an der weißen Linie kaum noch etwas frei war.

Sie setzten sich auf die nassen Pflastersteine. Hinter ihnen füllte sich schon die nächste Reihe und nach einer halben Stunde blieb nur noch der Platz in der Mitte frei, von einer dichten Wand von Schaulustigen umgeben.

Zur Festung hin hatte sich ein Korridor gebildet und Mädchen mit Fanfaren traten von dort in den Kreis. Das Schauspiel begann. Hinter ihnen schritten die Richter in langen roten Roben und die Vollstrecker der Strafen, bewaffnet mit Ruten, geflochtenen Peitschen und krummen Messern mit geschmückten Griffen. Sie trugen Lederuniformen. Die Richter waren ausschließlich Männer, die Vollstrecker - Frauen.

Ani fragte sich bereits, was sie hier verloren hätte. Das “Vergnügen” zuzusehen, wie diese Unglücklichen gequält wurden, verlockte sie nicht besonders. Aber sie musste sich mit den Gebräuchen bekannt machen und außerdem konnte sie sich nicht mehr vom Platz rühren.

Klappern von Holzpantoffeln war zu hören. Die verurteilten Verbrecher, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, betraten den Kreis. Sie waren beider Geschlechter und zitterten vor Kälte. Einigen von ihnen sah man die Spuren früherer Verurteilungen an. Das Gesicht einer der Frauen war mit hässlichen Narben übersät.

“Das ist eine bekannte Schmugglerin”, meldete sich der Junge neben ihr. “Sie hält sagenhaft gut Schmerzen aus und wird keinen Laut von sich geben, während man ihr die Haut einschneidet.”

“Ich kann mir nicht vorstellen, wo man sie jetzt noch schneiden soll - sie ist voller Narben”, antwortete Ani. Sie hatte die Bewunderung in den Worten des Jungen gehört und fragte sich, ob sie nicht zu vorschnell das hiesige Rechtssystem für effektiv erklärt hatte.

Die Gefangenen ließen sich am äußersten Rand des Kreises, gegenüber den Richtern, nieder. Die Kinder hatten einen guten Platz zum Zuschauen ausgesucht. Vorerst hatten sie einen freien Blick auf die Mitte des Geschehens.

Rufe waren zu hören und eine starke Aufregung erfasste die Menge. “Ursu, Ursu kommt!” Alle hoben den Kopf zum Himmel und Ani sah, wie sich ein dreisitziger Agator näherte und über

der versammelten Menge kreiste. Nur der glatte Boden der Maschine war zu sehen. Die Menschen winkten mit den Armen zur Begrüßung und riefen den Namen des Sohnes des Imperators. Alle waren aufgestanden und Ani beteiligte sich an dem Spektakel. Irgendwie merkte man, dass hier keine echte Begeisterung aufkam, sondern nur Theater gespielt wurde. Diese Begrüßung war ein Brauch, den man einhielt.

Nach einigen Kreisen landete der Agator in der Mitte des Platzes und der Sohn des Imperators stieg aus. Er war in Begleitung von zwei Schönheiten, die auf den Rücksitzen saßen. Die Menge machte nochmals Tumult und beruhigte sich.

Selbst für einen Satarianen war Ursu ein schmächtiger Jüngling. Er hatte ein bleiches Gesicht mit Schatten unter den Augen. Man sah ihm das ausschweifende Leben, das er führte, an. Trotz der

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bewunderungswerten Lederkleidung, ganz und gar mit glänzendem Metall besetzt, flößte er keine Ehrfurcht oder wenigstens Respekt ein. Ani war erstaunt. Vom Sohn des Imperators hätte sie mehr erwartet.

Ursu drehte sich einmal im Kreis, um die Grüße entgegenzunehmen, setzte sich wieder in den Agator und begab sich zu den Richtern. Dort hielt er an, um das Schauspiel von seiner Maschine aus zu beobachten.

Die Fanfaren begannen zu blasen und die Zuschauer setzten sich. Einer der Richter trat einen Schritt nach vorn und rief den ersten Verbrecher auf. Der stand auf, stellte sich in die Mitte des Platzes, verbeugte sich vor Ursu und wartete. Der Richter las das Urteil vor und wofür es ausgesprochen wurde: “Für Schmuggel - Messerschnitte!”

Eine Frau aus dem Kreis der Vollstreckerinnen trat heran, holte ihr Messer vor und schnitt das Gesicht des Unglücklichen mit schnellen geschickten Bewegungen an vier Stellen ein. Erst danach gelang es dem Mann aufzuschreien und die blutigen Wangen mit den Händen zu bedecken. Eine andere Frau nahm ihn bei den Schultern und führte ihn durch den Korridor vom Platz. Man würde seine Wunden verbinden und ihn freilassen.

Während der Unglückliche vor Schmerz schrie, jubelte die Menge. Ani sah das eher nach seelischem Beistand aus, als nach Schadenfreude.

Als nächste war die bekannte Schmugglerin an der Reihe. Schon als man ihren Namen ausrief, begrüßten sie die Leute mit Rufen. Die Frau war mittleren Alters, hatte einen kräftigen, muskulösen Körper und eine stolze, aufrechte Haltung. Da ihr Gesicht bereits voller Narben war, schnitt man ihr beide Arme ein. Kein Laut durchbrach die eingetretene Stille. Die Frau biss nur die Zähne zusammen. Nach einigen Sekunden angespannten Abwartens jubelten die Zuschauer vor Begeisterung.

Trotz des Schmerzes lächelte sie ihren Verehrern zu, hob ihre blutigen Hände zum Gruß und verließ allein den Kreis.

Für Ani hatte das Ganze etwas Unreelles an sich. Sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, einem Spektakel beizuwohnen, bei dem weder das Blut, noch der Schmerz echt waren. Vor ihr reihten sich noch zwei zum Schneiden, fünf zum Rutenschlagen und mehrere zum Peitschenschlagen auf. Jeder Schlag wurde vom allgemeinen Jubel begleitet. Schon lange bemühte sich Ani nicht mehr, bei diesem blutigen Schauspiel mitzumachen. Zum Glück achtete niemand auf sie.

Es blieben noch drei leichtere Verurteilungen mit der Peitsche übrig, als Ursu den sachlichen Ablauf der Urteilsvollstreckung unterbrach. Er stieg aus dem Agator und lief entlang der Zuschauer, die in gespannter Erwartung verstummt waren, den Platz ab. Aufmerksam besah er sich die Anwesenden, wie ein Mensch, der wusste, was er suchte. Vielleicht war er doch nicht so dumm, wie er aussah.

Nachdem er fast die Mitte erreicht hatte, winkte er einer jungen Frau, etwas weiter entfernt, mit der Hand zu und sie trat vor Glück strahlend in den Kreis. Er betrachtete sie zufrieden und ging, ohne sie weiter zu beachten, weiter. Nach wenigen Metern fand er die nächste. Es war ein hochgewachsenes Mädchen mit kurzem krausen Haar und einem grimmigen Blick. Man sah ihr an, wie sehr sie von der Ehre, vom Sohn des Imperators erwählt worden zu sein, geschmeichelt war.

Anis Herz begann wie verrückt zu schlagen. Ursu kam näher und sie zerriss sich zwischen der Hoffnung und der Angst. Ihr war durchaus bewusst, welche außerordentliche Möglichkeit sich hier bot, schon jetzt mit dem Sohn des Imperators Bekanntschaft zu machen. Das würde den Zugang zur Festung wesentlich erleichtern. Andererseits hatte sie gar keine Lust, an dem grausamen Spektakel teilzunehmen und diese Unglücklichen auszupeitschen. Sie wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchtete - auserwählt zu werden oder im Gegenteil, verschmäht zu werden.

Er blieb vor ihr stehen, den Blick in die Menge gerichtet. Seine Augen waren grün, im Unterschied zu denen der anderen Satarianen, die braune Augen hatten. Sie sahen müde und gelangweilt drein. Ursu ging bereits weiter, als sich ihre Blicke trafen. Beide erstarrten. Ani wusste plötzlich, dass es keinen Weg zurück mehr gab. Die Dinge nahmen ihren Lauf, unterstützt von einem unbekannten Gesetz. Für Zufälle war hier kein Platz. Einen Augenblick lang wurde ihr die Unabwendbarkeit nicht nur dieser Begegnung, sondern ihrer Existenz überhaupt bewusst.

Vollkommene Ruhe überkam Ani. Sie sah ihm direkt in die Augen und Ursu wendete seinen Blick verlegen ab. Er machte ihr ein Zeichen ihm zu folgen und führte sie zu den anderen zwei Mädchen in die Mitte des Kreises. Anerkennendes Raunen der Zuschauer begleitete sie. Danach kehrte er zu seinem Agator zurück.

Eine der Vollstreckerinnen gab ihnen je eine Peitsche und erklärte auf die Schnelle, wie sie mit ihr umgehen sollten. Sie ließ sie einige Versuche in der Luft machen. Das erste Mädchen hatte ihre Mühe

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damit und das andere - hochgewachsene, lachte sie verächtlich aus. Sie selbst beherrschte die Technik offensichtlich gut und hieb geschickt mit der Peitsche wie eine Spezialistin.

An die Reihe gekommen fragte sich Ani, ob sie das wohl packen würde, und der erste Hieb war ein voller Reinfall. Ohne auf den Spott der Konkurrentinnen und die Enttäuschung des Publikums zu achten, holte sie tief Luft, befreite ihr Bewusstsein von allen Gedanken und hieb erneut zu. Man hörte ein Zischen und einen starken Knall. Die Zuschauer jubelten vor Vergnügen. Offensichtlich musste sie ihrem Körper vertrauen und nicht darüber nachdenken, was sie tat.

Der erste der drei übrig gebliebenen Verbrecher wurde vorgeführt. Er sollte nur fünf Hiebe für einen unbedeutenden Diebstahl erhalten. Das erste Mädchen schlug eifrig zu und die Zuschauer zählten die Schläge laut mit. Zweimal hieb sie daneben und wiederholte. Der Dieb hatte Glück und war zufrieden mit der leichten Prügel. Ursu aber, die Vollstreckerinnen und das Publikum rümpften die Nase wegen ihrer Ungeschicktheit.

Das zweite Mädchen schwang die Peitsche mit so einer Wut, als hätte der Dieb sie selbst bestohlen. Die sieben Hiebe ruinierten den Rücken des Unglücklichen.

Nun war die Reihe an Ani mit der Vollziehung der Strafe zu beginnen. Sie überlegte, was sie tun sollte. Ganze zehn Hiebe musste sie dem jungen Mädchen vor ihr erteilen. Wenn sie nicht richtig zuschlug, würde man sie nicht mehr beachten. Ani war verpflichtet, diese Chance schneller mit ihrer Mission fertig zu werden, zu nutzen und beschloss, nicht nachzudenken. Sie hieb kräftig mit der Peitsche zu und auf dem Rücken des Mädchens öffnete sich eine große Platzwunde. “Eins!” rief das Publikum.

Ani blickte zu der Verurteilten und verabscheute sich selbst. Das arme Mädchen! Schnell musste sie sich etwas einfallen lassen. Sie holte zum zweiten Schlag aus, verfolgte aufmerksam den Flug des Riemens und genau bevor er den Rücken des Mädchens berührte, zog sie ihn heftig an. Man hörte das Knallen, aber die Peitsche hinterließ nur eine rote Strieme auf der Haut. Im letzten Moment hatte sie es geschafft, dem Schlag die Kraft zu nehmen. Ani machte so weiter, bis es zehn Hiebe wurden. Das Mädchen sah sie dankbar an. Nur der erste Schlag würde eine Narbe hinterlassen. Das Publikum konnte den Rücken des Mädchens nicht sehen und bemerkte den Betrug nicht, Ursu aber sah, was sie tat, und blickte sie erstaunt an. Ani warf die Peitsche hin und kehrte demonstrativ auf ihren Platz zurück.

Begeistert sah sie der Junge an. “Du warst sagenhaft! Ich hab dir ja gesagt, dass du dem Sohn des Imperators gefallen wirst. Sieh, er kommt, um dich in die Festung einzuladen!”

Ani sah, wie Ursu die zwei Mädchen aus dem Agator vertrieb, sich in die Luft erhob, vor ihr anhielt und sie mit einer Geste einlud, sich hinter ihn zu setzen. Einen Moment lang zögerte sie, ob es nicht taktisch klüger wäre, nicht gleich einzuwilligen. Aber so würde sie Ursu vor der ganzen Stadt blamieren und daraus konnte sie keinen Nutzen ziehen. Sie sprang auf die Beine und stieg mit einem Lächeln hinter ihn. Er ließ den Agator in die Höhe steigen und flog, ohne einen weiteren Kreis über der versammelten Menge zu machen, mit hoher Geschwindigkeit direkt zum Tor der Festung.

----- Die riesigen, zehn Meter hohen Pforten des Haupteingangs öffneten sich und der Agator flog in den

Hof der Festung. Zu beiden Seiten waren Wirtschafts- und Wohngebäude mit gepflasterten Straßen dazwischen zu sehen. Sie näherten sich einem schönen Schloss, eingebettet in niedrige Pflanzen. Mit einer scharfen Kurve umflogen sie es und landeten auf einem kleinen Parkplatz hinter ihm. Noch zwei andere Agators standen dort, einer davon ein Einsitzer. Ani sah sich aufmerksam um. Alles sah so aus, wie es der Ratgeber in Erinnerung hatte. Im Schloss waren die Gemächer der Frau und des Sohnes des Imperators. Er selbst bewohnte den großen Turm und verließ ihn fast nie. Jenseits des Schlosses gab es verschiedene andere Gebäude und Werkstätten. Ani hatte keine Zeit, sich genauer in der Umgebung umzusehen, da ihr Ursu befahl auszusteigen und ihm zu folgen.

'Kein besonders gemütlicher Ort', dachte Ani bei sich, als sie in das dunkle und kühle Schloss traten. Ein Lakai erschien und lud Ani ein mitzukommen. Ursu ging in die andere Richtung.

Sie liefen einen fast unendlichen Flur entlang. Er war ganz und gar mit Wandmalerei über große Heldentaten der Imperatoren vieler Generationen verziert. Am Ende des Korridors öffnete der Lakai eine schwere Holztür. Ani kam in ein verhältnismäßig helles und großes Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihr und allein geblieben sah sie sich um: ein Fenster mit schweren Vorhängen, geschnitzte Holzkommoden an den Wänden, in der Mitte ein Diwan mit einer Menge Kissen, dicke Teppiche auf

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dem Fußboden und ein Kamin. Das Zimmer wurde zusätzlich von zwei Kachelöfen beheizt. In der Mitte der rechten Wand war eine andere Tür. Ani sah nach, was sich hinter ihr befand.

Es erwies sich als kleines Schlafzimmer mit einem gewöhnlichen Bett, einem Kleiderschrank und einem Ofen. Die spartanische Einrichtung kontrastierte stark mit dem anderen Zimmer.

An der gegenüberliegenden Wand war eine zweite Tür, die in so etwas wie ein Bad führte. Als Ani die große Schüssel mit dem Abflussrohr und einem Wasserreservoir darüber sah, freute sie sich über die Möglichkeit, sich waschen zu können. Das Wasser hatte Zimmertemperatur, aber ihr Körper empfand es als normal. Offensichtlich war die Hygiene auf diesem Planeten noch nicht zum Kult erhoben worden und die Bedingungen mussten als königlich gelten.

Mit einem Kamm, der neben der Schüssel lag kämmte sie sich die Haare und fühlte sich plötzlich sehr müde. Außer den paar Hieben mit der Peitsche hatte sie seit heute Morgen nichts getan, aber scheinbar war sie von der ständigen Anspannung erschöpft. Sie legte sich aufs Bett, deckte sich zu und schlief ein.

Ani wurde von dem unangenehmen Gefühl, beobachtet zu werden, wach. Sie öffnete die Augen,

sah das verwunderte Gesicht Ursus vor sich, richtete sich schnell auf und entschuldigte sich: “Die letzten Nächte habe ich nicht gut geschlafen und die Müdigkeit hat mich übermannt.”

Über sein Gesicht lief ein leichtes Lächeln. “Du bist ein seltsames Mädchen. Woher kommst du?” Ani beschloss, sich an die einmal benutzte Lüge zu halten. “Vom Gebirge Kibu. Dort lebte ich mit meinem Vater zusammen. Er starb und ich machte mich auf

den Weg, mein Glück in der Hauptstadt zu suchen”, antwortete sie ohne überflüssige Einzelheiten. “Und wie heißt du?” fragte Ursu. “Ani.” “Ein seltsamer Name.” Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich einen anderen Namen ausgedacht hätte, aber dazu

war es nun zu spät. Er lud sie in das große Zimmer ein und sie setzten sich nebeneinander auf den Diwan. Seine Nähe

rief in ihr keinerlei Gefühle hervor. Es war, als säße sie neben einem Kind. Der Vergleich war nicht abwegig. Er war immer noch ein Jüngling, etwas älter als ihr großer Sohn. Er sah ein wenig hilflos und traurig aus und in Ani erwachten Muttergefühle.

“Fühlst du dich nicht einsam in diesem großen Schloss?” fragte sie, ein wenig mehr Wärme in ihre Worte legend.

“Ich bin daran gewöhnt. Außerdem lade ich mir oft Gesellschaft ein. Noch heute werde ich dich meinen Freunden vorstellen.”

Zu Anis Verwunderung antwortete er einfach und ohne Wichtigtuerei. Nachdem, was sie vorher über ihn erfahren hatte, müsste er ein majestätischeres Verhalten an den Tag legen. Um sie sofort zu widerlegen, richtete sich Ursu plötzlich auf, sah sie streng an und fragte: “Warum hast du diese Diebin nicht richtig ausgepeitscht? Ich habe gesehen, wie du sie nach dem ersten Hieb geschont hast.”

Ursu hatte wohl kaum eine Ahnung von Barmherzigkeit und Ani musste eine angemessene Erklärung finden: “Sie war ein junges und hübsches Mädchen. Warum sollte ich sie verunstalten? Sie kann einen reichen Kaufmann heiraten und es dann nicht mehr nötig haben zu stehlen.”

“Ja, aber was kümmert dich das? Wenn das die Leute aus dem Publikum bemerkt hätten, wärst du ausgepfiffen worden.”

“Das hätte ich überlebt”, lachte Ani. “Was kann mir die Meinung der anderen bedeuten? Wichtig ist, dass ich mich wohl fühle.”

Ani provozierte Ursu absichtlich. Sie wollte herausbekommen, inwieweit sie frech sein konnte, ohne ihn zu verletzen und ohne zu fremd zu erscheinen. Letzteres gelang ihr allerdings nicht.

Er sackte erneut in sich zusammen, sah sie verblüfft an und sagte leise, wie zu sich selbst: “Ich hatte noch nie ein Mädchen wie dich. Du redest wie mein Vater.”

Ani biss sich auf die Lippen. Sie musste vorsichtiger sein. Das hätte ihr gerade noch gefehlt - das Territorium des Imperators einzunehmen. Ani beschloss zu schweigen und die Aufrechterhaltung des Gesprächs Ursu zu überlassen. Sie blickte in das brennende Kaminfeuer und begann, von Boar zu träumen. In den letzten Tagen war sie von seinem intelligenten Umgang und seiner umfassenden Zärtlichkeit verwöhnt worden. Die Sehnsucht nach ihm überkam sie mit so einer Macht, dass ihr Tränen über die Wangen rollten.

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Erstaunt und verwirrt sah Ursu sie an. Ani riss sich zusammen, wischte die Tränen weg und fand eine Erklärung für ihr seltsames Verhalten: “Ich musste an meinen Vater denken. Ich habe ihn sehr geliebt. Wir lebten allein im Gebirge zusammen und er hat mir alles, was er wusste, beigebracht.”

Diese Erklärung erheiterte sie. Boar mit dem Begriff Vater zu vertauschen war gar nicht so anwegig. Er hatte ihr wirklich viel beigebracht, aber bei weitem nicht alles, was er wusste.

“Sicher bist du deshalb so anders”, sagte Ursu mit einer gewissen Erleichterung. “Gewöhnlich werden die Frauen nicht im Wissen der Männer unterrichtet. Das interessiert sie nicht. Sie lieben es, sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen und denken nicht gern über schwierige Probleme nach. Meine Mutter durchkreuzt den ganzen Tag die Festung und überprüft, ob alles in Ordnung ist und wie die Produktion in den Werkstätten läuft. Sie kontrolliert selbst die Wache, womit sie den Hauptwachtmeister fürchterlich ärgert. Aber sie hat sich nie für unsere Gespräche mit meinem Vater über die Verwaltung des Planeten, über den Aufbau der Kristalle und wie die Bäume wachsen interessiert. Weißt du es?”

“Was? Wie die Bäume wachsen?” lachte Ani auf. Sie schloss für einen Moment die Augen und suchte im Gedächtnis des Ratgebers nach der entsprechenden Information. “Der Same enthält die ganze Information über die ausgewachsene Pflanze. Er liest sie so, wie man Limerov-Täfelchen liest, und beginnt dann mit Hilfe von Mineralen, die er in der Erde findet, Wasser und den Strahlen der großen Sonne kleine, lebende Säckchen zu bauen, die sich ununterbrochen teilen. Und so wächst nach gewisser Zeit ein ganzer Baum.”

Es war, als läse Ani aus einem Lehrbuch - Limerov-Täfelchen, wie sie hier genannt wurden. Der Ratgeber hatte ein gutes Gedächtnis und sie zitierte geradewegs. Sie blickte zu Ursu, um zu sehen, was für einen Eindruck sie mit ihrer Lektion hinterlassen hatte.

Diesem Jungen war es heute bestimmt, sich laufend zu wundern. “Und was weißt du über die Bewegung der Sonnen und der Monde?” Sich wie bei einer Prüfung fühlend fuhr Ani fort: “Satarius hat zwei Sonnen und zwei Monde. Die

umlaufen den Planeten in großem Abstand. Die Sonnen sind dicht beieinander und bewegen sich immer mit zwei Stunden Unterschied. Zuerst geht die große auf und dann die kleine. Die Monde sind wie kleine Sonnen, haben aber kein eigenes Licht. Sie scheinen, weil sie das Licht der Großen Sonne widerspiegeln. Und deshalb scheinen sie nicht jede Nacht.”

Die Satarianen kannten die Prozesse auf ihrem Planeten gut, verstanden etwas von Biologie und Geologie. Aber die Astronomie war im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Das heliozentrische System war ihnen noch unbekannt. Ani bemühte sich, nur die Lehrbücher für die Mittelschule für Jungs zu zitieren und nicht auf Einzelheiten einzugehen.

“Ha”, rief Ursu zufrieden aus, “das wird in der Schule gelehrt, ist aber überhaupt nicht wahr! Mein Vater sagte mir, dass nur die Monde uns umkreisen, nicht aber die Sonnen. Wir kreisen um die Große Sonne und die Kleine Sonne umkreist sie auch, ist aber viel näher an ihr dran!”

Aufgesprungen lief er stolz mit herausgestreckter Brust um den Diwan und strahlte vor Selbstgefälligkeit. Er machte sich mit seinem Wissen so wichtig, dass Ani sich kaum beherrschen konnte, ihn nicht mit ihren recht besseren Kenntnissen wieder auf den Boden zu holen. Sie wunderte sich, dass Satara diesem dummen Jungen einen kleinen Vorteil verschaffte, indem er ihn besser ausbildete. War es möglich, dass er seinen Sohn liebte, obwohl er die Absicht hatte, ihn nach gewisser Zeit vom Thron zu stürzen?

Ursu hörte auf, sich zu brüsten, und blieb vor ihr stehen. Erstaunt bemerkte sie seine beängstigten Augen.

“Das darfst du niemanden erzählen. Mein Vater sagte, dass man das geheim halten muss. Schwöre im Namen des Imperators, dass du es nicht verraten wirst!”

Ani lächelte. Also so verbreitete Satara nach und nach etwas von seinem Wissen unter diesem Volk! Er konnte nicht so dumm sein, dass er dem Schweigen dieses schwächlichen Jünglings vertraute. Wirklich ein schlauer Zug!

Plötzlich verspürte sie den starken Wunsch, den Imperator kennen zu lernen. Er schien ihr die interessanteste Persönlichkeit auf diesem Planeten zu sein und sicher entsprach das der Wahrheit. Von den Angaren wusste sie, dass er der Klügste unter ihnen war, und von Boar, dass er in vielem selbst Weowa überlegen war. Aber so eine Begegnung gefährdete den Erfolg der Mission und sie vertrieb diesen Wunsch wieder.

“Mit Vergnügen schwöre ich, dein Geheimnis zu bewahren”, antwortete Ani. Sie kniete vor Ursu hin und sagte mit hoch erhobenen Armen und feierlichem Pathos:

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“Der Imperator soll mich persönlich bestrafen, wenn seine Kenntnisse das einfache Volk durch meine Lippen erreichen!”

Ursu sah sie verblüfft an und murmelte vor sich hin: “Noch nie habe ich so einen Schwur gehört. Du hast eine seltsame Art dich auszudrücken.”

Ani verfluchte sich im Stillen. Sie konnte es nicht lassen ihre Überlegenheit zu demonstrieren, und früher oder später würde sie Ärger bekommen. Es fiel ihr schwer das Gleichgewicht zwischen einem interessanten Mädchen, das man nicht gleich nach der ersten Begegnung mit einer anderen verlässt, und einem harmlosen Menschlein, das dein Selbstwertgefühl nicht bedroht, zu halten. Nur gut, dass sie vorerst allein waren und dieser Junge nicht klug genug war, um die aufsteigende Gefahr zu begreifen. Doch ihr stand eine schwerere Prüfung in der Gesellschaft seiner Freunde bevor, unter denen es sicher auch Klügere gab.

----- Im Kleiderschrank des Schlafzimmers suchte sie nach passenden Sachen für die Party am Abend.

An der Innenseite der Tür war ein großer Spiegel befestigt und Ani sah sich zum ersten Mal in ihrem neuen Körper. Die leicht fettige, braune Haut unterstrich jeden Muskel. Sie sah wie eine Body-Bildnerin nach jahrelangem Training aus. Die Beine waren nicht lang, dafür aber sehr stark, der Busen mittelgroß und fest. Das lange, glatte, schwarze Haar reichte bis zur Mitte des Rückens und glänzte nach dem Waschen. Sicher würde sie auch auf der Erde Eindruck hinterlassen. Die Augen waren braun wie bei allen Satarianen, die sie bisher angetroffen hatte. Auf Satarius kannte man keine verschiedenen Rassen. Soweit sie wusste, hatten nur die Imperatoren und ihre direkten Nachkommen grüne Augen.

Sie zog einen kurzen Rock aus festem, dunkelroten Leder und eine Weste der gleichen Farbe an. In einem Schubfach fand sie eine Schere und schnitt den unteren Rand des Rockes in Fransen, so dass der ganze Oberschenkel zu sehen war. Um einen Teil des Bauches aufzudecken, schnitt sie die Weste fast bis zur Brust ab. Aus dem abgeschnittenen Leder fertigte sie drei Reifen für Hals und Arme an, indem sie es in dünne Streifen schnitt, verdrehte und verknotete. Um sich ein perfektes Aussehen zu geben fehlten noch ein paar glänzende Steinchen, doch sie fand keinen Schmuck. Ani billigte sich im Spiegel und trat ins Wohnzimmer.

Dort wartete bereits der Lakai auf sie. Als er sie sah, riss er die Augen weit auf, und Ani fragte verlegen: “Zum ersten Mal bin ich in der Stadt und habe keine Ahnung, wie sich die Frauen hier kleiden. Sehe ich gut aus?”

“Sie sind sehr schön. Sie werden Ursu und seinen Freunden gefallen. Ich habe hier schon viele Mädchen gesehen, aber Sie sind die attraktivste von allen und sehen mir nach einem klugen Mädchen aus.”

“Danke für das Kompliment. Ich bin etwas beunruhigt, da ich nicht weiß, was von mir erwartet wird.” Ani versuchte, mehr Informationen über das bevorstehende Abendessen zu sammeln.

“Seid unbesorgt! Bei diesen Treffen unter Freunden werden keine Formalitäten eingehalten. Man isst, trinkt und kaut Kraut. Danach berauschen sie sich und jeder zieht sich mit seinen Mädchen zurück, um Spaß am Sex zu haben.”

“Am Sex?” Dazu fühlte sich Ani gar nicht bereit. Sicher sah sie etwas geängstigt aus, weil der Lakai mit der Erklärung fort fuhr:

“Ja, aber Sie müssen wissen, dass Ursu keinen gewöhnlichen Sex mag. Er wird von ihnen verlangen, dass Sie ihn mit der Peitsche schlagen. Ich habe gehört, Sie können gut mit ihr umgehen und es wird Ihnen nicht schwer fallen. Wenn Sie normalen Sex möchten, müssen Sie mit einem der anderen Jungen mitgehen. Aber ich rate Ihnen nicht, das heute noch zu tun. Sie gefallen Ursu und er wird mit Ihnen zusammen sein wollen.”

“Nein, ich habe nicht die Absicht mir einen anderen zu suchen.” Obwohl sie so etwas hätte erwarten sollen, fühlte sich Ani unbehaglich. Die masochistischen

Neigungen Ursus waren schon in seiner Kindheit zu erkennen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie die Rolle einer Domina spielen sollte. Jedenfalls war das besser, als wenn er von ihr verlangt hätte, mit ihm zu schlafen. Der Lakai sprach ziemlich frei über dieses delikate Thema. Auf Satarius schien man es nicht für ein solches zu halten.

Ani wollte noch etwas anderes erfahren: “Ich habe noch nie in meinem Leben das Kraut genommen. Mein Vater verbot es mir. Was passiert, wenn man es kaut?”

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“Nichts Schlimmes”, antwortete der Lakai gefällig, “Man darf es nur nicht übertreiben. Da es für Sie das erste Mal ist, kauen Sie nur zwei-drei Blättchen. Wenn Ihnen nichts geschieht, können Sie noch eins nehmen. Aber nach dem fünften beherrschen Sie Ihren Körper und Ihre Zunge nicht mehr. Anfängern empfiehlt man nicht mehr. Hier nehmen alle jungen Leute, nachdem sie volljährig sind, das Kraut. Es stimuliert die schöpferische und sexuelle Energie. Die Älteren nehmen es als Arznei. Ich habe davon gehört, dass es Leute gibt, die es nicht billigen. Ihr Vater war sicher einer von ihnen. Ich selbst nehme seit langem das Kraut und es geht mir gut. Habt keine Angst vor ihm.”

“Danke, ich werde es probieren”, antwortete Ani und wunderte sich erneut über die Geschwätzigkeit der Satarianen-Männer. Die Frauen, die sie bisher angetroffen hatte, zeichneten sich nicht durch diese Eigenschaft aus. Also musste auch sie sich der Quatscherei enthalten.

Es kam ihr in den Sinn, nach Schmuck zu fragen. Der Lakai entschuldigte sich und erklärte, dass der Schmuck ein Geschenk von Ursu für die Mädchen sei und sie ihn mitnehmen, wenn sie das Schloss verlassen. Sie würde mit Sicherheit später ebenfalls welchen bekommen, aber auch so sehe sie sehr hübsch aus.

Ani überlegte, ob Ursu sie irgendwann einmal in die Schatzkammer seines Vaters führen würde, verwarf den Gedanken aber als voreilig. Trotzdem beschloss sie, ein erhöhtes Interesse an den Kinkerlitzchen zu zeigen.

Der Lakai lud sie ein ihm zu folgen und sie stiegen gemeinsam in die obere Etage. Er führte sie zu einer großen Tür, hinter der man Lärm und Lachen hörte, öffnete sie weit und stellte sie vor:

“Ani vom Gebirge Kibu!” ----- Das klang recht komisch. Wenn sie vorher gewusst hätte, dass man sie so vorstellen würde, hätte sie

sich einen entsprechenden Namen und Stammbaum ausgedacht. Zum Beispiel: “Akabela, Tochter des Timoki, von der Ebene der Deberaffen8“. Aber dazu war es nun zu spät. Trotz dieser nicht besonders beeindruckenden Vorstellung waren die Gespräche verstummt und die Anwesenden starrten sie mit offenem Interesse an. Für einige Sekunden trat ein verlegendes Schweigen ein. Ani bemerkte die Bewunderung in den Augen der Männer und den Neid in den Augen der Frauen. Sie lächelte allen zu, sagte “Seid gegrüßt!” - und setzte sich zu Ursu, der ihr, zufrieden mit ihrem effektvollen Erscheinen, neben sich Platz machte.

Die Nachricht von dem neuen Mädchen des Sohnes des Imperators war längst durch die Festung gehallt und alle wussten, wie sie sich kennen gelernt hatten. Die Feier selbst hatte man speziell zu Ehren dieses Ereignisses organisiert, denn bisher war es nicht vorgekommen, dass Ursu nicht mit einem neuen Mädchen von den Urteilsvollstreckungen der Saison zurückkehrte.

Sie erhoben die Gläser zum Tost auf Ursus neue Eroberung und begannen ohne jede Scham Ani zu beurteilen. Den Männern gefiel ihr Körper, den Frauen ihre ungewöhnliche Kleidung. Ani musste erklären, wie sie die Reifen gemacht hatte und gewann die Achtung der Mädchen. Noch Morgen würden es alle ausprobieren und Ani wusste bereits, dass sie die Urheberin einer neuen Mode geworden war.

Sie aßen Fleisch von gepanzerten Mekaten9 und tranken jungen Papanenwein. Fünf Jungen und acht Mädchen saßen bequem auf großen Kissen um den niedrigen Tisch. Die Jungen erzählten ununterbrochen komische Geschichten und die Mädchen erwiderten ihnen mit Lachen und bissigen Bemerkungen. Die Gesellschaft war fröhlich und Ani verstand vollkommen, dass Ursu es vorzog, seine Zeit so zu verbringen. Er selbst war recht schweigsam und Ani lauerte auf einen günstigen Moment um das Mädchen neben ihr zu fragen, ob er immer so wäre. “Ja”, antwortete es, “man sagt, dass er darin seinem Vater ähnlich sei.”

Nach dem Essen lehnten sich alle halb liegend zurück und das Kraut wurde hervorgeholt. Das Beutelchen mit den getrockneten Blättern machte seine Runde um den Tisch und jeder nahm sich, soviel er wollte. Gewöhnlich fünf bis sechs Blätter. Um nicht aufzufallen, nahm sich Ani die gleiche Menge, kaute aber nur zwei, die anderen versteckte sie unter ihrem Gürtel.

Die Blätter hatten keinen bestimmten Geschmack. Ani beobachtete aufmerksam die anderen, stellte jedoch vorerst keine Veränderung in ihrem Verhalten fest. Mit ihr selbst geschah auch nichts. Noch immer wurden verschiedene lustige Geschichten erzählt und gelacht. Bald aber fiel ihr auf, dass die

8 Deberaffen - Tiere, ähnlich Giraffen. 9 Mekaten - Art Schildkröten.

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Erzählungen farbenfreudiger wurden und das Lachen lauter. Offensichtlich hatte sie das Kraut erregt. Ani nahm noch ein Blättchen. Sie musste die Wirkung des Krauts auf ihren Organismus ausprobieren und jetzt hatte sie die Gelegenheit dazu. Aber selbst nach dem vierten Blättchen spürte sie nur ein schnelleres Ablaufen der langsamen satarianischen Gedanken. In ihrem Kopf geschah etwas Bekanntes. Sie stellte ihren gewohnten Zustand des chaotischen Denkens an wenigstens drei Sachen auf einmal und das Hineinversetzens in vorgestellte Situationen wieder her, ohne dabei das Gefühl für die Realität zu verlieren. Das war irdische Art zu denken und Ani fühlte sich in ihrem Element.

Mit den anderen aber geschah etwas. Die Mädchen waren gesprächig geworden und wetteiferten, wer die interessanteste Geschichte erzähle. Dafür waren die Jungen, die bis dahin nur gequasselt hatten, verstummt und drückten sich immer mehr an die Mädchen. All das erinnerte Ani an eine typische Party auf der Erde. Problemlos hielt sie bei dem verrückten Gerede der Mädchen mit, ohne dabei aufzuhören, auf alles wie von außen - als Beobachter - zu blicken.

Schließlich hielten es die Jungen nicht mehr aus. Jeder suchte sich ein-zwei Mädchen, die sich mächtig über ihr Verlangen lustig machten, und verließen den Raum zu zweit, zu dritt.

Nur Ursu verhielt sich anders. Er machte nicht einmal den Versuch, Ani zu berühren, obwohl er vor Erregung am ganzen Körper zitterte. Nachdem alle anderen gegangen waren, nahm er schweigend ihre Hand und führte sie zwei Zimmer weiter.

Die Einrichtung versetzte Ani in Schrecken. Das Zimmer ähnelte einer Folterkammer. In der Mitte

befand sich eine eiserne Liege mit Riemen für Arme und Beine. An Stelle eines Kopfkissens gab es eine Halterung für den Kopf mit einer Binde für die Augen. Die Wände hingen voller eiserner Ketten, Holzruten und Lederriemen, die ihr bereits von den Bestrafungen am Morgen bekannt waren.

Sie hatte weder Zeit, noch Lust, sich genauer umzusehen. Ursu stand vor ihr und verlangte, dass sie ihm die Kleider vom Leib reiße.

Ani hatte nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was von ihr erwartete wurde. Da sie nicht absagen konnte, unterwarf sie sich einfach all seinen Wünschen. Sie zerriss ihm die Kleidung, schnallte ihn an der Liege fest und schlug ihn mit Ruten und Peitschen. Dabei bemühte sie sich, ihn nicht zu verletzen, er aber forderte sie zu einem grausameren Verhalten auf.

Ani ekelte sich vor sich selbst und nur der Gedanke an die schwierige Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte, hielt sie davon ab, alles hinzuschmeißen und wegzulaufen. Sie handelte wie im Schlaf und erwartete mit Ungeduld das Ende dieses Alptraums.

Zum Glück benötigte Ursu keine längere Bearbeitung und Ani kehrte bald allein in ihr Appartement zurück.

Mit dem Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, warf sich Ani aufs Bett und begann zu

weinen. Sie sehnte sich nach Boar, nach seinen zärtlichen Worten und seiner alles durchdringenden Wärme. Wenn er nur bei ihr sein könnte um sie zu beruhigen! In ihrer Vorstellung rief sie seine Anwesenheit hervor und gab sie sich diesem Gefühl hin.

Etwas zur Ruhe gekommen empfand Ani erneut das Gefühl, den Körper zu verlassen und sich nach oben in die Unendlichkeit zu schwingen - schneller und schneller, und immer weiter und weiter. Es gab nur noch ein Ziel, dass sie erreichen musste. Und dort wartete Boar als strahlendes Licht auf sie, um sie in sich aufzunehmen und mit ihr eins zu werden...

----- Ani erwachte mit Kopf- und Gliederschmerzen. Erst nach gewisser Zeit begriff sie, wo sie sich

befand. Draußen stand die Große Sonne hoch am Himmel. Sie schloss erneut die Augen mit dem Wunsch wieder in dem Traum zu versinken. Aber sie konnte die schöne Erinnerung nicht zurückzuholen, die irgendwo in ihrem Unterbewusstsein geblieben war.

Lustlos zwang sie sich aufzustehen, wusch sich auf die Schnelle und zog ihre eigenen Sachen an. Dabei tat sie alles nur Mögliche, um die Erinnerung an das Ende des Abends zu vertreiben. Wie betäubt verließ sie das Schlafzimmer.

Im Wohnzimmer brannte bereits der Kamin und sie warf sich auf den Diwan, den Kopf in beide Hände gepresst. Es klopfte.

Der Lakai trat mit einem Tablett in der Hand ein. Er warf ihr einen Blick zu, lächelte und stellte eine Tasse mit einem heißen orangenfarbenen Getränk vor sie hin. Ein angenehmes Aroma stieg auf.

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“Trinken Sie das! Es wird Ihnen helfen. Wenn man das Kraut zum ersten Mal nimmt geht es einem immer so.”

Ani verspürte keinen großen Wunsch, etwas in den Mund zu nehmen, vertraute aber auf die Erfahrung des Lakaien. Sie versuchte einen kleinen Schluck. Das Getränk schmeckte gut. Der Lakai stellte einen Teller mit kleinen Hörnchen auf den Tisch und lud sie mit einer Geste zum Essen ein. Plötzlich verspürte Ani Heißhunger und machte sich über die Hörnchen her. Irgendwo innerlich ärgerte sie sich über ihre unbeherrschten Reaktionen, war aber außerstande sie zu kontrollieren. Ihr Organismus forderte das Seine und nahm es sich.

Nachdem sie sich satt gegessen und den Inhalt der Tasse ausgetrunken hatte, fühlte sich Ani besser. Der Lakai stand noch neben ihr und wartete. Sie lehnte sich zurück und wollte wissen, ob es schon sehr spät sei.

“Machen Sie sich darum keine Sorgen. Nach diesen Feiern stehen alle spät auf. Ursu schläft noch.” Als sie diesen Namen hörte, schüttelte sie sich. Der Lakai lächelte und beruhigte sie: “Alle neuen

Mädchen reagieren so auf seine seltsamen Wünsche. Selten trifft sich ein Mädchen, dem das Spaß macht. Aber später gewöhnen sie sich daran. Auch Sie werden sich daran gewöhnen. Er ist kein schlechter Junge. Ursu hat sich immer von seinem Vater und seiner Mutter unterdrückt gefühlt. Es fällt ihm schwer, einen gleichberechtigten Platz in dieser Familie zu finden. Alle, die ihn näher kennen, mögen ihn.”

“Hat man ihn geschlagen, als er klein war?” fragte Ani. Die Kopfschmerzen waren vergangen und sie zeigte wieder Interesse an den anderen.

“Sein Vater nie, aber seine Mutter oft. Ewig war sie mit ihm unzufrieden. Und ist es immer noch. Sie meint, es wäre für ihn an der Zeit, sich um die Regierungsgeschäfte zu kümmern. Aber Ursu hat kein Interesse an der Macht. Er fürchtet sich genauso wie alle anderen vor seinem Vater. Er will sich nicht in dessen Angelegenheiten einmischen. Wenn Sie mich fragen, so handelt er sehr klug.” Der Lakai nahm das Tablett und ging zur Tür.

Ani hielt ihn im letzten Moment auf um zu fragen: “Wird man mir erlauben im Hof spazieren zu gehen und mich ein bisschen umzusehen?”

“Sie können beruhigt umherlaufen”, antwortete der Lakai, “nur betretet nicht die Werkhallen, bevor Ihr nicht die Erlaubnis der Herrin bekommt.”

Das Frühstück hatte eine zauberhafte Wirkung und Ani fühlte sich wieder in Form. Sie nahm den Umhang und ging auf den Hof. Die Luft war frisch und kühl, und vertrieb den Rest ihrer Benommenheit.

Das Schloss befand sich in der Mitte der Festung. Hinter ihm war ein großer Platz, voll von eiligen Dienstleuten und einigen Höflingen. Die einen waren leicht von den anderen zu unterscheiden. Die Dienstleute und Arbeiterinnen trugen Uniformen. Die Hofleute gingen mit wichtigen Mienen in verschiedenen Gewändern, geschmückt mit Plättchen aus glänzendem Metall, umher. Aber niemand schlenderte einfach so herum, man sah, dass jeder seiner Arbeit nachging.

Sie “erinnerte” sich an einige von ihnen, aber nicht an alle. Nicht nur, weil einige Jahre seit dem Tod des Ratgebers vergangen waren. Die Angestellten einer Arbeitssphäre hatten selten Kontakt zu denen einer anderen. Der ehemalige Ratgeber des Imperators kannte bis ins Detail den großen Turm, war aber fast nie im Schloss gewesen. Um dieses wie um die meisten Wirtschaftsgebäude kümmerte sich die Frau des Imperators.

Vor dem Schloss befanden sich ein kleiner Park und eine Allee zum Haupteingang. Ani bog nach rechts ab. Die Lage der Gebäude hatte etwas mit den Stadtvierteln gemeinsam. Sie waren chaotisch innerhalb der Festung verstreut. Die Wohngebäude für die Hof- und Dienstleute unterschieden sich klar von den Lagerhallen und Werkstätten, die sich mehr zur Festungsmauer hin befanden.

Die Mauer selbst war mindestens dreizehn Meter hoch und am Fuß an die fünf Meter breit. Jede dreißig Meter gab es einen kleinen Wachtturm mit schmalen Beobachtungsluken. Auf der Mauer patrouillierten Wachposten. Ani verstand nicht, wozu man diese Festung und diese Soldaten brauchte, wo doch der ganze Planet dem Imperator gehörte. Das waren sicher historische Überbleibsel. Früher einmal gab es mehr Länder und Kriege zwischen ihnen auf Satarius. Jetzt schützten diese Mauern das Herz des Imperiums vor den Aufruhren unter der Bevölkerung.

Die Festung hatte, dem Haupteingang gegenüber, einen zweiten Eingang. Er diente hauptsächlich wirtschaftlichen Zwecken. Ein dritter, kleiner Eingang, befand sich am Fuß des großen Turms und wurde nur vom Imperator und seinen nächsten Ratgebern benutzt.

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Aus den Werkstätten drang reichlich Lärm, aber Ani erinnerte sich gut an den Rat des Lakaien. Sicher würde sie noch die Möglichkeit bekommen, Ursus Mutter kennen zu lernen und um die Erlaubnis, die Produktionshallen zu besuchen, bitten zu können.

Sie hatte den großen Turm, eingebettet in die Festungsmauer, erreicht. Selbst ihr flößte er Angst ein. Sicher übertrugen sich ihr die Ängste des Ratgebers. Der Turm war wenigstens achtzehn Meter im Durchmesser, hatte neun Stockwerke und endete mit einer beweglichen Kuppel. Das war das Observatorium des Imperators. Dort ließ er niemanden hinein, mit Ausnahme eines Dieners, der die oberen Etagen des Turms nie verließ.

In der neunten Etage befanden sich sein Laboratorium und seine Werkstatt. Dort erfand er Maschinen und stellte Details für die Energieproduktion der Agators, Öfen und Lampen her. Oder, wie man hier sagte, beschäftigte er sich mit seiner Magie. Weiter unten befanden sich seine Wohnräume, und darunter der große Sitzungssaal.

Die ersten Etagen wurden von den Arbeitsräumen der Ratgeber und Regierungsangestellten eingenommen. In der vierten Etage, auf der Höhe der Festungsmauer, befand sich ein großer Empfangssaal. Die Stockwerke waren mit Treppen verbunden. Es gab einen gesonderten Fahrstuhl, der vom tiefsten Kellergeschoß bis zum Observatorium reichte. Er befand sich in der Mitte des Turms und wurde nur vom Imperator benutzt.

Die Staatskasse erstreckte sich über zwei Etagen im Kellergeschoß und zuunterst befand sich die Schatzkammer des Imperators. Von dort aus gab es einen geheimen Ausgang durch einen Tunnel zur Stadt, mit einer Abweichung, die außerhalb der Stadt endete. Aber selbst der Erste Ratgeber wusste nicht, wo sich sein Ausgang befand.

Vor dem Turm war ein erhöhter Parkplatz für Agators. Ani sah zwei Einsitzer, zwei Dreisitzer und einen Fünfsitzer. Auf den ersten Blick war an nichts zu erkennen, welche der Maschinen dem Imperator gehörte. Sie betrachtete sie aufmerksam, bis sie am unteren Rand des einen Einsitzers wunderliche Zeichen entdeckte. Kein Zweifel, das musste seiner sein. Also war er zu Hause.

Bei dem Gedanken, dass er vielleicht zusah, wie sie seit geraumer Zeit sein Nest begaffte, erschauerte Ani. Schnell machte sie kehrt und ging zum Schloss zurück.

----- Ursu erwartete sie in ihrem Zimmer. Ani entschuldigte sich für ihre Abwesenheit, aber er machte

nur eine wegwerfende Handbewegung. Zufrieden lächelnd streckte er die Hand aus, um sie neben sich auf den Diwan zu ziehen. Mit leuchtenden Augen holte er aus seiner Tasche ein kleines Kästchen, geschmückt mit feiner Schnitzerei, hervor.

Vor ihren Augen öffnete er feierlich das Kästchen und Ani, obwohl sie ahnte, was sie zu sehen bekommen würde, rief vor Verwunderung auf. Es waren drei Edelsteine in zartgrüner Farbe. Ein großer und zwei kleinere zu seinen Seiten. Sie waren kunstvoll geschliffen und das Licht spielte in ihnen. Ani nahm den großen Stein, ging zum Fenster und ließ die Sonnenstrahlen an den Kanten des Steins brechen. Der Kristall war wunderschön. Sie umarmte Ursu, küsste ihn auf die Wange und lächelte ihm zu. Er erstrahlte vor Glück.

Auf der Erde besaß Ani keinen Schmuck mit Edelsteinen. Das wäre das Letzte, wofür sie das Geld der Familie ausgeben würde; aber sie liebte es, Kristalle in Museen und Ausstellungen zu betrachten. Sie waren schön und hatten etwas Klares und Reines an sich.

Ani verstand, dass sich Ursu irgendwie für den gestrigen Abend entschuldigen wollte, doch sie warf ihm nichts vor. Er zwang sie ja nicht mit Gewalt bei ihm zu bleiben und sie musste sich mit seinen schlechten Seiten abfinden, wenn sie in der Festung bleiben wollte. Den Kristall in das Kästchen zurücklegend sagte sie:

“Bei der nächsten Party werde ich mich damit schmücken und noch schöner sein.” Ursu war offensichtlich erleichtert zu sehen, dass sie ihm nicht böse war, und lud sie nach einem

schnellen Mittagessen zu einem Spaziergang ein. Sie nahmen wieder den dreisitzigen Agator. Diesmal flogen sie durch das Nordtor und überquerten

die Stadt in maximaler Höhe. So störten sie den Verkehr unter ihnen nicht und bewegten sich ohne Hindernisse. Bald erreichten sie den Stadtwall und Ani erinnerte sich an den ganztägigen Fußmarsch. Sie bedauerte, dass man auf der Erde dieses bequeme Transportmittel nicht kannte: geländegängig,

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lautlos und ohne giftige Abgase. Ani bewunderte die Meisterschaft Sataras, der sich diese Maschinen ausgedacht hatte. Gern wäre sie selbst geflogen.

“Bringst du mir bei, wie man einen Agator steuert?” fragte sie mit unschuldiger Miene. Ursu lachte auf, wendete die Maschine scharf und kletterte mit ihr an einem schrägen Speicher bis

zur Stadtmauer hoch. Dann übersprang er sie einfach und sie stürzten auf der anderen Seite haltlos in die Tiefe, bis sie eine Höhe von fünf Metern erreichten und er den Agator wieder in Gewalt bekam. Ursu schrie vor Vergnügen auf: “Was für eine Nummer! Du musst mich mal mit dem kleinen Agator sehen! Er ist schneller und fliegt höher. Mit ihm kannst du von Dach zu Dach springen.”

“Und wie lange kannst du mit einer Treibstoffladung fliegen?” fragte Ani. “Das hängt davon ab, wie schnell und wie hoch du fliegst. Mit diesem Agator können wir den

halben Tag spazieren fliegen. Mit dem kleinen kann ich den ganzen Tag fliegen. Der Agator meines Vaters fliegt am längsten, ich glaube, an die drei Tage ununterbrochen.”

“Und was machst du, wenn dir unterwegs der Treibstoff ausgeht?” Ani dachte einfach über die Möglichkeit nach, den Agator zur Flucht zu benutzen.

“Ich habe immer ein Reservoir gemahlener Rigosen bei mir.” Ursu landete die Maschine etwas entfernt im Feld. “Sieh!”

In seiner erhobenen Hand hielt er einen länglichen Zylinder, der einem am oberen Ende verschweißten Reagenzglas ähnelte. Er reichte ihn Ani und sie betrachtete das feine, rosagraue Pulver der Rigosen. Das Röhrchen war bis oben an gefüllt. Trotzdem sie wusste, wo und wie es benutzt wurde, fragte sie Ursu danach.

Er zeigte ihr eine kleine, runde Öffnung seitlich an der oberen Fläche des Agators. Innen befand sich ein Röhrchen. Ursu zog es etwas heraus, damit sie sehen konnte, wie es herausgenommen und eingesteckt wurde. Diese Rigosen hatten eine leicht rötliche Farbe.

“Die rote Färbung bedeutet, dass die Rigosen einen Teil ihrer Energie abgegeben haben. Wenn sie vollkommen rot werden, ist der Treibstoff verbraucht.”

“Verändert sich die Zusammensetzung der Rigosen, wenn sie nicht benutzt werden?” wollte Ani wissen.

“Nein, wenn man den Agator nicht fliegt, verändert sie sich nicht. Nur wenn er eingeschaltet ist beginnt er Energie zu verbrauchen. In dem Container, in den der Treibstoff gesteckt wird, befindet sich noch ein anderes Pulver. Das wird nicht ausgewechselt. Wenn du willst, werde ich meine Mutter bitten dir zu zeigen, wie man einen Agator montiert.”

Ani freute sich über den Vorschlag. Dieser Junge schien jeden ihrer Wünsche zu erraten. “Wenn du mit der linken Hand oben den rechten Knopf drückst”, fuhr er zu erklären fort, “dann

aktiviert sich das Gemisch und beginnt die Energie der Rigosen zu verbrauchen. Wenn ich anhalten will, drücke ich mit der rechten Hand den oberen Knopf. In den mehrsitzigen Modellen gibt es außer den Knöpfen auch Hebel. Mit der entsprechenden Hand musst du den Hebel greifen und zu dir hinbewegen um aufzusteigen, von dir wegbewegen um herunterzukommen, nach außen drücken um die Geschwindigkeit zu erhöhen und nach innen, um sie zu verringern. Wenn du nach links fliegen willst, drückst du mit dem Daumen der linken Hand den zweiten Knopf. Das gleiche gilt für die rechte Hand für die Bewegung nach rechts. Vorwärts fliegst du, indem du beide Hebel nach vorn drückst. Beim Zurückholen in die Ausgangsposition bleibt die Maschine stehen. Wie du siehst, ist das nicht so einfach. Willst du es versuchen?”

Ursu setzte sich nach hinten und Ani machte es sich vorn bequem. Sie steckte ihre Hände in die breiten Öffnungen und ertastete mit den Fingern die Knöpfe. Leise wiederholte sie die Anweisungen Ursus. “Das ist der obere Knopf, das der untere Knopf für die Richtung...”

Er hörte ihr aufmerksam zu und sie machte absichtlich einmal einen Fehler, um nicht den Eindruck einer zu begabten Schülerin zu hinterlassen.

Nachdem sie sich orientiert hatte, nahm Ani die Hebel fest in ihre Hände und drückte auf den Startknopf. Der Agator hob sich einen halben Meter vom Erdboden ab. Sie lenkte gleichzeitig nach vorn und nach oben, indem sie die Hebel leicht zu sich neigte und flog los. Ani hörte, wie Ursu “Bravo!” rief und versuchte bei geringer Geschwindigkeit die Schwenkungen nach links und rechts. Bis hierher flog sie zu gut für eine Anfängerin und deshalb gab sie gleichzeitig schnell nach vorn und mit der anderen Hand drückte sie nach links.

Der Agator drehte sich mit rasender Geschwindigkeit auf der Stelle. Ursu schrie etwas, konnte aber wegen der Fliehkraft, die ihn an die Außenwand drückte, nicht zu Hilfe kommen. Ani beschloss, den Effekt noch etwas zu verstärken und schoss scharf in die Höhe, wobei sie die linke Bewegung anhielt.

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Der Agator sprang sieben Meter hoch, wo er seine Grenzhöhe erreichte. Danach ließ sie ihn langsam auf die Erde gleiten und wendete den Kopf um zu sehen, wie Ursu diese Attacke überlebt hatte.

Er sah zu Tode erschrocken aus. Sie fand ihn so komisch, dass sie in lautes Lachen ausbrach: “Du hattest Recht, es ist nicht so einfach. Aber es macht Spaß.”

“Du hättest mich fast umgebracht!”, schimpfte Ursu erregt, während er sie nach hinten verscheuchte und sich wieder vor sie setzte. “Wenn meine Mutter gesehen hätte, wie ungeschickt du bist, hätte sie dich gleich aus dem Schloss gejagt.”

“Und was hätte dein Vater getan?” fragte Ani frech. Er sah sie mit einem boshaften Blick an: “Schon allein wegen dieser Frage würde er dich

umbringen!” Noch nicht ganz beruhigt versuchte Ursu mit zitternden Händen den Agator zu starten. Die

Maschine sprang hoch und runter und er landete ärgerlich wieder auf der Erde. Immerhin ist er vernünftig, bemerkte Ani. Er wusste, dass er sich erst beruhigen musste, bevor er weiterflog.

Sie beschloss, sich zu entschuldigen: “Die vielen möglichen Bewegungen haben mich durcheinander gebracht. Wenn du mir erlaubst, werde ich das nächste Mal besser aufpassen.”

Ani umarmte Ursu von hinten und drückte ihn fest an sich. Er beruhigte sich sofort. Wieder musste sie feststellen, dass sie mit mütterlichen Verhalten am meisten erreichen würde.

Ursu startete den Agator und sie flogen an der Stadtmauer entlang. Ani besah sich die Umgebung. Die Stadt lag in einem weiten Tal und war von fruchtbaren Feldern umgeben, die von den Bewohnern der anliegenden Dörfer bestellt wurden. Auf den Feldern waren eine Reihe Leute und sammelten die Ernte ein. Überall verbreitete sich der Duft der reifen Papanen. In der Ferne war das Gebirge zu sehen, wo sich ihr Raumschiff befand. Ani hatte von Boar zu träumen begonnen, als Ursu ihr vorschlug, erneut zu fliegen. Offensichtlich hatte er das Geschehene vergessen.

Sie erklärte sich sofort einverstanden. Sich vor ihn setzend probierte sie mit langsamen Bewegungen alle Möglichkeiten des Agators aus. Jetzt war sie sich sicher, dass Ursu nicht mehr darauf achten würde, wie gut sie eigentlich flog.

Plötzlich kam ihr etwas in den Sinn. Sie entfernte sich von der Stadtmauer und richtete den Agator mit hoher Geschwindigkeit direkt zum Gebirge. Ursu rief nur: “Wo willst du hin?”, aber sie beachtete ihn nicht. Als sie sich ausreichend von der Mauer entfernt hatten rief Ani in Gedanken Boar.

„Übertreibe nicht, Ani!“ hörte sie erfreut seine Antwort im Kopf. „Was du da machst, ist gefährlich. Du kommst auch ohne mich gut zurecht und brauchst meine Ratschläge nicht. Kehre jetzt um! Ich will dich hier erst wieder sehen, wenn du den Stein bringst.“

Es war als hätte man sie mit kaltem Wasser übergossen. Ani hatte einen freundlicheren Empfang erwartet. Schmerz zog ihr Herz zusammen. Schwer die aufkommenden Tränen unterdrückend drehte sie den Agator schnell um und kehrte zur Stadtmauer zurück. Dort hielt sie an und tauschte ihren Platz mit Ursu. Der sah sie erstaunt an, dachte aber, dass sie wegen seiner Bemerkung beleidigt sei. Er erklärte, dass nichts weiter dabei wäre, nur dass sich in der Nähe viele Rebellen herumtreiben und es besser sei, sich nicht so weit von der Stadt zu entfernen. Sie flogen durch dasselbe Tor, durch das Ani vor drei Tagen in die Stadt gekommen war und machten sich direkt auf den Weg zur Festung.

----- Nach einem bescheidenen Abendessen ließ sie Ursu allein, um irgendeine Arbeit zu erledigen. Dem

Spiel der Flammen im Kamin zusehend schwankte Ani zwischen Wut und Verzweiflung. Boars kalter Empfang hatte sie zutiefst verletzt. Nur mit dem Stein wolle er sie wiederhaben! Wieso musste sie hier die ganze Drecksarbeit erledigen, währen sich alle höheren Wesen, um so vieles klüger und fähiger als sie, in ihren Nestern ausfaulenzten? Wenn sie den verfluchten Stein haben wollten, sollten sie ihn sich doch selber holen! Sie brauchte ihn nicht. Man hatte sie dazu gezwungen, zu diesem fremden Planeten zu fliegen, in einem fremden Körper und mit fremden Erinnerungen im Kopf; sich vor diesem Jungen zu erniedrigen; sich vor der allgegenwärtigen Macht des Imperators zu hüten; sich auf keinerlei Hilfe verlassen zu können und sich schließlich in die niedrigste Diebin zu verwandeln. Für wer-weiß-was für Götter mit wer-weiß-was für Zielen. Sie war eine Marionette im Spiel höherer Kräfte. Man hatte sie noch nicht einmal darum gebeten, an ihm teilzunehmen. Was würde wohl geschehen, wenn sie jetzt zu Satara ginge und ihm eingestehe, weshalb sie gekommen war?

Unaufhaltsam stieg in ihr die Empörung hoch. Und zusammen mit ihr der Schmerz von dem rauen Empfang Boars. Eigentlich dachte sie, dass wenigstens er sie versteht und unterstützt. Vielleicht hatte

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sie heute wirklich etwas übertrieben, als sie Ursu erschreckte. Aber sie musste herausbekommen, inwieweit sie sich auf ihn verlassen konnte. Ani war sich sicher, dass er niemanden von dem, was passiert war, berichten würde. Sie musste ihm einfach den Atem rauben: Wenn sie sich zum folgsamen Mädchen machte, würde sie ihn schnell langweilen. Schon Morgen wird er sie mit seiner Mutter bekannt machen und von dort bis zum Turm blieb nur ein Schritt. Die Dinge entwickelten sich wirklich gut und trotzdem hatte ihr Boar die Flügel beschnitten.

Ani fühlte sich allein gelassen und verraten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie ärgerte sich über sich selbst. Was war nur mit ihr los? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal auf der Erde geweint hatte. Auch dort war ihr Leben nicht leicht, aber sie war schon immer der Meinung gewesen, dass sich mit Weichwerden Probleme nicht lösen lassen. Hier aber heulte sie unentwegt, verhielt sich wie ein unglücklich verliebtes zwölfjähriges Mädchen. Alle bisherigen Stützen in diesem Leben hatte sie gegen eine einzige ausgetauscht - jene Energiekugel, die sich im Gebirge versteckte und sich mit Energie auflud. Jetzt aber war diese Stütze ins Wackeln geraten und unendliche Leere und Kummer erfüllten ihr Herz.

Ani ließ die Tränen über die Wangen kullern und auf die heißen Steine vor dem Kamin tropfen. Wie verzaubert starrte sie auf den gelbroten Widerschein des Feuers. Sosehr sie Boar jetzt auch verwünschte, sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Ani sehnte sich nach seiner Nähe und würde den Stein nur wegen dieser Liebe stehlen.

----- Tief im Felsen versteckt hatte Boar ein Netz von feinen Fädchen seines Strahlenkörpers bis zum

Zentrum von Satarius ausgespannt. Nur ein sehr geringer Teil der Planetenenergie war für ihn geeignet. Leider konnte er nicht direkt von der Energie der nahen Sonnen schöpfen. Jeder seiner Strahlen, der die Atmosphäre durchdrang, würde die Sirene einschalten. Obwohl es in dieser physischen Welt keine Barrieren für ihn gab, befand er sich in einem Gefängnis.

Er hatte nur eine Sorge – so viel wie möglich Energie für die Flucht zu sammeln. Nachdem Satara ihre Anwesenheit bemerkte, würde ihnen das Raumschiff Weowas nichts mehr nützen. Gleich nach dem Start würde er es zerstören. Boar musste Ani selbst zurücktragen. Hoffentlich reichte die Zeit, um genug Energie bis dahin zu speichern!

Das tatenlose Zusehen fiel ihm schwer. Er wusste von allem, was Ani erlebte - in der Außenwelt und in ihrer Phantasie - aber das machte seine Lage nicht leichter. Ihre Gedanken kennend, ihr Zögern fühlend, ihre falschen Entscheidungen und risikoreichen Taten sehend, vertrug er nur schwer seine Unfähigkeit, ihr wenigstens einen Rat zu geben. Vorerst war er nutzlos für sie. Ani konnte nur auf sich selbst zählen und Boar hatte deshalb Gewissensbisse.

Jetzt empfing er ihre Gefühle der Wut und Verzweiflung, der Liebe und des Leids, und verspürte, wie sehr sie ihn brauchte. Aber auch nur das Eindringen seiner Gedanken in die Stadt war zu gefährlich. Schon Gestern konnte er ihren Rufen nach gedanklicher Berührung kaum standhalten. Und jetzt war er selbst der Grund für die schlechte Verfassung, in der sich Ani befand. Was heute geschehen war, hätte nicht passieren dürfen. Als er sie mit so viel Enthusiasmus und Hoffnung auf sich zustreben sah, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen!

Boar fand keine Entschuldigung für sein Verhalten. Immer hatte er gedacht, sich gut beherrschen zu können. Aber Kador hatte Recht – wenn sich ein Paar “Geteilter” begegnet, gehen sie schwer mit ihrem anderen Ich um. Er hatte befürchtet, das Streben nach Vereinigung könnte die Oberhand bekommen und hatte Angst, ihm nicht widerstehen zu können. In der Absicht, Ani so weit wie möglich von sich fern zu halten, hatte er zu voreilig und grob reagiert. Nicht genug, dass er nicht in der Lage war ihr zu helfen, jetzt entmutigte er sie auch noch.

Boar verstand Anis Entrüstung. Selbst er wusste nicht, was der eigentliche Sinn ihrer Odyssee war. Aber er vertraute dem Schicksal, lehnte sich nicht dagegen auf. Ani wusste nicht genug über die kosmischen Zusammenhänge, sah nur ihre eigene kleine Welt eines schweren physischen Lebens. Sie kam ausgezeichnet zurecht und Boar wäre stolz auf ihre Erfolge gewesen, wenn er das nicht als Selbstgefälligkeit empfunden hätte. Er war nicht in der Lage, sich selbst klar von Ani abzugrenzen. Problemlos würde er seine Liebe zu ihr ausdrücken, wären sie nicht ein Paar “Geteilte”. Doch sie kamen aus einer Welt, wo der Begriff “Liebe” jede Bedeutung verlor.

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Trotzdem spürte er immer mehr den Unterschied zwischen ihnen. Jeder von ihnen ging seinen eigenen Weg und erschuf seine eigene Persönlichkeit. Sie würden sich immer mehr voneinander entfernen, bis sie sich eines Tages erneut zu Eins vereinigten.

Die zärtlichen Botschaften Anis empfangend, nahm Boar ihre Energie in sich auf. ----- Der Lärm der Presse hallte durch die Werkstatt. Sie standen in einer großen Halle und Ani strengte

sich an, die Erklärungen der Technologin zu verstehen. Schon früh am Morgen kam Ursu in ihr Zimmer gestürmt und brachte die freudige Nachricht, dass er mit seiner Mutter gesprochen und sie ihnen erlaubt hatte, sich die Montage der Agators anzusehen.

In dieser Werkstatt wurden die Blechteile für die Karosserie und das tragende Untergestell hergestellt. Ani konnte keinerlei Öffnungen am Boden des Agators entdecken. Es gab keine Düsen zum Ausstoßen von Gasen. Der Apparat wurde von irgendeiner anderen Kraft über der Erde gehalten. Das erklärte, warum er so lautlos arbeitete. Doch was für eine Kraft das sein könnte, davon hatte sie keine Ahnung. Es fiel ihr schwer einzugestehen, dass diese zurückgebliebene Zivilisation eine Technik beherrschte, die sich auf einem viel höheren Niveau befand als die irdische.

Ihr fielen kleine Einbuchtungen am Rand des Rumpfes auf und sie fragte nach ihrer Bedeutung. “Sie führen zur Verwirbelung der Luft und stabilisieren den Agator”, antwortete die ältere Frau.

Dann ließ sich Ani die Wirkung des seltsamen Systems erklären, dass den Agator in stabiler horizontalen Lage hielt, unabhängig von seiner Belastung. Unter den Sitzen befand sich eine weiche Blase, gefüllt mit einer schweren Flüssigkeit. Diese verteilte sich so, dass unabhängig von der Lage der Passagiere und dem Gepäck die allgemeine Belastung je Flächeneinheit gleich blieb. Für jedes Modell gab es eine Belastbarkeitsgrenze.

Unter den Sitzen verblieb ein freier Raum, wo in der anderen Werkhalle der Mechanismus montiert wurde. Dort hingen die Kabel für die Steuerung unverbunden. Beim Reservoir fehlten ebenfalls Teile. Alles, was wirklich wichtig war, würde sie hier nicht erfahren. Ani befürchtete, dass man ihr den Zutritt zur anderen Werkhalle verwehren könnte, aber nachdem sie die letzte Abteilung, wo die Maschinen angestrichen wurden, hinter sich gelassen hatten, fragte Ursu, ob sie auch den Rest sehen möchte.

Die andere Werkstatt war etwas weiter entfernt. Während sie die breite Straße entlanggingen, fragte Ani, wie viele Maschinen pro Jahr produziert wurden.

“Ich glaube fünf oder sechs, in Abhängigkeit davon, wie viele beschädigt oder zerstört wurden”, erklärte Ursu. “Selten wird jemand so reich, dass man ihm den Besitz eines Agators bewilligt.”

“Aber den Agator könnte man für viele Sachen verwenden!” entrüstete sich Ani. “Mit ihm können Materialien und Menschen zu schwer zugänglichen Orten gebracht werden.”

“Ja, das stimmt. Hier gibt es eine Menge Leute, die meinem Vater vorwerfen, dass er keine größere Produktion zulässt”, antwortete Ursu. “Ich würde die Produktion erweitern, aber er hat seine eigenen Erwägungen.”

“Was können das für Erwägungen sein, wo doch der Nutzen auf der Hand liegt!” rief Ani aus. “Ich habe ihn danach gefragt, aber er hat meine Frage abgewiesen. Er meinte, dass ich das nicht

verstehen würde.” Ein Schatten lief über Ursus Gesicht. “Ich weiß nicht, ob er mich für dumm hält oder mir nicht vertraut, aber jedes Mal, wenn ich ihn nach etwas wirklich Wichtigem frage, antwortet er mir so.”

Ani spürte seinen Schmerz und er tat ihr leid. Das war ein Sohn, der seinen Vater vergötterte, aber ihn weder verstand, noch sich von ihm verstanden fühlte. Sie bekam Lust, dem Imperator die Vernachlässigung seiner Vaterpflichten vorzuwerfen, und musste über diesen Gedanken lachen.

Ursu sah sie erstaunt an. Um ihre seltsame Reaktion auf seine Beschwerden zu erklären sagte sie die Wahrheit: “Gerade dachte ich, deinem Vater Vorwürfe zu machen.”

Jetzt musste Ursu lachen. Er umarmte sie belustigt und drehte sich mit ihr im Kreis. “Weißt du, was mir an dir am meisten gefällt?”, fragte er, immer noch lachend, “dass du keinen

besonderen Respekt vor dem Großen Imperator hast. Alle Leute zittern, wenn sie nur seinen Titel hören. Du musst aus einer sehr abgelegenen Gegend kommen, um nicht von all den Zaubereien gehört zu haben, mit denen er Menschen und Tiere verhext. Keiner kann es mit ihm aufnehmen! Das ist eine Vererbung in unserer Familie. Sie erscheint in jeder zweiten Generation. Leider liege ich dazwischen.”

Ihn ergriff wieder die Schwermut. Mitleid erfüllte Anis Herz. Sie streichelte ihn leicht und nahm ihn bei der Hand. Ursu warf ihr einen Blick voll Liebe zu und Ani senkte die Augen vor Scham. Der

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arme Junge! Sie war auch nicht besser als sein Vater; sie spielte nur mit seinen Gefühlen im Namen ihrer eigenen Ziele. Erneut verwünschte sie ihre Aufgabe.

Inzwischen waren sie bei der zweiten Halle angekommen und traten ein. Diese Werkstatt war sehr klein. In ihr befanden sich nur ein einziger Agator und einige halbfertige

Öfen. Eine starke große Frau hielt sie schon an der Tür auf und meinte, dass Ani hier kein Recht auf Zutritt hätte. Ursu erklärte, dass sie die Erlaubnis seiner Mutter besäßen. Die Frau fragte sich gerade, ob sie ihm Glauben schenken solle, als aus der Tiefe der Werkstatt eine kräftige Frauenstimme zu hören war: “Alles in Ordnung, Saira, lass sie rein!”

Ani blickte nach hinten und sah eine Frau in mittleren Jahren, gut gebaut und mit üppigem kastanienbraunen Haar. Mit feinen Lederhosen und einer langen, ganz mit Perlen besäten Tunika bekleidet, unterschied sie sich wesentlich von den anderen Frauen in der Werkstatt. Sie kam mit einem sehr aufrechten, majestätischen Gang zu ihnen.

“Meine Mutter”, erklärte Ursu stolz. Aus der Nähe konnte Ani den harten und ein wenig hochmütigen Ausdruck auf ihrem Gesicht erkennen. Tiefe Furchen verrieten die ernsten Sorgen dieser Frau. Ihr Leben an der Seite des Imperators war sicher nicht einfach.

Ani verbeugte sich leicht, wie es bei einer Begegnung mit hochgestellten Persönlichkeiten üblich war. Ursu stellte sie ihrer Mutter vor, die sie aufmerksam von Kopf bis Fuß studierte. Offensichtlich zufrieden mit Anis Äußeren fragte sie:

“Was genau interessiert dich?” “Ich möchte wissen, wie die Rigosen diese Maschine in die Luft heben”, antwortete Ani. Ursus Mutter hob erstaunt die Augenbrauen, warf ihr einen scharfsinnigen Blick zu und drehte sich

dann zu dem Agator um. Sie veranlasste eine der Arbeiterinnen, ihn zu öffnen und die Sitze herauszunehmen.

An der in der anderen Halle leer gelassenen Stelle befand sich eine runde Scheibe aus glänzendem Metall mit drei weiten, sonderbar gedrehten, spiralförmigen Öffnungen. Sie waren mit einem breiten, durchsichtigen Rohr, das ebenfalls auf unerklärliche Weise völlig verdreht war, verbunden. Das Rohr kam aus einem zylindrischen Behälter voll schwarzem Pulver. Der Behälter hatte zwei Öffnungen: In die Mitte wurde der Treibstoff gesteckt und an der Seite versank ein kleiner Kristall in einer speziellen Einbuchtung. Der Kristall war mit dem Starter und der Steuerung verbunden.

Ani fragte, ob sie sehen dürfe, wie der Agator funktioniert. Nach einem gewissen Zögern drückte die Herrin auf den Startknopf. Der Kristall versank in der Öffnung und begann mit starkem orange-farbigen Licht zu leuchten. Darauf passierte etwas mit dem schwarzen Gemisch in dem Behälter und mit dem Treibstoff. Die Rigosen röteten sich und das Gemisch begann, sich zu bewegen. Mit größter Verwunderung sah Ani, wie sich das Pulver in Flüssigkeit verwandelte und dem Rohr herabfloss. Dort verwirbelte sie sich auf unglaubliche Weise. Der Agator erhob sich einen halben Meter vom Boden.

Das angestrengte Interesse Anis beobachtend bewegte Ursus Mutter die Hebel leicht nach vorn und zur Seite. Der Kristall drehte sich und die Flüssigkeit änderte ihre Bewegungsrichtung. Der Agator wackelte, den Bewegungen des Hebels folgend, hin und her. Der Mechanismus war ausgesprochen einfach, aber die physikalischen Gesetze, die hier das Gemisch bewegten und die Art, in der sich diese Bewegung auf den Agator übertrug, waren für Ani völlig unverständlich. Sie hielt ihre Hand unter die Öffnungen auf der unteren Seite der Scheibe und spürte ein leichtes Ziehen. Dort war irgendeine unsichtbare Strahlung.

Ursus Mutter schaltete die Maschine ab; der Kristall verließ den Behälter, hörte auf zu leuchten und das schwarze Gemisch zog sich sofort zurück und wurde wieder zu Pulver. Der Agator landete auf dem Boden.

Ani überlegte einige Sekunden, welche Frage sie stellen solle. Hier waren ihr so viele Sachen unklar, dass sie nicht wusste, womit sie beginnen sollte. Die anderen sahen sie mit gespannter Erwartung an. Ani beschloss, nach etwas Einfachem zu fragen: “Was ist das für ein Material in dem Behälter und woher stammt der Kristall?”

“Das schwarze Pulver kommt vom Grund eines Sees, der sich in der Provinz Kuturo befindet. Es wird einige Male gesäubert und gepresst. Was den Kristall anbelangt, der ist aus dem Laboratorium des Imperators. Wir wissen weder, aus welchem Material er ist, noch, wie er ihn herstellt. Wir bekommen ihn fertig”, erklärte die Herrin.

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Obwohl sie bereits wusste, dass sie auf ihre nächste Frage keine klare Antwort bekommen würde, stellte sie Ani doch: “Was sind das für Strahlungen, die ich unter diesen sonderbaren Öffnungen verspürt habe?”

“Strahlen? Das, was du da spürst ist die Kraft, die durch die Wechselwirkung zwischen diesen verschiedenen Stoffen hervorgebracht wird”, antwortete Ursu. “Diese Kraft schwächt die Anziehungskraft des Planeten unter dem Agator und erlaubt es ihm, sich in die Luft zu erheben.”

Ursu demonstrierte stolz seine Kenntnisse und Ani bemerkte, dass selbst seine Mutter überrascht war. Doch das waren Eindrücke am Rand ihres Bewusstseins. Wichtiger war, dass diese Maschine offensichtlich mit Antigravitation arbeitete. “Mein Gott”, dachte sie, “was würde man auf der Erde für diese Erfindung geben!”

Hier war nichts mehr zu sehen. Sie würde mehr erfahren, wenn sie Ursu allein nach diesen Dingen ausfragte. Deshalb bedankte sie sich für die Möglichkeit, einen Agator von innen betrachten zu können, und verließ mit Ursu die Werkstatt.

Mit der Bitte: “Erzähl' mir noch etwas über diese Kraft, die den Agator hochhebt”, wandte sie sich an ihn.

Aber er konnte ihr keine genaueren Informationen geben. Er wusste noch nicht einmal, ob sie einen Namen hatte. Mit Lachen verwies er sie erneut an seinen Vater und damit war das Thema beendet. Er hatte irgendeine Aufgabe zu lösen und ließ sie allein.

----- Den ganzen Nachmittag ging Ani in der Stadt spazieren. Es machte ihr nichts mehr aus, die kleinen

Läden und Werkstätten zu besuchen. Kunstvoll hergestellte Gewerbeartikel wurden verkauft und eine weiße Stoffbluse gefiel ihr besonders. Sie kostete ein ganzes Vermögen. Für den Abend war Ani von Ursus Mutter zum Essen eingeladen worden und sie brauchte etwas Anständiges zum Anziehen.

Überall in der Stadt herrschten Sauberkeit und Ordnung. Nirgends sah sie Bettler oder Satarianen in Lumpen. Ein niedriger, aber ausreichender Lebensstandard war hier gesichert.

Selten sah man reicher gekleidete Leute. Ani wusste von dem Ratgeber, dass solche durchaus existierten. Doch sie vermieden es, ihre größeren Möglichkeiten zu demonstrieren. Der Imperator duldete nicht, dass ihm jemand Konkurrenz im Luxus machte. Obwohl seine Schatzkammern voll von jeglichen kostbaren Gegenständen waren, zeigte er sie nicht gern. Seine Frau war klug genug, seinem Beispiel zu folgen, und nur sein Sohn prahlte mit den schönen Sachen, die er besaß.

Ani versuchte sich vorzustellen, was wohl geschehen würde, wenn man diese Diktatur durch die so gepriesene Demokratie der westlichen Zivilisation auf der Erde ablösen würde. Mit Sicherheit stände eine lange Zeit des vollkommenen Chaos bevor. Danach käme der Fortschritt schnell. Aber würde sich dann nicht das Schicksal der Erde wiederholen, wo die Entwicklung der Menschen hinter der Entwicklung der Technik zurückblieb? Ani fühlte, wie sie Sympathie zu dem ihr immer noch unbekannten Satara ergriff. Die Ungeduld, ihm kennen zu lernen wuchs, trotz des unbestrittenen Risikos, das ein solches Treffen in sich barg.

Plötzlich kam ihr Boar in den Sinn und dass er jeden ihrer Gedanken hörte. Die Vorstellung, dass er vielleicht von ihren Absichten entsetzt sei, amüsierte sie. Schon allein um Boar zu reizen war sie bereit, den Imperator um eine Audienz zu bitten. Sie hatte ihm die gestrige Abweisung noch nicht ganz verziehen.

Gegen Abend kehrte sie heim, um sich auf das Abendessen vorzubereiten. Sie zog irgendeine Hose

an, die neue Bluse und die abgeschnittene Weste. Den großen grünen Kristall verknotete sie mit einem Lederband und befestigte ihn am Hals. Die beiden kleinen Kristalle fasste sie in ein Armband für die linke Hand. Ani betrachtete sich wohlgefällig im Spiegel und wartete auf Ursu.

Nachdem er das Wohnzimmer betreten hatte, bewunderte er von neuem ihren guten Geschmack. Er versprach ihr noch schönere geschliffene Kristalle als Schmuck und sie gingen zu den Gemächern seiner Mutter.

Diese befanden sich genau über Anis Appartement. Die Einrichtung war ähnlich, aber die Möbel waren schöner und verschiedene kleine Kunstgegenstände ergänzten das Interieur.

Auf dem Diwan, hinter dem gedeckten Tisch, saß die Herrin der Festung in einem dunkelblauen Kleid aus Stoff. Ani musste ihre Meinung, dass man hier nur Leder als Kleidung anerkannte, revidieren.

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Auf Satarius gab es nicht viele Pflanzen, aus denen man Fasern gewinnen konnte und das Kleid war sicher sehr teuer.

Verglichen mit dem Abendessen vor zwei Tagen, verlief dieses ruhig. Ursus Mutter fragte sie nach ihrer Familie und Ani musste sich etwas einfallen lassen. Zum Glück interessierte das die Herrin nicht besonders und sie wechselten schnell zum heutigen Besuch der Produktionshallen über. Ani bedankte sich noch einmal dafür, dass man ihr erlaubt hatte, die Agators von innen zu sehen und fragte nach den anderen Produktionen in der Festung.

Erfreut über ihr Interesse erzählte Ursus Mutter ausführlich von den Problemen, die sie zu lösen hatte. Ani hörte aufmerksam zu. Der Ratgeber hatte sich nur mit der politischen Verwaltung der Provinzen beschäftigt und sie hatte keine Erinnerungen an die Wirtschaft des Planeten. Auch nach der Landwirtschaft und Viehzucht fragte sie.

Die ganze Zeit über langweilte sich Ursu. Das waren Frauensachen und die interessierten ihn nicht.

Er erwartete mit Ungeduld das Ende des Abendessens, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Nachdem die Frauen endlich fertig waren, lud er Ani ein, ihm Gesellschaft zu leisten und sie konnte

nicht absagen. Der Abend ähnelte dem vorgestrigen und endete auf die gleiche Weise. Nur dass sich Ani nicht mehr soviel daraus machte. Offensichtlich gewöhnte sie sich an die eigentümlichen Angewohnheiten Ursus.

----- Diesmal hatte sie nur zwei Blättchen von dem Kraut gekaut und wurde früh und ohne

Kopfschmerzen wach. Ursu würde erst spät aufstehen und Ani wartete, dass die Zeit für das Treffen mit Rines, einer seiner Freunde, herankam.

Sie war neugierig zu erfahren, was er wohl von ihr wollte. Am vorigen Abend hatte Rines einen Moment der Abwesenheit Ursus aufgelauert, um sich mit der Bitte nach einem heimlichen Treffen an sie zu wenden. Im ersten Moment wollte Ani ablehnen, hatte aber das Gefühl, dass es hier um etwas anderes ging, als um ein gewöhnliches Rendezvous. Er sah von seiner Bitte sehr bedrückt aus. Sie bemerkte, dass Rines nicht von dem Kraut nahm. Offensichtlich wollte er bei klarem Verstand bleiben. Sie verabredeten sich für den frühen Morgen des nächsten Tages.

Bis dahin war noch Zeit und Ani beschloss, sich mit etwas zu beschäftigen, was sie seit langem vorhatte. Sie ließ sich alle Erinnerungen des Ratgebers in chronologischer Reihenfolge durch den Kopf gehen. Die Bilder liefen mit rasender Geschwindigkeit durch ihr Gehirn. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne, um sich auf einige Einzelheiten zu konzentrieren:

Er entstammte einer Kaufmannsfamilie. Eine langweilige Kindheit als sehr begabter Schüler. Die

Genugtuung über den ausgezeichneten Schulabschluss und das Angebot in der Gebietsverwaltung einer großen Provinz zu arbeiten. Die Probleme mit Naturkatastrophen - Erdbeben, Überschwemmungen, Stürme. Die nachfolgende Hungersnot und strenge Auferlegung eines Lebensmittelregimes. Die Wiederherstellung von Straßen und die Auszeichnung für die hervorragende Arbeit. Die Beförderung; die Versetzung in die Hauptstadt. Die Frau seines Lebens und ihre drei Kinder. Die nächste Beförderung und die Arbeit in der Kanzlei der Festung. Das erste Betreten des großen Turms. Der Imperator. Der Ärger mit den Aufständischen in drei Provinzen. Die erfolgreiche Unterdrückung. Der Aufstieg zum Gehilfen des Ersten Ratgebers. Die Gespräche mit dem Imperator. Das Eintreten ins Amt “Erster Ratgeber”. Die qualvolle Arbeit unter den Augen des Imperators. Die heimliche Verschwörung mit den anderen Ratgebern. Der Traum. Das Entdecken des Steines. Die Flucht durch den Tunnel zur Stadt. Die Wache an der Pforte und die Verhaftung. Das Lachen des Imperators. Sein Blick und das Ende...

Ihr Kopf dröhnte. Ihr war unklar, wie viel von alldem sie bereits in ihrem eigenen Gedächtnis

gespeichert hatte. Da gab es einige sehr interessante Informationen über die Verwaltung des Reiches, über die Gefühle dieser Menschen zu ihren Nächsten, über den Aufbewahrungsort des Kästchens mit dem Stein der Weisheit und über den Fluchtweg, den sie nicht nehmen durfte. Aber das Interessanteste war die Art, auf die ihn der Imperator getötet hatte. Leider konnte sie nicht erfahren, was er genau mit ihm gemacht hatte. Diese Erinnerung war von der riesigen Angst, die der Ratgeber empfand, überdeckt.

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Die Zeit für das “Geheimtreffen” war gekommen. Ani hatte vor Rines darauf bestanden, sich an einem Ort zu treffen, wo sie alle sehen konnten. Wenn sie das Treffen sehr geheim durchführten, könnten alle möglichen Gerüchte aufkommen. So aber würde sie, wenn nötig, eine plausible Erklärung finden.

Auf einem Haufen großer dekorativer Steine sitzend, versteckt hinter dichten, hohen Büschen, erwartete sie Rines bereits. Ani setzte sich ihm gegenüber. Sie wartete ungeduldig dass er erkläre, worum es gehe, aber Rines zerdrückte nur aufgeregt ein Blatt zwischen den Fingern und schwieg. In ihr stieg bereits der Unmut hoch, als er endlich zu sprechen begann.

“Ich möchte dich um etwas bitten, aber ich kenne dich nicht gut genug und riskiere mein Leben, wenn du mich an Ursu verrätst”, erklärte Rines sein seltsames Verhalten. Erneut verstummte er für eine Weile. Es fiel ihm nicht leicht, mit der Sprache heraus zu rücken und Ani wartete mit angespanntem Interesse. Die merkwürdige Einleitung bekräftigte ihren anfänglichen Verdacht, dass es sich hier um etwas Wichtiges handelte.

“Ich gehöre zu einer der Widerstandsgruppen, deren Ziel es ist, den Imperator vom Thron zu stürzen und Ursu schon jetzt zu krönen”, murmelte Rines und wartete ab, wie Ani auf seine Worte reagieren würde.

Ani tat sofort leid, dass sie sich auf dieses Treffen eingelassen hatte. Das fehlte ihr gerade noch! Sie hatte nicht die Absicht, sich in die hiesigen Machtintrigen einzumischen. So eine Zusammenarbeit würde ihr kaum etwas nützen. Aber sie konnte das Geschehene nicht rückgängig machen. Wenn sie jetzt absagte, würde sie eine große Gefahr für die Rebellen darstellen und man müsste einen Weg finden sie loszuwerden. Ani konnte keine Feinde gebrauchen. Wer weiß, was sie von ihr wollten! Das könnte ihre Mission ernsthaft gefährden. Für alle Fälle beschloss sie sich zurückzuhalten und Zeit zu gewinnen.

“Ich verstehe euren Wunsch, den Imperator zu stürzen, aber ich wüsste nicht, wie ich euch dabei helfen könnte. Du kennst Ursu und die Festung besser als ich. Ich bin erst seit drei Tagen hier und kenne niemanden.”

“Das stimmt. Aber dir haben sie die Produktion der Agators gezeigt währen ich seit zehn Jahren mit Ursu befreundet bin und trotzdem haben sie mich bis jetzt noch nie in die Werkhallen gelassen”, fuhr Rines fort, erleichtert, dass sie wenigstens die Idee, den Imperator zu beseitigen, unterstützte. Es wäre ihm nicht leicht gefallen sie umzubringen, wie seine Anweisungen für den Fall lauteten, dass sie es ablehnte, ihnen zu helfen. Er trug einen Dorn der Obaren-Blume bei sich. Ein Einstich würde genügen und sie wäre nach zwei Minuten tot gewesen. Ani war ein sehr hübsches Mädchen und er wollte ihren Tod nicht.

Schon als er sie zum ersten Mal sah, war ihm klar, was für ein unschätzbarer Helfer sie für ihre Idee sein könnte. Sofort berichtete er der Gruppe von ihr. Die anderen waren nicht so begeistert. Sie wollten erst erfahren, woher sie kam und wer sie war. Die Leichtigkeit, mit der sie Zutritt zur Festung gefunden hatte, kam ihnen verdächtig vor. Was, wenn sie die nächste Falle des Imperators wäre? Es entspräche ganz seinem Stil ihnen auf diese Weise einen Spion unterzuschieben.

Aber Rines glaubte nicht daran. Vorerst bemerkte er keine Verbindung zwischen ihr und dem Imperator. Außerdem drängte sie die Zeit. Um jeden Preis mussten sie sich einen intakten Agator beschaffen. Alle bisherigen Versuche waren fehlgeschlagen. Sobald man dem Imperator über einen gestohlenen Agator Bericht erstattete, machte er irgendeine Magie und genau dieser Agator ging kaputt. Was sie auch unternahmen, sie konnten ihn nicht mehr starten. Keiner verstand, was mit den Maschinen geschah. Sie versuchten, an einige der Arbeiter in den Werkhallen heranzukommen, aber auch die wussten nichts. Rines erhoffte sich, dass Ani vielleicht etwas über die Arbeitsweise dieser Maschinen erfahren hatte. Er erzählte ihr, was sie wissen wollten.

Ani dachte nach. Dann fragte sie: “Wenn ich dich richtig verstanden habe, verfügt ihr über mehrere Agators, aber sie funktionieren nicht. Und ihr wisst nicht, warum. Gestern habe ich gesehen, wie ein Agator funktioniert, aber ob das ausreicht ist sehr fraglich.”

Interessant war für sie zu erfahren, dass Satara die volle Kontrolle über die Agators ausübte. Sicher kodierte er jeden einzelnen um Zugang zu einer bestimmten Maschine zu haben. Da er sich persönlich am Bau von Agators einzig mit dem kleinen Kristall beteiligte, war dieser höchstwahrscheinlich der Schlüssel zum Rätsel.

“Hast du mal einen Agator von innen gesehen?” fragte sie Rines. “Nein, noch nie.”

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“Dort ist ein kleiner Kristall, der mit dem Startknopf des Agators verbunden ist. Er sinkt in einen Behälter, voll mit schwarzem Pulver, und taucht dann wieder auf. Bringt mir so einen Kristall von einem kaputten Agator und ich werde sehen, ob ich euch helfen kann.”

Sie wollte dieses kompromittierende Treffen so schnell wie möglich beenden. Dass sie jemand belauschte war unwahrscheinlich, aber das Risiko war zu groß. Es würde sie nicht wundern, wenn der Imperator von Rines wusste, und in diesem Fall würde sie sich nur schwer mit Erklärungen herauswinden können.

Ani sagte, sie habe es eilig ins Schloss zurückzukehren, damit Ursu sie dort antreffe sobald er erwache, und ging.

----- Eine viertel Stunde nach ihrer Rückkehr öffnete sich die Tür mit Krachen und Ursu stürmte ins

Zimmer. Mit freudestrahlenden Augen gab er ihr ein kleines Kästchen, ganz wie das vom vorgestrigen Tag. Ani lächelte ihm zu und öffnete es. Zwei völlig gleiche, riesige rosa Kristalle strahlten sie an. Sie mussten ein Vermögen wert sein. Für einen Augenblick lang tat es ihr leid, dass sie sie nicht mit auf die Erde nehmen konnte. Sie waren so schön! Ani dankte ihm und fragte:

“Wird dich dein Vater nicht bestrafen, wenn er bemerkt, wie du seine Schatzkammer plünderst?” Ursu verzog den Mund: “Das sind nicht seine Kostbarkeiten, sondern meine! Geschliffene

Edelsteine interessieren ihn nicht. Er bewahrt verschiedene hässliche unreine Kristalle in ihrer natürlichen Form auf, Schlamm von allen möglichen Seen, schwarze und weiße Erde, Knochen und Hörner von Tieren und wer weiß was noch für abscheuliche Sachen.” Ursu war echt empört. “Er benutzt sie für seine Zaubereien und lässt keinen an sie heran. Zum Beispiel besitzt er einen ganz gewöhnlichen Stein, wegen dem er vor einigen Jahren seinen besten Ratgeber umgebracht hat.”

Ani war sofort hellwach und beschloss, sich den Moment nicht entgehen zu lassen. “Wegen eines gewöhnlichen Steins, sagst du?” tat sie naiv verwundert. “Sicher war er sehr schön!” “Von wegen! Nach diesem Vorfall war ich neugierig und habe mich in seine Schatzkammer

geschlichen. Als ich den Stein sah, war mir unbegreiflich, wie sich der Ratgeber an so etwas vergreifen konnte.”

“Hast du ihn in die Hand genommen?” fragte Ani aufgeregt. “Nein, ich hab ihn in seinem Kästchen gelassen und mir die anderen Sachen angesehen. Nichts hat

mir gefallen und ich bin wieder gegangen.” “Da stimmt etwas nicht! Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Ratgeber bereit ist wegen eines

bedeutungslosen Steins zu sterben”, murmelte Ani. Erneut bewegte sie sich auf Messers Scheide. Boar hatte Recht, sie riskierte zuviel. Würde Ursu ihr

erhöhtes Interesse an dem Stein bemerken? “Ich werde ihn dir mal zeigen, damit du mir glaubst”, lachte er. Anis Herz sprang vor Freude. Sie hatte mehr, als erhofft, erreicht. Erneut bestätigte sich die alte

Regel, dass nur wer riskiert, gewinnt. Eines Tages würde sie Ursu an dieses Versprechen erinnern. Ursu winkte mit der Hand ab, als vertreibe er eine lästige Fliege, und sagte: “Vorerst habe ich

andere Sorgen. Mein Vater gibt mir jeden zweiten Tag eine Aufgabe und diesmal fällt mir keine Lösung ein.”

„Was für eine Aufgabe?” fragte Ani neugierig. “Er will, dass ich lerne, das Reich selbst zu regieren und denkt sich verschiedene schwierige

Situationen aus. Und ich muss die beste Lösung finden. Was ich mir auch ausdenke, er ist nie damit zufrieden. Ich würde nicht umfassend genug denken! Schließlich werde ich Ratgeber haben, und außerdem ist noch viel Zeit, bis ich mit dem Regieren an der Reihe bin. Aber mein Vater ist unerbittlich. Er quält mich mit diesen Aufgaben!” Ursu war offensichtlich besorgt und Ani bot ihre Hilfe an. Er sah sie erstaunt an.

“Interessierst dich das wirklich? Meine Mutter ist sehr zufrieden mit dir und zum ersten Mal möchte sie, dass ich ein Mädchen behalte. Wenn du mir auch beim Lösen der Aufgaben hilfst, bist du unbezahlbar!” Ursu lachte erleichtert auf. Offensichtlich hatte er nichts dagegen, mit jemanden über seine Probleme zu sprechen und begann zu erklären, worum es ging.

Die Aufgabe bestand im Folgenden: In einer Provinz hatte es eine große Überschwemmung

aufgrund eines über die Ufer getretenen Flusses gegeben. Der Fluss überflutete jedes Jahr die Gegend,

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aber diesmal waren die Schäden besonders groß. Der Verwalter der Provinz hatte bereits Mittel zum Aufschütten eines Deiches gegen die häufigen Überschwemmungen gesammelt. Jetzt aber stand die Frage, ob er sie für den Dammbau oder zur Ernährung des hungernden Volkes bis zur nächsten Ernte hergeben sollte. Das Geld würde nur für eine der beiden Möglichkeiten reichen. Was soll der Verwalter machen?

Ursu rang nervös die Hände. Ani fand die Aufgabe nicht schwer, aber Ursu wusste offensichtlich

nicht, was er tun sollte. “Ich würde das Geld für die Ernährung der Unglücklichen ausgeben”, fing Ursu zu erklären an.

“Wenn ich sie hungern ließe, würden sie sich über mich beschweren und ich wäre mein Amt los. Aber ich verstehe nur zu gut, dass meinem Vater diese Lösung nicht gefallen wird. Sie ist zu einfach.”

“Es gibt eine andere Möglichkeit”, beruhigte ihn Ani. “Du könntest den Damm bauen und die Bevölkerung so gut es geht ernähren.”

“Das ist unmöglich! Das Geld reicht nur für eins von beidem”, entgegnete Ursu. Ani lächelte und begann zu erklären: “Wenn du alle gesunden Frauen des betroffenen Gebietes für

den Bau des Dammes einsetzt, dann könnten sie genug verdienen um ihre Familien zu ernähren. So löst du mit ein und denselben Mitteln beide Probleme.”

Ursu starrte sie erstaunt an. Dann sprang er freudig vom Diwan und rief: “Das ist es! Ich wusste ja, dass es eine andere Lösung geben muss.”

Er warf sich ihr an den Hals und küsste sie. “Du bist sehr klug - ich werde dich als meinen Ratgeber behalten”, sagte er grinsend. Erneut sprang er auf und rannte glücklich aus dem Zimmer.

Ani war nicht so begeistert. Irgendwas sagte ihr, dass seine Freude von kurzer Dauer sein würde. ----- Abends kam Ursu mit hängendem Kopf zurück. Wie erwartet, hatte man ihm die Flügel gestutzt. Er

war bei seinem Vater gewesen und hatte ihm die Lösung der Aufgabe mitgeteilt. Im ersten Moment hatte sich der Imperator gefreut und ihn gelobt. Aber dann war er nachdenklich geworden und Ursu war sich bereits sicher, dass er die fremde Hilfe bemerkt hatte. Sein Vater fragte ihn jedoch nichts, gab ihm nur eine neue Aufgabe und forderte ihn auf, gut über sie nachzudenken.

Während Ursu von dem Treffen erzählte, wuchs in Ani die Unruhe. Hatte der Imperator ihre Hilfe bemerkt? Vielleicht hatte er einfach die Gedanken seines Sohnes gelesen. Aber die Aufgabe war leicht und um sie zu lösen bedurfte es keiner besonderen Fähigkeiten.

Ursu machte den Vorschlag, bis zum Untergang der kleinen Sonne mit dem Agator spazieren zu fliegen, und Ani erklärte sich erfreut einverstanden. Das Wetter war schön. Sie brachen direkt zur Stadtmauer auf, diesmal nach Norden. Ursu flog schnell und nervös. Seine düstere Laune war sicher mit der neuen Aufgabe verbunden. Aber vorerst mochte er nicht über sie reden und Ani wollte nicht aufdringlich sein.

Er übergab ihr die Führung des Agators und setzte sich selbst, in Gedanken versunken, nach hinten. Ani benutzte die Gelegenheit unbeobachtet zu sein und versuchte verschiedene schwierige Manöver mit dem Agator. Wegen der späten Stunde war keiner in der Gegend und in ihr stieg erneut das fast unüberwindbare Verlangen auf, in den Kontaktperimeter mit Boar zu treten. Sie musste ihren ganzen Willen aufbringen, um nicht zum Gebirge aufzubrechen. Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit Boar erdrückte sie fast und Ani verfiel der gleichen schlechten Laune wie Ursu. Sie wollte dieser Versuchung so weit wie möglich entfliehen.

“Es ist bereits spät, wir müssen umkehren”, erinnerte sie Ursu. Erst im Dunkeln kamen sie zu Hause an. Ani wäre in dem offenen Agator fast erfroren, da er von

Ursu auf die möglichst verrückteste Weise geflogen wurde. “Du wirst mich noch erkälten”, beschwerte sie sich. Zur Antwort bekam sie nur einen unklaren

Gutenachtwunsch. Ursu entfernte sich schnell, von schweren Sorgen gebeugt. Die neue Aufgabe machte ihm zu schaffen, aber er bestand darauf sie allein zu lösen, und Ani empfand ihm gegenüber eine gewisse Achtung. Sie beschloss, sich nicht Spekulationen wegen der Aufgabe hinzugeben und den Morgen abzuwarten. Denn sie war sich sicher, dass Ursu wieder auf ihre Hilfe angewiesen sein würde.

Vor dem Kamin sitzend überdachte sie die heutigen Ereignisse. Ursu hatte sie nicht nach dem Treffen mit Rines gefragt. Entweder hatte er es noch nicht erfahren, oder er war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Ani fühlte sich unwohl und wusste nicht, was sie mit den Gegnern des

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Imperators anfangen sollte. Die Gefahr, alles bisher erreichte zu verderben, war ganz real. Sie traute ihnen nicht. Dass der Imperator dahinter steckte, glaubte sie nicht; für ihn dürfte sie bedeutungslos sein, um sie so auf so eine Probe zu stellen. Aber die geheimen Organisationen konnten sich als gefährlicher erweisen. Rines verhielt sich heute sehr merkwürdig, bevor sie ihm antwortete. Sie hatte seine Erleichterung, als sie die Zusammenarbeit nicht abgesagt hatte, bemerkt. Was hätte er anderenfalls getan?

Ani hatte plötzlich das Gefühl, dem Tod um haaresbreite entkommen zu sein. Ein halbes Universum zu bereisen um eine Kostbarkeit von Weltbedeutung zu entwenden und dann von einem einheimischen Blödmann umgebracht zu werden, weil du nicht bei seiner unbedeutenden Sache mitmachst - das wäre die Höhe der Ungerechtigkeit.

Mit diesem unangenehmen Gedanken im Kopf legte sie sich schlafen. ----- In der Nacht schlief Ani sehr unruhig. Im Traum erschienen ihr Weowa und die Angaren. Sie

bestanden darauf, dass sie schneller handelte und sich nicht mit Nebensächlichkeiten abgab. Danach sah sie Boar, nicht wie gewöhnlich - als Kugel, sondern mit einem Körper, der einem menschlichen ähnlich sah, in einer wunderbaren Gestalt und mit sehr traurigen Augen. Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie entfernte sich von ihm, als würde sie der leere Raum hinter ihr aufsaugen. Boar wurde kleiner und kleiner, und schließlich verwandelte er sich in einen leuchtenden Punkt am Himmel. Dort verblieb er wie ein Stern. Ani streckte sich nach ihm aus, doch sie konnte ihn nicht erreichen. Sie drehte sich um und sah Aufständische mit Messern und Keulen, die sich auf sie warfen und riefen: “Hilf uns, hilf uns...” Doch sie konnte ihnen nicht helfen und alle erschlugen sich gegenseitig. Dann kam aus der Dunkelheit ein hochgewachsener Angar, goldhaarig mit grünen Augen, er lächelte ihr zu und sagte freundschaftlich: “Sei gegrüßt, ich bin Satara. Komm, lebe und arbeite mit mir, und du wirst glücklich sein.” Doch plötzlich verwandelte er sich in einen kleinen schönen Jungen mit schwarzen Haaren, der lustig lachte. Er streckte seine Arme nach ihr aus und rief erst fröhlich und dann geängstigt: “Mama, Mama...!” Dann sah sie den Leichnam Ursus und den Kopf des Imperators im Staub. Entsetzt machte sie kehrt und rannte weg, indem sie von Stern zu Stern sprang, um jenen zu erreichen, in den sich Boar verwandelt hatte. So schnell sie auch vorwärts kam, er blieb immer weit weg von ihr. Nur Weowa erschien und wies auf die Erde, blau und herrlich anzusehen. “Dort ist dein Platz”, sagte er, umfasste ihr Kreuz und schleuderte sie dorthin. Sie flog wie ein Meteor, bis sie auf die Erde prallte...

Ani erwachte schweißgebadet. Sie lag neben ihrem Bett auf dem Boden. Zum ersten Mal seit sie auf

diesem Planeten gelandet war, hatte sie so klar geträumt. Sie war völlig benommen. Was bedeutete all das? Ob Weowa und seine Angaren ihr diesen Traum geschickt hatten, so wie sie es früher mit dem Traum des Ratgebers getan hatten?

Nach dem Frühstück ging sie in der Stadt spazieren. In der Absicht, ihren starken Körper zu

ermüden, lief sie schnell, konnte aber die Gedanken an den Traum nicht verdrängen. Im Großen und Ganzen war er kein Rätsel für sie, aber es gab verwirrende Momente in ihm. Nur in einem war sie sich ganz sicher. Der Traum war eine Warnung.

Der siebente Tag seit ihrer Ankunft auf dem Planeten brach an. Man könnte sagen, dass sie sich eingelebt hatte. Sehr selten kam ihr die Erde in den Sinn. Nur einmal hatte sie an ihren Mann und ihre Kinder gedacht. Es war, als hätten sie aufgehört zu existieren. Ani hatte ein wenig Gewissensbisse, weil sie keine Sehnsucht nach ihnen empfand. Wenn sie hier versagte, würde sie sie nie wieder sehen. Das machte ihr aber nicht viel aus. Sie fühlte sich so, als wäre sie dort schon gestorben. Die Erde und die dortigen Angelegenheiten interessierten sie nicht mehr.

Sie befand sich auf Satarius und musste hier eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Und danach würde auch Satarius keine Bedeutung mehr für sie haben. Weder Ursu, noch der Imperator, noch Weowa. Es blieb nur eins, was wirklich wichtig war - jene Energiekugel, die sich in einen Stern verwandelt hatte.

Für einen Augenblick wurde sie sich ganz klar ihres Schicksals bewusst, aber sie stolperte über ein Bündel und alles verschwand wieder.

“Kuck wo du hinläufst!” rief eine Alte ärgerlich hinter ihr her. Ani sah sich um und eilte ins Schloss zurück. Sie wusste, dass dort Arbeit auf sie wartete.

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----- Ursu kam ihr schon am Festungstor entgegen. Hinter ihm stand der Agator. Er war sehr verärgert

und nervös. “Wo treibst du dich den ganzen Morgen herum? Ich suche dich schon die ganze Zeit.” Ungeduldig

forderte er sie auf, in den Agator zu steigen. “Gestern habe ich von meinem Vater eine sehr sonderbare Aufgabe bekommen, und das nicht genug - er will die Auflösung noch heute wissen. Zum ersten Mal habe ich nur einen einzigen Tag, um die Lösung zu finden.”

Sie brachen in Westrichtung auf. Es wurde Mittag und die große Sonne wärmte trotz des Spätherbstes stark. Nachdem sie ein schwach besiedeltes Gebiet hinter sich gelassen hatten hielten sie in einem lichten Wäldchen. Obwohl sie den Stadtwall nicht überquert hatten, sah der Ort vereinsamt aus.

Ursu sprang aus dem Agator, nahm eine Tüte mit und machte es sich zehn Meter weiter im breiten Schatten eines Baumes bequem. Ani folgte ihm neugierig. Er holte einige Hörnchen aus der Tüte und sie aßen schweigend. Danach lehnte er sich an den Baum, schloss die Augen und machte Ani mit seiner Aufgabe bekannt:

“Ich soll einen Weg finden, den reichen Händlern das überflüssige Geld zu nehmen, ohne dass sie es bemerken.”

Ani versank in Nachdenken. Diesmal war die Aufgabe nicht leicht. Dieses Problem verlangte nach einer ziemlich komplexen Lösung. Sie versuchte, etwas aus dem Gedächtnis des Ratgebers herauszuholen, aber ihm wurden solche Aufgaben nicht gestellt. Sie musste selbst die Lösung finden. Den Blick auf das niedrige Gras zu ihren Füßen gerichtet, fing sie laut zu denken an.

“Es wäre gut, wenn sie das Geld freiwillig hergeben”, begann Ani ihre Überlegungen. “Das würden sie nur für eine sehr begehrte Ware tun. Was könnte das für eine Ware sein, Ursu?”

“Ich weiß nicht, vielleicht ein Agator.” “Nein, ein Agator ist nicht geeignet. Einmal gekauft, geht er lange Zeit nicht kaputt. Es muss etwas

sein, was schnell verbraucht wird und was man immer wieder benötigt”, fuhr Ani fort. “Immer wieder braucht man nur Wasser und Nahrung, aber die benötigen alle Menschen, nicht nur

die Reichen”, hielt Ursu dagegen. “Ja das stimmt. Es darf nichts zu Essen sein, sondern etwas nicht so Wichtiges, eine Delikatesse, ein

Luxusartikel.” Ani ahnte schon die Lösung. “Wie das Kraut!” rief Ursu in einem Anflug der Erleuchtung aus. Aber dann fügte er enttäuscht

hinzu: “Das geht nicht! Es wächst überall in Hülle und Fülle.” “Deshalb muss man eine Einschränkung für seinen Gebrauch auferlegen. Zum Beispiel ein Gesetz.

So wird die Ware kostbarer”, fuhr Ani fort. Die Augen von Ursu wurden größer und er richtete sich aufgeregt auf. “Willst du damit sagen, dass

mein Vater das Gesetz zur Begrenzung des Krautgebrauches zu diesem Zweck herausgegeben hat?” Ani lächelte. Sie wollte Ursu, soweit er dazu in der Lage war, selbst auf die Wahrheit kommen

lassen. Laut fuhr sie zu überlegen fort: “Das Kraut ist sehr gut geeignet. Die Menschen werden von ihm abhängig. Es ist in großen Mengen schädlich für die Gesundheit. Deshalb ist das Gesetz sehr human und keiner kann etwas dagegen einwenden.”

Ani wartete auf den nächsten Einwand von Ursu und er kam prompt: “Aber wenn du etwas in kleinen Mengen verkaufst, bringt es keinen großen Gewinn. Das Kraut ist nicht sehr teuer.”

“Du vergisst, dass die bewilligte Menge nicht für ein wirkliches Vergnügen ausreicht”, half ihm Ani weiter.

“Der Schwarzmarkt! Dort ist das Kraut sehr teuer. Aber das Geld fließt den Schmugglern zu, nicht der Staatskasse.” Ursu hatte noch nicht völlig begriffen und Ani ließ ihm Zeit.

“Also haben wir jetzt keine reichen Händler mehr, sondern reiche Schmuggler, nicht wahr?” Ani erwartete mit Ungeduld seine Antwort.

“Die Schmuggler sind arme Leute. Außer Einschnitte im Gesicht und an den Händen haben sie nicht viel erreicht”, lachte Ursu. “Wachen durchkreuzen ununterbrochen die Gegend und machen ihre Verstecke ausfindig. Was sie finden, wird beschlagnahmt. Die Lagerhallen der Festung sind voll von ihrem Kraut und ihr Geld füllt die Kasse meines Va...”

Ursu verstummte wie vom Blitz erschlagen. Dann sprang er auf die Beine und rannte im Kreis um den Baum. Es war, als bekäme er keine Luft mehr. Endlich hatte er verstanden.

“Der Schmuggel!” rief er bebend aus, “mein Vater verlässt sich auf den Schmuggel, um die Kasse zu füllen! Das ist nicht möglich, nein, das ist unmöglich...”

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Er konnte sich nicht beruhigen. Plötzlich hielt er inne und lachte auf. Er warf sich zu Ani ins Gras und sagte mit Erleichterung: “Das ist nicht wahr! Der Unterhalt der Wachen kostet auch Geld. Wenn es keine Schmuggler gäbe, brauchte man auch die Wachen nicht.”

Er war fest davon überzeugt, dass er den ungeheuerlichen Verdacht von seinem Vater genommen hatte. Ani ließ ihm aber keine Zeit zum Verschnaufen.

“Wirklich? Hält er sich die Wache nur wegen der Schmuggler? Existiert sie nicht, damit sie ihn und seine Familie vor Ansprüchen auf den Thron bewahrt? Und die hat es immer gegeben. Die Schmuggler helfen ihm, die Wache in Form zu halten, damit sie nicht weich und müßig wird.”

Ursu sah sie entsetzt an. Ani wusste nicht, ob wegen des Einblicks in die wirklichen politischen Spiele seines Vaters, oder wegen ihrer Fähigkeit, sie aufzudecken. Nur gut, dass man auf Satarius keine schrecklicheren Waffen als Keule, Schwert und Spieß kannte. Sonst würde auch der Handel mit ihnen auf vollen Touren laufen.

Wolken jagten sich am Himmel. Bald würde es zu regnen beginnen. Die Äste über ihren Köpfen rauschten im Wind. Ani stand auf und forderte Ursu auf: “Ich denke, wir haben die Aufgabe gelöst. Lass uns zurückkehren.”

Ursu sah sie hilflos an und fragte leise: “Wie soll ich ihm das sagen? Er wird nie glauben, dass ich von selbst zu dieser Schlussfolgerung gekommen bin. Was soll ich machen?”

“Sag ihm die Wahrheit, er wird sie sowieso erfahren. Außerdem ist es an der Zeit, dass wir uns kennen lernen.”

Der schwierigste Teil ihrer Mission stand bevor - der Imperator. Plötzlich erinnerte sich Ani an den Traum der vorigen Nacht. In ihm war eine Einladung. Hatte der Stein überhaupt eine Bedeutung, oder war er nur das Mittel, damit diese Begegnung zwischen ihr und Satara stattfände?

----- Nachdem sie ins Schloss zurückgekehrt waren, eilte Ursu auf sein Zimmer. Er musste sich erst

einmal beruhigen und seelisch auf das bevorstehende schwierige Treffen vorbereiten. Wie sollte er das, was er mit Hilfe von Ani erkannt hatte, seinem Vater sagen?

Plötzlich wurde ihm klar, wie wenig er über ihn wusste. Ursu war stolz auf dessen Fähigkeit, die Zügel dieses Reiches fest in der Hand zu halten. Aber niemals hatte er sich die Frage gestellt, wie viele, scheinbar geringfügige Entscheidungen der Imperator jeden Tag traf um seine Macht zu erhalten. Und wie viele von diesen Entscheidungen nicht ganz korrekt waren. Er bewunderte seinen Weitblick, aber seine unfairen Methoden widerten ihn an. Wer weiß, wie viel er in Zukunft noch herausbekommen würde! Fürchteten sich deswegen alle so vor seinem Vater, und am meisten seine nächsten Ratgeber? Die verstanden offensichtlich am besten, wie der Imperator diesen Planeten regierte.

Erneut bewunderte er Anis Fähigkeit, die Machenschaften des Imperators ins richtige Licht zu rücken. Aber im Unterschied zu ihm, schien sie ihn nicht zu verurteilen. Ani war erst seit vier Tagen im Schloss und verstand trotzdem seinen Vater besser als er. Und wie sie erklären konnte!

Ursu fand in Ani zum ersten Mal den Halt, nachdem er schon lange gesucht hatte. Schon auf dem Platz konnte er einfach nicht an ihr vorbeigehen. Wie verzaubert war er von ihren aufgeweckten Augen.

Er glaubte ihre Geschichte vom Kibu-Gebirge nicht mehr. Irgendwo musste sie eine sehr gute Ausbildung bekommen haben. Möglicherweise hatte sein Vater hier seine Hände im Spiel. Ursu hatte keine andere Erklärung. Es wäre ganz in seiner Art rechtzeitig ein Mädchen für seinen Sohn auszuwählen, auszubilden und beide im richtigen Moment zu verbinden.

Aber das spielte keine Rolle. Ursu hatte sich in dieses Mädchen verliebt und konnte sich bereits nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben.

Sie gab ihm die Sicherheit, die er brauchte. In ihrer Gegenwart fühlte er sich nicht mehr so hilflos wie bisher.

Seine Eltern hatten nie Zeit für ihn gehabt. Seine Mutter durchquerte die Festung und die Provinz, um verschiedene Sachen zu regeln. Und sein Vater verließ seinen Turm fast nie; tagelang hielt er sich im Laboratorium auf. Selbst wenn sich die Möglichkeit ergab, mit ihm zu sprechen, verstand Ursu seine Worte für gewöhnlich nicht. Der Imperator drückte seine Gedanken auf seltsame Weise aus, als spräche er immer nur zu sich selbst. Er erwartete von seinem Sohn, dass der den Sinn seiner Worte verstehe, aber Ursu brauchte Erklärungen.

Und genau das konnte Ani. Sie erklärte die Vorgänge mit einfachen Worten. Für ihn war sie eher Mutter und Vater, als eine Geliebte.

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Seinen ganzen Mut zusammennehmend machte sich Ursu auf den Weg zum Turm. Sein Vater

besprach gerade etwas mit seinem Zweiten Ratgeber und Ursu begann zu warten. Er beobachtete ihn und spürte Neid im Herzen. Warum hatte er weder sein stattliches Aussehen, noch seine kräftige Stimme, noch seinen scharfen Verstand? Ursu fühlte sich von der Natur vernachlässigt und verwünschte sein schlechtes Schicksal.

Der Imperator drehte sich zu ihm um und durchbohrte ihn mit den Augen. Ursu hasste diesen Blick ungemein - es war, als schäle man deine Hüllen eine nach der anderen ab, - angefangen von der Kleidung, über die Haut bis zu den verborgensten Gedanken. Dann folgte das ewige, nachsichtige Lächeln. Aber diesmal triumphierte Ursu. Jetzt würde er ihm seine Anschuldigungen ins Gesicht werfen!

“Wie ich sehe, hast du die neue Aufgabe gelöst.” Der Imperator ließ sich bequem auf seinen Stuhl nieder. “Sprich!”

Ursu wurde plötzlich bewusst, dass nichts mehr zu sagen war, was sein Vater nicht bereits wusste. Aber er hatte nicht den Mut, einfach zu schweigen.

“Du hast dir die Sache mit dem Kraut und dem Schmuggel ausgedacht!”, rief er fast. Der Imperator lachte über das ernste Gesicht seines Sohnes. “Du bist sehr empört, mein Sohn”, sagte er mit einem Hauch Wärme in der Stimme. “Die

Verwaltung des Reiches ist eine schmutzige Angelegenheit. Hast du das noch immer nicht begriffen? Wenn man nicht stärker, schlauer und geschickter ist als die anderen, verliert man bald die Macht. Kleine Leute muss man schützen, aber die großen muss man vernichten. Wenn du dich an dieses Prinzip hältst, wirst du lange regieren.”

“Das ist eine sehr widerliche Philosophie”, antwortete Ursu, “so will ich nicht regieren.” “Du wirst keine andere Wahl haben.” Ursu wurde ärgerlich. Er war sicher, dass er, wenn seine Zeit gekommen war, dieses Prinzip nicht

anwenden würde. Er schätzte die Freundschaft und war überzeugt, gute Resultate auch mit einem leichteren Regime erreichen zu könnte.

Sein Vater betrachtete ihn voller Mitleid. Dann stand er plötzlich auf und begab sich zu ihm. Eine unerklärliche Panik überkam Ursu und nur schwer widerstand er dem Wunsch, davonzulaufen. Wie betäubt hörte er seine mächtige Stimme:

“Morgen Abend ist die Saisonversammlung mit den Verwaltern und ihren Familien. Ich möchte, dass du das Mädchen, das dir hilft, mitbringst.” Er verließ den Raum, ohne seinen Sohn weiter zu beachten.

Ursu löste sich langsam aus seiner Erstarrung. Ani hatte wieder Recht behalten. Sein Vater wusste einfach von ihr. Wer ihn wohl über die Einzelheiten seines Privatlebens informierte? Und woher wusste er, dass sie ihm half?

Er fand keine Antworten auf seine Fragen. Plötzlich fiel ihm ein, dass er keine neue Aufgabe bekommen hatte und freute sich. Nun konnte er in Ruhe seine Freunde versammeln und sich den angenehmen Seiten des Lebens hingeben.

Freudig lief er die Treppen hinunter, um die nächste Party zu organisieren. ----- Nachdem Ursu sie allein gelassen hatte, verließ Ani erneut die Festung. Sie überquerte den Markt,

der sich bald für Heute auflösen würde. Die Große Sonne bewegte sich schnell ihrem Untergang entgegen. Noch drei Stunden und Dunkelheit, und Kälte würden die Stadt erstarren lassen.

Starke Sehnsucht nach Boar und der Wunsch, ihn zu hören, überkam Ani. Obwohl sie wusste, dass er alles, was sie dachte, empfangen konnte, war diese einseitige Verbindung irreal und völlig wertlos für sie. Aber sie gab sich nicht der Hoffnung hin, dass er sein Schweigen, dass er sich im Namen ihrer Sicherheit auferlegt hatte, brechen würde, und unterdrückte ihre Gefühle, um ihn nicht zu quälen.

Irgendwo schlug eine Tür zu und Ani fuhr zusammen. Sie sah sich um: In Gedanken versunken hatte sie nicht auf den Weg geachtet und befand sich jetzt in einem fremden Stadtteil. Gerade wollte sie umkehren, als sie jemand sehr grob von hinten an den Armen ergriff. Ani drehte den Kopf nach hinten und sah zwei Riesinnen.

“Ruhe”, zischte eine von ihnen, “einen Mucks und es ist um dich geschehen!”

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Der Druck eines scharfen Gegenstands im Kreuz bestätigte ihre ernsten Absichten. Ani sah sich nach Hilfe um, aber die Straße war ruhig und menschenleer. Es hatte keinen Sinn sich zu wehren.

Man schleppte sie in einen Hof, verband ihr die Augen mit einem stinkenden Lederfetzen und stieß sie vorwärts. Sie betraten ein Haus, stiegen eine Treppe hinunter. Das war nicht einfach nur ein Keller. Von irgendwoher zog es und Ani nahm an, dass sie sich in einem unterirdischen Gang befanden. Die Wände waren mit groben Steinen gemauert und bald drang ihr der scharfe Geruch der Kanalisation in die Nase.

Das konnten nur die Rebellen sein. Ani erinnerte sich an das Gespräch mit Rines und musste feststellen, dass ihre Methoden ziemlich grob geworden waren. Ihre Gefährtinnen zu fragen, wohin man sie führte, hatte wohl kaum einen Sinn. Ani strengte ihre Sinne an, um sich die unendlichen Biegungen zu merken, gab es aber bald auf. Sie hatte das Gefühl, dass man sie im Kreis führte.

Endlich hörte dieser Spaziergang auf und die Frauen schoben sie eine Treppe hoch. Am Rand des Leders drang wieder Licht ein und jemand entfernte den ekligen Verband von ihren Augen. Geblendet von hellem Kerzenlicht blinzelte Ani. Sie befand sich in einem großen Raum, der an eine leere Lagerhalle erinnerte. Im Hintergrund war ein Tisch mit mehreren Stühlen und von dort starrten sie ein Dutzend Augenpaare an.

Es waren Männer und Frauen aller Altersgruppen. Unter ihnen erkannte sie Rines. Näher gekommen sah Ani die verzweifelte Entschlossenheit dieser Leute. Man würde nicht viel Federlesen mit ihr machen, wenn sie ihnen nicht half. Ani wusste nicht, ob sie mehr diese Leute oder sich selbst bedauern sollte. Der Kampf gegen den Imperator hatte das Leben vieler ihrer Mitstreiter gekostet und sie riskierten viel, sich jetzt vor ihr zu zeigen.

“Entschuldige die unangenehme Art dich hierher zu holen”, meldete sich Rines, “aber du verstehst sicher, dass es notwendig war.”

Ani nickte nur mit dem Kopf. Sie sah direkt zu ihm, ohne den anderen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wollte nicht den Eindruck hinterlassen, als versuche sie, ihre Gesichter im Gedächtnis zu behalten.

“Meine Kameraden wollten dich kennen lernen und außerdem kannst du dir hier einen beschädigten Agator ansehen.”

Rines verstummte und ein weißhaariger Alter nahm das Wort: “Rines ist der Meinung, dass du uns helfen kannst. Aber wir können nicht sicher sein, ob dich nicht

der Imperator geschickt hat, um unsere Organisation aufzudecken. Deshalb müssen wir dich erst überprüfen.”

Ani fragte sich, was für einen Beweis für ihre Zuverlässigkeit man wohl von ihr erwartete. Sie erinnerte sich an unzählige Krimi- und Actionfilme auf der Erde und war beunruhigt. Würde man jetzt von ihr verlangen, jemanden zu töten, der dem Imperator nahe stand?

Aber vorerst folgte nichts desgleichen. Der Alte veranlasste sie, auf den Boden zu knien und gab ihr mit einer feierlichen Mine einen seltsamen Gegenstand. Ani betrachtete ihn. Das war ein fünfzackiger Stern von der Größe eines kleinen Tellers, gegossen aus dunklem Metall. Er hatte auf der einen Seite Zeichen und einen eingravierten Kopf auf der anderen. Nach der Krone zu urteilen, müsste das der Imperator sein.

“Das ist ein echter Komoro-Stern”, sagte stolz der Alte. Ani hatte von der Existenz des Sterns erfahren, als sie im Gedächtnis des Ratgebers nach

Informationen über das Rechtssystem auf Satarius suchte. Sie wusste, dass es so einen Stern in jeder Provinz gab und dass ihn die Richter benutzten, um die Aussagen der gefassten Verbrecher zu überprüfen.

Jetzt “erinnerte” sie sich auch an Einzelheiten: Es gab einen alten Mythus, wonach jeder, der auf den Komoro-Stern schwor und nicht die Wahrheit sagte, fürchterlich bestraft werde. Alle Satarianen glaubten daran und wagten es niemals zu lügen, wenn sie diesen Stern in der Hand hielten. Es wurde erzählt, der Stern verbrenne jedem, der versuche ihn zu belügen, die Hand.

“Woher habt ihr das?” fragte sie erstaunt. “Ein ehemaliger Ratgeber des Imperators hat ihn aus der Festung gestohlen. Seitdem überprüfen wir

damit jeden Neuen und so schützen wir uns vor Spionen. Der Imperator benötigt den Stern nicht. Er versteht auf irgendeine andere Weise, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Sicher weiß er noch nichts von dem Diebstahl, weil er ihn bislang noch nicht gesucht hat.”

Das kam Ani zweifelhaft vor. Der Stern war so etwas wie ein Lügendetektor und sicher hatte ihn Satara selbst hergestellt. Aber er würde kaum erlauben, dass sich andere seiner Erfindung bedienen,

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ohne dass er davon wusste. Wahrscheinlicher war, dass er den Stern absichtlich den Rebellen überlassen hatte, damit sie sich sicherer fühlten. Vielleicht hatte er ein Abhörgerät in ihm. Auf einem Planeten, auf dem man über Agators verfügte, konnten Ani keine technischen Errungenschaften mehr verwundern.

Sie behielt ihre Meinung für sich. Man würde sie wohl kaum verstehen. Außerdem war sich Ani nicht sicher, auf welche Seite der Barrikaden sie sich stellen sollte. Das Regime des Imperators hatte alle schlechten Seiten einer Diktatur - die beschränkte Personenfreiheit, die volle Kontrolle, die gewaltsamen Methoden. Aber Satara hatte von diesem Volk, das er selbst erschaffen hatte, nie verlangt, ihn zu lieben und zu vergöttern. Kein Satariane würde je, hingerissen von fanatischer Verehrung, einen anderen angreifen um seinen Imperator zu verteidigen. Sie unterwarfen sich seiner Stärke, waren aber frei in ihrem Geist. Seitdem Ani auf diesem Planeten angekommen war sah sie eine geregelte und verhältnismäßig glückliche Gesellschaft. Wer weiß was passieren würde, wenn die Rebellen Erfolg hätten?

“Nimm den Stern in die rechte Hand, lege die linke darüber und wiederhole: 'Ich bin nicht im Auftrag des Imperators hier'“, forderte sie der Alte auf.

Ani war geradewegs verblüfft. Sollte das alles sein? Waren diese Leute so naiv, dass sie diesen Schwur für eine ausreichende Loyalitätsprobe hielten? Sicher waren sie sehr abergläubig. Ein Lügendetektor konnte immer umgangen werden und diesen Leuten kam überhaupt nicht in den Sinn, dass jemand aus freien Stücken für den Imperator arbeiten könnte. Hier war es nicht erforderlich zu lügen. Sie wiederholte feierlich den Schwur und zeigte ihre Handflächen. Keine Verbrennungen waren zu sehen und alle atmeten erleichtert auf.

Der Alte nahm den Stern wieder zu sich und versteckte ihn an seiner Brust. Ani stand auf und Rines führte sie in ein Nebenzimmer. Die anderen folgten schweigend. Im schwachen Licht einiger Kerzen sah sie einen viersitzigen Agator. Äußerlich sah er nicht beschädigt aus.

“Du wolltest einen Agator sehen, kuck jetzt nach, wo das Problem liegt”, sagte Rines. Ani lachte auf. “Ich werde nachsehen, aber ich kann euch wirklich nicht versprechen, dass ich

herausbekomme, was mit ihm los ist. Ich habe einen Agator nur für ein paar Minuten von innen gesehen.”

Sie veranlasste die Anwesenden die Maschine zu öffnen, nahm die Sitze heraus und alle streckten die Hälse um zu sehen, was sich darunter befand. Bisher hatten sie noch nie einen Agator von innen gesehen. Ani beugte sich über die Maschine, um an die Hebel heranzukommen und drückte auf den Startknopf. Der Kristall versank in dem Behälter. Aber er leuchtete nicht auf. Sie erinnerte sich gut an das orangenfarbige Licht im Moment des Versinkens in dem schwarzen Gemisch. Das Gemisch wurde nicht flüssig. Wie Ani bereits angenommen hatte, war der Kristall an dem Schaden schuld. Für alle Fälle überprüfte sie auch die restlichen Teile. Alles andere schien in Ordnung zu sein.

Sie nahm den Kristall heraus und drehte ihn im Licht einer Kerze. Er sah leicht trübe aus. Etwas anderes konnte sie nicht feststellen. Die Rebellen sahen sie mit angespannter Erwartung an.

“Wie ich vermutete”, sagte Ani, “liegt es an diesem Kristall. Er wird vom Imperator persönlich hergestellt. Der aus der Werkstatt war durchsichtig, dieser hier ist getrübt. Vielleicht sieht man im Hellen irgendeinen Defekt, doch ich bin mir nicht sicher. Außerdem ist es egal. Ich kann keine Zaubereien machen wie der Imperator um ihn wiederherzustellen.”

Alle ließen die Köpfe hängen und Ani taten sie leid. Wenigstens einen Agator verdienten sie. Aber vorerst konnte sie ihnen mit nichts anderem helfen außer mit einem Rat:

“Versucht, so einen Kristall von einem ausgedienten Agator zu beschaffen und ihn mit diesem auszutauschen. In der Werkhalle sah ich fünf-sechs alte herumstehen. Ich nehme an, dass sie einen anderen Defekt haben. Bei der Montage der Agators werden keine alten Teile benutzt. Bis man den Austausch entdeckt hat, könnt ihr den Agator benutzen.”

Sie kehrten in das große Zimmer zurück und die Rebellen versammelten sich, um etwas zu besprechen. Dann drehte sich der Alte zu ihr um:

“Wir bringen dich zur Festung zurück. Aber wir wollen alles über die Absichten des Imperators erfahren. Warte jeden dritten Tag vor Untergang der Großen Sonne auf jemanden von uns in der Nähe der kleinen Statue und übermittle ihm die Neuigkeiten. Wenn du nicht rechtzeitig dort bist, müssen wir annehmen, dass du uns verraten hast und du wirst nicht mehr lange unter den Lebenden sein.”

Jetzt reichte es Ani. Die Frechheit dieser Unglücklichen kannte keine Grenzen. Sie erhob ärgerlich ihre Stimme:

“Seid ihr verrückt geworden? Wenn ihr immer so handelt, ist es kein Wunder, dass der Imperator so viele von euch gefangen hat. Ich bin erst sieben Tage im Schloss, aber ich weiß sehr gut, dass dort

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nichts unbemerkt bleibt. Man kann nicht regelmäßig alle drei Tage hinausgehen und an ein und derselben Stelle warten, ohne dass es jemandem auffällt. So wird mich der Wachtmeister schon beim dritten Mal fangen, vom Imperator gar nicht erst zu reden.”

Ob vom Ton ihrer Worte oder von ihrem Inhalt - die Rebellen sahen sie betreten an. Aber Ani ließ ihnen keine Zeit, zu sich zu kommen.

“Ich verspreche euch zu tun, was ich kann. Aber ich werde vorsichtig sein. Wenn es etwas zu berichten gibt, informiere ich Rines während der abendlichen Partys mit Ursu. Dann kann am nächsten Tag jemand in der Nähe der Statue bei Untergang der großen Sonne auf mich warten. Aber jetzt bringt mich sofort zurück, denn Ursu sucht wahrscheinlich schon nach mir.”

Den Rebellen blieb nichts anderes übrig als einzuwilligen. Erneut verband man ihr die Augen. Diesmal befand sich Ani, nach einem kurzen Spaziergang im unterirdischen Gewölbe, in der Nähe des Marktes. Die Händler waren gegangen, es war bereits ziemlich dunkel und an der Kälte spürte Ani, dass auch die zweite Sonne unterging. Mit einem Blick merkte sie sich den Ort und rannte zum großen Tor der Festung.

----- Ani hatte keine Lust mehr auf die abendlichen Partys. Viel lieber würde sie allein bleiben, um

einiges zu überdenken. Nach dem Treffen mit den Rebellen fühlte sie sich erschöpft. Hoffentlich ließ man sie wenigstens einige Tage lang in Ruhe. Nachdem ihr Ursu mitgeteilt hatte, dass sein Vater sie morgen zur Saisonversammlung der Verwalter eingeladen habe, wollte sich Ani auf dieses Ereignis vorbereiten.

Da sie nicht ablehnen konnte, ließ sie die anderen feiern, lehnte sich in den weichen Kissen zurück und schloss die Augen. Sollten die anderen ruhig denken, sie hätte zuviel von dem Kraut gekaut.

Dann durchsuchte sie das Gedächtnis des Ratgebers nach allem, was dort über diese Versammlungen zu finden war. Sie ähnelten einem traditionellen Familienempfang. Offizieller Anlass war die Übergabe der Berichte für die jeweilige Saison und der Erhalt neuer Anweisungen. Das versteckte Ziel des Imperators aber war, die höheren Verwaltungskader zu studieren. Diese Information schloss auf den ersten Blick nebensächliche Einzelheiten mit ein - die Kleidung, den Geschmack, das Auftreten in der Gesellschaft und die Familie. Die Verwalter waren verpflichtet, ihre Frauen und großen Kinder mitzubringen, selbst wenn das eine mehrtägige Reise mit dem Agator bedeutete. Trotzdem gefielen diese Empfänge allen wegen der Möglichkeit, persönlich mit dem Imperator in Kontakt zu treten. Die Verwalter und ihre Söhne benutzten sie, um an ihrer Karriere zu arbeiten, und die Frauen und Töchter, um sich vor dem Imperator herauszuputzen. Überrascht stellte Ani fest, dass er ihnen sehr gefiel.

Sie wühlte noch ein wenig in den Erinnerungen des Ratgebers, um die notwendigen Kleinigkeiten wie Kleidung, Grüße, Gesprächsthemen zwischen den Frauen usw. zu erfahren.

Ani sah in diesen Versammlungen eine ideale Möglichkeit für Satara, die Gedanken seiner Untergebenen zu lesen. Sie hoffte nur, dass ihn diese Tätigkeit ausreichend beschäftigen würde, damit er sie nicht beachte. Natürlich war ihr bewusst, dass dadurch das Problem nur ein wenig aufgeschoben war, aber jeder Tag mehr konnte kostbar sein.

Inzwischen hatten es die anderen mit dem Wein und dem Kraut übertrieben. Die meisten von ihnen schliefen direkt am Tisch ein. Ursu zeigte ebenfalls nicht seine gewöhnlichen Wünsche. Ani brachte ihn mit Hilfe des Lakaien in sein Schlafzimmer. Zufrieden, dass der zweite Teil der Party ausfiel, ging sie schlafen.

Draußen wehte der Wind gegen die Scheibe und Ani erinnerte sich an die wunderbare Gestalt aus ihrem Traum von voriger Nacht, als Boar einem Menschen ähnlich sah. In Gedanken schickte sie ihre Liebe zu dem nahen Gebirge und versank in einen süßen Traum.

----- Die Vorbereitungen für den Empfang liefen auf vollen Touren. Die Dienstleute rannten zwischen

Schloss und Turm hin und her. Der Empfang fand auf dem geweihten Territorium des Imperators statt und das betrat selten jemand von den Dienstleuten. Überall hatte sich Staub angesammelt und jetzt wurde unermüdlich geputzt.

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Ursu machte Ani den Vorschlag, ihr bei der Auswahl eines passenden Kleides zu helfen. Mit Freude nahm sie seinen Vorschlag an und er führte sie zu einer Schneiderei, nicht weit entfernt von der Festung. Ani erklärte den gefälligen Schneiderinnen, dass sie nicht gleich auffallen wolle und diese wählten einen zartgrünen Stoff aus. Man nähte ihr ein bis zu den Füßen reichendes Kleid, leicht tailliert und mit einem spitzen Dekolleté bis zur Taille. Ani suchte sich einen Schal aus feinen, geflochtenen schwarzen Lederfäden aus und band ihn um die Hüfte. Sie würde ihn mit Ursus Geschenk, dem großen grünen Edelstein, befestigen. Eine Halskette fehlte noch, aber sie fand nichts Passendes.

Ursu schlug ihr sofort vor, die Schatzkammer zu besuchen, so dass sie sich selbst etwas auswählen könne. Ani erklärte sich unter der Bedingung einverstanden, die Halskette am nächsten Tag zurückzubringen. So hatte sie sich ganz einfach einen zweifachen Zutritt zu dem geheiligten Ort verschafft.

Angezogen im Abendkleid wickelte sie sich ganz in ihren Umhang und ging mit Ursu zum Turm. Dort stiegen sie die Treppe zur Schatzkammer hinunter. Er zeigte ihr mit großem Vergnügen seinen Reichtum, Ani aber erinnerte ihn daran, dass sie nicht viel Zeit bis zum Abend hatten und trieb ihn zur Eile an. Trotz der großen Auswahl von allen möglichem wertvollen Schmuck fand sie nichts Passendes. Sie wollte ein anspruchsloses Halsband nehmen, aber Ursu bestand darauf, auch die untere Etage zu besuchen.

Ani hatte ihren Spaß. Nicht mit dem Schmuck, nein, – es war so leicht gewesen hier einzudringen und die Schatzkammern eingehend zu studieren, dass ihr alles wie ein Spiel vorkam. Nur noch eine Etage trennte sie von dem gewünschten Ziel - dem Stein. Wenn sie morgen den Schmuck zurückbrachte, würde sie ihren ersten Versuch machen, ihn zu sehen.

In der unteren Etage wählte sie ein Kollier aus dunklem Metall, ganz von kleinen grünen und goldenen Kristallen übersät, und Ohrringe von der gleichen Verarbeitung. Sie passten sehr gut zu dem Kleid und Ursu war sehr zufrieden.

“Du wirst die Schönste auf dem Empfang sein”, sagte er begeistert. “Hoffentlich hat deine Mutter nichts dagegen, dass ich etwas von ihrem Schmuck genommen habe.” “Das sind nicht ihre Sachen. Sie bewahrt ihren Schmuck im Schloss auf”, beruhigte sie Ursu.

“Diese gehören meinem Vater. Und der interessiert sich nicht für ihn. Selbst wenn er das Kollier erkennen sollte, würde er es dir gleich schenken. Mehr als einmal hat er mir gesagt, dass ich über diese Sachen frei verfügen kann.”

Jetzt war die Reihe an Ursu, sich etwas für sein Lederhemd auszusuchen. Es war von versteckten Täschchen übersät, in die die Steine einfach gesteckt wurden. Zur größten Verwunderung Anis hielten sie fest darin. Ursu wählte sorgfältig die Edelsteine nach Farbe, Größe und Form aus. Man sah ihm an, dass er etwas von seiner Arbeit verstand.

Ani betrachtete in der Zwischenzeit die Treppe und den Fahrstuhl. Da sie keine Ahnung hatte, wie letzterer geöffnet und bedient wurde, beschloss sie, nach dem Diebstahl die Treppe zu benutzen.

Endlich war Ursu fertig und sie stiegen nach oben. Auf dem Platz vor dem Turm hatten sich an die fünfzehn Agators versammelt und verstopften alles in der Umgebung. Auf jedem von ihnen befand sich das Wappen der jeweiligen Provinz.

Ins Schloss zurückgekehrt warteten Ani und Ursu aufgerufen zu werden. ----- Der große Saal summte von gedämpften Gesprächen. Die Luft über den Köpfen der Gäste war

spannungsgeladen. Nicht nur Ani war wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Imperator aufgeregt. In dem Empfangssaal im vierten Stock hatten sich mindestens sechzig Leute versammelt und warteten auf sein Erscheinen.

Ani, halb hinter einer großen Grünpflanze versteckt, beobachtete die Besucher. Der Raum fasste sie kaum. Sie standen in Grüppchen zu fünf-sechs und sprachen lebhaft miteinander.

Ursu stand neben ihr und stellte ihr leise die Gäste vor. Er wusste über jeden eine pikante Geschichte zu erzählen und schaffte es so, ihre Angespanntheit etwas zu vermindern.

Ani hörte zerstreut zu und sah sich im Empfangsraum um. Das war ein großer vieleckiger Saal mit vielen Türen, die in kleine Nebenräume führten. Der Fahrstuhl in der Mitte sah einer Säule ähnlich. Die Anlage hatte hier einen Durchmesser von nicht mehr als einem Meter. Alle Blicke waren dorthin gerichtet. Der Imperator wurde jeden Moment erwartet. Gegenüber der Fahrstuhltür, an der Wand, war ein Thron mit zwei reich geschmückten, kleineren Stühlen an den Seiten. Die Wände waren ganz mit

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Fresken bemalt. Auf Satarius kannte man Bilder in Rahmen nicht. Ihre Themen waren interessant, aber Ani war nicht in Stimmung um sie zu betrachten. Obwohl in der Mitte jeder Wand eine Lampe leuchtete, war es nicht sehr hell. Satara brauchte keine Beleuchtung um zu sehen.

Ani sah, wie Ursus Mutter die Gäste begrüßte. Sie hatten sich für einen Moment gesehen, wobei ihr die Herrin einen abschätzenden Blick und ein Lächeln zugeworfen hatte. Offensichtlich gefiel ihr Anis Aufmachung.

Ursu war gerade dabei zu erklärten, dass er sie bald allein lassen und sich neben seinen Vater setzen müsse, als man das Geräusch des Fahrstuhls vernahm. Im Saal wurde es todstill.

Die Tür öffnete sich und der Imperator erschien in seiner ganzen Pracht. Er war mit engen Lederhosen und einer kurzen Tunika, gänzlich leuchtend von Metallplättchen, bekleidet. Dazu trug er hohe Stiefel, geschmückt mit Edelsteinen. Sein Haar war schwarz und dicht, und fiel in herrlichen Wellen bis auf die Schultern. Auf seinem Kopf trug er eine kleine Krone mit einem außerordentlich schönen, roten Stein über der Stirn.

Für einen Satarianen hatte er eine stattliche Figur. Er war kräftiger und wenigstens einen Kopf größer als jede Frau im Raum. Sein Gesicht strahlte eine ruhige Sicherheit aus. Ani wunderte sich, wie wenig Ursu ihm ähnlich sah. Als hätte er von seinem Vater einzig die grünen Augen geerbt.

Von ihrem Platz aus konnte sie diese nicht gut ausmachen, aber als der Imperator einen Blick in die Runde des Saals warf, spürte sie für einen Moment ihre ungewöhnlich starke Ausstrahlung.

Die Menschen im Saal verneigten sich. Der Imperator ging zum Thron und nur diese wenigen Schritte zeigten, über welche Kraft er verfügte. Er drehte sich der Menge zu und grüßte sie stehend:

“Mögen der Kosmos und Satarius in Frieden miteinander wirken und diesem Volk Glück bringen!” “Dein Wille sei heilig!” erschallte im Saal. Dieser Gruß kam Ani sehr seltsam vor. Sie hatte sich nicht für den Glauben der Satarianen

interessiert, aber sie wusste, dass sie sehr wenig vom Kosmos und seinen Wechselwirkungen verstanden.

Der Imperator setzte sich und lud mit einer Geste seine Frau und seinen Sohn ein neben ihm Platz zu nehmen. Der Erste Ratgeber verbeugte sich vor dem Thron und reihte in einer kurzen Rede das während der Saison Vollbrachte auf. Zum Schluss hob er hervor, dass die ausführlichen Informationen in gebührender Ordnung übergeben wurden und dem Imperator zur Verfügung ständen. Letzterer dankte seinen Verwaltern für die getane Arbeit und wünschte ihnen zukünftige Erfolge. Er sprach sitzend. Alle verbeugten sich erneut und von irgendwoher begann eine zarte Musik zu spielen. Der offizielle Teil war beendet.

Ani stand allein neben der Pflanze und lauschte dieser wunderlichen Melodie. Zum ersten Mal seit acht Tagen hörte sie Musik mit Ausnahme der Fanfaren bei den Bestrafungen. Die sanften Töne passten überhaupt nicht zu der groben Lebensweise auf Satarius. Wie verzaubert hörte sie zu, bis sie Ursu aus diesem abgerückten Zustand in die Wirklichkeit zurückholte: “Komm, ich möchte dich meinen Freunden vorstellen”.

Er war von seinem Platz aufgestanden und auch alle anderen liefen bereits frei herum. Sie schienen an diese Musik gewöhnt zu sein, denn keiner schenkte ihr Beachtung. Ani fragte Ursu nach ihr.

“Das ist eins der Wunder meines Vaters”, antwortete er. “Keiner weiß, wo und wer sie spielt. Er mag sie, aber mir gefällt sie nicht besonders.”

'Wer weiß, vielleicht besitzt er einen Plattenspieler und hat jetzt eine Platte mit der Musik der Angaren aufgelegt' dachte sich Ani belustigt.

Ursu stellte sie einigen jungen Leuten vor - Söhne und Töchter von Würdenträgern. Alle sprachen ihre Bewunderung über sie aus und Ursu genoss es voller Stolz.

In dem Wunsch, sich den Imperator genauer zu betrachten und etwas mehr über ihn zu erfahren, begann Ani ein ungezwungenes Gespräch mit einem jungen sympathischen Mädchen. Sie fanden einen Platz, vom dem aus sie ihn gut sehen konnten, und fingen ganz nach Erdenart an zu klatschen. Das Mädchen erzählte, wie sehr sie die Herrin um so einen schönen und starken Mann beneide und was sie nicht geben würde, um wenigstens einmal mit ihm zusammen zu sein.

Ani lachte auf: “Hast du keine Angst vor ihm?” “Nein, du musst wissen, er ist sehr nett zu den Mädchen. Leider hat er nicht viel Zeit für uns, zu

sehr ist er mit den Staatsangelegenheiten beschäftigt. Vor ihm zittern nur die Männer und die alten hässlichen Ziegen, aber alle Mädchen wie ich vergöttern ihn und träumen von ihm.”

Ani wusste bereits, dass der Imperator den Frauen gefiel, aber sie hätte nicht gedacht, dass sich ihre Träume bis zu seiner Liegestatt erstrecken würden. Es schien, als würden sie manchmal in ihren

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geheimen Bemühungen Erfolg haben. Das war etwas Neues für Ani und vielleicht ergaben sich hier neue Möglichkeiten. Aber sie verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Sie hatte genug mit dem Feuer gespielt. Das war nicht Ursu, sondern Satara, und sie würde schwer mit ihm fertig werden - wenn überhaupt. Trotzdem wurde sie neugierig.

In der Zwischenzeit war der Imperator von seinem Thron aufgestanden und hatte sich unter die

Gäste gemischt. Es wurde peinlich ihn ununterbrochen anzustarren, und Ani ging in den Nebenzimmern spazieren um Ursu zu suchen.

Sie machte vor einem Fenster halt, von dem aus die abendliche Stadt zu sehen war. Überall brannten Feuer und Kerzen und die Stadt hatte ein gespenstisches Aussehen. In der Ferne sah man eine Kette von Lagerfeuern der Wachen auf der Stadtmauer. Der Anblick verzauberte Ani mit seiner Schönheit und sie fuhr zusammen, als sie hinter sich eine tiefe Stimme vernahm: “Von hier aus hat man einen schönen Ausblick, nicht war?”

Sie drehte sich um und erstarrte, direkt in zwei leuchtendgrüne Augen blickend. Die Zeit blieb stehen. Sie konnte ihre Augen nicht von diesem durchdringenden Blick losreißen und hatte keinerlei Gedanken im Kopf. Und vielleicht rettete sie genau das.

Der Imperator lächelte und sprach: “Ich freue mich das Mädchen kennen zu lernen, das die Aufgaben meines Sohnes löst. Außer klug, sind Sie auch bemerkenswert schön.”

Ani senkte verlegen den Kopf und antwortete mit zitternder Stimme: “Ich kann mich weder in dem einen, noch in dem anderen mit Ihnen messen.”

Die Antwort war verwegen. Ani machte es nicht absichtlich. Das kam ihr einfach in den Sinn. Sie hielt abwartend den Atem an um zu sehen, was wohl geschehen würde.

Der Imperator lachte auf. “Mit Vergnügen würde ich dieses Gespräch weiterführen, aber meine Verpflichtungen an diesem Abend erlauben mir das nicht. Ich hoffe, Sie bald wieder zu sehen.”

Er ging in den Saal zurück. Ani lehnte sich an die Wand. Es war, als trügen sie die Beine nicht mehr. Ihr Herz schlug wie verrückt. Seit sie Boar zum ersten Mal getroffen hatte, war sie durch nichts so erschüttert worden. Satara hatte die grünen Augen eines Angars, aber ihre Ausstrahlung war unvergleichlich stärker. Hoffentlich hatte er nicht jetzt schon bemerkt, dass er ihre Gehirnimpulse nicht wahrnehmen konnte.

Ursu kam ins Zimmer und gestand mit besorgtem Gesicht: “Mein Vater sagte mir, dass du hier bist und dass ich dich nicht allein lassen soll, sonst würde ich dich verlieren. Was ist passiert?”

“Nichts. Wir sind uns begegnet”, antwortete Ani kurz. “Können wir schon gehen?” “Ja”, antwortete Ursu mit einem gewissen Erstaunen in der Stimme, “die Frauen ziehen sich schon

zurück. Ich muss bis zum Schluss bleiben, aber ich bringe dich zum Schloss.” “Danke, bleib hier und erfülle deine Pflichten. Ich komme allein zurecht.” Ani verließ den

Empfangssaal immer noch mit weichen Knien und ging zum Schloss. Nie hätte sie vermutet, dass die Begegnung mit Satara so einen Eindruck bei ihr hinterlassen würde.

Das war keine Angst, sondern eher ein starkes Gefühl des Hingezogenseins, das ihr Angst machte und sie veranlasste wegzulaufen. Ani hatte das Gefühl, nie wieder diese grünen Augen und ihre magnetische Ausstrahlung vergessen zu können. Immer noch spürte sie das Beben, das über ihren ganzen Körper gegangen war. Sie wagte es nicht sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn er sie berührt hätte. Schlafen gehend konzentrierte sie sich voll auf Boar, um wenigstens bei den Gedanken an ihn die Ruhe zu finden, die sie jetzt brauchte.

----- Aus einem tiefen Schlaf erwacht fühlte sich Ani erholt und gestärkt. Sie wusch sich, zog ihre

alltägliche Kleidung an, betrat das Wohnzimmer und erwartete ungeduldig den Lakai mit dem Frühstück.

Das Kollier und die Ohrringe auf dem Tisch sehend erinnerte sich Ani, dass sie noch heute die Absicht hatte, sie zurückzubringen. Außerdem wollte sie versuchen, einen Blick auf den Stein zu werfen. An Ort und Stelle würde sie dann weiter entscheiden. Vielleicht könnte sie noch heute ihre Mission beenden.

Dieser Gedanke ließ ihr Herz höher schlagen. Für alle Fälle bereitete sie die Geschenke von Ursu vor und schrieb ein paar Zeilen. Sie versteckte die Sachen auf dem Kamin und kaum hatte sie sich auf den Diwan zurückgesetzt, kam der Lakai mit einem sehr besorgten Gesicht ins Zimmer gestürmt. Das

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Frühstück hatte er nicht dabei und Ani kam sofort aus ihrem euphorischen Zustand, bereit, schlechte Nachrichten zu empfangen.

“Der Imperator hat befohlen, dich sofort zu ihm zu bringen.” Der Diener zitterte am ganzen Leib vor Angst.

“Was hast du gestern Abend angestellt?” fragte er. “Noch nie wurde jemand von uns oder von Ursus Mädchen vom Imperator aufgerufen. Uns schenkt er überhaupt keine Beachtung. Gewöhnlich beschäftigt er sich nur mit seinen Ratgebern.”

Ani kamen die Rebellen in den Sinn. Nachdem der gestrige Tag ohne Zwischenfälle abgelaufen war, hatte sie gedacht, dass ihr Aufenthalt bei ihnen unbemerkt geblieben war. Aus dem Verhalten des Imperators gestern Abend konnte man ebenfalls nicht auf irgendeinen Verdacht seinerseits schließen. Sie wusste es ja - diese Leute würden ihr nur Unheil bringen!

“Beruhige dich, ich habe nichts getan”, antwortete Ani. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Sie musste irgendwie das Treffen mit Satara überleben und den Stein sofort danach stehlen. Deshalb beauftragte sie den Lakai:

“Bitte sage Ursu, wo ich bin und bitte ihn, hier auf mich zu warten, bis ich zurückkehre.” Sie folgte dem Diener in den Turm. Der Platz vor ihm war wieder leer. Die Verwalter und ihre

Familienmitglieder waren abgereist. Der Erste Ratgeber erwartete sie und betrachtete Ani neugierig. Er führte sie in die fünfte Etage,

dorthin, wo sich der Imperator mit seinen Ratgebern traf. Dort sagte er ihr, sie solle warten, und verschwand hinter einer Tür. Kurz darauf kam er zurück und lud sie mit den Worten ein:

“Der Imperator erwartet dich.” Ani trat in ein kleines Zimmer, eingerichtet nur mit so etwas wie einem Schreibtisch und einem

Stuhl dahinter. Der Imperator stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und sah auf den Hof. Er war mit gewöhnlichen Ledersachen bekleidet, ohne jeglichen Schmuck mit Ausnahme der kleinen Krone, die auch jetzt sein dichtes Haar wie ein Reifen umgab.

Ob er ihr die Möglichkeit gab, ihn zu betrachten, oder ob er versuchte an ihre Gedanken zu kommen - jedenfalls hatte er es nicht eilig sich umzudrehen. In seiner rechten Hand hielt er einen kleinen Gegenstand und rieb ihn zwischen den Fingern. Die Bewegungen wurden immer nervöser.

‘Er kann meine Gedanken nicht lesen und das macht ihn wütend’, erriet Ani. Gedanklich bat sie alle Götter und Teufel um Beistand, um die bevorstehenden Prüfung zu

bestehen. Der Imperator drehte sich um und sah ihr direkt in die Augen. Ani senkte schnell den Blick zu Boden. Sie wollte nicht riskieren von diesen Augen verzaubert zu werden. Sie wartete, dass er mit dem Gespräch beginne.

Doch der Imperator schwieg weiter. Er sah sie nur an und rieb mit fast unmerklichen Bewegungen den Stein in seiner Hand.

Für einen Augenblick überkam Ani die Angst - war das der Stein der Weisheit? Dann wäre sie verloren! Aber kaum. Boar hatte ihr erklärt, dass der Stein die Größe eines Eies habe. Dieser Stein war deutlich kleiner.

Mit einer heftigen, ärgerlichen Bewegung ließ er das Steinchen auf dem Tisch liegen. Es glänzte metallisch und matt.

“Ich habe erfahren, dass du gern über schwierige Probleme nachdenkst. Ein solches möchte ich mit dir besprechen.”

Ani wunderte sich - würde er sie jetzt einer Prüfung unterziehen? Sie hatte erwartet, dass er sie nach ihrer Herkunft, nach der Provinz, in der sie aufgewachsen war, fragen würde. Oder nach ihrem ungewollten Treffen mit den Rebellen. Vielleicht war das nur ein Umgehungsmanöver?

“Gestern erzählte mir der Verwalter einer Provinz, dass von einer Gruppe meiner Angestellten erneut ein Aufstand vorbereitet wird”, fuhr er fort. “Er konnte einen Agenten in die Gruppe einschleusen und weiß nun genau wer sie sind und wo sie sich treffen. Was soll ich deiner Meinung nach tun - sie gefangen nehmen und sofort töten, oder soll ich abwarten?”

Also doch die Rebellen! Das war gar nicht gut. Sie wusste nicht, ob er etwas über ihre Verbindung zu ihnen wusste oder ob er sie nur annahm. So eine Verbindung war logisch und als Möglichkeit viel wahrscheinlicher als die Annahme, dass Weowa einen Spion nach dem Stein ausgeschickt hatte. Letzteres ahnte er wahrscheinlich noch gar nicht, jedenfalls vorerst.

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Ani beschloss, seine Vermutungen zu bestätigen. Es hatte keinen Sinn zu lügen. Wenn sie ihre Verbindung zu den Rebellen nicht leugnete, hätte sie eine Chance ihr Verhalten zu erklären. Sie hoffte, dass er sie nicht gleich umbringen würde. Zuerst müsste er den Versuch machen herauszubekommen, warum er ihre Gedanken nicht lesen kann und ob es noch andere solche Satarianen gebe, denn das wäre der Anfang vom Ende seiner Dynastie.

“Nein, auf keinen Fall”, antwortete Ani als verteidige sie ihre Mitbrüder. “So wird das Problem nicht gelöst. Nach jeder Hinrichtung wird das Volk noch unzufriedener und es werden sich neue Rebellen finden.”

Ani verscheuchte ihre Angst und ließ sich von der Lösung dieser Aufgabe mitreißen. Trotz der gefährlichen Situation, in der sie sich befand, wollte sie ihren Verstand genau mit diesem Angar vor ihr trainieren. Die Möglichkeit, eine Nichtstandardlösung vorzuschlagen und jemanden zu haben, mit dem man sie erörtern kann, war eine echte Seltenheit. Sie wollte die Lösung des schwierigen Kasus finden und Sataras Beurteilung bekommen.

“Im Gegenteil, Sie müssen sie vorsichtig unterstützen”, fuhr sie fort. “Es sieht so aus, als wäre die Zeit gekommen, die Art der Verwaltung auf Satarius zu ändern. Geben Sie den Rebellen das Gefühl, sie würden sich daran beteiligen.”

Er lachte auf, stellte sich vor sie hin, packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sagte, ihr direkt in die Augen blickend:

“Es passiert mir nicht jeden Tag, dass ein Verräter so frech ist und mir ins Gesicht sagt, ich solle seine Kameraden in Ruhe lassen. Meine Wache beobachtet jedes neue Mädchen, das meinem Sohn gefallen hat. Die Wahrscheinlichkeit auf diese Weise einen Spion in die Festung einzuschleusen ist zu groß, als dass ich sie nicht erwägen würde. Man hat beobachtet, wie du dich mit diesem 'Freund' von meinem Sohn getroffen hast und dich deshalb vorgestern verfolgt.”

Er ließ seine Augen nicht von den ihren los, aber Ani vermochte dem großen Druck standzuhalten. Sie mobilisierte alle ihre Kräfte im Kampf um ihr Leben.

“Dann müssen sie auch bemerkt haben, dass ich diesen Riesinnen nicht ganz freiwillig gefolgt bin”, antwortete sie mit fester Stimme.

“Das kann auch inszeniert worden sein um eventuelle Verfolger in die Irre zu führen. Außerdem hast du ihnen wertvolle Ratschläge gegeben, wie sie den Agator reparieren können”, entgegnete er.

Entweder hatte er zwischen den Anwesenden einen Spion oder er hörte sie wirklich ab. Aber in beiden Fällen müsste er einsehen, dass sie unter Zwang gestanden hatte.

“Und was sollte ich Eurer Meinung nach tun? Sollte mich dieser Junge noch im Garten umbringen oder sollten mir die anderen das Zeitliche segnen? Wenn ich abgesagt hätte, hätte ich keine Chance. Sie hätten mich einfach beiseite geschafft, damit ich sie nicht verraten kann.” Anis Stimme erbebte nicht. Sie beschloss bis zum Ende zu gehen, damit Satara seine Entscheidung treffen konnte - entweder sie umzubringen oder ihr zu glauben. “Außerdem bin ich der Meinung, dass, nachdem die Hofleute bequem mit Agators fliegen, andere ebenfalls ein Recht darauf haben”, fuhr sie fort.

Angriff war die beste Verteidigung. Der Imperator hörte auf, ihre Schultern zu drücken, drehte sich um und ging erneut zum Fenster.

Er schwieg. Dann sah er sie plötzlich an und kehrte zu seiner ersten Frage zurück, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen.

“Was ist das für eine neue Verwaltungsform?” fragte er. Im ersten Augenblick war Ani verwirrt. Das hatte sie nicht erwartet. Sie konzentrierte sich um sich

zu erinnern, was sie zuvor gesagt hatte und antwortete ihm: “Sie regieren mit ihrem Willen und setzen ihn sichtbar für alle mit Gewalt durch. Sie müssen die Szene verlassen.”

Ani konnte selbst nicht an ihre eigenen Worte glauben. Mein Gott, was machte sie da! Schon allein wegen dieser Äußerung könnte er sie umbringen.

“Ich müsste dich vernichten wegen dieses Vorschlags!” rief er aus. “Willst du, dass ich aus freien Stücken abdanke? Selbst wenn ich einen Nutzen daraus ziehen könnte, wäre das eine zu große Erniedrigung für unser Geschlecht.”

Der Imperator ging nervös durchs Zimmer und Ani hielt die Luft an. Sie wartete ein Weilchen bis er sich etwas beruhigt hatte und erklärte: “Ich meinte, wenn Sie irgendwie die Situation zu Ihrem Gunsten umkehren könnten - wenn die anderen offiziell an der Macht sind und Sie sie heimlich leiten, dann wäre der Vorteil auf Ihrer Seite.”

Vom Thema des Gesprächs mitgerissen vergaß Ani die Gefahr, in der sie sich befand. Sie sprach mit aufgerichtetem Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht.

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Der Imperator blieb mitten im Zimmer stehen und sah sie perplex an. Jetzt hatten seine Augen Ähnlichkeit mit denen von Ursu. Aber nur für einen Augenblick. Etwas begann weit hinter diesen Augen zu arbeiten und sie blickten direkt durch sie hindurch. Er setzte sich auf seinen Stuhl und versank in tiefes Nachdenken. Es war, als existiere Ani nicht mehr. Sie stand immer noch aufrecht und wartete, betrachtete und bewunderte ihn. Sie war ein Niemand, ein Spion, jeder andere hätte sie getötet oder vertrieben, aber er hörte auf ihre Worte mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der er auf die Worte seiner Ratgeber hörte. Ani empfand echte Sympathie für ihn. Was konnte diesen Angaren, von allen als der Klügste unter ihnen anerkannt, veranlasst haben, sich auf diesen entlegenen Planeten zurückzuziehen und die langweilige Rolle des Imperators zu spielen?

Es verging ziemlich viel Zeit, bevor er aus seiner Versunkenheit herauskam. Als er den Kopf hob und Ani mit seinen durchdringenden grünen Augen ansah, bemerkte sie in ihnen die Trauer und Einsamkeit eines höheren Wesens, das sich nach seinesgleichen sehnte.

Bereits erwartete sie seine Worte aus ihrem Traum zu hören - “Komm, lebe und arbeite mit mir...”, und war fast bereit, zuzustimmen, als er mit müder Stimme sagte:

“Du kannst gehen.” Wie betäubt verließ Ani das Zimmer. Um Haaresbreite war sie dem Tod entgangen, empfand

jedoch tiefes Mitleid für Satara. Sie ging schweren Herzens. Am liebsten hätte sie ihn umarmt und getröstet, dabei musste sie ihm das Wertvollste, was er besaß, stehlen. Erneut hasste sie ihre Mission. Der ganze Enthusiasmus vom Morgen war verflogen.

Langsam überquerte Ani den Platz und betrachtete die umliegenden Gebäude mit einem Abschiedsblick. Obwohl der Stein immer noch in der Schatzkammer des Imperators lag hatte sie das seltsame Gefühl, ihre Aufgabe erfüllt zu haben. In ihr breitete sich eine tiefe Ruhe und Trauer aus.

Mit seinem langsamen, ruhigen Leben hatte dieser Planet von ihr Besitz ergriffen. Aber Ani sah baldige Veränderungen voraus, sah Ströme von Blut, hörte Schreie vor Schmerz und spürte den Geruch des Todes. Das Grauen würde auch an dieser Welt nicht vorübergehen.

----- Regen trommelte an die Scheibe. Satara sah Ani zu, wie sie, eingewickelt in ihren Umhang,

langsam den Platz überquerte. Er verstand nicht, was mit ihm los war. Er wusste - soeben hatte er seinen gefährlichsten Feind gehen lassen. Nicht nur, dass sie die Rebellen angeworben hatten, sie war auch das erste Wesen auf diesem Planeten, dessen Gedanken ihm nicht zugänglich waren. Was er auch versuchte, er konnte nichts wahrnehmen. Schon allein deshalb hätte er sie sofort beseitigen müssen. Anstelle dessen sprach er mit ihr über etwas, worüber er auch mit seinem nächsten Ratgeber nie sprechen würde - wie er sich an der Macht halten solle.

Zuerst dachte er, sie sei irgendein Mutant und arbeite für die Rebellen. Das würde alles erklären. Aber jetzt glaubte er nicht mehr daran. Seine Gefühle sagten ihm, dass sie etwas anderes darstellte, etwas sowohl Fremdes als auch Bekanntes. Aber er vermochte noch nicht zu erkennen, woran sie ihn erinnerte. Er konnte ihre Gedanken nicht lesen, nahm aber gut die Gefühle von Freundschaft und Wohlwollen wahr, die sie ausstrahlte. Und ihren aufrichtigen Wunsch ihm zu helfen. Seit undenklichen Zeiten hatte er solche Gefühle bei den Umgebenden nicht wahrgenommen.

Natürlich könnte er in den Keller gehen, den Stein der Weisheit in die Hand nehmen und alles erfahren. Aber er hatte ihn nicht mehr benutzt, seit er den Aufbau dieser Welt beendet hatte. Er wollte allein zurechtkommen, ohne Hilfe des Wissens der oberen Ebenen. Und war stolz auf das Erreichte, aber Ani hatte Recht, in letzter Zeit stagnierter die Entwicklung. Eine radikale Veränderung war vonnöten.

Auch ihre Idee war nicht schlecht. Schon lange hatte er es satt, sich als Imperator auszuleben. Aufrichtig wünschte er die Veränderung und etwas sagte ihm, dass sie bald eintreten würde.

Traurigkeit kam in ihm hoch. Die Begegnung mit diesem klugen und furchtlosen Mädchen erinnerte ihn, wie sehr ihm die Gesellschaft von gleichwertigen Kameraden fehlte. Immerhin war er ein Angar und die Angaren hatten einen stark entwickelten Kollektivgeist. Sie liebten es gemeinsam zu arbeiten und blieben nie allein. Ihr Hang zur Vereinigung ging so weit, dass ihre Individualität im Hintergrund blieb. Genau dagegen hatte sich Satara seiner Zeit aufgelehnt. Er wollte anders sein und hatte es erreicht. Aber dieser Erfolg hatte auch seinen Preis.

Seinen Ersten Ratgeber zu sich rufend befahl er ihm:

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“Ich will, dass du erfährst woher dieses Mädchen kommt, wo sie geboren wurde und wer ihre Eltern waren. Die Information brauche ich schnell.”

----- Als Ani das Zimmer betrat, wartete Ursu bereits ungeduldig auf sie. Sofort fing er an, sie nach dem

Treffen mit seinem Vater auszufragen, aber Ani unterbrach ihn, indem sie ihm versprach, alles später zu erzählen. Sie erinnerte ihn daran, dass sie den Schmuck zurückbringen mussten.

“Das hat Zeit. Keiner wird ihn suchen”, antwortete Ursu. “Nein, ich komme nicht zur Ruhe, bevor ich ihn nicht zurückgebracht habe”, bestand Ani

eigensinnig. “Du hast es mir gestern versprochen.” Ursu zog die Schultern hoch und erklärte sich einverstanden. Draußen regnete es und sie

überwanden schnell rennend die Entfernung zum Turm. 'Hoffentlich beobachtet uns der Imperator jetzt nicht', dachte Ani. Sie gingen zur Schatzkammer hinunter, ohne jemanden anzutreffen. Ani legte das Kollier zurück

und wollte sich diesmal die anderen Sachen anschauen. Ursu erklärte, was woher stammte und aus welchem Material war. Er hatte gute Geologiekenntnisse. Gerade erzählte er etwas über einen scheinbar unbedeutenden Stein, in dessen Mitte sich die schönsten Kristalle befanden, als Ani sich “zufällig” an jenen anderen Stein erinnerte.

“Vielleicht ist er auch so einer, vielleicht ist in ihm ein Schatz versteckt”, meinte sie. “Der Gedanke ist mir gar nicht gekommen. Um das herauszufinden, muss ich ihn mir nochmals

ansehen”, antwortete Ursu nachdenklich. Ohne etwas zu sagen sah ihn Ani erwartungsvoll an. Sie durfte die Ereignisse nicht erzwingen.

Aber Ursu hatte verstanden und lachte auf. “Schon gut, ich habe versprochen, ihn dir zu zeigen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn man

uns dabei erwischt, dass wir in der Schatzkammer meines Vaters wühlen, bekommen wir Ärger.” Sie sahen sich aufmerksam um und nachdem sie sich überzeugt hatten, dass sie keiner beobachtete,

gingen sie leise die Treppe herunter. Ursu holte von irgendwo eine lange Nadel hervor und öffnete mit geschickten Bewegungen die Tür. Sie schlichen sich hinein und schlossen sie hinter sich. Hier konnte sie nur noch der Imperator persönlich behelligen.

“Wie hast du die Tür aufgekriegt?”, fragte Ani erstaunt. Ursu grinste: “Als ich das vorige Mal hier einbrach, habe ich mich ganz schön abgemüht, bis ich

einen Weg fand sie zu öffnen. Ich hatte Glück, dass mich niemand erwischt hat.” Der Raum war nur schwach beleuchtet. Anis Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und

sie unterschied verschiedene wunderliche Dinge. Hier gab es Metallketten und Sterne, Eimer mit verschiedenen Erdarten, Pulver von zermalmten Materialien in allen möglichen Farben, Stofflappen mit seltsamen Flecken und vieles andere mehr. Hier sah es nicht nach einer Schatzkammer, sondern nach einer lange nicht sauber gemachten Rumpelkammer aus. Alles war verstaubt und es herrschte ein ziemliches Durcheinander.

Ursu ging in eine Ecke und zeigte auf ein unbedeutendes Kästchen voller Spinweben. Offensichtlich war der Deckel schon lange nicht mehr geöffnet worden. Ursu hob ihn vorsichtig an und trat zurück, damit Ani den Stein sehen konnte.

Boar hatte Recht. Der Stein hatte die Größe und Form eines Hühnereies und sah wie ein ganz gewöhnlicher Flussstein aus.

Ani holte ihn vorsichtig mit dem Daumen und Mittelfinger heraus und sie betrachteten ihn. “Nein”, sagte Ursu, “er sieht nicht danach aus, als wäre etwas in ihm. Dazu ist er zu klein und die

Farbe ist anders.” Ani tat so, als lege sie den Stein in das Kästchen zurück, wobei sie Ursus Aufmerksamkeit ablenkte:

“Sieh mal, was für seltsame Federn! Von welchem Vogel sind die?” Ursu blickte sich um und Ani machte schnell das Kästchen zu. Den Stein ließ sie in ihre Tasche

gleiten. Ihr Herz schien zerspringen zu wollen. Sie riss sich zusammen um ruhig auszusehen und hörte sich die Erklärung Ursus über einen Vogel von einer fernen Insel an.

“Ich denke, hier haben wir nichts mehr verloren”, sagte sie scheinbar gelangweilt. “Besser wir gehen, bevor uns jemand entdeckt hat.”

Vorsichtig öffneten sie die Tür einen Spalt und sahen sich um. Nachdem sie nichts Ungewöhnliches bemerkt hatten, verließen sie leise die Schatzkammer des Imperators und stiegen die Treppe empor.

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Ursu machte den Vorschlag noch ein wenig seine Sammlung anzusehen, damit sie sich ein neues Geschenk aussuche. Aber Ani erklärte, dass es ihr mehr Freude bereiten würde, wenn er es ohne sie auswähle, und deshalb würde sie im Zimmer auf ihn warten. Sie ging und Ursu blieb zurück, um seine Edelsteine zu betrachten.

----- Ani rannte zum Schloss. Der Diebstahl selbst war leichter als alles andere gewesen. Sie konnte es

noch gar nicht glauben, dass der Stein in ihrer Tasche lag. Plötzlich erinnerte sie sich an Boars Worte, dass sie auf den Stein hören solle, nahm ihn in die Hand und umklammerte ihn mit den Fingern.

Etwas Merkwürdiges geschah. Plötzlich klärte sich ihr Verstand und es war, als sehe sie die Welt mit anderen Augen. Gleichzeitig hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf: „Nimm Ursus einsitzigen Agator, lege mich in die Tasche zurück und mache, dass du von hier wegkommst. Richte dich nach Westen, zu dem Wäldchen, wo du mit Ursu warst. Dort wird Boar erscheinen.“

Ohne viel nachzudenken folgte sie sofort dem Rat des Steins. Jede Minute war kostbar. Sie steckte den Stein in ihre Tasche zurück und sprang in den Agator. Hoffentlich bemerkte man sie nicht jetzt schon. Zum Glück war das Wetter schlecht und keiner trieb sich draußen herum. Aber Ani vergaß nicht, dass sie die Wache beobachtete und außerdem konnte sie jemand zufällig vom Fenster aus sehen.

Ani steckte beide Hände in die Steueröffnungen und betastete mit jedem Finger je einen Knopf. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Erinnerungen des Ratgebers. Es tat ihr leid, dass sie nicht die Zeit gehabt hatte ihre Finger zu trainieren. Die Steuerung des einsitzigen Agators ähnelte dem Klavierspielen und war recht schwierig.

Sie drückte den Daumen für “Start” und den Mittelfinger der linken Hand für “nach oben”. Die Maschine stieg folgsam in die Luft. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand gab sie “volle Kraft voraus” und der Agator stürzte auf das gegenüberstehende Haus zu. Den Ringfinger der linken Hand für “links” und den Mittelfinger für “nach oben”.

Der Agator flog schnell und Ani hatte Schwierigkeiten mit der Lenkung. Er schwankte ziemlich, aber sie schaffte es, das Dach einer Werkstatt, dicht an der Festungsmauer, zu erklimmen und sie zu überspringen. Sie stürzte mindestens acht Meter in die Tiefe, bevor sich die Maschine bei fünf Metern über dem Boden wieder stabilisierte. Dann gab sie “volle Kraft voraus” und flog zuerst über eine breite Straße. Die Leute unter ihr hoben erstaunt die Köpfe, aber Ani hatte keine Zeit auf sie zu achten. Sie musste mehr nach Westen fliegen, doch leider gab es in diese Richtung keinen entsprechenden Boulevard.

Über die Dächer steigend ging Ani auf maximale Höhe. Das stellte sich jedoch als Fehler heraus. Die Dächer befanden sich auf unterschiedlichem Niveau und es war, als führe sie mit einem Auto über eine Straße voller Buckel und Löcher. Sie ging niedriger, doch die Erscheinung ließ sich nicht völlig vermeiden. Ani verfluchte den Imperator, der sich diese schwierige Bedienungsweise ausgedacht hatte. Mit Mühe hielt sie die Maschine in horizontaler Lage. Sie musste schneller lernen sie besser zu steuern.

----- Ursus Mutter ging den Flur entlang, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Zerstreut blickte sie

durchs Fenster auf die regennassen Pflastersteine und sah Ani über den Platz rennen. “Was macht sie bei diesem Wetter draußen?” fragte sie sich. Dieses Mädchen machte ihr ein wenig Angst. Ani war hübsch und klug, sie hätte sich keine bessere Schwiegertochter wünschen können. Aber etwas stimmte mit ihr nicht. Sie ähnelte nicht einem jungen Mädchen, eher einer reifen Frau. Ani war zu klug und wusste zu viel. Und sie hatte eine sonderbare Art zu denken, sich auszudrücken und sich zu kleiden. So, als wäre sie überhaupt nicht in dieser Gesellschaft aufgewachsen. Darüber musste sie mit ihrem Mann sprechen. Wie sie erfahren hatte, ließ er Ani beobachten. Sicher misstraute er ihr ebenfalls.

In Gedanken versunken bemerkte sie erst jetzt, dass Ani noch draußen war. Sie saß im kleinen Agator ihres Sohnes. Dieses Mädchen übertrieb es entschieden!

Plötzlich fuhr sie zusammen. Der Agator erhob sich und flog los! Hatte ihr Sohn soweit seinen Verstand verloren, dass er Ani beigebracht hatte, den einsitzigen Agator zu steuern? Eine der wichtigsten Sicherheitsmaßnahmen bestand darin, dass nur die engsten Familienmitglieder diese Fähigkeit besaßen.

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Ani flog unsicher, als wäre es zum ersten Mal. Und wo war Ursu? All das gefiel ihr überhaupt nicht. Sie lief zu seinem Zimmer. Dort traf sie ihn nicht an. Sie fragte den Lakaien und der sagte ihr, dass Ursu mit Ani zum Turm, in die Schatzkammer gegangen sei. War das Mädchen eine ganz gewöhnliche Diebin, dass jetzt mit der Beute floh? Und was hatte sie mit ihrem Sohn gemacht? Besorgt rannte sie zum Turm und sah mit Erleichterung, dass Ursu ihr entgegenkam.

Mit den Worten: “Wie konntest du Ani beibringen, den Agator zu steuern? Bist du noch bei Sinnen?!” warf sie sich ihm entgegen. “Und außerdem - hat sie irgendwas gestohlen, dass sie es so eilig hatte aus der Festung zu verschwinden?”

Ursu war von den Beschuldigungen seiner Mutter verwirrt. “Ich war die ganze Zeit bei ihr und glaube nicht, dass sie etwas gestohlen hat. Ich war sowieso

bereit, ihr alles, was sie wünschte, zu schenken.” “Aber sie hat den Agator genommen und flog direkt über die Festungsmauer!” Seine Mutter war

sehr aufgebracht. “Es stimmt, ich habe ihr beigebracht ihn zu lenken, aber ich habe ihr nicht erlaubt, allein mit ihm zu

fliegen”, rechtfertigte sich Ursu. “Du hast ihr beigebracht, den einsitzigen Agator zu steuern? Hast du vergessen, was dein Vater

befahl?” Seine Mutter hätte ihm fast eine Ohrfeige verpasst. Ursu sah sie verständnislos an. “Wieso den Einsitzer? Ich habe sie nur auf dem Dreisitzer gelehrt!” Für einen Augenblick blieben beiden die Worte im Hals stecken. Seine Mutter kam zuerst zu sich. “Sie flog aber mit deinem einsitzigen Agator. Ruf sofort den Hauptwachtmeister. Ich stelle den

Alarm an. Nimm meinen Agator und sieh zu, dass du das Mädchen fasst!” ----- Ani hörte die Sirene in der Festung. Man hatte ihre Flucht sehr schnell entdeckt. Offensichtlich

hatte sie jemand gesehen. Vielleicht wäre sie weiter gekommen, wenn sie die Festung zu Fuß verlassen hätte.

Da sie die Maschine nicht voll im Griff hatte, kam Ani nicht schnell genug voran. Sie drehte sich um und sah in der Ferne mindestens drei Agators. Die Verfolgung hatte begonnen!

Auf diese Entfernung konnte Ani nicht ausmachen, ob es Einsitzer oder größere Maschinen waren. Mit drei-viersitzigen würde sie leicht zurechtkommen. Die waren wesentlich langsamer. Aber sicher hatte man bereits festgestellt, dass sie mit einem einsitzigen Agator floh und wenigstens der Hauptwachtmeister würde sie mit solch einer Maschine verfolgen. Und der steuerte sie sicher besser als sie. Ani tauchte erneut in einer kleinen Straße fast bis zu den Köpfen der Leute unter. So konnten sie die Verfolger nicht sehen, aber auch sie sah sie nicht. Die Straßen waren kurz, mit laufenden Biegungen und Ani stellte bald fest, dass sie sich so ihrem Ziel nicht schneller näherte. Sie verlor die Orientierung und stieg wieder auf.

Sich umsehend entdeckte sie die Verfolger rechts von ihr, aber sehr viel näher. Erneut versank sie in der Straße und hielt sich stark links. Wenn man sie nicht gesehen hatte, besaß sie eine Chance. Wieder stieg sie kurz in die Höhe um sich umzusehen.

Die Verfolger waren ziemlich weit seitlich von ihr, aber der Luftabstand wurde immer kleiner. Ani konnte nicht den Stein aus der Tasche holen und ihn nach dem Weg fragen. Ihre Hände waren beschäftigt. Langsam automatisierte sie wenigstens die Bewegung nach links und nach rechts. Aber sie kam nicht schnell genug voran. Irgendwas musste sie sich einfallen lassen, also sprang sie nach oben und schoss direkt über die Dächer. Wenn sie den Wald vor ihren Verfolgern erreichte, würde sie es schaffen. Ani sah sich um. Man hatte sie gesehen und verfolgte sie mit aller Kraft.

‘Hoffentlich nimmt der Imperator nicht persönlich an der Verfolgung teil. Sein Agator ist mit Sicherheit der schnellste’, dachte Ani. Die Häuser und Gassen unter ihr nahmen kein Ende. Fast hatte sie ihre Geschwindigkeit den drei Verfolgern angeglichen. Man holte sie zwar ein, aber wesentlich langsamer.

Das mussten außer dem Hauptwachtmeister einer der Ratgeber und Ursus Mutter - oder er selbst - sein. Was für eine Enttäuschung sie wohl in ihnen hervorgerufen hatte? Das Gefühl, ein Verräter zu sein, gefiel Ani gar nicht. Man war ihr mit Liebe begegnet und Ani hatte sie grausam betrogen. Und nun fühlte sie sich furchtbar schuldig.

Der Wald war bereits in der Ferne zu sehen, als sie die Verfolger fast erreicht hatten. Irgendwo dort, an der Grenze zwischen den letzten Häusern und den ersten Bäumen, würde man sie einholen. Ani

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konnte schon die Fahrer in den Agators unterscheiden. Ursu war unter ihnen. Wenn die Verfolger Feuerwaffen besäßen, hätte man sie schon längst abgeschossen.

Der Abstand hatte sich auf etwa fünfzig Meter verringert, als die Häuser unter ihr endlich aufhörten.

Ani ging sofort in Bodennähe und versteckte sich zwischen den hohen Bäumen. Ununterbrochen musste sie darauf achten, nicht an den Stämmen zu zerschellen. Die anderen waren über ihrem Kopf, über den Baumkronen. Nur Ursu hörte sie hinter sich rufen. Er verfolgte sie unten. Ani war zu langsam, um ihm zu entkommen. Verzweifelt dachte sie an Boar. Wo blieb er nur? Sie hielt den Agator scharf an, sprang aus ihm heraus und schlug sich in die Büsche. Aber das war nicht das Klügste, was sie hätte tun können. Ani hatte vergessen, dass auf Satarius die Männer viel schneller rannten als die Frauen. Ursu erreichte sie und riss sie zu Boden. Sie schüttelte ihn ab und sprang wieder auf die Beine. Es hatte keinen Sinn, weiter zu fliehen. Ani sah sein gequältes Gesicht.

“Entschuldige Ursu, Ich musste es tun”, stieß sie atemlos hervor. “Ich wollte dir kein Leid zufügen.”

Er sah sie verständnislos an: “Aber was hast du getan? Ich hätte dir alles gegeben.” “Ich habe nichts von dem genommen, was dir gehört. Ich bin auch kein Rebell. Ich nahm nur, was

euch nicht gehört.” Sie holte den Stein aus der Tasche und drückte ihn mit aller Kraft. Die Welt veränderte sich erneut. Der Stein leuchtete plötzlich unheimlich stark auf. Sein Glanz

blendete Ursu und die sich nähernden Verfolger. Gleich danach hörten sie ein schreckliches schrilles Pfeifen. Es verbreitete sich wie eine ätherische Welle über den ganzen Planeten. Alle, einschließlich Ani, hielten sich instinktiv die Ohren zu.

Neben ihr erschien die bekannte leuchtende Kugel und Ani hörte Boar befehlen: „Setz dich und kauere dich zusammen!“

Sie hockte nieder, umklammerte ihre Knie und zog den Kopf ein. Die kleine Kugel wuchs zu einer Sphäre mit einem Meter Durchmesser und umfasste sie völlig. Ani spürte nur, wie sie etwas nach oben riss und verlor das Bewusstsein.

----- Endlich verstummte das Pfeifen und Ursu atmete erleichtert auf. Auch das Licht war weg. Ani war

ebenfalls verschwunden. Immer noch wie betäubt sah er sich um und bemerkte die zwei anderen Verfolger neben ihren Agatoren mit den gleichen verblüfften Gesichtern wie seines.

“Wohin ist sie verschwunden?” rief verwirrt der Hauptwachtmeister. “Was war das für eine Wolke, woher kam sie so plötzlich?”

“Ich weiß nicht! Aber ich habe gesehen, wie diese Wolke das Mädchen direkt in den Himmel davontrug”, antwortete der Ratgeber.

Ursu war mit ihm einverstanden - er hatte dasselbe gesehen. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Das Geschehene ging ihnen nicht in den Kopf. Das Pfeifen, das Licht, die seltsame Wolke und das Verschwinden des Mädchens - zu viel Unbegreifliches war in ganz kurzer Zeit geschehen. Sie sahen sich nur schweigend an, zuckten mit den Achseln und stiegen in ihre Agatoren um in die Festung zurückzukehren. Der Agator der Herrin blieb auf der Lichtung zurück. Später würden sie ihn holen.

Ursu handelte wie im Traum. Nichts von dem, was geschehen war, begriff er. Ani hatte jenen Stein

gestohlen, wegen dem sein Vater vor Jahren seinen besten Ratgeber ohne jegliches Bedauern umgebracht hatte.

Wenn sie Ani festgenommen hätten, würde sie zweifellos das Schicksal des Ratgebers teilen. Ursu wusste nicht, ob er sich mehr darüber freuen sollte, dass sie geflüchtet war, oder ob er sich mehr vor dem Zorn des Imperators fürchten sollte. Wenn sich sein Vater das Gestohlene nicht zurückholen konnte, würde er ihm dann verzeihen? Schließlich war er es, der Ani den Stein gezeigt hatte und ihr so die Möglichkeit gab ihn zu stehlen.

Ani behauptete, dass der Stein nicht ihnen gehöre und dass sie nichts mit den Rebellen zutun habe. Aber wer war sie dann? Wie vollkommen sie die Rolle seiner Geliebten gespielt hatte, wie geschickt sie ihn betrogen hatte! Die Bewunderung für sie überwog die Kränkung. Trotz des Geschehens liebte Ursu Ani und war bereit, ihretwegen jede Strafe zu ertragen. Selbst den Tod. Er wusste sowieso nicht, wie er die Trennung überleben sollte.

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Aber zuerst einmal musste er seinem Vater die schlechte Nachricht überbringen. Bei diesem Gedanken erbebte Ursu vor Angst.

Bei ihrer Ankunft in der Festung fanden sie eine allgemeine Verwirrung vor. Nachdem sie gelandet waren berichtete ihnen der Erste Ratgeber, dass der Imperator dem Alarm in der Festung keine Beachtung geschenkt habe, doch nachdem dieses entsetzliche, unangenehme Pfeifen anfing, sei er aufgesprungen und zum Fahrstuhl gerannt. Seitdem hätte ihn keiner mehr zu Gesicht bekommen.

Ursu bestand darauf unbedingt mit ihm sprechen zu müssen, aber man antwortete ihm, dass der Imperator in seinem Observatorium sei und niemanden zu sich ließe. In diesem Moment läutete die kleine Klingel am Kragen des Ratgebers. Der Imperator rief ihn. Ursu rannte zusammen mit ihm die Treppe hinauf.

Der Imperator erwartete sie im Sitzungssaal. Er sah sehr müde und in sich gekehrt aus und

durchdrang sie mit seinen grünen Augen. Ursu erklärte stotternd: “Ani hat den Stein gestohlen, denselben, den dein ehemaliger Ratgeber mal stehlen wollte. Und ist

verschwunden.” Sein Vater erbleichte gleich nach den ersten Worten. Ursu bereitete sich auf das Allerschlimmste

vor. Die Augen des Imperators warfen Blitze, aber nicht zu ihm, sondern zum Tisch hinter ihm. Der ging in Flammen auf und der Ratgeber fiel vor Angst auf die Knie. Ursu stand verwirrt da. Zum ersten Mal sah er, was sein Vater tat, wenn er rasend vor Wut war. Schon dachte er, jetzt an der Reihe zu sein, als der Imperator sich umdrehte und ohne ein Wort zu sagen wieder in sein Observatorium zurückkehrte.

Ursu machte sich auf den Weg zum Schloss, um seiner Mutter zu erzählen, was geschehen war. Da

er sie in ihrem Zimmer nicht antraf, ging er in Anis Zimmer. Seine Mutter saß mit einem verwirrten Gesicht auf dem Diwan. Sie starrte auf die Kästchen mit den Kristallen, die er Ani geschenkt hatte, und auf ein Limerow-Täfelchen vor ihr.

Sie hob den Blick und fragte ihn mit schwacher Hoffnung: “Habt ihr sie gefasst?” “Nein”, begann Ursu zu erzählen, “wir haben sie im Otano-Wald erreicht. Ich hielt sie bereits in

meinen Händen, als dieses schrille Pfeifen begann. Plötzlich erschien neben ihr ein hell leuchtender Ball, wuchs zu der Größe eines einsitzigen Agators heran und verschlang sie. Danach verschwand er zusammen mit ihr im Himmel.”

“Im Himmel? Mein armer Junge!”, rief sie aus. Sicher dachte sie, er hätte den Verstand verloren. Sie schob das Täfelchen zu ihm. “Das habe ich auf dem Kamin gefunden.” Ursu fing an, laut vorzulesen: “Lieber Freund! Bitte vergib mir alles, was ich dir angetan habe. Was ich tat, war ich gezwungen zu

tun. Ich danke dir für dein Entgegenkommen und deine Geschenke. Mit Vergnügen würde ich sie zur Erinnerung behalten, aber ich kann sie dorthin, woher ich komme, nicht mitnehmen. Übergebe viele Grüße deiner Mutter, sie ist eine bewundernswerte Frau. Und deinem Vater sage, wie sehr es mir leid tut, ihm das Kostbarste, das er je besaß, zu nehmen, aber noch mehr tut es mir leid, dass ich ihn nicht näher kennen lernen konnte. Mir gefällt, was er erreicht hat und was er auch immer mit dieser Welt vorhat, ich wünsche ihm Erfolg. Ich liebe Euch! Ani.”

Ursu starrte auf das Täfelchen. Er begriff nicht alles, was dort geschrieben stand, aber er spürte erneut Anis mütterliche Wärme. Um etwas anzufassen, was sie berührt hatte, nahm er die Kristalle in die Hände. Bei der Erinnerung an ihre Freude, als sie beobachtete, wie sich das Licht in ihnen brach, begann er zu weinen.

“Mein armer Junge”, wiederholte seine Mutter und umarmte ihn. Sie fürchtete nicht so sehr um seinen Verstand, als um den Zorn ihres Mannes.

“Was ist dieses Kostbarste, das sie gestohlen hat?” fragte sie. “Der Stein - jener Stein. Und ich hab ihn ihr gezeigt! Ich glaubte nicht, dass er kostbar ist. Er sah so

gewöhnlich aus! Aber als ich sie einholte, nahm sie ihn in die Hand und er erstrahlte in einem blendenden Licht. Was ist das für ein Stein?”

“Ich weiß es nicht”, antwortete seine Mutter. “Dein Vater erlaubte niemanden, ihn zu sehen. Er erbte ihn von seinem Großvater, und der von seinem Großvater. Es scheint, als gehörte er der Dynastie seit uralten Zeiten. Hoffentlich kann er ihn sich wiederholen.”

“Das glaube ich nicht. Noch nie habe ich ihn so bedrückt gesehen wie heute, als ich ihm davon berichtete. Er beachtete mich gar nicht sondern stieg gleich in sein Observatorium.”

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“Du hast ihm das mitgeteilt und bist noch am Leben?”, seine Mutter drückte ihn noch stärker an sich. Also gab es, gab es doch noch eine Hoffnung, ihren einzigen Sohn nicht zu verlieren!

Ihren Mann hatte sie nie besessen. Er war ihr so fremd wie am ersten Tag, als man sie zu ihm führte. Auf den ersten Blick verliebte sie sich in den schönen Mann, aber bald bemerkte sie, dass er sich nicht für sie interessierte und dass sie ihn überhaupt nicht verstand. Sie lebten nebeneinander und waren sich nie richtig nahe gekommen.

Anfangs schliefen sie ab und zu zusammen. Das waren wunderschöne, unvergessliche Erlebnisse, an die sie sich auch jetzt noch mit Beben erinnerte. Aber nachdem Ursu geboren wurde, hörte auch das auf. Er suchte sich manchmal andere Mädchen, doch sie war noch nicht einmal eifersüchtig. Sie wusste, dass sie ihm ebenfalls nichts bedeuteten.

Dieses Mädchen, Ani, blieb ihr ein völliges Rätsel. Gestern schon, auf dem Empfang, kam ihr in den Sinn, dass sie nicht wegen ihres Sohnes hier war. Ursu war kein ebenbürtiger Partner für sie. Und als Ani ihre Augen nicht vom Imperator wandte, dachte sie: Er ist ihr wahres Ziel. Es entging ihr nicht, dass sie auch ihm nicht gleichgültig war. Am Morgen, als ihr Mann Ani zu sich rufen ließ, war sie der Meinung, das wäre sein nächstes Liebesabenteuer.

Aber jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte. Der Ratgeber, der den Stein gestohlen hatte, gehörte zu den Rebellen. Anis Brief allerdings ließ auf ein anderes Motiv schließen. Was würde jetzt geschehen?

DRITTER TEIL Ani kam langsam zu sich. Sie fühlte sich sehr wohl, so als schwimme jedes Teilchen ihres Körpers

in einem Ozean von Seligkeit. Immer noch drückte sie den Stein mit aller Kraft und er leuchtete in den verschiedensten Farben. Wie durch einen Nebel sah sie den schwarzen Raum um sich, mit unzähligen Sternen übersät. Irgendwo zu ihren Füßen hob sich ein grüner Planet ab, von dem sie sich schnell entfernte. Sie wusste - das war Satarius, und plötzlich erinnerte sie sich an alles und bekam Angst. Wo war sie? Wieso hing sie ohne jede Stütze im Raum und bewegte sich?

Gerade wollte sie den Stein danach fragen, als sich eine bekannte Stimme in ihrem Kopf meldete: „Frag nicht den Stein nach Sachen, die auch ich dir erklären kann. Sonst fühle ich mich völlig vernachlässigt.“

“Boar! Wo bist du, ich sehe dich nicht!” Ani verspürte Freude und Erleichterung als sie begriff, dass er bei ihr war. Nichts konnte ihr ein solches Gefühl von Geborgenheit geben, wie die Nähe Boars.

„Was soll das heißen - wo bist du?“ antwortete er mit verstellt beleidigter Stimme. „Ich bin überall um dich herum und in dir drin.“

Erst jetzt erinnerte sich Ani, woher sie diesen Nebel um sich kannte. Damals stand Boar vor ihr wie eine Wand, von ihr getrennt. Aber jetzt fühlte sie ihn in sich, er hatte sie durchdrungen und sie waren wie eins. In ihrer Vorstellung versuchte sie sich auszumalen, ebenfalls nur eine Wolke aus frei herumtreibenden Energiezentren zu sein und sich völlig in der Energiesphäre Boars aufzulösen. Das entstandene Gefühl konnte man nicht beschreiben. Sich ihm hingebend versank sie erneut in Seligkeit.

Aber Boar holte sie schnell aus diesem Zustand: „Mach dir nichts vor, noch sind wir zwei. So wie wir sind, können wir uns den anderen, vereinten Zustand, nicht vorstellen. Aber die Teilung gibt uns die Möglichkeit uns zu lieben, und ich bin ihr sehr dankbar dafür.”

Tiefe Liebe zu Boar erfüllte Ani. Ihre Gefühle für ihn konnte man einfach nicht mit der Liebe zu anderen vergleichen. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen wie zu dem Mann ihrer Träume; fühlte Geborgenheit wie im Mutterleib; fühlte Glauben - wie der Glaube zu Gott. All das hatte nichts mit ihrer Liebe zu ihrem Mann, ihren Eltern oder ihren Kindern gemein. Es war auch anders als das in ihr aufkeimende Gefühl für Satara.

Als sie an den Imperator dachte, wurde ihr schwer ums Herz. Was machte er wohl jetzt? Sie empfand Mitleid für ihn, aber auch echte Zuneigung und das verwirrte sie. Sie erinnerte sich an seine traurigen Augen und jenes Gefühl der Geistesverwandtschaft, für das sie keine Erklärung finden konnte. Was war damals geschehen, als Satara seinerseits den Stein von Weowa stahl?

„Frag den Stein der Weisheit nach diesen Dingen“, riet ihr Boar, „er kann dir die ganze Geschichte dieses erschaffenen Weltalls zeigen.“

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Ani drückte den Stein und richtete ihre Gedanken auf ihn. Ihr Bewusstsein flog zu einem anderen Ort, in eine andere Zeit. Sie wurde Zeuge eines lang zurückliegenden Ereignisses:

...Weowa umkreiste ärgerlich Satara. Heftig mit den Armen herumfuchtelnd rief er ihm zu: “Du

wirst niemals Erfolg haben! Du hast ja gesehen, was auf der Erde geschah! Nein, das kann ich dir nicht erlauben.”

“Aber du hast auf der Erde nur mit den Kräften der rechten Hand gearbeitet und nicht alles von Anfang an ausbalanciert. Deshalb hat das System später versucht, selbst einen Ausgleich zu finden und hat die Kräfte der linken Seite aus dem Chaos angezogen. Und die blieben unregulierbar. Das war der Anfang vom Ende”, widersprach der Angar mit den wundervollen goldenen Haaren.

“Und du denkst, du wärst klüger als ich? Was erlaubst du dir eigentlich?” Weowa war vor Satara stehen geblieben.

“Ich möchte, dass du mir die Möglichkeit gibst zu beweisen, dass ich Recht habe! Ich bitte dich, mit mir zusammen an Satarius zu arbeiten und unsere Kräfte gleichmäßig zu verteilen.”

“Oh nein! Wenn du meinst deinen Lehrer zu übertreffen, musst du allein, mit dem was du besitzt, zurechtkommen. Von mir wirst du keinen Deut von den Kräften der rechten Hand bekommen.” Weowa lachte überheblich auf.

Da erschienen die Flämmchen des Hasses in den Augen von Satara und er verwandelte sich in einen riesigen Drachen, spie Feuer zum Himmel und sagte mit furchtbarer Stimme: “Du kannst mich nicht aufhalten! Ich werde meine Welt allein erschaffen, auch ohne deine Hilfe. Soll es so sein, wie du es wünschst - soll es auch eine Welt geben, die nur mit den Kräften der linken Hand geschaffen wurde. Und dann werden wir sehen, wer von uns Recht behält.”

Weowa lachte hell auf: “Du besitzt nicht den Stein der Weisheit und ohne ihn kannst du kein System aufbauen!”

Jetzt war die Reihe an dem Ungeheuer zu lachen. “Ich denke, hier irrst du dich!” Es öffnete sein Maul - auf seiner Zunge lag ein Kristall, durchsichtig

und in allen Regenbogenfarben leuchtend. Der Drache breitete seine gewaltigen Flügel aus und flog davon, Weowa aber spie die größten

Verwünschungen aus, die jemals ausgesprochen wurden... Ani sah verwundert auf ihre Hand. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich der Stein in einen

leuchtenden, durchsichtigen Kristall verwandelt hatte. Wenn Ursu ihn so gesehen hätte, hätte er ihn ihr niemals gezeigt.

“Warum hat er sich so verändert?” „Weil sich der Stein der Weisheit nur den Wesen der höchsten Ebenen in seiner wahren Gestalt

zeigt“, antwortete Boar. “Aber ich bin nicht so ein Wesen!”, protestierte Ani. „Ich auch nicht. Aber wenn wir zusammen sind, sind wir so ein Wesen. Für den Stein ist es

bedeutungslos, dass wir zeitweilig in zwei verschiedenen Erscheinungen auftreten. Er erkennt seine Schöpfer.“

Stark beeindruckt wurde Ani nachdenklich. Was für ein Wesen stellten sie mit Boar dar? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Und irgendetwas stimmte nicht. Schließlich erkannte sie, was genau.

“Und wieso habe ich eben gesehen, dass der Stein im Mund von Satara leuchtete?” „Weil er auch ein “Geteilter” ist und sich in der Nähe seines zweiten Ich's befand“, antwortete

Boar sehr sanft. “Aber ich habe kein anderes Wesen bei ihm gesehen außer Weowa!” Und erst als sie das aussprach, erkannte Ani eine ungeahnte Wahrheit, von der ihr geradewegs

schlecht wurde. Alles verwirrte sich in ihrem Kopf und nur die seelische Unterstützung von Boar rettete sie vor dem Wahnsinn.

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Die Nemjato-Waffe10 war voll einsatzbereit, aber es gab nichts zum Zerstören. Die Attacke war zu unerwartet gewesen und endete blitzschnell. Die Waffe war zwar in der Lage, jeden physischen Eindringling aus dem Kosmos zu zerstören, doch solch ein Objekt konnte sie nicht ausmachen.

Satara ging nervös in seinem Observatorium auf und ab. Sie waren ihm entwischt! So lange schon schützte er sich erfolgreich vor den Anschlägen der astralen und mentalen Wesen, dass er seinen jetzigen Misserfolg noch nicht begreifen konnte. Auch früher hatte Weowa versucht sich den Stein zurückzuholen, aber an diesen Aktionen waren immer nur Angaren beteiligt. Nach der Art der registrierten Schwingungen zu urteilen, war diesmal kein Angar zugegen gewesen.

Die Signalanlage registrierte ohne Zweifel einen Theor. Was kann einen Theor veranlassen, sich in die Angelegenheiten der Angaren einzumischen? Die Dinge waren ausgesprochen ungewöhnlich.

Dieser Theor war nur für einen Augenblick erschienen um das Mädchen mitzunehmen. Es gab keinen Zweifel - er hatte das Geschehene im Gehirn seines Sohnes klar gesehen. Aber seit wann arbeiteten Theoren zusammen mit Menschen? Und wieso hatte der Theor vor seinem Erscheinen keine Spur im Raum hinterlassen?

Vielleicht befand er sich seit langem hier und hatte nur abgewartet, dass das Mädchen den Stein in die Finger bekam? Das war sehr wahrscheinlich. Er musste in die Atmosphäre von Satarius in physischer Form eingedrungen sein - eine bewunderungswürdige Leistung für einen Theor! Nur etwas sehr Wichtiges konnte ihn veranlassen so zu handeln.

Satara hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Der Gedanke, dass die Theoren zu diesem schwierigen Zug greifen, nur um sich den Stein wiederzuholen, war absurd. Schließlich konnte er ihnen die Rückgabe des Steins nicht verwehren - wenn sie ihn nur verlangt hätten! Bisher war er sich sicher gewesen, dass sie seine Handlungen tolerieren. Sie hatten sich nie eingemischt.

Es gab zu viele Fragen, auf die er eine Antwort finden musste. Bis gestern langweilte er sich, aber jetzt hatte er voll zu tun.

Satara ging ins Kellergeschoss um die notwendigen Materialien für den Trance zu beschaffen. Er musste mit diesen primitiven Methoden arbeiten: Solange er sich in der physischen Welt befand hatte er keinen direkten Zugang zu den oberen Ebenen. Satara musste diesen Körper verlassen und sich erneut in den Angar verwandeln, der er war. Dort würde er die Weowas Absichten erfahren. Er zweifelte überhaupt nicht daran, dass dieser hinter der Sache stand.

Was er sofort erkannte war, dass das Mädchen nicht von Satarius stammte. Schon als er ihre Gedanken nicht lesen konnte, hätte er darauf kommen sollen. Am Wahrscheinlichsten war, dass sie von der Erde kam. Für Weowa wäre es nicht schwer gewesen, ihr das Aussehen einer Satarianin zu geben. Aber wie sicher sie sich in dieser Gesellschaft bewegte! Schon allein um einen einsitzigen Agator zu steuern, musste sie über eine sehr gute Informationsquelle verfügen.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ihm wurde klar, was für eine Dummheit er begangen hatte. Wie konnte er Weowa so ein Geschenk machen?! Sein alter Ratgeber war der Schlüssel zumindest zu diesem Rätsel!

Satara ärgerte sich über sich selbst. Er hatte einen Fehler begangen und war dafür bestraft worden. Nachdem er fand, was er brauchte, ging er ins Laboratorium, vertrieb den Diener und begann, das

Gemisch zu bereiten. Diesmal musste er weit vordringen, brauchte er eine starke Magie. Einmal auf der oberen Ebene angekommen, würde er seine Berechnungen machen.

----- Ani platze der Kopf. Der Stein hatte ihr so viel gezeigt - wie diese Welt erschaffen wurde, wie die

materiellen Körper entstehen, wie die geistigen Wesen aussehen, soweit sie immer noch eine Erscheinungsform haben. Und irgendwo gab es etwas, was keinen Körper mehr hatte, weder einen physischen, noch einen mentalen, noch einen anderen. Es blieb für ein Verstehen unzugänglich.

Sie wusste bereits, was für ein Wesen sie zusammen mit Boar waren. Aber der Stein verweigerte ihr mitzuteilen, zu welchem Zweck sich dieses Wesen so geteilt hatte. Außerdem begriff sie erst jetzt, warum Boar damals, als sie lernte den dreisitzigen Agator zu steuern, so heftig auf ihren Versuch sich ihm zu nähern reagiert hatte. Für sie bestand immer die Gefahr der vorzeitigen Vereinigung. Sie wunderte sich nur, wie er sie auf diese Weise durch den Raum tragen konnte. Aber der Stein erklärte ihr, dass sie Boar nicht wirklich berührte, weil sie in zwei sehr verschiedenen Körpern steckten. Am

10 Nemjato-Waffe - die Laserwaffe des Imperators.

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gefährlichsten sei die geistige Berührung - der Energieaustausch. Das, was er mit ihr tat, wenn er ihr etwas von seiner Kraft und Zärtlichkeit übertrug. Aber Ani begriff nicht genau, worin der Unterschied bestand.

Vor ihr offenbarte sich so viel Wissen, dass ihr Gehirn zu streiken begann. Es wäre auch sinnlos gewesen, alles aufzunehmen. Sie wusste, dass sie alles vergessen würde, nachdem sie zur Erde zurückkehrte.

Bei dem Gedanken an die Rückkehr wurde sie von Kummer überwältigt. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich wieder von Boar zu trennen. Diese Reise zu der Grenze zwischen den Reichen, zu der er ihren physischen Körper bringen musste, war eine sehr schwierige Aufgabe für ihn. Obwohl er Energie von entfernten Sternen schöpfte, verbrauchte er mehr, als er bekam. Boar verlor immer mehr Kraft und bald würden seine Reserven erschöpft sein. Bis dahin musste er die Grenze erreicht haben, damit Weowa ihren Körper übernehmen konnte. Wenn er es nicht rechtzeitig schaffte, würde sie sterben.

Ani konnte ihm mit nichts helfen und fühlte sich furchtbar unnütz. Obwohl sie wusste, dass sie keine Schuld an der Situation trug, lag ihr die Ohnmächtigkeit auf dem Gewissen. Sie belästigte Boar nicht mehr und ersparte ihm selbst die Anstrengung, ihr zu antworten. Er erhielt die Lebensfähigkeit ihres Körpers - sie verspürte weder Durst noch Hunger. Um nicht zu viel von ihrer Energie zu verbrauchen, versank sie erneut in den halbwachen Zustand und ließ den Stein ihr die Welt zeigen.

----- Satara kehrte in den Körper des Imperators zurück. Die Reise endete erfolgreich. Er hatte eine

Antwort auf die meisten seiner Fragen bekommen. Mit großer Befriedigung stellte er fest, dass er selbst mehr wusste als Weowa.

Er lachte auf. Der alte Dummkopf! Weowa hatte nicht begriffen, dass er auf der Erde einen Menschen mit dem Geist eines “Geteilten” gefunden hatte. Das erklärte die Teilnahme des Theors bei dieser Sache. Nicht die Theoren wollten den Stein wiederhaben, sondern dieser Theor musste einfach sein zweites Ich vor der Willkür Weowas retten.

Die Tatsache, dass so ein ungleiches Paar - Theor und Mensch - existieren konnte, überraschte ihn. Er wusste nur wenig über die “Geteilten”. Sie gehörten einer Ebene über den Theoren an und kein Angar verstand ihre Bestimmung. Sie wussten nur, dass es sie gab.

Satara erinnerte sich an den Eindruck, den das Mädchen auf ihn gemacht hatte. Was ihn beeindruckte war weder ihr hübscher Körper noch ihr ungewöhnlicher Verstand. Er hatte einfach unterbewusst die Nähe eines höheren Geistes verspürt und es war, als zöge ihn etwas zu ihm. Auch jetzt empfand er einen tiefen Schmerz, weil sie gegangen war. Er beneidete seinen Sohn, der sich ihrer Gesellschaft länger erfreuen konnte.

Nun musste er Ursu und dessen Mutter erst einmal beruhigen. Sicher dachten sie, dass er sie wegen dieses Diebstahls grausam bestrafen würde. Und sie hatten vollen Grund für ihre Angst: Bisher sah er sich immer gezwungen, strenge Maßnahmen zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung auf Satarius zu ergreifen. Aber er hatte bereits beschlossen seine Strategie zu ändern. Die Zeit für Veränderungen war herangereift, möge dieses Ereignis der Anlass dafür sein.

Er fand sie im ehemaligen Zimmer von Ani. Seit langem hatte er das Schloss nicht mehr besucht

und rief mit seinem Erscheinen große Aufregung unter den Dienstleuten hervor. Als er ins Zimmer trat, sah er das Entsetzen auf den Gesichtern seines Sohnes und seiner Frau.

“Ich will euch beruhigen, ich werde euch nichts tun.” Er beeilte sich das auszusprechen, bevor sie vor Angst bewusstlos wurden. Die Angst seiner

Untertanen bereitete ihm kein Vergnügen. Er nahm sie immer als natürliches und unausbleibliches Element der Macht hin. Aber jetzt, als er die beiden aneinander geschmiegt sah, verspürte er eher den Schmerz seiner eigenen Einsamkeit.

Satara setzte sich ihnen gegenüber und bemerkte das Limerow-Täfelchen auf dem Tisch. Sofort wusste er, dass es eine Botschaft von dem Mädchen war und las sie. Nur äußerlich schien sie an Ursu gerichtet zu sein, der eigentliche Empfänger war er. Sie unterstütze ihn, was er auch vorhabe! Sie liebe sie! Er erinnerte sich an die letzten Augenblicke ihrer Begegnung und verspürte erneut die empfundene starke Trauer und Sehnsucht nach ihrer Freundschaft.

“Ich bitte dich”, meldete sich seine Frau, ihren Sohn verteidigend, “bestrafe diesen Jungen nicht. Zum ersten Mal hat er sich richtig in ein Mädchen verliebt. Und sie hat selbst mich in die Irre geführt.”

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“Seid unbesorgt”, beruhigte er sie, “ich werde euch nicht der fehlenden Weitsichtigkeit dort beschuldigen, wo ich selbst nicht weitsichtig war. Es gibt Kräfte, gegen die es keine Schande ist einen Kampf zu verlieren, sondern eine Ehre, dass sie sich mit dir geschlagen haben. Ani war kein gewöhnliches Mädchen und hinter ihrem Rücken hatte sie großartige Helfer. Für den Stein war die Zeit gekommen zu seinen Schöpfern zurückzukehren, und sie nahmen sich ihn.”

“Du bist nicht auf Ani wütend?”, fragte erstaunt Ursu. “Oh, am Anfang war ich direkt rasend vor Wut. Aber nachdem ich herausbekam, wer sie ist, tut mir

ihr Verlust mehr leid als der des Steins.” Beide sahen ihn verständnislos an. Er stand auf und sagte mit einem leichten Seufzer: “Denkt nicht, dass ich allmächtig bin. Es gibt Erscheinungen, mit denen auch ich nicht fertig werde.

Vergesst das nicht!” Mit dem Täfelchen in der Hand verließ er das Zimmer. Ursu und seine Mutter sahen sich erleichtert, aber verwundert an. “Was ist mit ihm? Warum redet er so und warum hat er mir das Täfelchen genommen?” fragte

Ursu, nichts begreifend, seine Mutter. Sie sah ihn mitleidvoll an. Sicher würde er nie verstehen, dass diese Zeilen nicht ihm gegolten

hatten, sondern seinem Vater. Zum ersten Mal hatte sie verspürt, dass der Imperator unter seiner Einsamkeit litt.

“Weil ihr Verlust für ihn viel mehr bedeutet als für dich”, antwortete sie ihm. ----- Ungewöhnlicher Lärm erfüllte die Zentrale. Jeder, der sich für eine Weile von seiner Arbeit

losreißen konnte, kam hierher um Mariel zu gratulieren. Er war der Held des Tages. Seine Idee, wie sie sich den Stein wiederholen könnten, hatte sich als erfolgreich erwiesen.

Ehrlich gesagt, die meisten Angaren hätten nie geglaubt, dass dieses seltsame Paar etwas erreichen würde. Zu viele ihrer Projekte waren bislang gescheitert. In letzter Zeit hatten sie überhaupt kein Glück.

Der Chef war der Meinung, der Grund dafür läge in der Abwesenheit des Steins. Wenn er etwas nicht richtig auf die Reihe brachte, war immer Satara daran schuld. Aber die meisten Angaren wussten, dass diese Beschuldigungen unbegründet waren. Seit Satara sie verlassen hatte um sein eigenes System zu erbauen, hasste ihn Weowa und übertrug ihm mit Vergnügen alle seine eigenen Sünden.

Die Probleme auf der Erde hatten weit vor dem Diebstahl des Steins begonnen. Damals beschuldigte Satara Weowa, dass er bereits ganz am Anfang der Gründung des Systems einen Fehler begangen hatte. Er hätte schon damals seine Hilfe in Anspruch nehmen sollen. Der Chef war natürlich nicht einverstanden und sie stritten sich lange und hartnäckig.

Die Angaren teilten sich in zwei Lager - die einen unterstützten Weowa, die anderen Satara. Damit dieser Streit aufhörte und wieder Friede einkehrte, machte Satara den Vorschlag, auf einem anderen Planeten alles noch mal von vorn zu versuchen, jedoch so, wie er es vorschlug. Weowa wollte davon nichts wissen und Satara sah sich gezwungen den Stein zu stehlen, um seine Idee wenigstens teilweise zu verwirklichen.

Obwohl er allein arbeitete, errichtete Satara ein gutes System. Selbst jetzt standen die Dinge auf Satarius wesentlich besser als auf der Erde. Aber Weowa war der Ansicht, dass dies nur bewiese, wie Recht er mit seiner Meinung habe, dass man ein gutes System bei ungleichmäßiger Verteilung der Kräfte erschaffen könnte. Satara müsste zeigen, dass auch seine Welt keinen Erfolg habe, um seine Behauptungen zu beweisen.

Allem Anschein nach war Satara seine eigene Schöpfung doch wichtiger, als in einem Streit mit Weowa die Oberhand zu gewinnen. Soweit sie wussten, trug er aktiv zur Stabilität seines Systems bei.

Jetzt befand sich der Stein wieder in ihren Händen und hoffentlich ließ sie der Chef nun in Ruhe. Damals, als Satara sie verließ, hatten alle erleichtert aufgeatmet. Aber seltsam weshalb - Weowa hatte das überhaupt nicht beruhigt. Er war sehr wütend gewesen und wurde unerträglicher denn je. Da Satara nicht mehr da war, übertrug er seinen Zorn auf seine armen Untertanen.

Weowa triumphierte! Endlich hatte er es geschafft, Satara eins auszuwischen. Sobald er erfuhr, dass

die zwei auf dem Rückweg waren, bereitete er alles Nötige für ihren Empfang vor. Sie kamen nicht mit dem Raumschiff. An Stelle dessen hatte sich der Theor, die Frau durch den Raum tragend, völlig verausgabt. Was konnte einen Theor veranlassen, sich wegen eines gewöhnlichen Menschen zu opfern?

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Er hätte den Stein einfach nehmen und sie auf Satarius zurücklassen können. Weowa wäre nicht böse gewesen, Hauptsache er bekäme den Stein der Weisheit wieder.

Sie überführten Ani in die Zentrale und gaben ihr den alten Körper zurück. Als Satarianin hatte sie entschieden besser ausgesehen. Immer noch hielt sie den Stein mit aller Kraft fest in ihrer Hand. Wie sich herausstellte, konnten sie ihn ihr nicht wegnehmen. Der Theor erlaubte ihnen nicht, sie zu berühren. Er sagte ihnen: - Da sie den Stein geholt habe, wäre es auch nur ihr Recht zu entscheiden, wem sie ihn gäbe.

Weowa ärgerte sich fürchterlich über dieses unvorhergesehene Hindernis. Aber dann beruhigte er sich. Selbst wenn sie sich weigerte ihm den Stein zu übergeben, gab es Wege sie zu zwingen.

----- Ani erwachte. Sie fühlte sich abscheulich. Der Unterschied zu ihrem Zustand bevor sie einschlief

war Schwindel erregend. Als wenn man sie in einen anderen Körper hineingestopft hätte. Hier und dort tat ihr etwas weh. Erst nach geraumer Zeit wurde ihr bewusst, was geschehen war.

Sie sprang auf die Beine und wäre fast hingefallen. Man hatte ihr ihren Erdenkörper wiedergegeben! Ani betrachtete sich. Erneut stand sie im Nachthemd vor den Angaren. Leise fluchte sie. Hätte man nicht die Schmerzen aus diesem Körper beseitigen können, solange er hier war? Und ihn wenigstens zeitweilig in etwas Anständigeres kleiden können? Sie sah den ersten besten Angar an und fragte ihn danach.

Nein, das ginge nicht. Man müsse sie so auf die Erde zurückbringen, wie man sie von dort geholt hatte.

Ani fiel es schwer, sich an ihren neuen - oder besser gesagt, - alten Zustand zu gewöhnen. Es ist leichter in einem jungen, schönen und starken Körper eines Satarianenmädchens zu erwachen, als in dem alternden und nicht ganz gesunden Körper einer 35-jährigen Erdenfrau.

Dann bemerkte sie den Stein in ihrer Hand. Verwundert betrachtete sie ihn. Wieso hatte man ihn ihr noch nicht genommen? Er war durchsichtig und leuchtete. Also war Boar irgendwo in der Nähe. Warum fühlte und sah sie ihn dann nicht?

Besorgt sah sie sich um und rief ihn in Gedanken. Was war mit ihm geschehen? Ani erinnerte sich nicht, wie sie schließlich diese Grenze zwischen den Reichen erreicht hatten. Eine starke Unruhe kam in ihr auf.

„Mach dir keine Gedanken um mich, ich bin bei dir“, vernahm sie seine Antwort und atmete erleichtert auf. Sie drehte sich um und sah ein fast durchsichtiges Wölkchen von der Größe eines Handballs.

Wie geschwächt er war! Ani schickte ihm ihre ganze Liebe, zu der sie fähig war. Aus Erfahrung wusste sie, dass er diese Energie nutzen konnte. Und wirklich leuchtete er danach ein wenig stärker.

„Danke, aber bewahre deine Kräfte besser für dich. Du wirst sie gebrauchen“, war seine Antwort. “Was ist mit dem Stein, warum ist er noch bei mir?”, fragte Ani laut. Da hörte sie die ärgerliche Stimme Weowas vom Thron her: “Weil das der Wille deines Partners

war. Er verlangt, dass du ihn uns persönlich gibst.” Ani wunderte sich. Warum stellte Boar so eine Bedingung? Er meldete sich nicht, um irgendeine

Erklärung zu geben. Sie hatte die Gereiztheit in Weowas Stimme gut gehört, als er von Boar sprach. Deshalb fragte sie frech:

“Und was machst du, wenn ich mich weigere?” Die Angaren um sie herum stöhnten einstimmig auf. Ani sah sie an und bemitleidete sie. Die

Armen, wer weiß wie viel Ängste sie durchleben mussten und wie sehr sie der Chef wegen des Steins gepeinigt hatte! Fast war sie bereit ihnen den Stein zu geben, als sie Weowa gedanklich drohen hörte:

„Du wirst deine Familie niemals wiedersehen und ich werde deine Kinder und deren Kinder und dein ganzes Geschlecht bis auf den Tag des jüngsten Gerichts verfluchen!“

Ani erstarrte. Nicht vor Angst, sondern vor Empörung. Also würde er sie erpressen? Sie sah ihm direkt in die Augen und sagte:

“Deine Grausamkeit kennt keine Grenzen! Warum hast du nicht laut ausgesprochen, was du mir jetzt gesagt hast? Schämst du dich vor deinen Untergebenen? Und zu Recht! Wer bist du, dass du mich so bedrohst?”

Die Frage wäre lächerlich gewesen, wenn sie sie nicht mit so einem Nachdruck gestellt hätte. Totenstille breitete sich aus. Diesmal war es Weowa, der auf seinem Platz erstarrte. Ein Blick von ihm

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würde ausreichen um sie zu Asche zu verbrennen. Aber neben ihr befand sich der Theor, wenngleich geschwächt, und außerdem hielt sie den Stein, der bei ihren letzten Worten noch heller aufleuchtete.

Und erst jetzt erkannte Weowa, dass vor ihm nicht einfach ein Mensch und ein Theor standen. ‚Der Stein strahlt in den Händen seiner Erschaffer’, erinnerte er sich an die alte Weisheit. Und er hatte geglaubt, dass er wegen seiner Anwesenheit leuchtete! Was für ein gewaltiger Irrtum! Er hatte sich schon als Sieger gesehen und dabei hatte er genauso verloren wie Satara.

Ani streckte die Hand vor und zeigte allen den Stein. “Dieser Stein wurde euch gegeben, um eine schöne und glückliche Welt zu erschaffen. Aber ihr habt es nicht verstanden, seine Weisheit zu nutzen. Ihr braucht seine Ratschläge nicht. Beweist, dass ihr ohne ihn auskommt.”

Ani reichte Boar den Stein. “Ich muss auf die Erde zurückkehren. Bringe diesen Schatz zu den oberen Ebenen. Soll ihn jener

benutzen, der seine Sprache versteht.” Boar nahm den Stein in sich auf. Er war furchtbar stolz auf Ani. Sie hatte den Stein nicht gefragt,

was sie tun solle. Und die schamlose Drohung Weowas konnte sie nicht abschrecken. Er schämte sich nicht mehr dafür, dass er sie liebte und achtete. Sie war nicht er. Sie waren zwei

Wesen bis ihre Zeit zur Vereinigung herankam. Wie gern hätte er sie jetzt umarmt, durfte aber noch nicht einmal seine menschenähnliche Gestalt annehmen. Nur zu gut erinnerte er sich an Kadors Warnung. Die bevorstehende Trennung würde ohnehin sehr schwer werden.

Dann kam der Moment, vor dem sich Ani am meisten fürchtete. Ihr wurde schwindlig vor Gram.

Boar berührte sie leicht und sie fühlte, wie sich seine Zärtlichkeit über ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie schloss ihre Hände um ihn und berührte ihn mit den Lippen. Man kann eine Energiekugel weder küssen noch umarmen. Mit geschlossenen Augen schickte sie ihre ganze Liebe zu ihm. Und erhielt das gleiche Gefühl zur Antwort. Ani würde ewig so verbleiben, weder die Angaren noch Weowa interessierten sie. Ihr war, als höre sie eine ferne, wunderbare Musik. Die Welt verschwand im Nichtsein, Ani zerfiel in unzählbare Teilchen und hörte auf zu existieren...

Plötzlich stand die Welt wieder vor ihr. Ani fuhr zusammen und sah auf ihre Hände. Sie waren leer.

Boar war gegangen. Mit über die Wangen rollenden Tränen drehte sie sich zu Weowa um und sagte: “Mach mit mir,

was du willst.” ----- Gerade erst hatten sie die Frau zurück zur Erde geschickt und erörterten beunruhigt die veränderte

Situation, als sich vor dem Thron des Chefs der Raum krümmte und ein zwischenräumliches Loch öffnete. Irgendjemand aus einem anderen System wollte mit ihnen sprechen. Voll Neugier warteten sie, dass sich die Wirbel beruhigten, um zu sehen wer sich für ihr Schicksal interessierte. Nur Weowa wusste scheinbar, wer diese Form der Kommunikation benutzte und sein Gesicht verfinsterte sich.

“Seid gegrüßt, Kammeraden, wie kommt ihr zurecht?”, hörten sie die sarkastische, aber nicht böswillige Stimme Sataras. Er saß auf seinem Imperatorthron mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Selbst in dem unansehnlichen Körper eines Satarianen, mit seinem dunklen Gesicht und den schwarzen Haaren, sah er herrlich aus.

Nicht wenigen Angaren tat seine lange Abwesenheit leid. Er war für sie immer so etwas wie eine Stütze gewesen, die sie vor der Willkür des Chefs schützte. Irgendwie war er anders als sie: unabhängiger, energischer, eigensinniger. Auf seine Weise ähnelte er mehr Weowa als einem Angaren. Beide konnten sich jetzt überhaupt nicht leiden, aber das war nicht immer so gewesen. Anfangs zog der Chef seine Gesellschaft vor, liebte ihn sogar. Doch nachdem er ihn zu seinem Ersten Gehilfen gemacht hatte und ihm die Kraft der linken Seite übergab, veränderte sich alles. Zwischen beiden entstand eine Rivalität und die Liebe verwandelte sich allmählich in Hass. Keiner der Angaren verstand, was diese Veränderung hervorgerufen hatte. Aber dass sie der Grund für all ihr Unglück war, daran zweifelten sie nicht. Sie träumten von der Zeit, in der sich beide erneut versöhnen würden.

Satara wandte sich Weowa zu und lobte ihn mit übertriebener Bewunderung: “Meine Glückwünsche, Weowa! Diesmal hast du es wirklich geschafft, einen erfolgreichen Diebstahl des Steins zu organisieren. Auch wenn es nicht deine Idee war - du hast die Berechnungen gemacht und die Ausführenden vorbereitet. Wenigstens einen von ihnen.”

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Das finstere Gesicht des Chefs wurde noch finsterer. Sataras Lob sagte ihm gar nicht zu. Doch jener fuhr fort: “Nur dass du nicht begriffen hast, mit wem du es zu tun hattest. Nun, das kann

dir verziehen werden, ich bin auch nicht gleich darauf gekommen!” Sein spöttisches Lächeln wurde noch breiter.

“Was ich bedaure”, fuhr er fort, “ansonsten hätte ich mich an ihrer Anwesenheit ein wenig erfreuen können.”

Für einen Augenblick lief ein schmerzlicher Schatten über Sataras Gesicht. Die Angaren sahen ihren Mitbruder verstört an. Sie verstanden nicht, was er meinte. Der Chef schwieg weiterhin.

“Aber dein Erfolg war wohl eher ein Pyrrhussieg. So etwas passiert, wenn du andere für dich arbeiten lässt. Wenn du wirklich wegen dem Stein in der Patsche gesessen hast, warum hast du mich nicht ein einziges Mal darum gebeten, ihn dir für kurze Zeit zu leihen? Oder dachtest du, dass nur 'Eure Hochwürden' zu großmütigen Gesten fähig sind?”

Der Chef wurde grün vor Wut. Er sprang von seinem Thron, riss die Hände hoch und schrie: “Mach dass du mir aus den Augen kommst, Satara! Nie werde ich dein Wohlwollen brauchen. Ich komme allein zurecht, denn ich bin stärker als du!”

Er ließ sich zurück auf den Thron fallen und die Zentrale erzitterte von seiner Kraft. Satara sah ihn mit Bedauern an. Sein Lächeln war verschwunden.

“Dann komme allein zurecht!”, antwortete er und das Loch füllte sich mit den Wirbeln des Raumes, um nach einem Augenblick völlig zu verschwinden.

Die Angaren standen aneinander geschmiegt in kleinen Gruppen zusammen, mit einem tiefen Bedauern in ihren Herzen. Die Hoffnung, erschienen für einen Augenblick, verschwand wie ein Tropfen Wasser im heißen Wüstensand.

----- Vor seinen Augen blitzte ein kleiner Punkt auf und wuchs heran. Kador atmete erleichtert auf - Boar

war zurückgekehrt. Bis zum Schluss war er sich nicht sicher gewesen, ob Boar sein zweites Ich verlassen könnte. Kador hatte alles beobachtet und wusste, dass Boar den letzten Moment zur Rückkehr abgewartet hatte. Er konnte ihm nicht böse sein, warf ihm aber vor:

“Du hast viel riskiert, du hättest dich ein bisschen früher von ihr trennen sollen.” Boar sah schlecht aus. Er verging nicht nur vor Kummer sondern hatte auch viel Energie verloren.

In seiner gewohnten Umgebung würde er sich schnell erholen, trotzdem brauchte er erste Hilfe. Kador verband sein eigenes Energiesystem mit Boars und übertrug ihm von seiner Kraft.

“Hör auf, mich aufzuladen”, meldete sich Boar dankbar. “Ich komme auch allein wieder auf die Beine.”

“Das macht nichts, ich habe im Unterschied zu dir genug davon.” Kador versuchte, ihn etwas aufzuheitern. “Ich muss euch wirklich loben. Ihr habt es dem Alten ganz schön gegeben! Er wird es nicht wagen, ihr etwas anzutun. Sie ist einfach Klasse!”

“Redest du immer noch wie ein Diabo? Ist dir in der Zwischenzeit nicht langweilig geworden, die Rolle eines schlecht erzogenen Theors zu spielen?”

Boar versuchte mitzumachen. Er durfte jetzt nicht an Ani denken. Zuerst musste er wieder zu Kräften kommen. Kador begann ihn zu überzeugen, wie viel klüger die Diabos seien, weil sie nichts von Redekultur hielten. Diese “Himmelsstrolche”, wie sie genannt wurden, lebten mit den Angaren auf einer Ebene, aber ihre Gemeinschaften waren streng voneinander getrennt.

Allmählich überkam Boar die Müdigkeit und er bat Kador, ihn in Ruhe zu lassen. Kador ging nur ungern.

Boar versetzte sich in den Raum der Sphäriten und lauschte ihrer zarten Musik. Er fühlte sich nicht mehr derselbe wie früher - die Begegnung mit seinem zweiten Ich hatte ihn verändert. Wenn man von einem “Geteilten” behaupten konnte, dass sich sein Verantwortungsgefühl und seine Liebe zu seinem anderen Teil verstärkt hätten, so war eben das mit ihm geschehen. Auch vorher empfand er Liebe zu Ani, aber jetzt liebte er sie anders. Damals war sie einfach ein Teil von ihm, etwas, was man nicht nicht-lieben konnte. Jetzt stellte sie außerdem eine Persönlichkeit dar - etwas anderes als er, und er liebte eben diese Frau, zusammen mit ihrer Seele und ihrem Körper.

Weowa hatte Ani zurück zur Erde geschickt. Boar wusste wie immer alles von ihr. Sie würde sich an absolut nichts von dieser ganzen Odyssee erinnern, - weder an die Angaren, noch an Satarius, noch an das, was ihr der Stein gezeigt hatte und auch nicht an ihn.

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Trotzdem sandte Boar einen seiner Strahlen zur entfernten Erde und schickte mit ihm eine kurze Botschaft:

“Ich liebe dich, Ani!” ----- Das grelle Licht verblasste immer mehr und Ani erwachte aus einem tiefen Traum. Vergeblich

versuchte sie, seine seltsamen Bilder im Gedächtnis zu behalten. Bald gab sie es mit Bedauern auf. Zurück blieb nur ein unerklärliches Gefühl der Trauer. Ani öffnete die Augen und aus der Dunkelheit des Schlafzimmers tauchten die Umrisse der Gegenstände auf. Hellwach geworden, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihren schlafenden Mann und stand leise auf, um nach den Kindern im Nachbarzimmer zu sehen. Ihr jüngerer Sohn deckte sich nachts oft ab und war noch dazu leicht erkältet. Auch jetzt ragten beide Beine unter der Decke hervor. Ani zog sie vorsichtig zurecht und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Durch die offene Balkontür in die warme Sommernacht tretend hob sie den Blick zum Himmel. Der Mond hatte sich irgendwo versteckt und die Sterne zeichneten sich hell am dunklen Himmelsgewölbe ab.

Plötzlich überkam Sie eine unerklärlich starke Sehnsucht, der Wunsch, sich von diesem Körper zu lösen und in den weiten Raum davonzufliegen, frei und ewig wie das Weltall selbst. Ein Beben der Seligkeit durchlief ihren ganzen Körper und sie schloss die Augen mit einem glücklichen Lächeln. Wunderbare Erinnerungen wurden in ihrem Körper und ihrer Seele wach - Erinnerungen eher an einen Traum als an eine wahre Begebenheit. Fasziniert genoss Ani dieses Gefühl bis sie ein Lärm von der Straße aus dem abgerückten Zustand holte.

Erstaunt sah sie sich um und schüttelte verwirrt den Kopf. Offensichtlich war sie, an das Geländer gelehnt, für einen Augenblick eingenickt und hatte einen wunderschönen Traum gehabt.

Mit dem Wunsch, erneut in ihm zu versinken, kehrte Ani ins Bett zurück und schlief bald wieder tief ein.

ENDE DES ERSTEN MÄRCHENS

II. DAS MÄRCHEN VON DEN TRÄNEN ERSTER Teil Rauchsäulen wanden sich wie dünne Weinreben über der Stadt. Es brannten die Häuser der

Angestellten des Imperiums, der reichen Kaufleute und der unschuldigen Menschen, die das Pech hatten, in ihrer Nähe zu wohnen. Bald würde auch die letzte Bastion des Imperators, die Zentrale Festung, unter dem Ansturm der Rebellen fallen.

An seinen Agator gelehnt, betrachtete Ursu traurig das Bild der Zerstörung. Auf einem hohen Hügel im Moor, nicht weit von einer kleinen Höhle entfernt, die er auf die Schnelle als Nachtquartier vorbereitet hatte, beklagte Ursu gedanklich sein übles Schicksal.

Sein ganzes Leben war, gleich dem Leben aller Satarianen, auf den Kopf gestellt worden. Wie vieles hatte sich in den letzten Jahren verändert! Der Planet kannte eine solche Entwicklung in seiner Jahrtausendalten Geschichte, die ausführlich auf Limerow-Täfelchen aufgezeichnet und sorgsam in den Bibliotheken des Imperiums aufbewahrt wurde, nicht. Jetzt waren diese Bibliotheken zu den ersten Opfern der Befreiungsbewegung geworden, als wenn das Wissen, mit viel Mühe zusammengetragen, die Hauptschuld an der Unterdrückung der Bevölkerung trug, als wenn es das gefährlichste Erbe der tausendjährigen Macht des Imperiums wäre. Nicht nur die Bibliotheken, auch die Schulen brannten, die Institutionen, geschaffen von Generationen von

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Imperatoren. Sie hatten ein, wenn auch beschränktes und sich langsam entwickelndes so doch ruhiges und ohne große Erschütterungen Leben auf diesem Planeten gesichert.

Aber während der letzten zwei Jahrhunderte kam es immer öfter zu Aufständen der Unzufriedenen. Ihre grausame Unterdrückung durch die Imperatoren verstärkte nur den Wunsch nach Befreiung von der Tyrannei und nach Unabhängigkeit von ihrem Willen.

Mit Schmerz erinnerte sich Ursu an die ruhigen Tage seiner Kindheit und Jugendzeit, als das Leben noch in seinem gewohnten gleichmäßigen Rhythmus dahin floss; als jeden Morgen die Bauern durch die Tore in die Hauptstadt kamen, um ihre Waren auf den Märkten zu verkaufen; als alle Kinder die Schulen besuchten, die ihren individuellen Fähigkeiten entsprachen; als einmal in der Saison auf dem Hauptplatz die Gerichtsvollstreckungen der anzahlmäßig wenigen Verbrecher durchgeführt wurden; als sich im Turm regelmäßig die Verwalter der Provinzen versammelten, um dem Imperator zu berichten, was sie getan hatten und was zu tun bevorstand.

All das hatte sich verändert, nachdem sein Vater, der jetzige Imperator, beschloss, sich nicht mehr den Aufständischen zu widersetzen. Immer seltener bestrafte er sie für ihre verwegenen Überfälle und überließ ihnen seine wunderbaren Maschinen - die Agators. Mit deren Hilfe konnten sie riesige Entfernungen in gezählten Tagen überwinden und die Befreiungsbewegung auf dem ganzen Planeten organisieren.

Der Imperator zog sich in sein Laboratorium zurück und überließ seinen Ratgebern, von denen viele mit den Rebellen verbunden waren, die Regierung des Imperiums, das sich über den ganzen Planeten erstreckte und einmal in harten Kämpfen von seinen Vorfahren erobert worden war.

Auch jetzt wusste er, unbekannt woher, von allem, was auf Satarius geschah, aber er mischte sich nicht mehr in die Entwicklung der Ereignisse ein. Besonders nachdem seine Frau, Ursus Mutter, bei einem Unfall mit einem Agator vor zwei Jahren ums Leben gekommen war. Nicht, dass er sie sehr geliebt hätte, doch bis dahin schien er noch eine gewisse Verantwortung für seine Familie verspürt zu haben.

Ursu kehrte in Gedanken erneut zu dem Gespräch mit seinem Vater zurück, bevor dieser ihn hierher zu den Schwarzen Hügeln geschickt hatte, um ihn während der Eroberung der Festung an einem sicheren Ort zu wissen.

Zum ersten Mal in seinem Leben führte ihn der Imperator in seine persönlichen Gemächer. Niemand, außer einem alten Diener, hatte das Recht, die oberen Etagen des Turms, wo sich das Observatorium, das Laboratorium und die Wohnräume des Imperators befanden, zu betreten.

Wie erstaunt war Ursu von der bescheidenen Einrichtung dieser Zimmer! Er wusste, dass sein Vater nicht viel von Luxus und Bequemlichkeit hielt, aber nie zuvor wurde ihm so sehr der Unterschied zwischen seiner eigenen und dessen Lebensweise bewusst. Ursu liebte die kleinen schönen Dinge und seine Zimmer waren voll von Möbeln, die von den besten Meistern geschnitzt worden waren, weichen bestickten Kissen, alle möglichen Kleinigkeiten aus Edelsteinen und wertvollen Metallen. Der Imperator aber, der Große Imperator, vor dem sich auch jetzt noch alle Menschen dieses Reiches fürchteten, schlief in einem weiß getünchten Zimmer, ohne jeglichen Bildern an der Wand, auf einem einfachen, nur mit einem Puranenfell11 bedeckten Bett.

Jetzt lud er seinen Sohn ein auf diesem Bett Platz zu nehmen und ging schweigend im Zimmer auf und ab. Er sah besorgt, aber nicht beängstigt aus. Ursu wartete geduldig, dass sein Vater das Gespräch begänne.

„Bald werden die Rebellen die Festung einnehmen. Du musst diesen Ort verlassen und dich außerhalb der Stadt verstecken. Ich habe angeordnet, deinen Agator mit dem Nötigsten zu versehen. Kehre nach zwei Tagen zurück und suche deinen Freund Rines.“

„Aber der leitet die Aufständischen der Stadt!“ rief Ursu erstaunt aus. Erst vor kurzem hatte er erfahren, dass sein bester Freund noch aus den Kindheitsjahren schon lange für den Feind arbeitete.

„Ja“, fuhr der Imperator fort, „aber er will dir den Thron erhalten, nachdem er mich von ihm gestürzt hat. Noch fühlen sie sich nicht bereit, die gesamte Verantwortung der Macht selbst zu übernehmen. Erkläre dich mit ihren Bedingungen einverstanden und regiere wie du willst, oder

11- Purane - bärenähnliches Tier

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besser gesagt, wieweit man es dir zuwilligt. Ich will nur eins von dir: Nimm dir eine Frau und mach ihr so schnell wie möglich ein Kind.“

Ursu war von dieser Forderung verwirrt. Ausgerechnet jetzt hatte er kein Verlangen nach Frau und Familie.

„Ich weiß, dass du nicht viel von den normalen sexuellen Beziehungen hältst, aber du musst das Geschlecht erhalten.“ Der Imperator blieb am Fenster stehen und warf einen nachdenklichen Blick in die Ferne. „Alles andere ist bedeutungslos.“

„Aber warum, Vater, warum?“ Ursu sprang verbittert vom Bett. „Warum hast du zugelassen, dass die Rebellen dein ganzes Reich erobern? Du hättest sie jederzeit besiegen können, du hättest ihre Agators beschädigen können, du hättest nicht nur deine Macht, sondern auch den Frieden auf diesem Planeten erhalten können. Selbst jetzt, wenn du deine magischen Kräfte benutzt, kannst du sie noch aufhalten.“

Ursu konnte nicht begreifen, was seinen Vater veranlasst hatte, seine Politik so plötzlich zu ändern. Seit undenkbaren Zeiten herrschte ihre Familie über den Planeten. Niemand konnte den starken Persönlichkeiten, geboren wie speziell zu diesem Zweck in jeder zweiten Generation ihrer Familie, die Macht streitig machen. Sein Vater hatte von seinem Großvater alle notwendigen Eigenschaften für einen obersten Herrscher geerbt - einen starken Körper von hohem Wuchs, die durchdringenden grünen Augen, welche nur mit einem Blick alles um sich herum in Flammen aufgehen lassen konnten, den scharfen Verstand, die magischen Kräfte, deren kein anderer Satariane mächtig war. Und nichts deutete darauf hin, dass er eines Tages die Regierungsweise, an die sich alle Imperatoren Jahrhunderte lang gehalten hatten, ändern würde.

Sein Vater drehte sich um und sah ihn bemitleidend an. Ursu war erstaunt über die Wärme in diesem Blick. Er kannte kein anderes Verhältnis als Strenge, Härte und herablassende Nachsicht.

„Weil es deine Freundin so wünschte“, antwortete er leise und seltsam traurig. Er sprach von Ani. Ursu wusste sofort, dass es um sie ging. Seit er dieses Mädchen vor fünf

Jahren ins Schloss gebracht hatte und sie acht Tage danach auf rätselhafte Weise verschwand, konnte Ursu sie nicht vergessen. Trotz der vergangenen langen Zeit sah er sie lebhaft in seiner Vorstellung: Schön und stark, außerordentlich klug, mit vielen Kenntnissen, so untypisch für eine Frau - von allen seinen Mädchen verstand sie ihn am besten und half ihm, die schwierigen Aufgaben, die ihm der Imperator stellte, zu lösen.

Aber dann stellte sich heraus, dass sie ein Spion war, ausgesandt um die größte Kostbarkeit seines Vaters zu stehlen - einen scheinbar unbedeutenden Stein, dessen Bestimmung für Ursu ein Rätsel blieb. Sie nutzte das unendliche Vertrauen, das er in sie hatte, aus und verschaffte sich Zugang zur Schatzkammer seines Vaters. Sie verstand es nicht nur ihn, sondern auch den Imperator zu täuschen.

Damals sprach sein Vater von höheren Kräften, gegen die selbst er ohnmächtig wäre und bestrafte ihn noch nicht einmal. Er hatte sich mit Ani nur eine Stunde in seinem Turm unterhalten, wusste aber mehr über sie, als Ursu je erfahren konnte.

Nach diesem Vorfall veränderte sich der Imperator. Ursu konnte nicht umhin festzustellen, dass dies der Anfang vom Untergang des Imperiums war.

„Liegt die Ursache dafür, dass nichts mehr so ist wie es sein sollte, in dem gestohlenen Stein?“ fragte Ursu erstaunt und setzte sich erneut aufs Bett. Sie hatten, seitdem Ani verschwunden war, nicht mehr von ihr gesprochen und Ursu hoffte, etwas mehr über sie zu erfahren.

„Nein, der Stein hat damit nichts zu tun“, lachte sein Vater bitter auf. Einen verträumten Blick ins Unendliche werfend, fuhr er fort:

„Wie du weißt, gab es auch damals Probleme mit den Rebellen. Man hatte Ani angeworben, mit ihnen zusammenzuarbeiten, und sie konnte nicht absagen. Ansonsten hätte sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Der Hauptwachtmeister beobachtete sie aufmerksam und informierte mich über diese Verbindung. Ich hatte sie zu mir gerufen, um zu erfahren, inwieweit sie eine Gefahr für mich darstelle. Damals fragte ich sie, was ich mit den Rebellen machen soll und sie riet mir, ihnen die Macht zu übergeben.“

Ursu sprang erneut vom Bett auf. Wie das? Schließlich hatte Ani in den letzten Worten, die sie im Otano-Wald gewechselt hatten, bevor sie vor seinen Augen verschwand, behauptet, dass sie

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nichts mit den Rebellen gemein hätte. Und wie konnte sie so etwas Ungeheuerliches seinem Vater vorschlagen?

„Und du hast sie nicht gleich umgebracht?“ fragte Ursu erstaunt. Damals machte sein Vater nicht viel Federlesens mit seinen Feinden.

Aber jetzt stand der Imperator versunken in seinen Erinnerungen am Fenster, den Blick auf die Stadt gerichtet. Plötzlich erinnerte sich Ursu an die Worte seiner Mutter, als er sie fragte, warum ihm sein Vater das Limerow-Täfelchen mit den Abschiedsworten von Ani weggenommen habe. Sie sagte damals: „Für ihn bedeutet ihr Verlust viel mehr, als für dich.“

Und erst jetzt wurde Ursu bewusst, dass der Imperator Ani damals ebenfalls lieb gewonnen hatte. Eine verspätete, brennende Eifersucht stieg in ihm hoch. Er konnte sich in nichts mit seinem Vater messen, der übertraf ihn in jeder Beziehung, und zum ersten Mal freute sich Ursu über Anis mysteriöses Verschwinden. Er begriff, dass sie für ihn von dem Moment an verloren war, indem sie sich mit seinem Vater getroffen hatte.

Der Imperator hatte sich umgedreht und sah ihn mit seinem durchdringenden Blick an. Ein mitleidiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er hatte die Gefühle seines Sohns verstanden.

„Nein, ich habe sie nicht getötet. Ich habe auf ihren Rat gehört und die Rebellen ihr Ziel erreichen lassen. Schon lange war eine Veränderung in der gesellschaftlichen Entwicklung auf Satarius notwendig. Der Fortschritt der Zivilisation war seit langer Zeit im Stillstand und etwas musste sie erschüttern.“

„Aber diese Veränderung hat dem Volk nur Qualen und Unsicherheit gebracht“, widersprach Ursu, verwundert über die Argumente seines Vaters, „und wer weiß, wieviel Blut noch fließen wird.“

„Sehr viel“, erwiderte der Imperator, „alles hat seinen Preis. Auch die Freiheit dieses Volkes kann nicht umsonst erreicht werden. Aber es verdient die Chance, seinen Traum zu verwirklichen und sich mit schnellerem Tempo zu entwickeln.“

Wie gewöhnlich, wenn es um politische Entscheidungen seines Vaters ging, verstand Ursu den tieferen Sinn seines Handelns nicht. Wozu brauchte das Volk diese Freiheit, wenn sie zu Chaos in der Versorgung, zu Hunger und Zerstörung, zu Verbrechen und Unsicherheit in den morgigen Tag führten?

Der Imperator betrachtete ihn, erriet erneut seine Gedanken und antwortete auf die ungestellte Frage:

„Du kannst diese Dinge nicht verstehen, mein Sohn.“ Gereizt von dieser Einschätzung seiner Reife, fragte Ursu aggressiv: „Aber Ani verstand sie?“ „Ja, doch du brauchst nicht beleidigt zu sein. Sie kam aus einer anderen Welt, wo es bereits

viele Veränderungen dieser Art gegeben hat.“ Ursu war wie vor den Kopf geschlagen. Gab es auch andere Welten? Bisher glaubte er, dass

er die Welt, in der er lebte, gut kenne, und in ihr gab es außer Satarius zwei Sonnen, zwei Monde und eine Menge Sterne am Himmel.

Der Imperator erlaubte ihm nicht, ihn weiter auszufragen: „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, über diese Dinge zu reden. Die Rebellen können jeden

Moment die Mauern der Festung erreichen. Du musst dich beeilen.“ „Und was wirst du machen?“ Plötzlich verspürte Ursu, dass er seinen Vater vielleicht zum

letzten Mal sah. „Mach dir um mich keine Gedanken. Ich weiß, was ich tun muss“, antwortete der Imperator

rau. Gewöhnt, die Entscheidungen seines Vaters ohne Einwände entgegenzunehmen, machte

sich Ursu auf den Weg. Er übersprang mit dem Agator die Ostmauer der Festung und flog zum Stadtrand. Da er den kleinen Agator genommen hatte bestand keine Gefahr, dass ihn jemand einholen und gefangen nehmen konnte.

Die Rebellen besaßen nur einen einzigen Agator dieser Art, der ihnen nach der Flucht von Ani in die Hände gefallen war, aber sein Vater hatte sein Leistungsvermögen mit einer Magie verringert. Offensichtlich beschloss er schon damals, den Aufständischen eine Chance zu geben, und zog die Maschine nicht vollends aus dem Verkehr.

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Während er am Fuße des Hügels spazieren ging, dachte Ursu erneut über die sonderbare Behauptung seines Vaters nach, dass Ani aus einer anderen Welt käme. Was wollte er damit sagen? Sie hatte, auch wenn sie sehr hübsch war, wie eine gewöhnliche Satarianin ausgesehen. Aber sie verhielt sich anders und redete seltsam. Mehrmals hatte sie Ursu im Spaß mit seinem Vater verglichen und sie war deswegen recht beunruhigt. Es gab etwas Gemeinsames zwischen ihnen - nicht fassbar, aber spürbar.

Ani verstand immer, was der Imperator erreichen wollte und hütete sich, fürchtete sich jedoch nicht vor ihm. Und selbst sein Vater konnte sie nicht daran hindern, ihren schlauen Plan auszuführen.

An den Gedanken gewöhnt, dass es niemanden gab, der seinen Vater bezwingen konnte, wurde Ursu plötzlich bewusst, dass er ebenfalls verwundbar war. Und mit dieser Erkenntnis kam auch die Gewissheit, dass der Imperator nicht vor den Rebellen flüchten würde. Er würde seinen Tod im Turm erwarten und sich für die Zukunft seines Sohnes opfern.

Wie vom Blitz getroffen erstarrte Ursu auf der Stelle. Das konnte er nicht zulassen! Er musste ihn retten! Obwohl sein Vater nie seine Liebe zu ihm gezeigt hatte und sich Ursu vor ihm jahrelang genauso gefürchtet hatte wie alle Menschen auf dem Planeten, so vergötterte und liebte er ihn doch.

Er rannte zu seinem Agator, sprang hinein und flog mit maximaler Geschwindigkeit zurück zur Festung.

----- Satara beugte sich über seine Sternenkarten im Observatorium um Ursus Zukunft zu

berechnen. Aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die Ereignisse auf Satarius entwickelten sich sehr schnell und waren außer Kontrolle geraten. Ursu irrte sich als er meinte, der Imperator könnte noch etwas tun, um sie aufzuhalten. Außerdem wünschte er es auch nicht, seine Entscheidung zu korrigieren.

Nur eins beunruhigte ihn. Würde Ursu bald einen Sohn haben, damit er, nach seinem Tod, in ihm wiedergeboren werden konnte? Schon zu Anfang der Besiedlung von Satarius mit Menschen hatte er diese Erbfolge geschaffen. So wurde in jeder zweiten Generation, nach dem Tod seines Großvaters, ein Junge mit besonderen Genen geboren. Er wurde größer und stärker als die kräftigsten Frauen auf dem Planeten, hatte einen scharfen und schnellen Verstand und magische Fähigkeiten. Nachdem dieser Junge etwas herangewachsen war, verband sich Satara mit ihm, bis er sich völlig mit seiner Persönlichkeit vereinte. Auf diese Weise reinkarnierte sich sein Geist von einem Imperator in den anderen. So hatte er die Möglichkeit, direkt auf die Entwicklung dieses Planeten und seiner Bewohner einzuwirken, indem er zusammen mit seiner Schöpfung alle Freuden und Mühsale dieser Welt teilte.

Bisher kam er gut zurecht. Jedenfalls nicht schlechter als Weowa auf der Erde. Letzterer verfügte über eine ganze Armee Angaren als Helfer und beaufsichtigte die Erde aus Entfernung.

Aber jetzt ergab sich ein ernsthaftes Hindernis in dem gut eingespielten System. Die Rebellen würden den Kopf des Imperators verlangen und er war verpflichtet, ihn herzugeben, damit diese historische Etappe auf natürliche Weise abgeschlossen werden konnte. Doch was, wenn Ursu kein Kind zeugte? In wen sollte er dann wiedergeboren werden? In einem gewöhnlichen satarianischen Körper konnte sich sein Geist nicht voll entfalten. Um eine neue natürliche Mutation aufzubauen, war keine Zeit, denn er wollte seinen Planeten in diesen unruhigen Zeiten nicht lange ohne Führung lassen.

Einen kurzen Blick auf die Karten werfend verstand Satara plötzlich, dass er Ursus Schicksal einfach nicht sehen wollte. Sein Sohn hatte keine Zukunft!

Vom Hof her hörte man Geschrei. Die Rebellen waren in die Festung eingedrungen und die Wache ergab sich. Viele seiner Angestellten steckten mit den Rebellen unter einer Decke und so überwanden sie die Hindernisse schnell. Niemand liebte den Imperator. Die Dynastie hatte seit Jahrtausenden bei voller Diktatur geherrscht und alle fürchteten sich vor ihm. Es gab wohl kaum jemanden, der nicht seinen Tod wünschte.

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Satara ging zum Fenster und sah im Zentrum des Parkplatzes einen einsitzigen Agator, umgeben von kämpfenden Menschen. Er erstarrte. Ursu war zurückgekehrt!

Schnell verließ er das Observatorium und lief zum sechsten Stock herunter, wo sein Sohn vor der Treppe stand und mit dem Schwert in der Hand den Zugang zu den Gemächern seines Vaters verteidigte.

Sein Freund Rines versuchte, seine Leute zurückzuhalten und Ursu zu überzeugen, den Imperator freiwillig zu übergeben. Aber Ursu hörte nicht auf ihn, sondern schrie nur, sein Schwert schwingend: „Ihr werdet meinem Vater nichts antun!“

Satara konnte nur noch ausrufen: „Lass sie, mein Sohn!“ als das lange Messer einer ehemaligen Wachtsoldatin tief in Ursus Brust drang. Niedergestochen, fiel er direkt in die Arme seines Vaters.

Als die Angreifer den Imperator sahen, zogen sie sich verängstigt zurück. Satara schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Er lehnte Ursu vorsichtig an die Wand und warf ihm leise vor:

„Musstest du mir ausgerechnet jetzt nicht gehorchen?“ „Ich liebe dich, Vater“, antwortete Ursu mit schwacher Stimme, „ich wollte nicht, dass sie

dich töten.“ Tief berührt von dem Geständnis seines Sohnes, drückte ihn der Imperator an sich. Er

konnte ihm nicht mehr helfen und erwiderte nur zärtlich: „Ich liebe dich auch, mein Sohn.“ Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht starb Ursu in den Armen seines Vaters. Satara

betrachtete seinen Sohn mit Schmerz und Verwunderung. Woher nahm dieser schwächliche Junge die Kraft für diese verzweifelte Tat? Er hatte ihn nicht richtig eingeschätzt. Und erst im Moment des Todes entstand zwischen Sohn und Vater jene Vertraulichkeit, von der Ursu sein ganzes Leben geträumt hatte.

Der Imperator legte seinen toten Sohn auf den Boden und hob den Kopf zu seinen Feinden. Sie pressten sich, vor Entsetzen erstarrt, an die gegenüberliegende Wand und waren überzeugt, dass sie jetzt an der Reihe sein würden. Satara kämpfte gegen den Schmerz und den aufkommenden Hass in seiner Seele. Er könnte sie alle mit nur einem Blick zu Asche verbrennen. Aber es war sinnlos sie umzubringen, das würde ihm Ursu nicht zurückholen. Er konnte das Rad des Schicksals, das er selbst in Gang gesetzt hatte, nicht aufhalten.

Mit gewaltiger Willensanstrengung bekämpfte er seinen Wunsch nach Rache und richtete sich auf. Die Gegner betrachtend sagte er ruhig:

„Und jetzt tötet mich.“ Niemand rührte sich vom Platz. Die Ergebenheit ihres Todfeindes ließ sie nur noch mehr

Angst vor ihm haben. Es verging eine lange Minute, bevor Rines von dem Geschehenen zu sich kam:

„Ich bedaure den Tod Ihres Sohnes. Ursu war ein guter Junge. Aber Sie werden für alle Übeltaten, die Sie dem Volk zugefügt haben, verurteilt werden. Vorerst sind Sie verhaftet. Bitte folgen Sie uns ins unterirdische Gewölbe.“

Alle erwarteten, dass der Imperator Widerstand leisten würde und keiner wagte es, ihn zu berühren. Doch der ging, ohne ein Wort zu sagen, hinter Rines die Treppe hinunter, folgte ihnen über den Hof ins Gefängnis und ließ sich mit den schwersten Ketten, die sie finden konnten, an die Wand der größten Zelle schmieden, nachdem man alle anderen Gefangenen aus ihr befreit hatte. Er sah nur unbeteiligt und gleichgültig vor sich hin, als existierten die anderen überhaupt nicht.

Die Neuigkeit von der Gefangennahme des Imperators verbreitete sich wie ein Lauffeuer über den ganzen Planeten. Alle Leute liefen auf die Straßen und feierten das freudige Ereignis. Sie umarmten sich, küssten sich, tanzten. Das Imperium, das tausende von Jahren existiert hatte, war gefallen und alle fühlten sich frei.

Nur der Lakai von Ursu weinte und ging ins Gefängnis, um dem Vater seines ehemaligen Herrn etwas Wasser und Nahrung zu bringen.

-----

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In Gedanken versunken saß Weowa auf seinem Thron in der Angarenzentrale. Wie immer verfolgte er aufmerksam, was auf Satarius geschah. Früher einmal tat er es, um alle Fehler Sataras zu entdecken und sich schadenfroh die Hände zu reiben. Aber so viele waren das nicht und Weowa zerfraß wohl eher der Neid. Er konnte seinem ehemaligen Ersten Gehilfen nicht verzeihen, dass er sich herausgenommen hatte, ein eigenes System ohne seine Hilfe zu erschaffen.

Später wurden diese laufenden Beobachtungen Gewohnheit. Wie auch die Feindschaft, mit der er seinem Rivalen gegenübertrat, wenn dieser zu ihnen zurückkehrte, um die Zeit zwischen zwei Wiedergeburten auf ihrer Ebene zu verbringen.

Doch nicht immer war das so. Früher mochte Weowa den wunderbar aussehenden Angar, der es geschafft hatte, sich aus dem Netz des Kollektivgeistes der Angaren loszureißen und eine in diesen Kreisen unbekannte Individualität zu entwickeln. Seine Kraft spürend, seinen außerordentlichen Verstand schätzend, hatte ihm Weowa die schwierigsten Aufgaben anvertraut und ihm die schöpferischen Kräfte der linken Seite überlassen. Das war eine wundervolle Zeit der Zusammenarbeit, die Arbeit ging gut voran und beide waren glücklich.

Später jedoch begann die Zeit der Misserfolge. Die Dinge auf der Erde kamen ins Stocken und sie suchten fieberhaft nach den Gründen für ihr Scheitern. Satara war der Meinung, dass der Fehler noch zu Beginn der Erschaffung des Erdensystems gemacht worden war, als Weowa nur die Kräfte der rechten Seite bei seiner Gründung verwendete.

Weowa bestritt diese Behauptung und zwischen ihnen entstand ein langer, qualvoller Streit. Satara wollte das Experiment mit gleichmäßig verteilten Kräften auf einem anderen Planeten wiederholen, aber Weowa lehnte hartnäckig ab. Schließlich stahl Satara den Stein der Weisheit und verließ sie, um seine Idee allein - wenn auch nur mit den Kräften der linken Hand - zu verwirklichen. Seiner Meinung nach müsste dieses System, genauso wie das Erdensystem, misslingen.

Weowa konnte seinem Ersten Gehilfen diese eigenwillige Handlung nicht verzeihen. Ein Angar, wenngleich stark und klug, konnte sich nicht auf das Niveau der Theoren stellen und Systeme erschaffen. Weowa fühlte sich beleidigt und gefährdet, obwohl er von seiner Überlegenheit als Theor wissen müsste.

Er tat alles nur Mögliche, um Satara daran zu hindern, seine Absicht zu verwirklichen, aber der verstand es, all seine Attacken abzuwehren. Und als sich Weowa schließlich den Stein der Weisheit wiederbeschaffte, nachdem er einen Menschen nach ihm ausgesandt hatte, verspottete ihn Satara nur, weil er die Verbindung zwischen dem Stein, der Frau und ihrem Helfer - einem Theor,- nicht verstanden hatte. Ohne es zu ahnen, hatte Weowa ein Paar „Geteilter“ auf Satarius geschickt. Die entschieden, dass Weowa des Steines, eine Schöpfung der „Geteilten“, nicht würdig war und der Theor nahm ihn auf die obere Ebene mit sich.

Zuerst sah es so aus, als leide Satara nicht besonders unter dem Verlust des Steins. Aber bald veränderte sich die Lage auf Satarius. Das System verfiel in eine Krise. Anfangs triumphierte Weowa - er hatte seinem Rivalen doch geschadet. Später begriff er, dass Letzterer absichtlich alles bis dahin Erbaute zusammenstürzen ließ.

Nur zu gut verstand er seine Gründe. Nicht nur einmal hatte er ähnliche Probleme auf der Erde gehabt. Alles musste durchgerüttelt werden, um einen anderen Entwicklungsweg zu finden. Immer öfter bewunderte er seinen Gegner, war sogar stolz auf ihn. Was für eine Kraft musste Satara besitzen, um sich von einem gewöhnlichen Angar zu einem selbstständigen Schöpfer, der fast das Niveau der Theoren erreicht hatte, zu entwickeln!

Die letzten Nachrichten von Satarius beunruhigten ihn. Satara hatte sich eine schlaue Methode ausgedacht: sich in ein Individuum der von ihm erschaffenen Rasse zu inkarnieren und das System von innen zu leiten. Aber jetzt war die ununterbrochene Serie von nacheinander folgenden Wiedergeburten bedroht. Der Sohn des Imperators war ums Leben gekommen, bevor er einen Nachfolger hatte und bald würde man den Kopf des Imperators abschlagen. Von seinem Planeten losgerissen, könnte ihn Satara nur schwer allein verwalten. Das System war in Gefahr zu zerfallen und so würde der Streit zwischen ihnen zum Vorteil Sataras ausgehen. Das konnte Weowa nicht zulassen. Er musste einen Weg finden, den Imperator vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Es gab nur eine Weise, das rechtzeitig zu tun. Er musste erneut auf die Hilfe des Menschen, der Satara den Stein entwendet hatte, zurückgreifen. Die Frau kam damals hervorragend zurecht,

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kannte die Situation auf Satarius und hatte sogar Verbindung zu den Rebellen hergestellt. Nur wusste er nicht, ob ihr zweites Ich - der Theor - sich auch diesmal beteiligen würde.

Weowa beschloss, das Risiko einzugehen und ordnete die Angaren an, erneut ein Zeitfenster zu öffnen und die Frau von der Erde in die Zentrale zu überführen.

----- Ani erwachte. Noch mit geschlossenen Augen hörte sie Stimmen um sich und bemerkte

durch ihre Lider helles Licht. Etwas seltsam Bekanntes war um sie herum und in ihren Kopf stürmten unzählige Erinnerungen. Erinnerungen an einen großen hellen Raum, einen goldenen Thron mit einem Alten und goldhaarigen Wesen um ihn; an den Planeten Satarius und an ihren anderen Körper einer Satarianin; an den Imperator und seinen Sohn; an den Stein und seine Geschichten über das Weltall; an das Gefühl von Glück mit jener leuchtenden Kugel - ihrem anderen Ich. Ani erstarrte für einen Augenblick voll Hoffnung, öffnete die Augen und sprang laut rufend auf die Beine:

„Boar, wo bist du?“ Erstaunte Angarenaugen sahen sie an. Enttäuscht und beunruhigt sah sich Ani um. Sie

befand sich in der Zentrale der Angaren, doch Boar war nicht zu sehen. Sie rief ihn in Gedanken, jedoch erfolglos. Dann hörte sie die Worte Weowas:

„Dein Freund ist nicht hier. Ich weiß nicht, ob er diesmal die Absicht hat, zu erscheinen.“ Weowa saß auf seinem Thron und sah sie mit seinen traurigen und müden Augen an. Ihr

Bewusstsein klärte sich vollends und Ani erinnerte sich an alles, als wären nur wenige Sekunden seit dem Augenblick vergangen, als man sie voriges Mal zur Erde zurückgeschickt hatte. Ani erinnerte sich auch an ihr Leben auf der Erde in diesen vergangenen Jahren. Es war, als käme sie aus einer teilweisen Amnesie. All das aber wurde von der Erinnerung an die schmerzhafte Trennung von Boar, bevor er auf seine Ebene zurückgekehrt war, überschattet.

„Was willst du diesmal?“ fragte sie Weowa ein wenig grob. „Ich möchte dich bitten mir zu helfen, oder genauer - dem Imperator von Satarius“,

antwortete er. Ani war verblüfft. Zum ersten Mal bat sie Weowa um etwas. Voriges Mal hatte er ihr

einfach befohlen. Sie hatte keine Ahnung, woher diese Veränderung in ihm kam. Kurz bevor er sie auf die Erde zurückbrachte und alle ihre Erinnerungen an das Geschehene auslöschte, hatte er ihr und ihrer Familie mit einem Fluch gedroht, weil sie ihm den Stein nicht gegeben hatte, und sicher war es nur die Anwesenheit Boars gewesen, die ihn davon abhielt, seine Absichten zu verwirklichen. Zur Strafe würde sie ihm jetzt absagen, aber er sprach von Satara in dessen Erscheinung als Imperator, und das Schicksal dieses Satarianen war ihr nicht gleichgültig. Was war in diesen Jahren auf Satarius geschehen?

Ihre Gedanken lesend, antwortete Weowa: „Die Rebellen haben den Planeten erobert, Ursu umgebracht und den Imperator ins

Gefängnis geworfen. Bald erwartet man seine Hinrichtung.“ Ani erschauerte. Also hatte sie damals richtig geahnt, dass auf diesem Planeten einmal viel

Blut fließen würde, aber warum so bald? Sie erinnerte sich an einen prophetischen Traum auf Satarius und sah erneut das furchtbare Bild mit dem im Sand rollenden Kopf des Imperators.

Sie wollte nicht, dass dies geschehe. Es tat ihr leid, dass sie damals dem Imperator den Rat gegeben hatte, sich von der Macht zurückzuziehen und die Rebellen siegen zu lassen. Sie hatte damit nicht gemeint, dass er umkommen solle, sondern dass er die Ereignisse auf Satarius heimlich, im Schatten, weiterhin leite.

Natürlich verstand Ani, dass der Begriff „umkommen“ in Bezug auf Satara keinen Sinn machte. Der Tod hatte keine Macht über ihn. Er würde sich erneut in jenen wunderbaren Angar mit den goldenen Haaren verwandeln, den ihr der Stein damals gezeigt hatte. Aber sie kannte ihn nur in seiner inkarnierten Gestalt als Imperator und hatte diesen gewaltigen Satarianen mit den schwarzen welligen Haaren und den durchdringenden grünen Augen lieb gewonnen. Sie wollte nicht, dass dieser herrliche Kopf im Staub rollte.

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„Ich werde gehen“, antwortete sie Weowa, „ich werde mein Möglichstes tun, um ihn da rauszuholen.“

Was würde Boar jetzt sagen? Würde er ihre Entscheidung gutheißen? Sie verspürte eine starke Sehnsucht nach ihm, fühlte aber irgendwie, dass er diesmal nicht erscheinen würde. Es galt, nur den Widerstand der Satarianen zu überwinden, und nicht den eines höheren Wesens, wie es Satara war. Solange auch die kleinste Chance bestand, dass sie ohne ihn bei der Erfüllung dieser Aufgabe überleben würde, hatte Boar kein Recht ihr zu helfen.

Trauer und Einsamkeit überkamen sie. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie gut sie auf der Erde lebte, wo sie keine Ahnung von Boars Existenz hatte, und wie schwer es für ihn sein musste, immer alles über sie zu wissen und niemals zu vergessen, wer er eigentlich war.

Ani vertrieb die Gedanken an Boar auf den Boden ihres Bewusstseins und konzentrierte sich voll auf die bevorstehende Aufgabe.

----- Wieder flog sie mit einem Raumschiff von der Grenze zwischen den Reichen zu Satarius.

Doch diese Reise ähnelte der vorhergehenden nicht. Sie war allein und konnte nur auf sich selbst zählen. Diesmal würde sie dicht bei der Stadt aufsetzen, etwas abseits des Ortes, wo sie voriges Mal gelandet waren und wo sich sicher immer noch ihr altes Raumschiff befand.

Ununterbrochen kamen Erinnerungen an die vergangene Reise mit Boar in ihr hoch. Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen mit ihm und daran, dass sie von der Stärke der zwischen ihnen entstandenen Gefühle fast gestorben wäre. Es gelang ihm gerade noch so, ihr genug Energie zu übertragen, damit sie den Schock überlebte. Später, als Satarianin, kam sie besser mit ihrem Bestreben nach Vereinigung mit Boar zurecht. Früher einmal waren sie ein Wesen gewesen, das sich geteilt hatte, um irgendeine Aufgabe zu erfüllen, von der selbst Boar nichts wusste. Vom Stein der Weisheit erfuhr Ani, dass das so sein musste. Bei einer Begegnung eines Paares „Geteilter“ entstand immer das Streben nach Vereinigung und es kostete sie viel Kraft, es zu überwinden. Erst nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hätten würden sie sich wieder vereinen und dann würden sie das Gefühl höchsten Glücks erleben, von dem sie jetzt nur träumten. Ihre Persönlichkeiten würden dann einfach aufhören zu existieren und jenes höhere Wesen, das sie zuvor waren, würde erneut geboren werden, bereichert um die von seinen Teilen gesammelte Erfahrung.

Aber auch so, als „Geteilte“, liebten sie sich mit einer erhabenen Liebe, die man mit der Liebe zwischen Menschen nicht vergleichen konnte. Und das war eine unabänderliche Gegebenheit ihrer Natur.

Ani dachte über Weowa und Satara nach. Sie wusste von Boar, dass auch sie ihrem Wesen nach ein Paar „Geteilter“ waren. Aber keiner von beiden ahnte etwas davon. Wie schwierig war ihre gegenseitige Beziehung! Sie liebten und hassten sich zugleich.

Gezwungen, auf ein und derselben Ebene zu leben, waren sie der gleichen Anziehung, die zwischen Ani und Boar bestand, ausgesetzt, aber der Stein der Weisheit hatte ihnen nicht ihre eigentliche Wesensart eröffnet. Am wahrscheinlichsten war das der Wunsch von jenem höheren Wesen, das sie vor ihrer Trennung darstellten. Seine zwei Teile waren an Fähigkeiten und Stärke fast gleich, unabhängig davon, dass einer die Erscheinungsform eines Theors und der andere die eines Angars angenommen hatte.

Der Hass hielt einen Abstand zwischen ihnen aufrecht, damit es nicht zu einer spontanen Vereinigung kam. Letzteres war ein Unglück für die „Geteilten“, wenn es vor der Erfüllung ihrer Bestimmung geschah.

Was hatte Weowa für Gründe den Imperator zu retten? Immer noch hasste er Satara und müsste sich über sein Missgeschick freuen. Aber vielleicht liebte er ihn unbewusst und wollte ihm helfen? Wenn Boar hier wäre oder sie den Stein in der Hand hielte, würde Ani eine Antwort auf ihre Fragen bekommen.

Sie fühlte sich sehr einsam während dieser siebentägigen Reise. Weowa hatte ihr den Körper des Satarianenmädchens wiedergegeben, den sie damals benutzte, nur das er jetzt um fünf Jahre gealtert war. Er hatte sich fast nicht verändert. Etwas reifer, war er immer noch so schön und gesund. Ani fühlte sich in ihm wesentlich wohler als in ihrem Erdenkörper.

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Zu ihrem wiedergekehrten Gedächtnis hatten ihr die Angaren die Ereignisse übermittelt, die in den letzten fünf Jahren auf Satarius geschehen waren, und Ani machte sich an die Analyse dieser Information.

Satara hatte ihren Rat befolgt und hatte den Rebellen etwas mehr Freiheit gelassen. Er beschädigte ihre Agators nicht mehr, mit denen sie sich schnell auf dem Planeten bewegen konnten, und sie organisierten ein ganzes Netz von Aufstandsgruppen. Nach zwei Jahren eroberten sie ihre erste Provinz. Die hochgestellten Beamten wurden exekutiert und ihre Familien niedergestochen. Die lang unterdrückte Angst hatte sich in wilden Hass auf alles, was dem Imperator und seiner Dynastie angehörte, verwandelt. Es brannten die Schlösser und Schulen, die Bibliotheken und Werften.

Das Volk aber freute sich über seine Befreier, blind für die Tatsache, dass nicht alles in der früher so geregelten Gesellschaft schlecht gewesen war. Ani hatte oft ihre Errungenschaften und die kluge Leitung Sataras bewundert.

Aber die Sehnsucht nach Freiheit konnte nicht ewig unterdrückt werden und obwohl die Imperatoren die Aufstände grausam niederschlugen, hörten weitere Versuche nicht auf. Das konnte nicht so weitergehen, irgendeine Veränderung musste eintreten.

Nachdem der Imperator aufgab, sie weiter zu verfolgen, eroberten die Rebellen immer mehr Provinzen. Schließlich erreichten sie die Tore der Hauptstadt, den letzten Machtbereich des Imperators. Hier war die Information zu Ende.

Ani wunderte sich, warum sie den Imperator nicht gleich umgebracht sondern ins Gefängnis geworfen hatten. Vielleicht verlängerten sie so ein wenig ihre Freude über ihren Sieg. Aber vielleicht wagten sie es auch nicht, Hand an ihn zu legen. Ani erinnerte sich an den Eindruck, den der Imperator auf sie gemacht hatte während der kurzen Zeit der zwei Treffen mit ihm. Von hohem Wuchs und stark, sah er den anderen Satarianenmännern, die kleiner und schwächer als ihre Frauen waren, nicht ähnlich. Den Mädchen gefiel er gut, trotz der Angst, die er ihnen einflößte. Er wäre ohne Zweifel ein Mann-Idol auch für jede Erdenfrau gewesen. Ani erinnerte sich an die mächtige Anziehungskraft, die er ausstrahlte. Selbst jetzt, während sie an ihn dachte, ging ein Beben über ihren ganzen Körper.

Sie musste über sich selbst lächeln. Hatte sie ihn damals begehrt? Ani kannte die sexuellen Empfindungen ihres Satarianenkörpers nicht, aber sie wusste, dass sie sich Satara geistig sehr nah gefühlt hatte. Vielleicht bestand eine spezifische Anziehung zwischen verschiedenen „Geteilten“. Eins aber wusste Ani genau - unter allen Umständen wollte sie ihn vor der drohenden Gefahr retten.

----- Ani landete zwischen niedrigen Hügeln, in der Nähe eines Sees. Das war nicht so ein

versteckter Ort wie die Schlucht, in der sie das letzte Mal mit Boar gelandet waren. Ani fragte sich, was sie mit dem Raumschiff machen sollte, um es vor fremden Blicken zu bewahren. Da ihr nichts in den Sinn kam, ließ sie es einfach stehen, verschloss und kodierte die Luke. Sie hatte nicht die Absicht, sich länger aufzuhalten und hatte es eilig, in die Stadt zu kommen. Jede Minute konnte kostbar sein.

Es tat ihr leid, dass sie keinen Agator besaß. Diese Antigravitationsmaschinen waren für Ani das größte Wunder, das Satara auf diesem Planeten erfunden hatte. Nur er kannte das Geheimnis ihrer Wirkung und zusammen mit ihm würden auch seine Erfindungen aus dieser Welt verschwinden.

Plötzlich wurde Ani bewusst, dass sie an den Imperator wie an einen schon Gestorbenen dachte. Von diesem Gedanken wurde ihr schlecht und sie schritt schneller aus, um die Stadt vor Sonnenuntergang zu erreichen. Es blieben nur noch wenige Stunden. In der Ferne sah sie die Stadtmauer und die Ostpforte. An nichts mehr denkend, atmete sie rhythmisch und ging und ging...

Eine Stunde vor Untergang der großen Sonne traf Ani in der Hauptstadt ein. Doch das

Zentrum der Stadt, wo sich die Festung befand, konnte sie heute nicht mehr erreichen. Dabei hörte sie, dass die Satarianen freudig von der morgigen Exekution des Imperators sprachen!

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Sie würde zu spät kommen! Voller Verzweiflung sah sich Ani um, als könne ihr irgendjemand helfen. Die Stadt sah schlecht aus. Es gab viele abgebrannte Häuser, vor allem die der reicheren Kaufleute, die bestimmte Privilegien beim Imperator besessen hatten. Von weitem sah sie ein vierstöckiges Gebäude, dass von herumschreienden und mit Messern herumfuchtelnden Mädchen umstellt war. Man hatte den Eigentümer aus dem Haus geschleift und schlug ihn mit Peitschen. Ani hörte Rufe:

„Wo ist dein Agator, alter Deberaffe12? Wo hast du ihn versteckt?“ Der arme Satariane bedeckte nur seinen Kopf mit den Händen und konnte nicht antworten.

Ani beschloss, dass sich ihr hier eine Gelegenheit bot. Sie rannte zu dem Haus, bahnte sich einen Weg durch die Zuschauer und rief mit mächtiger Stimme den Mädchen zu:

„Hört für einen Moment auf, ihn zu schlagen, ihr dummen Gänse! Seht ihr nicht, dass er bereit ist zu sagen, wo sein Agator steckt?“

Die anderen drehten sich verwundert zu ihr um. Ani wusste, dass sie außer schön auch recht stark war und es bequem mit drei-vier von den Mädchen aufnehmen konnte, wenn es notwendig sein sollte. Aber ihre machtvolle Stimme reichte aus, um sie ihrem Willen zu unterwerfen. Die Mädchen zogen sich zurück.

Ani wandte sich an den Unglücklichen zu ihren Füßen: „Sag mir jetzt, wo sich dieser Agator befindet. Du weißt, dass alle Agators dem Zentralrat in

der Festung übergeben werden müssen.“ Ani dachte sich das nur aus. Aber offensichtlich lag sie richtig. Keiner wandte etwas ein.

„Ich sag's euch, schlagt mich nur nicht mehr!“ bat der verheulte Kaufmann. Er stand auf und führte sie zu einer großen Tür auf der Rückseite des Hauses. Er öffnete sie und Ani sah einen viersitzigen Agator. Sie hörte die Freudenrufe der Frauen und beschloss, sich den Fang nicht entgehen zu lassen.

„Weiß jemand von euch, wie man das Ding hier steuert?“ fragte Ani. Niemand antwortete. Es gab nur wenig Agators und es war wohl kaum eine unter ihnen, die diese Kunst beherrschte.

„Ich weiß es. Drei von euch sollen mit mir einsteigen und wir bringen die Maschine zum Schloss.“

Die Mädchen standen verwirrt da. Sie wussten nicht, wer sie war, aber sie wagten es nicht, sich ihr zu widersetzen. Da niemand den Wunsch äußerte, wählte Ani einfach drei von ihnen aus, brachte sie dazu einzusteigen und setzte sich selbst an den Lenkplatz.

So eine Maschine hatte sie noch nicht geflogen. Ursu hatte sie am dreisitzigen Agator gelehrt, aber sie wusste, dass das Steuerprinzip für die größeren Maschinen das gleiche war. Zuerst überprüfte sie den Treibstoff. Die Rigosen waren ganz leicht gerötet und würden bis zum Zentrum reichen. Ani steckte ihre Hände in die Öffnungen und befühlte die Hebel und Knöpfe. Sie konzentrierte sich für einen Augenblick und drückte mit dem linken Zeigefinger den Startknopf. Der Agator hob sich einen halben Meter vom Boden ab. Sie zog die Hebel zu sich und drückte sie gleichzeitig nach vorn. Die Maschine glitt nach oben und vorwärts und flog aus der Garage. Sie lenkte sich wie eine dreisitzige Maschine und Ani hatte keine Probleme mehr. Die verängstigten Gesichter der Mädchen hinter sich sehend lachte sie auf.

„Auf den Weg!“ rief Ani voll Freude aus und gab volle Kraft voraus. Mit maximaler Geschwindigkeit flogen sie einen der zentralen Boulevarde entlang, direkt

zum Zentrum. Noch vor Untergang der kleinen Sonne würde sie die Festung erreichen. ----- Rines ging im Sitzungssaal des Turms auf und ab. Nachdem er die Zerstörung des

Observatoriums und Laboratoriums des Imperators durch die aufgebrachte Menge nicht verhindern konnte, hatte er wenigstens die bequeme Einrichtung der Arbeitsräume im Turm erhalten können. Jetzt befand sich hier das Hauptquartier des zentralen Rates, dem er vorstand.

12- Tier, ähnlich einer Giraffe

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Nach dem Tod von Ursu kam es zu heftigem Streit, wer die Leitung übernehmen sollte. Fast hätten sie sich gegenseitig erschlagen, bis sie zu dem Entschluss gekommen waren, zusammen als Rat zu regieren und die Entscheidungen mit Abstimmung zu treffen.

Das gefiel Rines nicht besonders. Er hätte es vorgezogen, wenn Ursu offiziell an der Macht wäre und er versteckt auf seine Entscheidungen einwirken könnte. Aber diese dumme Frau von der Wache hatte nicht an sich halten können und ihn umgebracht. Was aber Ursu selbst in den Sinn gekommen war, konnte er nicht verstehen. Er hätte sich über die Beseitigung seines despotischen Vaters und die Möglichkeit, seinen Platz einzunehmen, freuen müssen. Ursu hatte sich immer vor dem Imperator gefürchtet und in diesen fünfzehn Jahren Freundschaft hatte Rines den Eindruck gewonnen, dass er seinen Vater hasse. Und außerdem hatte ihn der Imperator selbst angewiesen, sich bis zur Eroberung der Festung zu verstecken. Aber Ursu war im letzten Moment zurückgekehrt um dieses Ungeheuer, den Imperator, zu verteidigen und für ihn zu sterben.

Seit zwei Wochen hielten sie ihn nun im unterirdischen Gewölbe in Ketten und quälten ihn womit auch immer. Sie wollten herausbekommen, wo sich die legendären Schätze befänden, von denen das Gerücht erzählte. Auf dem Grund des Turms hatten sie nur ein schmutziges Lager mit allerlei ekelhaften Sachen entdeckt. Felle, Knochen, Haare, Fetzen, Erde und Fläschchen mit irgendwelchen übel riechenden Flüssigkeiten - das fanden sie dort. Und ein paar ungeschliffene Kristalle, wie man sie fast überall in den Gebirgen findet.

Mit diesen Sachen konnten sie nichts anfangen. Sie holten sie eine nach der anderen heraus und verbrannten sie auf einem Scheiterhaufen auf dem Hof der Festung. Doch der Imperator lachte nur und sagte, dass sein ganzer Schatz das wäre, was sich in seinem Kopf und in seinem Herzen befand. Sie brannten ihm die Haut mit glühendem Eisen, sie schnitten ihn mit Messern, sie zogen ihm die Fingernägel heraus und schlugen ihn mit Peitschen. Aber er machte sich weiter über sie lustig, als hätte der Schmerz keine Macht über ihn.

Schließlich gaben sie es auf. Morgen würden sie ihm den Kopf abschlagen und eine neue, glückliche Gesellschaft auf Satarius aufbauen. Rines hatte von der Zukunft zu träumen begonnen, als jemand an der Tür klopfte.

Die Türwache kam herein und sagte, dass eine junge, unbekannte Frau um jeden Preis mit ihm sprechen wolle. Er wunderte sich, ließ sie aber hereinkommen. Rines wollte seinen Augen nicht trauen. Es war Ani.

„Ani, wo warst du die ganzen Jahre verschwunden?“ rief er freudig aus. „Niemand hat dich gesehen, seitdem du den kleinen Agator der Herrin gestohlen und ihn im Otano-Wald zurückgelassen hast. Wir konnten ihn damals in ein Versteck tragen, bevor die Leute von der Wache wiederkamen.

„Und was habt ihr mit ihm gemacht?“ fragte Ani belustigt. „Ich habe ihn mit Mühe bis dahin gebracht, und von euch wusste sicher keiner, wie er funktioniert.“

„Es fand sich ein kluger Junge. Er probierte alle Knöpfe aus, bis er herausbekam, wie er gesteuert wird. Das war unser erster funktionierender Agator“, rühmte sich Rines.

Ani dachte über die große Rolle nach, die sie bei der Entwicklung der Ereignisse auf Satarius gespielt hatte. Dafür musste es eine Vorherbestimmung geben.

„Erzähle, wo warst du die ganze Zeit? Wir haben dich überall gesucht, aber nirgends gefunden“, fuhr Rines fort.

Damals hatte er sie mit den Rebellen verbunden und sie hatte sich sehr darüber geärgert. Man hätte sie umgebracht, wenn sie es abgelehnt hätte, mit ihnen zusammen zu arbeiten. Der Imperator bekam das natürlich gleich mit und ihre ganze Mission zum Diebstahl des Steins wäre fast gescheitert. Zum Glück war der Imperator klug genug und glaubte ihr, dass sie nichts mit ihnen gemein hatte.

Ani erfand schnell etwas über ihre Ergreifung, über ein unterirdisches Gewölbe, über eine geheime Überführung in die Provinz und wie sie erst vor kurzem von dort fliehen konnte.

Rines hörte erstaunt ihrer Geschichte zu, wendete aber nichts dagegen ein. Ani ging zu ihrer Bitte über:

„Rines, ich habe gehört, dass ihr morgen dem Imperator den Kopf abschlagen wollt. Ich denke, dafür ist es noch zu früh. Soweit ich weiß, wehrt er sich nicht und macht nicht den Versuch zu fliehen. Er weiß so viel, was von Nutzen für die neue Macht sein könnte.“

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Ani machte den verzweifelten Versuch die Urteilsvollstreckung aufzuschieben. Sie wusste nicht, wie sie die Flucht des Imperators in nur einer Nacht verwirklichen sollte. Sie benötigte mehr Zeit zur Vorbereitung.

„Man kann sie nicht verschieben. Alles ist bereits bekannt gemacht worden. Morgen früh wird die ganze Stadt auf dem Platz sein“, erklärte Rines, erstaunt über ihre Bitte. „Außerdem hat es keinen Sinn. Er sagt nichts. Wir haben alles versucht. Ich habe das Gefühl, dass er sterben will.“

„Lass mich wenigstens zu ihm und mein Glück versuchen. Vielleicht sagt er mir, wie er diesen Kristall für die Agatoren herstellt. Ansonsten werden sie bald endgültig kaputt gehen.“

Ani sah ihn mit bittenden Augen an. Aber Rines lachte auf. „Nein, Ani. Wer weiß wie du ihn hasst nach allem, was du durchmachen musstest. Du

könntest ihm etwas antun, solange er dort in Ketten liegt. Morgen aber brauche ich zur Exekution den echten Imperator. Seit gestern habe ich allen verboten, zu ihm zu gehen. Nur der Lakai von Ursu kümmert sich um ihn. Schlag dir diese Idee aus dem Kopf.“

Ani machte keine weiteren Versuche, ihn zu überreden. Es hatte keinen Sinn. Rines war ein kluger Junge und sie musste aufpassen, dass sie nicht übertrieb. Sie freute sich über die Neuigkeit, dass sich der Lakai um den Imperator kümmerte. Vor fünf Jahren verstand sie sich gut mit ihm und kannte seine gutmütige Seele. Sie musste ihn finden.

Rines lud sie ein, in der Festung zu übernachten und sie nahm dankend an. Ani ging zum Schloss, um den Lakaien ausfindig zu machen. Sie fand ihn im Zimmer der Dienstleute.

Als sie der Diener sah, fing er an zu weinen. „Mein armer Herr Ursu, warum konnten Sie ihn nicht retten!“ Ani unterbrach ihn, indem sie ihm erklärte, dass sie erst seit heute in der Stadt sei. „Ich habe gehört, dass du dich um den Imperator kümmerst. Wie geht es ihm?“ fragte sie. „Sie haben ihn furchtbar gequält. Er tut mir sehr leid. Er hatte sich verändert, seit du

verschwandst. Ich wusste nicht, dass er seinen Sohn so sehr liebte, aber nach dem Tod von Ursu will er scheinbar nicht mehr leben. Auch jetzt denke ich, dass es einen Weg gibt, von dort zu fliehen. Der eine Reifen drückte ihn und vor meinen Augen hat er ihn einfach mit seinem Blick erweichen lassen und erweitert. Es kostet ihm nichts, seine Ketten abzuwerfen und zu fliehen. Aber er will nicht.“

Plötzlich wurde Ani bewusst, dass sie den Imperator nicht retten könne, wenn er selbst nicht wollte. Sie erschrak bei dem Gedanken, dass er schon morgen früh sterben könnte. Der Wunsch, ihn wiederzusehen, stieg unaufhaltsam in ihr auf und sie bat den Lakai leise:

„Ich bitte dich, führe mich zu ihm. Ich möchte mit ihm sprechen und ihm bis morgen Gesellschaft leisten. Ich möchte so viel über Ursu erfahren. Vielleicht erzählt er es mir.“

Der Lakai sah sie verwundert und verängstigt an. „Aber man hat den Befehl gegeben, niemand zu ihn zu lassen.“ „Ich weiß, aber ich werde ihm nichts Böses tun. Bringe ihm etwas zu trinken und lenke die

Aufmerksamkeit der Wache ab. Ich werde mich irgendwie an ihnen vorbei schleichen. Und morgen hole mich dort raus, bevor sie kommen, ihn zu holen.“

Ani sah ihn durch Tränen an, die auf unerklärliche Weise plötzlich in ihren Augen standen. Ihr wurde bewusst, dass sie echt aus Kummer um den Imperator weinte.

„Schon gut. Ich habe dich immer gemocht. Und Ursu hat dich auch bis zum Schluss geliebt. Ich mach es in seinem Andenken.“

Er nahm zwei Kannen Wein, gab ihr einen riesigen schwarzen Umhang und sie verließen leise das Schloss.

Draußen war es bereits dunkel und kalt. Ani wickelte sich ganz in den Umhang und folgte dem Lakaien in einigen Schritten Abstand. Die Wache vor dem Gewölbe hatte sich in ein kleines Zimmerchen neben dem Eingang zurückgezogen und wärmte sich an der Feuerstelle. Der Lakai klopfte an und trat ein. Ani blieb versteckt am Eingang stehen. Sie hörte das Lachen der Wachleute. Einer von ihnen kam heraus und beeilte sich die Tür aufzuschließen, mit den Worten:

„Konntest du nicht früher daran denken? Was für eine wahnsinnige Kälte ist diese Nacht draußen. Geh runter und bringe ihm den Wein. Soll er ihm zum letzten Mal munden. Komm dann, damit ich die Tür wieder verschließen kann.“

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Er öffnete die Tür und ging schnell in den warmen Raum zurück. Ani war noch vor dem Lakaien drin. Es war viel einfacher, als sie es sich vorgestellt hatte. Offensichtlich wusste man seit langem, dass ihnen der Imperator nicht weglaufen würde und hatte alle Vorsicht fallen gelassen. Sie könnten sich wirklich einfach hier heraus schleichen. Erneut hoffte Ani, Satara davon überzeugen zu können, ihr zu folgen.

Der Lakai schloss die schwere eiserne Tür am Ende des Korridors auf und gab ihr die Kanne mit dem Wein. Die andere hatte er der Wache gelassen.

„Sieh, was du erreichen kannst. Aber hoffe nicht zu sehr. Er ist völlig unzugänglich.“ Ani trat ein und er verschloss die Tür hinter ihr. ----- Sie befand sich in einem riesigen, leeren Raum. Im flackernden Licht der Öllampe konnte

sie kaum das aufgehäufte Stroh und die darauf halb sitzende, halb liegende Figur des Imperators ausmachen. Mit langen schweren Ketten war er an die Wand geschmiedet. Sie näherte sich leise mit bis zum Hals schlagendem Herzen. Seine Augen waren geschlossen, wahrscheinlich schlief er. Vorsichtig stellte sie die Kanne auf den Boden und kniete neben ihn hin. Der Imperator war völlig von Wunden und getrocknetem Blut übersät. Seine Fingerkuppen waren geschwollen. Er war nur mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet und Ani ergötzte sich an seinem muskulösen Körper. Trotzdem er abgemagert schien, strahlte er jene Männlichkeit aus, nach der alle Frauen aufseufzen.

Nicht in der Lage dem Wunsch, ihn zu berühren, zu widerstehen, streichelte Ani sanft mit den Fingerspitzen die Wunden auf seinem Körper. Als sie zu seinem Gesicht aufsah, entdeckte sie erschrocken ein leichtes Lächeln auf seinem Mund, das vordem nicht dagewesen war.

„Ich freue mich dich zu sehen, Ani“ sagte er und öffnete die Augen. Sie kannte den magnetischen, durchdringenden Blick dieser strahlendgrünen Augen. Aber jetzt war in ihnen noch etwas, das ihr direkt das Herz durchbohrte. Sie begann zu weinen und er umarmte sie mit seinen schweren von Ketten Armen und drückte sie an sich.

Ani vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und wusch sie mit ihren Tränen. Sie wünschte, dass die Zeit stehen bliebe und sie so weinen könne bis ans Ende der Welt. Er streichelte ihr leicht übers Haar und ein seltsamer Friede breitete sich in ihrer Seele aus. Ani hörte auf zu weinen und sah ihn mit flehenden Augen an.

„Kommen Sie, damit ich Sie hier herausbringe.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde strahlender und er antwortete leise mit seiner tiefen

Stimme: „Du bist hier und alles andere ist ohne Bedeutung. Hat dich Weowa geschickt, um mich zu

retten?“ „Ja, aber nicht nur er will Sie retten, ich will es auch“, antwortete Ani mit einer schweren

Vorahnung. Würde er die Hilfe abweisen, nur weil sie von Weowa kam? Satara lachte auf. „Der alte Brummelkopf kann nicht ertragen, dass die Dinge auf Satarius schlecht stehen und

er die Wette verliert.“ „Sie irren sich“, wendete Ani ein, „er liebt Sie einfach.“ Satara sah sie erstaunt an. Was wusste Ani über die Beziehung zwischen ihm und Weowa?

Lange genug hatte sie den Stein in den Händen gehalten, um viele Sachen zu verstehen. Sie war eine der „Geteilten“, die höchstentwickelsten Wesen in diesem Weltall, die ihm bekannt waren. Und sie sprach ihre Worte mit echter Überzeugung aus.

„Früher liebte er mich, aber das war vor sehr langer Zeit. Jetzt versucht er alles, um mir zu schaden. Aber ich bin ihm dankbar dafür, dass er dich zu mir geschickt hat. Weil ich mir sehr wünschte, dich wiederzusehen.“

Ani verlor einfach ihren Verstand. Sie war nicht so stark wie damals, vor fünf Jahren. Boar war nicht hier, um ihr einen Teil seiner Kraft zu übertragen und ihren Verstand zu klären. Die letzten Worte des Imperators brachten sie erneut zum Weinen, doch sie wusste nicht, ob vor Freude oder vor Leid.

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„Ich bitte Sie, kommt mit mir. Wir können leicht von hier fliehen. Ich will nicht, dass Sie sterben“, flehte ihn Ani an.

Er aber wischte nur zärtlich ihre Tränen weg und sah ihr mit so einer Liebe in die Augen, dass Ani schwindlig wurde.

„All diese Jahre gab es zwei Menschen auf diesem Planeten, die sich nach dir sehnten“, erwiderte er, sie leicht streichelnd. „Mein Sohn sehnte sich nach deiner mütterlichen Fürsorge, und ich sehnte mich nach dir selbst, nach deinem Geist, deiner Seele und nach diesem wundervollen Körper.“

Vor Scham schlug Ani die Augen nieder. So ein Bekenntnis von seiner Seite hatte sie nicht erwartet. Dabei fühlte sie seine Ehrlichkeit.

Er nahm ihren Kopf in die Hände und veranlasste sie, ihm direkt in die Augen zu blicken. Ani sah in sie und durch sie hindurch, und sie führten sie sehr weit weg, in eine wunderbare Welt. Etwas Fernes und Tiefes erwachte in ihr und sie verspürte die Sehnsucht nach einem anderen, irrealen Zustand. Solch eine Welle voll Glück überkam sie, dass sie vergaß, wo sie sich befand und erneut verspürte sie, in unzählige Teilchen zu zerfallen. Es war dem Gefühl, dass sie mit Boar empfand so nah, und doch war es anders.

Er riss seinen Blick von ihr los, drückte sie fest in die Arme und sagte leise und zärtlich: „Ich liebe dich, Ani, und ich begehre dich.“ Sie hatte nicht mehr die Kraft, seiner starken Anziehung zu widerstehen. Ani nahm wahr,

wie sie sich an seinen Körper schmiegte und ganz vor Begehren erzitterte. Sie wollte sich mit ihm vereinen, für immer Eins mit ihm werden. Sanft mit den Händen streichelnd zog er ihre Ledersachen aus, und sie bedeckte seinen Körper voller Wunden mit ihren Küssen.

Seine Lippen auf ihrem Körper spürend drückte sie seinen Kopf mit den dichten langen Haaren noch mehr an sich. Bei jeder seiner Bewegungen stöhnte sie vor Wohlbehagen. Seine Hände hinterließen heiße Spuren auf ihrer Haut und Ani wand sich in seiner Umarmung.

Er eilte nicht, in sie einzudringen, und sie hielt dem gewachsenen Begehren kaum stand. Und als sie schon völlig verzweifelte, eroberte er sie ganz und Ani hob und senkte sich in seinen Armen.

Ihre Seele verließ diesen Körper voll Leidenschaft und traf sich mit seiner Seele irgendwo weit entfernt im Raum. Dort vereinten sie sich in völliger Seligkeit. Sie waren bald zwei, bald eins und sie wollten sich nie wieder trennen. Sie wurden zu Göttern und die ganze Welt gehörte ihnen...

----- Immer noch bebte Anis Körper in seinen Armen. Satara bedeckte sie sorgfältig mit dem

Umhang und drückte sie zärtlich an sich. Er wollte nicht mehr sterben - er wollte das eben Erlebte wieder und wieder erleben. Er erinnerte sich nicht, jemals solch ein Glück empfunden zu haben. Und das war kein körperliches Empfinden. Sie hatten sich gemeinsam zu irgendwelchen sehr weit entfernten, hohen Ebenen emporgehoben und hatten das Glück verspürt, nah bei jenem Nichtnennbaren, Nichtverstehbaren und Überallexistierenden zu sein. Man konnte es nur fühlen, wie einen leisen Windhauch in einer warmen Sommernacht. Satara fühlte eine unbekannte Kraft in sich, als hätte er einen Teil von diesem Etwas in diese Welt mitgebracht.

Sein Herz war voll Dankbarkeit zu Weowa, weil er ihm ermöglicht hatte, dieses Glück zu erfahren und gleichzeitig sein Problem zu lösen. Vielleicht liebten sie sich wirklich. Denn in sich empfand er nicht nur Dankbarkeit, sondern auch ein anderes, viel tieferes Gefühl.

Zärtlich küsste er Anis Stirn. Klar die schweren Tage sehend, die dieses Mädchen erwarteten, zog sich sein Herz vor Schmerz zusammen. Ihm selbst war der einfachere Anteil des gemeinsamen Weges bestimmt, der ihnen zusammen zu gehen bevorstand. Und danach würde sie ihn wieder verlassen, um ihn erneut zu treffen, diesmal bereits auf einer anderen Ebene. Weiter konnte er das Schicksal nicht verfolgen und kehrte zu der traurigen Wirklichkeit dieser Tage zurück.

Bald würde die große Sonne aufgehen und er weckte Ani zärtlich streichelnd. Sie öffnete die Augen, um zu sehen, dass er noch bei ihr war, und schloss sie wieder. Ani schmiegte ihren Kopf an

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seine Brust und umarmte seinen Leib. Sie wollte ihn nicht loslassen. Plötzlich richtete sie sich auf, sich besinnend, wo sie war und was sie tun wollte.

„Die Zeit ist fortgeschritten, wir müssen uns beeilen.“ „Ich habe nicht die Absicht zu fliehen“, erwiderte der Imperator mit fester Stimme. „Aber ich liebe dich und will dich retten!“ rief Ani verzweifelt aus. „Du hast mich bereits gerettet“, antwortete er lächelnd, „du trägst meinen Samen in dir und

in dem Augenblick, wo mir der Kopf abgehauen wird, wirst du meinen zweiten Sohn empfangen.“ „Aber ich will dich, ich kann nicht auf einen Enkel warten, um dich wiederzusehen!“ Ani

fing wieder an zu weinen. Er zog sie erneut zu sich, streichelte ihr sanft übers Haar und erklärte weiterhin lächelnd:

„Ich habe damals schon vorausgesehen, dass meinem Sohn etwas passieren kann, bevor ihm ein Kind geboren wird. In diesem Fall zeuge ich einen zweiten Sohn, der die notwendigen Anlagen besitzt, um der Träger meines Geistes zu werden.“ Er schwieg kurz und fuhr fort: „Du wirst die beste Mutter sein, die ich je hatte.“

Ani verwirrte ganz und gar. Sie konnte den Gedanken, diesen geliebten Mann so bald zu verlieren, nicht ertragen. Obwohl sie verstand, was Satara sagte, kam ihr der Gedanke, dass ein Kind von ihm er selbst sei, so irreal und entfernt vor. Sie wollte diesen Mann vor sich umarmen und nicht an einen anderen denken.

„Du musst die Stadt sofort verlassen“, fuhr er fort. „Begebe dich jenseits des Meeres in das Gebirge der weißen Kuppen und suche den Kräuterheiler Imor auf. Er wird dich aufnehmen und dir sagen, was du mit dem Kind tun sollst, wenn es sechs Jahre alt wird. Danach kehre zu Weowa zurück. Bevor du unseren Sohn zurücklässt, übergebe ihm das von mir.

Er holte unter dem Stroh einen kleinen geschliffenen Kristall hervor - ein Kristall vom Agator.

Ani steckte ihn automatisch in ihre Lederbörse und blickte den Imperator mit traurigen Augen an. Sein Gesicht strahlte so viel Glück und Freude aus, wie sie überhaupt nicht erwartet hatte. Sie wusste, dass sie ihn nicht umstimmen konnte, seine Absicht zu ändern und litt unter dem Gedanken, dass sie ihn nie wieder sehen würde. Er umarmte sie und sie lagen aneinander geschmiegt, bis sie das Drehen des Schlüssels im Schloss hörten. Der Lakai kam, Ani zu holen.

Der Imperator riss sie von sich los und Ani stand auf. Der Diener trat ein und nahm verwundert die volle Kanne Wein. Er trieb Ani zur Eile an und ging voraus. An der Tür drehte sich Ani noch einmal um, um einen letzten Blick auf den Mann zu werfen, mit dem sie die schönsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte. Er lag auf dem Stroh in der gleichen Pose, wie sie ihn gestern angetroffen hatte, aber mit einem ergebenen Lächeln im Gesicht. Er öffnete die Augen, durchdrang sie mit einem scharfen Blick und sagte zärtlich zum Abschied:

„Ich liebe dich und freue mich darauf, dass du meine Mutter wirst.“ Sie ging schnell hinaus aus Angst, ihn sonst nie verlassen zu können. ----- Der Lakai führte sie mühelos an der Wache vorbei und Ani folgte ihm ins Schloss. Er fragte

sie, was sie jetzt machen würde. Sie antwortete, dass sie die Stadt noch heute verlassen und sich ins Gebirge begeben werde, erwähnte aber nicht, wohin genau, denn Rines könnte sie erneut suchen lassen. Ani wollte den schwarzen Umhang zurückgeben, doch der Diener hielt sie auf.

„Behaltet diesen Mantel. Er gehört dem Imperator. Er trug ihn bei seinen nächtlichen Spaziergängen mit dem Agator; er ist sehr leicht und warm. Der Imperator hat ihn von seinem Großvater geerbt, und der von dessen Großvater. Er ist aus dem Leder irgendeines Tieres hergestellt, das nicht mehr existiert. Ich konnte ihn aus seiner Garderobe retten, bevor diese Räuber alles ausplünderten. Der Imperator wird ihn nicht mehr brauchen.“

Ani freute sich über sein Angebot. Sie hatte die Qualität dieses Kleidungsstückes noch am vorigen Abend schätzen gelernt und der Gedanke, sich in etwas einhüllen zu können, das Satara in so vielen Leben berührt hatte, erfüllte sie mit Dankbarkeit.

Sie verließ das Schloss, um sich dem Westtor, wo der Weg zum Meer begann, zuzuwenden.

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Noch hatte sie die Festung nicht verlassen, als ein mächtiger Menschenstrom sie zum Urteilsvollstreckungsplatz mitschleifte. Ani wollte dem grausamen Schauspiel nicht beiwohnen, konnte sich aber nicht von der Menge losreißen. Es war als hätten sich die drei Millionen Einwohner dieser riesigen Stadt alle zusammen auf den Weg zum Platz in die Nähe des Marktes aufgemacht. In seiner Mitte hatte man eine hölzerne Plattform errichtet. Sie war mit von Blut geschwärztem Sand bestreut und ein blutbefleckter Klotz stand auf ihr. Der Imperator würde nicht das erste Opfer in diesen Tagen sein.

Von der Festung war Geschrei zu hören. Man führte den Imperator. Ani bewegte sich wie im Traum. Unfähig sich zu wehren, ließ sie sich von der Menge mitreißen. Nach einem Schub befand sie sich plötzlich in der ersten Reihe, an der einen Seite der Plattform.

Der Imperator, immer noch in Ketten, stieg auf das Gerüst. Der Henker mit der Kapuze auf dem Kopf stellte sich hinter ihn. Die Zuschauer, die bisher ein fürchterliches Geschrei gemacht hatten, verstummten. Viele von ihnen hatten den Imperator nie gesehen. Er führte ein zurückgezogenes Leben und war für sie eher ein Mythos, als ein realer Tyrann. Sowohl im Äußeren als auch im Charakter unterschied er sich so sehr von ihnen, dass sie ihn nie ganz als einen Ihresgleichen angesehen hatten. Und jetzt, seine hohe, aufgerichtete und halbnackte Figur sehend, flößte er ihnen, obwohl in Ketten, so eine Furcht und Respekt ein, dass keiner es wagte in seiner Anwesenheit die Worte: „Tod dem Imperator“ zu wiederholen, die sie bis zu diesem Moment gerufen hatten.

Ani sah sein gelassenes Gesicht. Er umfasste die Leute auf dem Platz mit einem Blick, trat zum Klotz, kniete hinter ihn und legte seinen Kopf so auf ihn, dass er direkt zu Ani blickte. Der Henker hob das riesige Beil und das Gesicht des Imperators erstrahlte in einem glücklichen Lächeln. Er hatte sie bemerkt.

Man hörte den Ausruf des Henkers und den dumpfen Schlag des Beils. Ani verlor das Bewusstsein. Ihr war, als höre sie die tiefe Stimme Sataras seine letzten Worte von diesem Morgen wiederholen. Jemand erfasste sie von hinten, damit sie nicht hinfiel und Ani kam zu sich. Für einen Augenblick sah sie den Kopf des Imperators, immer noch mit diesem imaginären Lächeln auf den Lippen, im Sand rollen. Es war jenes Bild, das sie vor fünf Jahren im Traum gesehen hatte. Sie drehte sich um und bahnte sich entschlossen einen Weg durch die triumphierende Menge. Die Tränen, die über ihre Wangen flossen, interessierten sie nicht. Sollten die anderen denken, sie weine vor Freude. Ein großer Klumpen schnürte ihr den Hals zu, doch sie lief automatisch weiter. Immer noch sah sie seinen abgeschlagenen Kopf mit jenem letzten Lächeln vor sich. In der riesigen Stadt konnte sie sich nirgends zurückziehen. Bereits ohne Kräfte, ließ sie sich mit dem Rücken an einem Haus nieder, wickelte sich bis über den Kopf in den Umhang und weinte.

Das Glück, von dem sie ihr ganzes Leben geträumt hatte, und wegen dem es sich lohnte zu leben, war nur für eine kurze Nacht geblieben und für immer gegangen. Und mit ihm verlor sich auch der Sinn des Lebens.

ZWEITER TEIL Jemand rüttelte sie an der Schulter. „He, Mädchen, steh auf. Du kannst nicht draußen bleiben. Du wirst erfrieren.“ Ani erwachte aus einem tiefen Traum. Die wundervollen Visionen in ihm verflüchtigten

sich wie Rauch und Ani ärgerte sich über die ältere Frau vor ihr, weil sie sie geweckt hatte. Dann sah sie, dass es bereits dunkel wurde und fragte sich, was sie machen solle. Sie konnte nicht draußen bleiben. Auf Satarius waren die Nächte sehr kalt, selbst jetzt, am Anfang des Sommers. Die Frau vor ihr schüttelte besorgt den Kopf.

„Sicher bist du gekommen, um die Exekution zu sehen und hast keinen Platz in einer Herberge gefunden. Komm mit mir, ich bin allein. Leiste mir diesen Abend Gesellschaft. So werde ich wenigstens meinen Wein nicht allein trinken.“

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Obwohl sie der Gedanke, die heutigen Ereignisse zu feiern, nicht besonders verlockte, stimmte Ani der sympathischen Frau zu. Schwer würde sie ein Quartier in dieser späten Stunde finden.

Die Alte wohnte in dem Haus, an das sich Ani angelehnt hatte. Sie stellte etwas Fleisch und Brot auf den Tisch, holte ein Fässchen Papanenwein hervor und goss für jeden einen Becher ein. Ani erschrak bei dem Gedanken, dass sie jetzt wahrscheinlich einen Tost auf den Tod des Imperators trinken musste, aber die Frau trank auf die neue, schönere Zeit, die unbedingt kommen würde. Ani fragte sie, ob sie nicht der Meinung sei, dass im Moment die Zeiten wesentlich schlechter seien als vorher. Die Frau war nur zur Hälfte mit ihr einverstanden. Das Leben war leichter gewesen, alles war im vornherein klar und ruhiger. Aber jetzt gab es die Hoffnung, die Hoffnung auf etwas Neues, die sie nicht kannten. Und wegen ihr lohnte es sich, alle dazugehörigen Übel zu ertragen.

Nachdenklich schwieg Ani. Satara hatte Recht als er beschloss, dass der Imperator sterben musste. Nicht er starb, sondern eine Legende, eine alte Epoche - es starb die Angst dieser Menschen. Und die Hoffnung auf ein besseres Leben wurde geboren. Die Zivilisation auf Satarius, seit Jahrhunderten im Stillstand, machte einen Sprung nach vorn. Die Bevölkerung würde es lernen in diesen neuen Wässern zu schwimmen. Der Entschluss, die Gesellschaftsordnung auf Satarius zu ändern, war richtig gewesen. Es machte nichts, dass der Preis für diese Veränderung sehr hoch war.

Die Frau gab ihr ein Fell als Zudecke und ließ sie neben der geschürten Feuerstelle schlafen. Nachdem Ani noch ein paar Scheite ins Feuer geworfen hatte, legte sie sich auf das Fell, wickelte sich in den Umhang und erinnerte sich, wie sie vor fünf Jahren mit dem Gedanken an Boar im Schloss eingeschlafen war. Damals war der Imperator nur etwa hundert Meter von ihr entfernt gewesen und sie hatte ihn noch nicht einmal gesehen. Jetzt befanden sich beide auf den ihr unzugänglichen hohen Ebenen und sie blieb ganz allein in dieser fremden physischen Welt. Sie erinnerte sich an das erlebte Glück vorige Nacht und rieb ihre Wangen an der Innenseite des Umhangs. Plötzlich hatte sie das Gefühl, erneut von Satara gestreichelt zu werden und schlief glücklich in der Umarmung seines Umhangs ein.

Am Morgen frühstückte sie und dankte der freundlichen Alten. Nachdem sie einige Stunden

gelaufen war, erreichte sie das Westtor, kaufte sich einen Beutel und ein wenig Proviant für unterwegs und machte sich auf den Weg zum Meer. Sie wusste nicht, wie weit es entfernt war. Selbst die Erinnerungen des Ratgebers, die man ihr voriges Mal ins Gedächtnis übertragen hatte, konnten ihr dabei nicht helfen. Er war immer mit dem Agator in dieser Gegend gereist und maß die Entfernungen mit der verstrichenen Zeit. Sie könnte für die Nacht keine Unterkunft finden und unterwegs erfrieren. Aber das war ihr egal. Das Kind noch nicht in ihrem Leib spürend dachte sie nur an sich selbst und an das ferne Gebirge, das sie erreichen musste.

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…………. Wer mehr davon lesen möchte, sollte bitte unter „Kontakt mit dem Autor“ eine Mail schreiben