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Begegnungen mit Einstein, von Laue und Planck ||

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Page 1: Begegnungen mit Einstein, von Laue und Planck ||
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Ilse Rosenthal-Schneider

Begegnungen mit Einstein,

von Laue und Planck

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Facetten der Physik

Physik hat viele Facetten: historische, technische ,

soziale, kulturelle, philosophische und amüsante. Sie können wesentliche und

bestimmende Motive für die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften sein. Viele Lehrbücher lassen diese "Facetten der

Physik" nur erahnen. Daher soll unsere Buchreihe ihnen

gewidmet sein.

Prof. Dr. Roman Sexl Herausgeber

Eine Liste der erschienenen Bände finden Sie auf den Seiten 126- 13 0

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Ilse Rosenthal-Schneider

Begegnungen mit Einstein,

von Laue und Planck Realität und wissenschaftliche Wahrheit

Mit einem Vorwort von Arthur 1. Miller und 13 Bildern

Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Kühnelt

Friedr. Vieweg & Sohn Braunschweig / Wiesbaden

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Titel der Originalausgabe :

Reality and Scientific Truth. Discussions with Einstein, von Laue, and Planck

Publication of this translation is by arrangement with Wayne State University Press, Detroit, Michigan, U.S.A. English language edition copyright in 1981 by Ilse Rosenthal-Schneider.

Die Originalausgabe trägt die Widmung : To the memory of my husband

Der Verlag Vieweg ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann.

Alle Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1988

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzu­lässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-663-01885-8 ISBN 978-3-663-01884-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01884-1

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Der historische Rahmen (Arthur I. Miller)

Vorwort des Herausgebers (Thomas Braun)

Danksagung ..

1 Einleitung Die Bedeutung der persönlichen überzeugung - Diskussionen mit Einstein, von Laue und Planck - Verifizierung und Verifizierbarkeit - Die Rolle der Mathematik in der Physik

2 Die universellen Naturkonstanten Einstein und Naturkonstanten - von Laues Bemerkungen über Naturkon­stanten - von Laues und Plancks "Glauben an das Absolute"

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3 Substanzbegriff und Erhaltungssätze ................. 44 Die Wandlung des Substanzbegriffs - Das Wellenbild - Kausalität und Wahr­scheinlichkeit - Das physikalische Weltbild

4 Physikalische Wirklichkeit ......................... 53 Determinismus, Kausalität und Quantenmechanik - Die Rolle des Beobachters - Realität und Objektivität

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5 Die kleinste Länge ............................... 64 Heisenbergs "Hodon" - von Laue und Einstein über "die kleinste Länge", das "Hodon"

6 Mehr über Denken und Persönlichkeit von Einstein, von Laue und Planck .................................... 69 Einstein, von Laue und Planck teilen Kants Sicht der Philosophie als Basis der Wissenschaft - Persönliche Ansichten der drei Physiker

Anhang: Ober Eddingtons Philosophie der Naturwissenschaften 99

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Vorwort: Der historische Rahmen

Zur Zeit der Weimarer Republik war die Universität Berlin eine der bedeutendsten Forschungsstätten auf dem Gebiet der Naturwissen­schaften; dies verdankte sie vor allem drei Männern: Albert Einstein, Max von Laue und Max Planck.

Im Jahre 1920 erwarb Dr. Ilse Rosenthal-Schneider den Grad eines Doktors der Philosophie in Berlin. Sie begegnete Einstein, von Laue und Planck in Vorlesungen und Diskussionen zu philosophischen Pro­blemen größter Bedeutung für die Naturwissenschaften, und schließlich wurden sie gemeinsam Opfer jener Kräfte, die zum Niedergang deut­scher Naturwissenschaft und Kultur führten. Dr. Rosenthal-Schneider stand Einstein geistig am nächsten. Nachdem er Deutschland für im­mer verlassen hatte, setzten sich ihre Unterredungen, die in Fragen im Anschluß an Vorlesungen ihren Anfang genommen hatten und auf die Straßenbahnfahrten zur Universität ausgedehnt worden waren, schrift­lich fort. 1938 emigrierte Frau Dr. Rosenthal-Schneider nach Austra­lien, von wo sie ihre Korrespondenz mit Einstein weiterführte, und nach dem Krieg nahm sie auch ihre Kontakte zu von Laue und Planck wie­der auf. Wir dürfen uns glücklich schätzen, daß sie sich entschlossen hat, ihre Erinnerungen an die Berliner Zeit niederzuschreiben und ihre Korrespondenz mit Einstein, von Laue und Planck zu veröffentlichen, weil ihr Buch unsere Kenntnis über diese Männer als Wissenschaftler und Menschen erweitert. 1

Dr. Rosenthal-Schneiders Diskussionen über physikalische Theorien spiegeln ihr lebenslanges Bemühen um ein vertieftes Verständnis der Beziehungen zwischen neukantianischer Philosophie und Physik wieder. Die Briefe von Einstein, von Laue und Planck und die Kommentare von Frau Rosenthal-Schneider diskutieren in anregender Weise Ideen

1 Den interessierten Leser möchte ich auf folgende Werke hinweisen: G. Holton, Thematic Origins of Scientific Thought: Kepler to Einstein (Cambridge, Mass. 1973), in deutscher Übersetzung: Thematische Analyse der Wissenschaft: Die Physik Einsteins und seiner Zeit (Suhrkamp 1981); M. J. Klein, "Thermodynamics in Einstein's Thought", Science 157 (1967) 509-516; A. 1. Miller, Albert Einstein's Special Theory of Relativity: Emergence (1905) and Early Interpretation (1905-1911) (Reading, Mass. 1980); A. 1. Miller, "Visualization Lost and Regained: The Genesis of the Quantum Theory in the Period 1913-1927", in On Aesthetics in Science, hrsg. von J. Wechsler (Cambridge, Mass. 1978)

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von Wissenschaftlern, die sich weigerten, Barrieren zwischen Wissen­schaft und Philosophie zur Kenntnis zu nehmen. Mit Recht sind für Rosenthal-Schneider Einstein, von Laue und Planck Persönlichkeiten, die die "fundamentale Rolle [der Philosophie] für die theoretische Physik in vollem Umfang anerkannten. Und es war natürlich die Erkenntnis­theorie, die die meisten Probleme mit sich brachte, deren Bedeutung für die Naturwissenschaften sie erkannten." Mit Freude habe ich die Einladung des Verlags Wayne State University Press angenommen, den historischen Rahmen darzustellen, innerhalb dessen die genannten Wis­senschaftler die Auswirkungen der Entdeckungen der Physik des 20. Jahrhunderts auf unsere Vorstellungen von Materie, Kausalität und physikalische Wirklichkeit analysierten.

Max Planck (1858-1947) wurde vor der Formulierung der Maxwell­schen Theorie des Elektromagnetismus geboren. Zum Zeitpunkt seines Todes war das Vakuum der Maxwellsehen Theorie (d.h., der freie Äther) schon lange durch das Vakuum der relativistischen Quantenmechanik (mit seiner als Hintergrund aller physikalischen Prozesse ablaufenden Vernichtung von virtuellen Elektron-Positron-Paaren) ersetzt. Planck kannte jene Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Industrie und Kultur­leben, die die deutsche Kultur auf ihrem Höhepunkt personifizierten. Er hatte ebenso das Unglück, jene kennenzulernen, die für ihre Zerstörung verantwortlich waren. Planck stellt in der Geschichte eine jener wenigen Personen dar, in deren Lebenszeit mehrmals tiefgreifende Umwälzun­gen erfolgten, an denen sie zum Teil selbst mitgearbeitet hatten. Zu Plancks wichtigsten Entdeckungen zählen das Energiequantum - und Albert Einstein.

Im Jahre 1900 entdeckte Planck zu seiner Bestürzung, daß er eine Büchse der Pandora geöffnet haben könnte. Das brennendste physi­kalische Problem dieser Zeit war das Spektrum der Strahlung, die von einem Hohlraum innerhalb eines heißen Körpers (daher die Bezeichung Hohlraumstrahlung) emittiert wird. Dieses Spektrum stellte die For­scher vor Rätsel, weil es zwar von der Beschaffenheit des Materials unabhängig, also universell war, jedoch sich trotz aller Bemühungen ei­ner theoretischen Beschreibung der Hohlraumstrahlung entzogen hatte. Plancks Theorie aus dem Jahre 1900 beschrieb die Hohlraumstrah­lung als Ergebnis des Energieaustausches zwischen den Elektronen des Körpers und dem kontinuierlichen Strahlungsfeld innerhalb des Hoh­lraumes, der diskontinuierlich mittels Energiequanten erfolgen sollte. Diese grobe Verletzung der Stetigkeit veranlaßte Planck, viele Jahre

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seines Lebens der Suche nach anderen theoretischen Beschreibungen seines Strahlungsgesetzes zu widmen. Sein Ziel war die Vermählung des Strahlungsgesetzes mit der klassischen Theorie des Elektromagne­tismus.

Ungeachtet des Ansehens, das Planck in wissenschaftlichen Kreisen genoß, wurde seine Theorie gnädig ignoriert, bis sie von einem Beamten am Patentamt in Bem, Albert Einstein (1879-1955), zweimal wieder zum Leben erweckt wurde.

Während Planck und sein Assistent Max von Laue (1879~1960) -das "von" kam im Jahre 1914 zum Namen, als Laues Vater in den er­blichen Adelsstand erhoben wurde - bereits als Studenten erfolgreich waren, erwies sich Einsteins Karriere nach dem Studium als Fehlschlag. Nach dem Urteil seiner Prüfer an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich hatte Einstein eine wenig zufriedenstellende Lei­stung erbracht und besaß keine besonders guten Zukunftsaussichtenj er konnte nicht als Assistent seine wissenschaftliche Ausbildung ver­tiefen. Erst 1902, zwei Jahre nach seiner Graduierung, fand er eine Daueranstellung am Patentamt in Bem, wo er bis 1909 blieb, als er außerordentlicher Professor an der Universität Zürich wurde. Trotz der Büroarbeit im Patentamt war die Zeit von 1902 bis 1909 die schöpfe­rischste in Einsteins Leben. Das Jahr 1905 war Einsteins erstes annua mirabilia.

Betrachten wir den Zustand der Physik um das Jahr 1905. Die Aus­sichten, die Gesetze der Physik auf jene der Newtonsehen Mechanik zu reduzieren (das heißt, ein mechanisches Weltbild zu verwirklichen), wa­ren angesichts der Erfolge der elektromagnetischen Theorie, die 1892 durch den bedeutenden holländischen Physiker H. A. Lorentz formu­liert worden war, geschwunden. In der Lorentzsehen Theorie wurden die Gleichungen, die das elektromagnetische Feld beschreiben, ohne Beweis, das heißt als Axiome, akzeptiert. Die Grundannahme der Lorentzsehen Theorie war, daß die Quellen des elektromagnetischen Feldes Elektro­nen sind, die sich in einem alles durchdringenden und absolut ruhenden Äther bewegen. Andererseits fehlte den komplizierten mechanischen Modellen, die das mechanische Weltbild zum Ersatz der Wirkung des Äthers bot, die Vorhersagekraft und die Erklärungsmöglichkeiten der Lorentzsehen Theorie. Im Jahre 1900 schlug der deutsche Physiker Wil­helm Wien ein Forschungsprogramm vo., dessen Ziel die Reduktion der gesamten Physik auf die Lorentzsehe Theorie war (das heißt, auf ein "elektromagnetisches Weltbild").

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Bis zur Mitte des Jahre 1905 glaubten viele Forscher, daß dieses Ziel der Vereinheitlichung der Kräfte fast erreicht sei. Es gab zwei gut ausgebaute Theorien des Elektrons. In den Jahren 1902 bis 1903 hatte der Göttinger Physiker Max Abraham eine Theorie vorgeschla­gen, in der das Elektron eine feste Kugel blieb. Im Jahr 1904 erwei­terte Lorentz seine elektromagnetische Theorie zur Theorie eines defor­mierbaren Elektrons. Das Lorentzsehe Elektron konnte man mit einem Ballon vergleichen, der mit Ladung ausgefüllt war und sich in seiner Bewegungsrichtung kontrahierte. Beide Theorien konnten das Versa­gen von optischen und elektromagnetischen Experimenten erklären, die eine Erdbewegung relativ zum Äther mit einer Genauigkeit von der Größenordnung v / c feststellen wollten, wobei v die Erdgeschwindigkeit relativ zum Äther ist. Doch nur die Lorentzsehe Theorie konnte auf Grund ihrer Hypothese, daß sich bewegte Körper in ihrer Bewegungs­richtung kontrahieren, erklären, warum bei den Ätherdriftexperimenten auch Effekte zweiter Ordnung in v / c nicht beobachtet werden.

Beide Theorien stimmten hinreichend gut mit den Daten des deut­schen Experimentalphysikers Walter Kaufmann zur Geschwindigkeits­abhängigkeit der Masse schneller Elektronen überein. Gegen die Lo­rentzsehe Theorie erhob allerdings Abraham den ernsten Einwand, daß das deformierbare Elektron explodieren könnte, sollte nicht Lorentz Bindungskräfte mit nicht-elektromagnetischem Ursprung einführen. Dieses Verfahren verletzte nach Abraham jedoch den Geist des elek­tromagnetischen Weltbildes. Zu Beginn seiner Untersuchungen hatte Abraham Rat und philosophische Unterstützung in den Schriften des Philosophen und Wissenschaftlers Ernst Mach gesucht. Im Sinne Machs behauptete Abraham, daß seine Version des elektromagnetischen Welt­bildes "ökonomische Bedeutung" habe, da die Dynamik des Elektrons von einer einzigen Größe abgeleitet werden könnte, nämlich der La­grangefunktion des Elektrons, zu der nur die Eigenfelder des Elektrons beitragen.

Die Lorentzsehe Theorie sollte sich trotzdem durchsetzen. Lorentz fand Unterstützung bei Henry Poincare, einer dominierenden wissen­schaftlichen Persönlichkeit des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen monumentalen Arbeiten der Jahre 1905 und 1906 löste Poincare das Problem der Stabilität des Lorentzsehen Elek­trons, und es gelang ihm, die Lorentzsehe Theorie in einer Lagran­gesehen Formulierung darzustellen. Er konnte weiters beweisen, daß nur die Lorentzsehe Theorie des Elektrons mit dem Relativitätsprin-

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zip der Newtonsehen Mechanik übereinstimmen konnte, das Poincare auf Grundlage der elektromagnetischen Theorie neu formulierte - kein Experiment könnte die Bewegung eines Inertialsystems zeigen.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Lorentzsehe Theorie konnte Effekte wie die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse, die Kontrak­tion von bewegten Objekten und die Isotropie der Lichtgeschwindigkeit in Inertialsystemen erklären, sie sollten alle durch die Wechselwirkun­gen zwischen den Elektronen der Materie und dem Äther verursacht sein. Viele Wissenschaftler glaubten, daß nur die Lorentzsehe Theo­rie wirklich geeignet wäre, den Grundstein eines elektromagnetischen Weltbildes zu bilden.

Einstein kannte die Versuche, die physikalischen Theorien zu ver­einheitlichen, doch war ihm zur Mitte des Jahre 1905 klargeworden, daß die Physiker einem Trugbild nachliefen. In seinen autobiogra­phischen Anmerkungen2 des Jahres 1946 erinnerte sich Einstein, daß nach "Plancks bahnbrechendem Werk" über die Hohlraumstrahlung we­der die Mechanik noch der Elektromagnetismus als Grundsteine einer physikalischen Theorie dienen konnten, da auf der Ebene der Atome das Plancksche Strahlungsgesetz diese Theorien verletzte. Das Planck­sehe Gesetz beschränkte die Bewegungszustände der Elektronen des Hohlraumes und stand dadurch im Widerspruch zur damals bekann­ten Mechanik; darüber hinaus verletzte der diskontinuierliche Aus­tausch von elektromagnetischer Energie zwischen den Elektronen und der Strahlung im Inneren des Hohlraums die elektromagnetische Theo­rie. Einsteins Untersuchungen des Jahres 1904 zur statistischen Mecha­nik bestärkten seine Meinung zu den Bestrebungen nach einer Verein­heitlichung der Kräfte: Mechanik und Elektromagnetismus funktionie­ren nicht in räumlichen Bereichen, deren Volumina mit dem Volumen eines Elektrons vergleichbar sind. Daher erkannte nur Einstein, daß konstruktive Theorien, die entweder auf dem mechanischen oder auf dem elektromagnetischen Weltbild aufbauten, nicht in Frage kämen.

Einstein erinnerte sich jener beunruhigenden Entdeckung in seinen autobiographischen Anmerkungen. Er stellte sich damals die Frage, wie er "das theoretische Fundament der Physik diesen Erkenntnissen anpassen" könnte. Er schrieb über seine Verzweiflung: "Es war, wie wenn emem der Boden unter den Füssen weggezogen worden wäre,

2 A. Einstein, "Autobiographisches", in Albert Einstein als Philosoph und Naturfor­scher, hrsg. von P. A. Schilpp (Braunschweig 1979), S. 19

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ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können."3 Nach einigen vergeblichen Versuchen, die physikalische Theo­rie zu flicken, erkannte Einstein, daß "nur die Auffindung eines allgemei­nen formalen Prinzips uns zu gesicherten Ergebnissen führen könnte".4 Was er im Sinne hatte, war ein einschränkendes Prinzip, das keinerlei Voraussetzung über die Zusammensetzung der Materie traf. Beispiele solcher Prinzipien sah Einstein in den Gesetzen der Thermodynamik, die die Unmöglichkeit eines perpetuum mobile unabhängig von der ma­,teriellen Beschaffenheit des Systems behaupten.

Das richtige universelle Prinzip fand er in einem Gedankenexperi­ment, über das er bereits seit 1895 gegrübelt hatte. Der Kern dieses Gedankenexperiments war folgender: (1) Die gegenwärtige Physik be­hauptet, daß ein Beobachter, der sich parallel zu einer Lichtwelle be­wegt, deren Quelle im Äther ruht, die Tatsache seiner Bewegung durch die Messung der Lichtgeschwindigkeit erkennen kann. (2) Für Einstein war es jedoch "intuitiv klar" ,6 daß die Gesetze der Optik nicht vom Bewegungszustand des Beobachters abhängen können. Die Aussagen (1) und (2) widersprachen sich gegenseitig, und damit enthielt dieses Gedankenexperiment für Einstein ein Paradoxon.

Auf ihre Weise versuchten auch Lorentz und Poincare dieses Parado­xon aufzulösen, indem sie ihrer Theorie Hypothesen hinzufügten. Doch zur Jahresmitte 1905 war Einstein überzeugt, daß weder Mechanik noch Elektrodynamik das Versagen der Ätherdriftexperimente erklären und zu einem konsistentem Weltbild führen könnten.

In seiner Autobiographie schrieb Einstein, daß die Art der Ana­lyse, die für die Auflösung dieses Rätsels notwendig war, "bei mir ent­scheidend durch die Lektüre von David Humes und Ernst Machs phi­losophischen Schriften gefördert wurde". Einstein hegte in dieser Be­ziehung große Achtung vor Machs "unbestechlicher Skepsis" ,8 die ihn. bestärkte, die Grundlagen der zeitgenössischen Physik in Frage zu stel­len. Die Analyse der Sinneswahrnehmungen durch Hume und Mach und die beschränkte Rolle der Induktion überzeugten Einstein, daß exakte Naturgesetze nicht aus empirischen Daten abgeleitet werden konnten. Dadurch verfiel Einstein nicht in den schläfrigen Dogmatismus, der für andere Physiker jener Zeit charakteristisch war. Einstein bezog eine Po-

3loc. cit., S. 17 41oc. cit., S. 20 51oc. cit., S. 21 6loc. cit., S. 20

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sition, die der neu-kantischen Philosophie nahe verwandt war und die Nützlichkeit von ordnenden Prinzipien, wie den Gesetzen der Thermo­dynamik, betonte. Da die neu-kantischen Ansichten eine wichtige Rolle im Buch von Rosenthal-Schneider spielen, lohnt es, darauf hinzuwei­sen, wie sie von jenen Philosophen und Wissenschaftlern interpretiert wurden, von denen uns Einstein berichtet, daß er sie vor 1905 gekannt hätte.

Im Jahre 1781 hatte Kant die Newtonschen Vorstellungen des abso­luten Raums und der absoluten Zeit zu Erkenntnissen jener Art erho­ben, die wir vor allen anderen besitzen (d.h., zu A-priori-Intuitionen). Nach Kant dienen diese Intuitionen als grundlegende Organisations­prinzipien, die unseren Verstand in die Lage versetzen, aus dem Pot­pourri von Sinneswahrnehmungen Erkenntnis zu konstruieren. Daher werden wir unwiderstehlich in Richtung auf eine dreidimensionale eu­klidische Geometrie und zum Gesetz der Kausalität und dann wei­ter zu höheren Ordnungsprinzipien, beispielsweise zur Newtonschen Physik, geführt. Obwohl die Entdeckung von nichteuklidischen Theo­rien im Jahre 1827 der Kantschen Anschauung einen harten Schlag versetzte, wurde trotzdem Kants Betonung der Rolle von A-priori­Prinzipien für das Verständnis wichtig erachtet, warum exakte Natur­gesetze möglich sind. A-priori-Prinzipien spielten eine wichtige Rolle in den neu-kantischen Ansichten von Hermann Heimholtz, Heinrich Hertz und Henri Poincare.

Einsteins Erkenntnis des Gültigkeitsbereichs der elektromagneti­schen Theorie erlaubte ihm zusammen mit seiner Sympathie für neu­kantische Ansichten, mutig gegen die Strömungen der theoretischen Physik seiner Zeit anzukämpfen. Er löste das Paradoxon von 1895, in­dem er eine neue Sicht der Physik formulierte, in der kein Widerspruch auftritt. Die neue Sicht beruhte auf zwei Postulaten. Erstens erhob Einstein das Relativitätsprinzip der Newtonschen Mechanik zu einem Axiom (und formulierte es ähnlich zu Poincares Relativitätsprinzip, das die Grundlage für die Lorentzsche Elektronentheorie bildete) und erwei­terte es, so daß es die elektromagnetische Theorie einschloß. Zweitens postulierte Einstein, daß die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Bewegung der Quelle sei und in jedem Inertialsystem denselben Betrag habe. Mit anderen Worten, um die elektromagnetische Theorie und die Mechanik auf einer gemeinsamen Grundlage behandeln zu können, gab Einstein dem Forschungsprogramm der Physik eine neue Richtung. Die heiden Prinzipien Einsteins versuchen keinerlei Erklärung; sie erklären

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zum Beispiel nicht, warum die gemessene Lichtgeschwindigkeit immer dieselbe ist. Während das Relativitätsprinzip von Lorentz und Poin­care auf einer Theorie der Materie aufgebaut war, die in beträchtlichem Ausmaß von experimentellen Daten und vom negativen Resultat der Ätherdriftexperimente abhing, war Einsteins Ansicht von Annahmen über die Zusammensetzung der Materie unabhängig. Aufgrund von Einsteins zweitem Postulat war die Suche nach beobachtbaren Effekten der Ätherdrift eine vergebliche Mühe. Diese Axiome führten allerdings zu überraschenden Konsequenzen - und keine überraschte mehr als die Relativität von Zeit und Gleichzeitigkeit.

Einsteins Arbeit zur Relativitätstheorie aus dem Jahre 1905 mit dem Titel "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" war die letzte von drei Arbeiten, die in dem seither berühmten Band 17 der Annalen der Physik erschienen sind. Die erste dieser Veröffentlichungen hatte ein theoretisches Hilfsmittel zum Verständnis von Prozessen vorgeschlagen, in denen Licht in Materie umgewandelt wird - demnach konnte Licht als Schauer von Teilchen, die sich durch den Raum bewegen, verstanden werden. Während Planck nur den Energieaustausch zwischen dem kon­tinuierlichen Strahlungsfeld und der aus Teilchen bestehenden Materie quantisiert hatte, quantisierte Einstein auch das Strahlungsfeld selbst. Dabei beachtete er den Geist seiner Zeit und vermied die Verwendung des Planckschen Strahlungsgesetzes. Ihm reichte das allgemein akzep­tierte Strahlungsgesetz von Wilhelm Wien für seine theoretischen Ab­leitungen.

Einsteins zweite Veröffentlichung des Jahres 1905 schlug eine Lösung des Problems der Brownschen Bewegung vor. Diese ersten bei den Ar­beiten benützten eine konstruktive Theorie (die statistische Mechanik), und ihr Ziel war es, die Grenzen der Anwendbarkeit von Thermodyna­mik, Mechanik und elektromagnetischer Theorie zu zeigen. Im Gegen­satz dazu schlug die Relativitätsarbeit eine Theorie vor, die er später eine Prinzipientheorie nannte, eine Theorie, die angab, welche Form die Gesetze der Physik annehmen sollten, bevor sie zu speziellen Untersu­chungen wie etwa der Struktur der Materie verwendet werden sollten.

Es ist eine Untertreibung zu sagen, daß Einsteins Absicht bei der Abfassung dieser drei Veröffentlichungen zu seiner Zeit mißverstanden wurde. Die Lichtquantenhypothese wurde zunächst abgelehnt. 1906 formulierte der polnische Physiker Marian von Smoluchowski eine Theo­rie der Brownschen Bewegung, die seinen Zeitgenossen verständlicher war als Einsteins Theorie, auch wenn sie weniger tief ging. Die Arbeit

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zur Relativitätstheorie wurde bestensfalls als Beitrag zur Lorentzsehen Theorie des Elektrons angesehen, da einige Ergebnisse in mathema­tischer Hinsicht identisch waren. Erst Einsteins Quantentheorie der spezifischen Wärmen des Jahres 1907 führte im Jahre 1909 zu seiner Berufung als außerordentlicher Professor an die Universität Zürich; sie war für die Akzeptanz des Planckschen Gesetzes der Hohlraumstrah­lung wichtig.

An dieser Stelle betritt Planck wiederum die Szene. Als führen­des Mitglied des Kuratoriums der Annalen der Physik mag er wohl den 'Weg für die Veröffentlichung von Einsteins unorthodoxer Arbeit zur Refativitätstheorie geglättet haben - sie hatte zum Beispiel keine Literaturhinweise. Planck war der früheste Anhänger der Lorentz­Einsteinsehen Theorie des Elektrons, nachdem er sich von der Frucht­barkeit des Einsteinsehen Relativitätsprinzips überzeugt hatte, die er als Verallgemeinerung eines Prinzips von Lorentz und Poincare ver­stand. Auf Plancks Wunsch hielt sein Assistent Max von Laue im Win­tersemester 1905/06 einen Kolloquiumsvortrag über die Relativitäts­arbeit. Bereits im Studienjahr 1906/07 hielt Planck selbst Vorlesun­gen über die Lorentz-Einsteinsche Theorie und veröffentlichte über sie mehrere Arbeiten. Als Kaufmann zu Beginn des Jahres 1906 Daten veröffentlichte, die die Theorie zu widerlegen schienen, konnte Planck in Kaufmanns Veröffentlichung keinen Fehler finden. Trotzdem vertei­digte er ab diesem Zeitpunkt die Lorentz-Einsteinsche Theorie mit der Begründung, daß sie ihm "sympathisch" wäre. (1906 prägte Planck die Bezeichung "Relativtheorie" , um die Lorentz-Einsteinsche Theorie von der Abrahamsehen "Kugeltheorie" des Elektrons zu unterscheiden.)

Planck sah in der Lorentztransformation für Raum und Zeit den In­halt des Relativitätsprinzips. In einer umfangreichen Arbeit benutzte er 1907 die Lorentzinvarianz des Prinzips der kleinsten Wirkung, um die Mechanik von Einstein, Lorentz und Poincare zu verallgemeinern und sie so zu erweitern, daß sie die Thermodynamik einschloß. Wie Abraham war Planck von der vereinheitlichenden Kraft des Lagran­geformalismus beeindruckt. Doch für Planck hatte die Lagrangesehe Formulierung einer allgemeinen Dynamik eine weit tiefere Bedeutung: Die Vereinheitlichung des Weltbildes sollte durch das Lorentz-invariante Prinzip der kleinsten Wirkung erreicht werden. Dieser Weg stimmte mit Plancks neu-kantischem Versuch überein, ein Weltbild auf der Grund­lage unveränderlicher Organisationsprinzipien zu errichten, die auf eine objektive Wirklichkeit hinter den Erscheinungen weisen. Planck stellte

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seinen philosophischen Standpunkt in einer Kontroverse mit Mach in den Jahren 1909 und 1910 ausführlich dar, die in den Seiten einer phy­sikalischen Zeitschrift ausgetragen wurde. (So wichtig erschien den deutschsprachigen Physikern die Philosophie.) Ihre Meinungsunter­schiede in erkenntnistheoretischen Fragen waren unversöhnbar. Ein­stein mag Plancks Standpunkt gefallen haben, entsprach er doch seiner eigenen Abkehr von der Machsehen Philosophie der Naturwissenschaft, die er in seinen Jugendjahren mit großem Interesse verfolgt hatte. An­dererseits wird Einstein wenig Verständnis für Plancks exzessives Ver­trauen auf empirische Daten und für dessen Zögern gehabt haben, den Lorentzsehen Äther aufzugeben. Zum Beispiel nahmen 1908 viele führende Physiker mit Freude zur Kenntnis, daß die Kaufmannsehen Daten des Jahre 1905 zugunsten genauerer Daten von anderen Expe­rimentatoren aufgegeben werden konnten, die die Lorentz-Einsteinsche Theorie unterstützten. Planck bestand jedoch darauf, nach weiterer empirischer Untermauerung zu suchen. Einstein hingegen hatte nie­mals am Ergebnis gezweifelt.

Obwohl es Meinungsunterschiede zu grundlegenden Fragen gab, war Planck von den Fähigkeiten Einsteins zutiefst beeindruckt. Im Sommer 1913 bot er Einstein eine Professur in Berlin an. Gegen Jahresende 1913 schrieb Einstein, bevor er diese Stelle antrat, an seinen Freund und früheren Bürokollegen am Patentamt, Michele Besso, daß weder Laue, noch Plack oder Sommerfeld zugänglich seien, wenn es um prinzipielle Fragen gehe. Für Einstein waren die fundamentalen Fragen immer wichtig. Er focht einen Titanenkampf, der seinen Höhepunkt in der Schaffung der Allgemeinen Relativitätstheorie von 1915 hatte, seinem zweiten annus mirabilis.

Max von Laue hatte zu dieser Zeit bereits wichtige Beiträge zur Relativitätstheorie geleistet: im Jahr 1907 leitete er den Fresnelschen Mitführungskoeffizenten aus dem Einsteinsehen Additionsgesetz der Geschwindigkeiten ab; von 1911 bis 1912 stellte er die Transformations­eigenschaften des Energie-Impuls-Tensors auf, wodurch er innerhalb der Relativitätstheorie die Begriffe Energiestrom und Impulsstrom sauber definieren und einige ungelöste Probleme der Kinematik ausgedehnter Systeme lösen konnte. Für die Entdeckung, wie die Struktur von Kri­stallen durch Beugung von Röntgenstrahlen am Kristallgitter bestimmt werden kann, wurde Max von Laue im Jahre 1914 der Nobelpreis ver­liehen. 1917 erhielt er eine Professur an der Universität Berlin.

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1923 war die erste Welle von Untersuchungen zur Allgemeinen Re­lativitätstheorie bereits verebbt, doch wurden Einsteins Theorien über Raum, Zeit und Gravitation als wissenschaftliche Meisterwerke aner­kannt, die die weitere Entwicklung der Physik im zwanzigsten Jahr­hundert bestimmen sollten. Einstein machte sich damals - was für ihn der logisch nächste Schritt seiner Forschung war - auf die Suche nach einer einheitlichen feldtheoretischen Beschreibung von Elektromagne­tismus und Gravitation, in der sich die Teilchen als Singularitäten der Lösungen der Feldgleichungen, sozusagen als Knoten im Raum-Zeit­Kontinuum ergeben sollten. Für jüngere Forscher stellte jedoch die Quantentheorie des Atoms das Hauptproblem der Physik jener Zeit dar. Während Einstein von Anfang an Verletzungen der klassischen Physik ablehnte und sich seit 1915 auf eine feldtheoretische Beschrei­bung der Natur festgelegt hatte, hatte sich die von Niels Bohr geprägte neue Forschungsrichtung offen auf Diskontinuitäten und einen radikalen Bruch mit der klassischen Physik festgelegt.

In den Jahren 1923 bis 1927 wurden die Vorstellungen von Raum, Zeit, Kausalität und Stetigkeit der Bewegung unter Schmerzen von ihrer klassischen Grundlage gelöst. Der sich ergebende philosophische Unter­bau der neuen Atommechanik - die Quantentheorie des Atoms - mißfiel Einstein. Das Bohrsehe Komplementaritätsprinzip war der Versuch, die diskontinuierlichen und die kontinuierlichen Aspekte der Atomphy­sik gemeinsam zu verstehen. Das Komplementaritätsprinzip lehnte ab initio jegliche ontologische Vorstellung einer physikalischen Realität als übelste Metaphysik ab. Fragen nach dem Zustand eines physikalischen Systems erhielten Sinn nur durch den Meßprozeß, in dem die Plancksche Konstante Beobachter und beobachtetes System untrennbar verknüpft. Folglich wurde die Vorstellung eines sich ungestört in Raum und Zeit entwickenden Systems zur Abstraktion. Gleichzeitig trennte das Kom­plementaritätsprinzip das Kausalgesetz von der Beschreibung in Raum und Zeit, während die klassische Theorie ihre Einheit postuliert hatte. Außerdem ist die Quantentheorie nicht im Sinne der klassischen Theo­rie deterministisch, da nicht jeder Zustand bei der Entwicklung eines atomaren Systems gleich wahrscheinlich ist.

Das Bohrsehe Komplementaritätsprinzip betrifft den Welle-Teil­chen-Dualismus von Licht und Materie, der ein weiteres Nebenergebnis von Einsteins Untersuchungen ist. Während Einstein im Jahr 1905 die Lichtquanten als heuristisches Hilfsmittel betrachtete, gestand er ihnen 1927 nicht einmal mehr diese Rolle zu. 1909 hatte Einstein betont, daß

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der Teilchenaspekt des Lichts das Versagen der elektromagnetischen Theorie (des Elektrons) zeige. Seine Untersuchungen der Eigenschaf­ten des idealen Quantengases zeigten 1925, daß dessen Bestandteile ein Welle-Teilchen-Verhalten zeigten. Einsteins Ziel einer einheitlichen Feldtheorie schloß die Integration des Teilchenaspekts der Materie in eine sowohl kausale als auch deterministische Beschreibung durch Wel­len ein. Bohr hatte bis zum Jahr 1925 den Lichtquanten jegliche phy­sikalische Bedeutung abgesprochen, bis ihn neue experimentelle Da­ten vom Gegenteil überzeugten. Die Existenz der Lichtquanten führte auf paradoxe Situationen, die fast allen unüberbrückbar schienen. Wie konnten beispielsweise Lichtquanten mit einander interferieren? Wie Einstein im Jahr 1905 unternahm es diesmal Bohr, den Gordischen Knoten dieser Paradoxien mit einem Schlag aufzulösen: das Komple­mentaritätsprinzip ordnet keine der beiden Existenzweisen atomarer Teilchen der anderen unter, sondern stellt sie auf gleiche Stufe, indem sie als gegenseitig ausschließend angesehen werden. Obwohl ein atoma­res System in einem bestimmten Experiment nur einen seiner bei den Aspekte zeigt, sind daher beide Aspekte zur vollständigen Beschrei­bung des System notwendig. Der Dualismus von Welle und Teilchen war nach Bohr verantwortlich für die Neuinterpretation von Kausalität und physikalischer Wirklichkeit auf der Ebene der Atome. Die Hei­senbergsche Unbestimmtheitsrelationen erwiesen sich als Sonderfall des Komplementaritätsprinzips.

Für Einstein stellte die Quantentheorie einen bedeutenden Fort­schritt dar, doch konnte er sie nicht als Grundlage einer vollständigen Theorie atomarer Erscheinungen akzeptieren. Seine Hauptkritik betraf die Unvollständigkeit der Quantentheorie, da sie die gen aue Kenntnis des Zustands eines Systems verhindert. Daher stand Bohrs Komple­mentaritätsprinzip im Widerspruch zu Einsteins realistischer Welt sicht , die hinter den Phänomenen eine objektiv existierende Wirklichkeit po­stulierte. Dr. Rosenthal-Schneider diskutiert einen Teil der zwischen Bohr und Einstein geführten Kontroverse, die 1927 begann. Gleichzei­tig macht sie einige bisher unveröffentlichte Äußerungen von Planck und Laue zu Themen der Quantenmechanik erstmals zugänglich. Es möge an dieser Stelle folgender Hinweis genügen: Gegen die dogmatische Ri­gidität des Komplementaritätsprinzips mit seiner Festlegung, daß eine theoretische Beschreibung (Welle oder Teilchen) nur durch empirische Daten ausgewählt wird, antwortete Einstein im Jahr 1949 auf Bohr:

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"Die hier vertretene Auffassung unterscheidet sich von der Kants nur dadurch, daß wir die ,Kategorien' nicht als unabänderlich (durch die Natur des Verstands bedipgt), sondern als (im logischen Sinne) freie Setzungen auffassen. . .. [man sieht], daß es mir als verfehlt erscheinen muß, das theoretische Beschreiben direkt abhängen zu lassen von Akten empirischer Konstatierungen, wie es mir bei dem Bohrsehen Komplementaritätsprinzip beabsichtigt zu sein scheint

,,7

Mag Dr. Rosenthal-Schneiders Buch nach Seiten gezählt nicht sehr umfangreich erscheinen, so ist ihr Bericht des lebenslangen Bemühens von Einstein, von Laue und Planck um ein Verständnis der "Wirklich­keit und wissenschaftlichen Wahrheit" um so wertvoller. Ihr Buch ist ein bleibender Beitrag zur Geschichte und Philosophie der Naturwis­senschaften.

Arthur 1. Miller Department of Physics Harvard University

71oc. cit., S. 500

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Vorwort des Herausgebers

Der persönliche Charakter der Erinnerungen, die dieses Buch enthält, verleihen ihm eine besondere Note. Die Verfasserin war zeit ihres Lebens beeindruckt, daß die drei Männer, bei denen sie studiert hatte, so zugänglich waren. Ja, sie waren mehr als dies: Oft unternah­men sie den ersten Schritt. Einsteins Einladung, ihn zu besuchen und mit ihm die von der Verfasserin übersandte Dissertation zu diskutieren, kam unerwartet. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch nicht ahnen, daß weitere Diskussionen folgen sollten, die später schriftlich weitergingen.

Als im Jahre 1944 das Gerücht aufkam, die Universität von Sydney wolle einen Lehrstuhl für Philosophie der Naturwissenschaften einrich­ten, wartete Einstein nicht, bis er um ein Empfehlungsschreiben gebe­ten wurde. Um angesichts der kriegsbedingten Verzögerungen der Post Zeit zu sparen, sandte er der Verfasserin einen Brief, um ihr zu sagen, wie sehr er hoffe, daß sie den Lehrstuhl erhalten möge, und er legte offen Zeugnis ab, indem er ihre zahlreichen Diskussionen über Grund­lagenprobleme der Naturwissenschaften anführte. "Sie besitzt eine gut fundierte Kenntnis dieser Materie", schrieb er, "und ist in ihren An­sichten und Meinungen völlig unabhängig und eigenständig. Ich bin überzeugt, daß sie im Stande sein wird, Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften attraktiv und anregend darzustellen."

Max von Laue lernte sie persönlich erst kennen, als er als zweiter Begutachter ihrer Dissertation eingesetzt wurde. Zu dieser Zeit sprach sie ihn nach einer Vorlesung an. Als er erfuhr, daß das Thema der Dissertation "Das Problem von Raum und Zeit bei Kant und Einstein" lautete, wollte er sie sogleich sehen. "Ist sie fertig? Haben Sie sie bei sich? Kann ich sie haben?" Und er ging weg mit der Disserta­tion in seiner Aktentasche. Am nächsten Morgen folgte die nächste Überraschung. Von Laue rief die Verfasserin an, um ihr sein nahezu vollständiges Einverständnis mit der Dissertation mitzuteilen, lediglich einen Punkt wollte er mit ihr diskutieren. Dazu lud er sie in sein Haus ein, wo sie eine aufschlußreiche Diskussion über den "logischen Sta­tus" der Lorentz-Transformation führten. Abschließend ersuchte er, die Dissertation noch vor den vier mündlichen Prüfungen zitieren zu dürfen. Sie hatte leichte Bedenken, den positiven Ausgang der mündli­chen Prüfung vorweg zu nehmen. Doch alles ging gut vorbei. Aufgrund

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von Laues Ermutigung machte sie aus ihrer Dissertation ein Buch, das 1921 erschien. Der vorliegende Band berichtet über die späteren Jahre freundschaftlichen Kontakts.

Das Schlußkapitel gibt einen lebendigen Eindruck von der einfa­chen Bescheidenheit und edlen Haltung des greisen Max Planck. Frau Dr. Rosenthal-Schneider besuchte ihn am 23. April 1938, am Vortag zu seinem achtzigsten Geburtstag, zum letzten Mal, um ihm Lebewohl zu sagen. Er wollte ihr ein Empfehlungsschreiben mitgeben, doch schätzte er seine Verdienste und seine Bekanntheit so niedrig ein, daß er zwei­felte, ob wohl jemand in Sydney von ihm gehört haben könnte. Sie wollte ein solches Angebot aus den gleichen Gründen, die sie bereits von Laue genannt hatte, keinesfalls annehmen: Sie dachte, es könnte für ihn von Nachteil sein, wenn bei der Grenzkontrolle ein Brief mit einem Hilfeersuchen für einen Flüchtling gefunden würde. Solche Bedenken waren ihm jedoch fremd. Anläßlich der offiziellen Geburtstagsfeier am nächsten Tag sprach Planck in der ihm eigenen klaren und eindrucks­vollen Weise, ohne auf die Anwesenheit führender Nazipolitiker, die in der ersten Reihe saßen, Rücksicht zu nehmen. Und von Laue erwähnte in seiner Ansprache unvorhergesehen einen der Kollegen, der ein Opfer der Nazis geworden war und Deutschland verlassen hatte, als "unser lieber Herr Dr. L. - derzeit in Paris".

Planck war ein Mensch mit einer tiefreligiösen Weltsicht. Sein Glaube an die Gesetzmäßigkeit der Natur war untrennbar mit seinem Glauben an Gott verbunden. In anderer Weise und mit anderen Schwer­punkten trifft dies auch auf von Laue und auf Einstein zu. Die folgen­den Diskussionen zeigen nicht nur ihre Ansichten zu philosophischen Fragen von fundamentaler Bedeutung für die Naturwissenschaften, sie weisen auch auf einen Zusammenhang zwischen Glauben und Handeln hin. Die Gesinnung, die diesen Forschern als Wissenschaftsphilosophen Ruhm brachte, ließ sie ungebeugt durch Unglück und gefährliche Zeiten schreiten.

Der Zusammenhang zwischen ihren Weltanschauungen und ihren Persönlichkeiten ist das Thema dieses Buches. Es wird seine Bestim­mung dann erfüllen, wenn es auf einige Ideen dieser drei Forscher auf­merksam macht und ihre Persönlichkeit dem Leser näher bringt.

Thomas Braun Merton College Oxford University

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Danksagung

Mein allererster Dank gilt den freundlichen und hilfreichen N ach­laßwaltern Albert Einsteins, Helen Dllkas und Dr. Otto Nathan, für die Erlaubnis, die mir von Einstein geschriebenen Briefe publizieren zu dürfen. Weiter danke ich Professor Theodor von Laue für die Erlaubnis, an mich gerichtete Briefe seines Vaters Max von Laue zu veröffentlichen, und Frau Dr. Nelly Planck für die Publikationserlaubnis der Briefe von Max Planck an mich.

Besonderen Dank schulde ich außerdem meinem Herausgeber Tho­mas Braun, der mit seiner Zeit nicht geizte, um das Buch zum Druck vorzubereiten. Ohne sein unermüdliches Interesse und ohne den An­sporn durch ihn hätte ich unmöglich die Kraft aufgebracht, das Werk zu vollenden - dafür meinen herzlichsten Dank.

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1 Einleitung

Der Glaube an die Gesetzmäßigkeit der Natur, das Streben, allge­meine und universell gültige Gesetze zu finden, und die Hoffnung - oder sogar Erwartung -, der "Wahrheit" über die "Wirklichkeit" näher zu kommen, haben ihren Grund in einer besonderen persönlichen Welt­sicht, die tiefere Wurzeln als alle naturwissenschaftlichen Disziplinen und philosophischen Systeme hat.

Der persönliche Kontakt mit einem schöpferischen Geist ist anre­gend, er verstärkt den Drang nach Verstehen und vergrößert die Be­friedigung, wenn Aufklärung zuteil wurde. Wenn dies durch Mathema­tik oder eine theoretische Disziplin erfolgt, ist diese Befriedigung dem Vergnügen verwandt, das man an schöner Musik oder anderen wahren Kunstwerken empfindet.

Es war mein großes Glück, an der Universität Berlin studieren zu können, als Einstein, von Laue und Planck dort lehrten. Ihr Werk prägte mich stark und dauerhaft. Ich erhielt Einblick in ihr Denken, die ihnen eigenen Methoden und schließlich in ihre Persönlichkeit. Ich möchte einige meiner Erinnerungen in der Hoffnung wiedergeben, ihre Ansichten und ihre Persönlichkeit für die, die sie kannten, lebendig zu erhalten und für alle anderen erstehen zu lassen.

Jeder der drei großen Forscher schrieb eine Lebensgeschichte und eine wissenschaftliche Biographie. Einsteins Biographie ist in dem von Paul A. Schilpp herausgegebenen Band Albert Ein3tein: Phil030pher­Scienti3t (Evanston, 1949) enthalten. Dieser Band liegt in einer deut­schen Ausgabe vor: Albert Ein3tein als Philosoph und Naturfor3cher, hrsg. von P. A. Schilpp (Stuttgart, 1954; Nachdruck: Braunschweig 1979); wir werden im folgenden mehrmals Gelegenheit haben, aus die­sem Band (im weiteren mit AE bezeichnet) zu zitieren. Max Planck hat uns eine Wi33en3chaftliche Selb3tbiographie (Leipzig, 1948) hinter­lassen, und Max von Laue legte seine Biographie in "My Development as a Physicist" in dem von P. P. Ewald herausgegebenen Band Fifty Year3 of X-Ray Diffraction (Utrecht, 1962) und in seinen Ge3ammelten Schriften und Vorträgen (3 Bde., Vieweg, Braunschweig 1961) nieder.

Mein Thema beschränkt sich auf eine vergleichsweise kleine Zahl von Problemen, zu denen ich Einstein, von Laue und Planck befragen

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konnte. Ihre Vorstellungen, die ich aus persönlichen Diskussionen und ihrer Korrespondenz zitieren werde, sollen nicht in chronologischer Rei­henfolge, sondern im Zusammenhang mit speziellen wissenschaftlichen Problemen dargestellt werden. Dadurch wird es möglich sein, ihre An­sichten deutlich und klar darzulegen. Die Authentizität meines Berichts ist dadurch gewährleistet, daß ich nur Aussagen zitieren werde, die mir gegenüber privat oder in persönlichen Schreiben an mich getroffen wur­den.

Die Philosophie der Naturwissenschaften wurde in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zu einem vollwertigen wissenschaftlichen Fach, selbst wenn sie gelegentlich mit der Geschichte der Naturwis­senschaften gekoppelt ist. Seltsamerweise wurde lange Zeit gerade die Geschichte der Naturwissenschaften besonders von experimentell arbei­tenden Naturforschern als Luxus ohne Relevanz für die moderne For­schung, als Zeitvertreib für in den Ruhestand getretene Professoren der Geschichte oder der Naturwissenschaften angesehen.

Noch im Jahre 1939 schrieb Eddington: "Meiner Meinung nach ist den Naturwissenschaftlern die Vorstellung immer noch fremd, daß die Philosophie der Naturwissenschaften irgendetwas mit der wissenschaft­lichen Praxis zu tun haben könnte." Heute ist die Situation gänzlich anders.

Im Jahre 1949 schrieb Einstein: "Erkenntnistheorie ohne Kontakt mit Science wird zum leeren Schema. Science ohne Erkenntnistheorie ist - soweit überhaupt denkbar - primitiv und verworren."}

Im Lauf der Entwicklung der Naturwissenschaften hat es stets einige Forscher gegeben, die an der philosophischen Bedeutung und den Im­pli kationen ihrer Theorien interessiert waren. Es gab auch Philosophen, die sich ernsthaft mit Naturwissenschaft auseinandersetzten, und einige der bedeutendsten unter ihnen, etwa Descartes oder Leibniz, waren auf beiden Gebieten schöpferisch tätig.

Philosophie und Naturwissenschaft, in der Antike identisch, waren Jahrhunderte hindurch von einander abhängig und oft der Religion un­tergeordnet. Als sich die Naturwissenschaft von Philosophie und Re­ligion trennte und im wesentlichen von beiden unabhängig wurde, er­folgte ihre Spezialisierung in verschiedene Zweige. Problemstellungen in diesen Spezialwissenschaften beanspruchten bald das ganze Interesse für sich.

1 A. Einstein, in AE, S. 507

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Dies führte zu bedeutenden Erfolgen in vielen verschiedenen Gebie­ten. Obwohl es große Entdeckungen theoretischer und experimenteller Natur in allen Teilgebieten der Naturwissenschaften gab, läßt doch der Inhalt des Wortes Science in seinem weitesten und umfassendsten Sinn -dem Sinn, den das lateinische ßcientia, das französische ßcience oder das deutsche Wort Wissenschaft ausdrücken - gewichtige Probleme offen. Der Kern der wissenschaftlichen Probleme betrifft das Ganze, die In­tegration der Einzelthemen. Diese beschränken sich keineswegs auf die Naturwissenschaften, sondern betreffen beispielsweise gleichzeitig die philosophischen Grundlagen der Mathematik und ihrer Anwendungen oder das Wesen der mathematischen Methode. Ein charakteristisches Problem ist: Kann die Mathematik auf rein logischem Weg Fortschritte erzielen?

Solche Fragestellungen können niemals durch verbesserte Beobach­tung oder durch Experimentieren mit modernsten Geräten beantwortet werden. Sie sind philosophischer Natur. Die alte Bezeichnung "N atur­philosophie" ist vielleicht am angemessensten.

Theoretische Fragen dieser Art können in verschiedener Weise an­gegangen werden. Sie wurden von einigen der bedeutendsten Wissen­schaftler aufgegriffen. Der von ihnen gewählte Zugang spiegelt ihre Grundeinstellung wieder. Es ist sinnlos, nach einem Beweis oder ei­ner Rechtfertigung für ihre Methode zu fragen. Niemand kann mit einigem Recht adäquate Begründungen für sie anführen. Sie fußen in ihrer persönlichen Überzeugung, ihrer eigenen philosophischen Sicht der Welt.

Einstein pflegte seine Überzeugung "mein Gottvertrauen" zu nen­nen oder er sprach von seinem "Instinkt als Physiker". Laue sprach von seiner "heiligen Überzeugung", Planck hingegen betonte seinen "Glau­ben an eine vernünftige und verständliche Weltordnung".

In welchem Ausmaß das intellektuelle Klima, der "Zeitgeist", oder rein persönliche Gründe für das Entstehen dieser Überzeugungen eine Rolle spielen, ist vom psychologischen und historischen Standpunkt sehr interessant und ist für den Biographen sehr aufschlußreich. Es ist jedoch keineswegs meine Absicht, diese Fragen hier zu besprechen, obwohl ich glaube, daß alles, was das Leben solch herausragender Menschen, ihre Leistungen und ihre Methoden betrifft, dauerndes Interesse behält und der Nachwelt erhalten werden sollte. Es stellt einen wesentlichen Teil der Wissenschaftsgeschichte und der Geschichte der Philosophie dar.

Als wichtigsten Zug der modernen Naturwissenschaften kann man

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das unablässige Bemühen ansehen, Fakten, die sich einer Deutung hartnäckig entziehen, auf allgemeine Prinzipien zurückzuführen.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts war das intellektuelle Klima für Un­tersuchungen im Bereich der Naturwissenschaften, besonders der Phy­sik, sehr aufgeschlossen. Nach den grundlegenden Leistungen von Fa­raday, Maxwell und Hertz, nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) und der Radioaktivität (Becquerel, 1896) erfolgten auch im theo­retischen Bereich großartige Entdeckungen, für die ich Plancks Quan­tentheorie (1900), Einsteins Relativitätstheorie (1905) und von Laues Theorie der Beugung von Röntgenstrahlen als Beispiele nennen möchte.

Als Einstein, von Laue und Planck - und später auch Schrödin­ger - in Berlin lehrten, kennzeichnete ein ungewöhnlich harmonischer Ideenaustausch diese Periode. Jeder Student muß den Nutzen dieser reibungslosen Zusammenarbeit gefühlt haben. Ein großer Vorteil war, daß diese großen Forscher nicht nur leicht zugänglich waren, sondern darüber hinaus Fragen von wirklich Interessierten zu schätzen schie­nen.

Einstein, von Laue und Planck waren Theoretiker, doch arbeite­ten sie eng mit Experimentalphysikern zusammen. Als Planck seine Strahlungsformel bei der Sitzung der Deutschen Physikalischen Gesell­schaft am 19. Oktober 1900 bekanntgab, überprüfte sie sein Kollege Rubens in der folgenden Nacht und besuchte ihn am nächsten Mor­gen, um die Resultate zu bestätigen.2 Der Vergleich von Formel und Meßdaten zeigte Übereinstimmung bis ins Detail. Auch Einsteins All­gemeine Relativitätstheorie wurde einer experimentellen Überprüfung unterzogen, als Eddingtons Expedition die erste Bestätigung der Vor­hersage Einsteins brachte. Laues genialer Vorschlag, ein Beugungsgit­ter aus Atomen für die Röntgenstrahlen zu verwenden, wurde sogleich experimentell überprüft - und die Ergebnisse bestätigten von Laues Erwartung.

Das Hauptinteresse dieser drei großen Forscher galt der Theorie, der Suche nach universell gültigen Naturgesetzen. Doch hat keiner von ih­nen die Bedeutung der Verifikation oder wenigstens deren Möglichkeit unterschätzt, obwohl ihnen dies verständnislose Kritiker gelegentlich vorwarfen, besonders wenn ihre neuen Ideen völlig unorthodox waren wie etwa im Fall der Planckschen Energiequanten. Als diese Idee vorge-

2Eine etwas andere Darstellung findet sich in A. Pais, ,,Raffiniert üt der Herr­gott . .. ", Albert Einstein, eine wissenschaftliche Biographie (Vieweg, Braunschweig 1986), S. 372

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stellt wurde, soll ein alter Professor den Raum mit den Worten verlassen haben: "Dies ist keine Physik mehr." Doch gilt, was Whitehead einmal schrieb: "Fast alle neuen Ideen enthalten einen Kern von Torheit, wenn sie erstmals vorgestellt werden."

Es hat auch keiner von ihnen unterschätzt, welch bedeutende Rolle die Mathematik bei der Formulierung ihrer Theorien spielte, selbst wenn sie die Grundideen völlig intuitiverfaßt hatten.

Reine Mathematik war jedoch nicht ihr Hauptanliegen. Sie waren Physiker und stets auf der Suche nach der physikalischen Bedeutung ihrer mathematischen Formeln. Beispielsweise sagte Planck, daß er unmittelbar nach der Entdeckung der Strahlungsformel versucht habe, "die Formel mit echtem physikalischen Inhalt zu erfüllen".

Auch Einstein suchte stets nach der wahren physikalischen Bedeu­tung von Beziehungen, die in mathematischer Form vorlagen. Entspre­chung mit der Natur war für ihn die wesentliche Eigenschaft, die einzige, die einer Theorie "Wahrheitsgehalt" geben konnte.

Als ich nach meiner Promotion nicht wußte, welche Tätigkeit ich beginnen sollte, gab mir Einstein den Rat, bei einem Patentanwalt zu arbeiten. Dort könnte ich Patentanmeldungen in die richtige logische Ordnung bringen, und ich würde stets mit den Naturgesetzen in Kon­takt stehen, mit wirklichen Objekten und Ereignissen; ich würde diese Dinge nie aus den Augen verlieren. (Laue riet mir von dieser Tätigkeit ab, und so landete ich bei einer Kommission der Akademie der Wis­senschaften in Berlin, die mit der Aufarbeitung der Briefe von Leibniz beschäftigt war. Einige davon waren höchst interessant, wie zum Bei­spiel jener, in dem Leibniz seine "neue" Methode beschrieb, die Diffe­rentialrechnung, und dabei eine Skizze zur Veranschaulichung heranzog - ganz im Gegensatz zu der von ihm für den Fortschritt der Mathematik propagierten Methode der reinen Logik.)

Laue hatte wie Einstein bereits als Schüler durch Einsicht in das We­sen der Mathematik einen überwältigenden Eindruck dessen erhalten, was er "das Wahrheitserlebnis" nannte. In seinen späteren Jahren war es jedoch nicht die reine Mathematik, die ihn - ebenso wie Einstein und Planck - am meisten anzog und beeindruckte. Seine Äußerungen ließen daran keinen Zweifel. Laue fand, daß Mathematik ohne die Möglichkeit einer Anwendung wie "Schwimmen im leeren Raum" sei.

Diese Ansicht habe ich nie völlig .eilen können, doch würde ich mich auch niemals der Gegenpartei anschließen mit ihrem wohlbekann­ten Trinkspruch auf die reine Mathematik: " ... und möge sie niemals

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eine Anwendung finden." Ich habe stets gefühlt, daß die Vereinigung von zwei völlig getrennten Gebieten der Mathematik - wie sie zum Bei­spiel Descartes mit der analytischen Geometrie leistete - für jeden eine faszinierende Erfahrung sein sollte; ich erlebte sie im Alter von fünfzehn Jahren.

Laue war tief beeindruckt, als er erkannte, wieviel Information über die Natur wir mit mathematischen Methoden erhalten können. Bei­spielsweise waren Maxwells "schöne ... und einfache Gleichungen" für ihn eine Offenbarung: "eine der tiefsten Erfahrungen, die man haben kann". Er empfand diese Ehrfurcht nicht nur vor der Schönheit der reinen Mathematik, sondern auch angesichts der mit den Hilfsmitteln der Mathematik erzielten Erkenntnis von Naturphänomenen.

Wie weit dürfen wir vernünftigerweise unsere Erwartungen in diese Richtung ausdehnen?

Selbst wenn sich die Grundannahmen einer Theorie in irgendeiner Weise überprüfbar zeigen, überprüft werden und für den gewünsch­ten Zweck geeignet gefunden werden - und so vom wissenschaftlichen Standpunkt aus vollständig akzeptabel werden, ist es dann möglich, mit ausschließlich mathematischen Methoden weiterzuarbeiten?

Dies läßt sich auf folgende Problemstellung reduzieren: Wie viel Wahrheit über die Wirklichkeit kann mit den Methoden der Mathema­tik gefunden werden?

Dies ist eine der zahlreichen Fragen, die ich noch gerne gestellt hätte. Doch nun ist es leider zu spät.

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2 Die universellen Naturkonstanten

Viele Jahre hatte ich über einige Rätsel der theoretischen Physik nachgedacht. Die wesentlichen Charakteristika der universellen Natur­konstanten, die in physikalischen Theorien auftreten, stellen eines der schwierigsten Grenzprobleme zwischen Naturwissenschaft und Philoso­phie dar. Ich hatte über diese Frage wiederholt nachgedacht, doch war es mir nie gelungen, Klarheit über sie zu gewinnen. Schließlich erwähnte ich sie in einem meiner Briefe an Einstein.

Nach den üblichen Glückwünschen anläßlich seines Geburtstags schrieb ich ihm, welche Fragen mich und meinen Gatten I besonders bewegten, und daß wir noch keine Erklärung für die charakteristischen Eigenschaften von universellen Konstanten vor uns sähen. Was sagen uns universelle Konstante über die Wirklichkeit? Sind sie in diesem Sinne "wahr"? Gibt es eine Beziehung zwischen den Größen, etwa zwi­schen der Planckschen Konstanten h und der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum c oder dem absoluten Temperaturnullpunkt? Und wenn es eine Relation gibt, besteht eine Hoffnung, quantitative Beziehungen zur Bestimmung solcher Zusammenhänge zu finden?

Wir wären nicht imstande, so setzte ich fort, einen Weg zu sehen, der dieses Gebiet aufklären könnte, und wir dächten manchmal, daß das gesamte Problem das Ergebnis einer falsch gestellten Frage sei.

Ich hatte stets gedacht, daß die Existenz von empirisch beobachteten und zuvor berechneten Naturkonstanten und die numerische Überein­stimmung zwischen den Beobachtungsergebnissen und den Berechnun­gen solcher Werte - auch wenn sie mit völlig verschiedenen Methoden erzielt werden - zumindest eine starke Stütze für unseren Glauben an die Gesetzmäßigkeit der Natur abgeben sollte.

In völligem Gegensatz zu seiner normalen Reaktion - oder besser gesagt - zu seiner Nichtreaktion, wenn er über seine Gesundheit oder ähnliche Themen befragt wurde, antwortete Einstein sofort; dies tat er nur, wenn es um wissenschaftliche Fragestellungen ging.

1 Dr. H. S. A. Rosenthai (1890-1968)

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The Institute for Advanced Study, School of Mathematics, Princeton, New Jersey,

den 11. Mai 1945

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

Besten Dank für Ihre freundliche Gratulation. Obwohl ich nun ein alter Knochen bin, bin ich noch fest bei der Arbeit und glaube immer noch nicht, daß Gott würfelt.2 Sie haben in der Frage der universellen Konstanten eine der interessantesten Fragen auf­geworfen, die man wohl stellen kann. Es gibt deren zweierlei: scheinbare und wirkliche. Die scheinbaren kommen einfach von der Einführung willkürlicher Einheiten, sind aber eliminierbar. Die wahren sind echte Zahlen, die Gott gewissermaßen willkürlich zu wählen hatte, als er diese Welt zu erschaffen geruhte. Meine Meinung ist nun kurz gesagt, daß es solche Konstanten der zwei­ten Art gar nicht gibt, und daß ihre scheinbare Existenz darauf beruht, daß wir nicht tief genug eingedrungen sind. Ich glaube also, daß derartige Zahlen nur von rationaler Art sein können, wie zum Beispiel 7r oder e.

Mit besten Grüßen und Wünschen Ihr A. Einstein

Ich verstand nicht, was Einstein mit den Worten "rational wie 7r

und e" meinte. Am 26. August 1945 schrieb ich erstmals seit sechs Jahren einen Brief in deutscher Sprache und hoffte, daß er nicht zu lange unterwegs sein werde. Sollte der Zensor noch tätig sein, wäre er wohl kaum an meiner Frage über die Naturkonstanten interessiert.

Nachdem ich Einstein gesagt hatte, wie glücklich ich gewesen sei, daß er geschrieben habe (das "Ding an sich") und wie er geschrieben habe (die "Erscheinungsform"), gestand ich, daß mir der Inhalt nicht klar geworden sei. In diesem Falle sei ich nicht nur am "Wie", son­dern auch am "Was und Warum" interessiert. Neckte er mich, als er schrieb "rational wie 7r und e"? Oder hatte er "irrational, transzen­dent" gemeint? Von den beiden Arten von Konstanten, über die er in

2Siehe Fußnote 3

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seinem Brief vom 11. Mai 1945 geschrieben hatte, würde keine übrig­bleiben, wenn die erste Art willkürlich und eliminierbar wäre - was sie tatsächlich ist - und die zweite Art nicht existierte! Und da Gott nicht würfelte, was wäre der Inhalt seines Briefes? Meinte er, daß die erste Art von Konstanten willkürlich wäre und daß sie auf einander reduzierbar wären (z.B. h oder c)? Daß sie von der Wahl der Ein­heiten abhingen, daß sie nur Beziehungen ausdrückten? Wir erwarten allerdings lediglich Beziehungen; wir sind völlig zufrieden, wenn wir gleichbleib ende Beziehungen entdeckt haben. (Ich wollte sagen: "Wir sind vollständig zufrieden, wenn Sie diese entdeckt haben.")

Ich setzte fort:

Ich denke jedoch immer noch - und dies ist der Grund, warum ich Sie mit meinen Fragen wiederum belästige - darüber nach, was die uni­versellen Konstanten bedeuten, wie sie Planck aufzuzählen pflegte: die Gravitationskonstante, die Lichtgeschwindigkeit, das Wirkungs­quantum etc., alle diese harmlosen kleinen Dinge, die in den Formeln für reversible Vorgänge auftreten und ihnen ihre charakteristischen Eigenschaften geben, die nicht von äußeren Bedingungen wie Druck, Temperatur etc., abhängen und die sich daher wohltuend von den Konstanten der irreversiblen Prozesse unterscheiden? Wenn diese alle nicht existierten, wären die Konsequenzen katastrophal. Wenn ich Planck richtig verstanden habe, betrachtete er solche uni­verselle Konstante als "absolute Größen". Sollten Sie nun sagen, daß sie alle nicht existieren, was bliebe überhaupt in den Natur­wissenschaften für uns übrig? Dies beunruhigt einen gewöhnlichen Sterblichen viel mehr, als Sie sich vorstellen können. Sollte es möglich sein anzunehmen (obwohl ich dies für Unsinn halte), daß alle Naturkonstanten (c oder h oder etwas ähnliches) nur obere und untere Limites sind? Man hat sich jedenfalls daran gewöhnt, mit Extremen zu leben (teilweise durch Ihre Geodäti­schen). Sollte jemals ein "Subquantum" sq < q entdeckt werden, könnte man dann sagen, daß die Unbestimmtheitsrelation lediglich auf ein anderes Niveau verschoben wurde? Ein niedrigeres Niveau? Würde sie weiterhin die Grenzbedingung für den Meßprozeß blei­ben?

Ich wartete. Die Erklärung für mein Mißverständnis kam rasch. Sie lag in dem englischen Wort "rational", das gleichzeitig die verschiede-

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nen Bedeutungen der beiden deutschen Wörter "rational" und "ratio­nell" abdeckt. Einstein hatte "rationell" gemeint, wie aus dem höchst interessanten, umfangreichen und handgeschriebenen Brief folgt:

13. Oktober 1945

Liebe Frau Rosenthal!

Ich sehe aus Ihrem Briefe, daß Sie meine Andeutungen bezüglich der universellen Konstanten der Physik nicht begriffen haben. Ich will die Sache also deutlicher zu machen suchen. 1. Rationelle Zahlen. Diese sind solche, welche bei der logischen Entwicklung der Mathematik als einzigartige individuelle Bildun­gen gewissermaßen notwendig auftreten.

z.B.: e = 1 + 1 + 1/2! + 1/3! + ...

Ebenso ist es mit 71', das ja mit e nahe verknüpft ist. Im Gegensatz zu solchen rationellen Zahlen steht der Rest der Zahlen, welche nicht durch eine durchsichtige Konstruktion aus 1 hervorgehen. Es dürfte in der Natur der Sache liegen, daß solche rationelle Zah­len sich der Größenordnung nach nicht von 1 unterscheiden, we­nigstens solange man sich auf "einfache", bzw. natürliche Bildun­gen beschränkt. Dies ist aber nicht fundamental und nicht Bcharf faßbar. 2. Es liege nun eine vollständige Theorie der Physik vor, in deren Grundgleichungen die "universellen" Konstanten Ch' •• Cn auftre­ten. Die Größen seien irgendwie auf gr, cm, sek. reduziert. Die Wahl dieser drei Einheiten ist offenbar ganz konventionell. Je­des der Ch'" Cn hat eine Dimension in diesen Einheiten. Wir wollen es nun so wählen, daß Cl, C2, C3 solche Dimensionen ha­ben, daß man daraus kein dimensionsloses Produkt cfc~cJ bilden kann. Dann kann man C4, C6, etc. in solcher Weise mit aus Po­tenzen von Ch C2, C3 gebildeten Faktoren multiplizieren, daß diese neuen c:, c~, c~ reine Zahlen sind. Dies sind die eigentlichen uni­versellen Konstanten des theoretischen Systems, welche nichts mit konventionellen Einheiten zu schaffen haben.

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3. Meine Erwartung geht nun dahin, daß diese Konstanten c: etc. rationelle Zahlen sein müssen, deren Wert durch die logische Grundlage der ganzen Theorie festgelegt ist.

Man kann es auch so sagen: Es gibt in einer vernünftigen Theo­rie keine (dimensionslosen) Zahlen, deren Wert nur empirisch be­stimmbar ist.

Beweisen kann ich dies natürlich nicht. Aber ich kann mir keine einheitliche und vernünftige Theorie vorstellen, die explizite eine Zahl enthält, welche die Laune des Schöpfers3 ebenso gut anders hätte wählen können, wobei die Welt qualitativ anders in ihren Gesetzmäßigkeiten ausgefallen wäre.

Man kann es auch so sagen: Eine Theorie, die in ihren Grundglei­chungen explizite eine nicht rationelle Konstante enthält, müßte irgend wie aus logisch voneinander unabhängigen Brocken zusam­mengefügt sein; ich vertraue aber darauf, daß diese Welt nicht so ist, daß man zu ihrer theoretischen Erfassung einer so häßlichen Konstruktion bedarf.

4. Natürlich gibt es bisher überhaupt keine konsistente theoreti­sche Grundlage für die gesamte Physik und erst recht keine, die so einer radikalen Forderung genügte. Es ist gar nicht so schwer, sich eine solche mögliche Formulierung auszudenken. Es sind dies unglücklicherweise solche relativistische Theorien, bei welchen es infam schwer ist, bis zu prüfbaren Folgerungen vorzudringen. Es ist eben böse, nichtlineare Differentialgleichungen so zu lösen, daß nirgend Singularitäten auftreten. Dies hat aber mit der gestellten prinzipiellen Frage nichts zu tun.

Mit freundlichen Grüßen und Wünschen

Ihr A. Einstein

3In Kants Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) (Aka­demie Ausgabe 1, 6.9-10) werden die drei Dimensionen des Raumes mit den Gravi­tationskräften verknüpft. Wenn Gott statt eines 1/r2-Gesetzes für die Gravitation ein 1/r3-Gesetz gewählt hätte, hätte sich nach Kants Ansicht eine andere Zahl von Raumdimensionen ergeben. Dies ist nach meiner Kenntnis der erste Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Physik und Geometrie. Einsteins oft zitierter Ausspruch "Der Alte würfelt nicht" könnte sich von dieser Kantschen Vermutung ableiten. Siehe auch Ilse Schneider, Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein (Berlin 1921) und Ilse Rosenthal-Schneider, "Voraussetzungen und Erwartungen in Einsteins Physik", in AE, S. 72.

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Dieser Brief brachte mir Klarheit, und ich schrieb ihm zurück, daß ich für seine detaillierte Erklärung äußerst dankbar sei, und daß ich ver­suchte hätte, seine Gedanken vollständig zu verstehen, indem ich seinen Brief immer wieder gelesen hätte. Sollte sich sein Glaube bewahrhei­ten, daß die universellen Konstanten grundlegende Zahlen sein müssen, deren Werte durch die logische Grundlegung der gesamten Theorie fest­gelegt sind, würde dies alle unsere bisherigen Hoffnungen und Träume übertreffen. Wenn es in einer vernünftigen Theorie keine dimensions­losen Zahlen gibt, die nur empirisch bestimmbar sind, so bedeutet dies meiner Meinung nach, daß diese Zahlen logisch begründet und von jeder empirischen Bestimmung oder Bestimmbarkeit unabhängig sind.

An dieser Stelle wäre es interessant, Einsteins Meinung zu Edding­tons Ansicht über solche nichtempirischen Konstanten zu kennen. Der Gültigkeitsbereich von Eddingtons Methode und seine Überbetonung des subjektiven Elements erscheinen mir stark zweifelhaft; und sein vollständig nicht-kantischer Apriorismus ist, soweit er spezielle Natur­gesetze betrifft, eindeutig unhaltbar. Trotzdem wurde Eddington, des­sen anregende und geistreiche Bücher ich stets mit Vergnügen gelesen habe, auch von Einstein geschätzt. Eddingtons Ausgangspunkt könn­ten durchaus Postulate gewesen sein, die hinsichtlich der hier diskutier­ten Grundfrage den Einsteinsehen ähnlich waren: Es gibt fundamentale Zahlen, die nichtempirisch sind.

Was wäre, sollte man nun versuchen, weiter zu den Grundlagen von Einsteins radikalem "Postulat" vorzudringen, indem man fragte, in wel­chem Ausmaß der theoretische Physiker (nicht der reine Mathematiker) frei sei, die logische Grundlage einer solchen vernünftigen und einheit­lichen Theorie zu erschaffen? Und wieweit und auf welche Weise ist er durch die Natur festgelegt - durch die im Universum bestehenden Bedingungen? Die Welt, wie sie ist, mag verschiedene Interpretati­onssysteme zulassen, die in sich vollständig sind. Jedoch ist sie uns vorgegeben, vorgegeben in ihrer Einzigartigkeit.

Es steht vielleicht mit Einsteins Denken in Einklang, daß eine vernünftige und einheitliche Theorie nicht gedacht werden kann, die eine Zahl explizit enthält, welche der Schöpfer genauso gut anders gewählt haben könnte, so daß eine andere, sich in ihren Gesetzen qualitativ unterscheidende Welt entstanden wäre.

Vom philosophischen Standpunkt ist es interessant und vollständig plausibel, daß eine qualitativ andere Gesetzmäßigkeit der Welt resul­tierte, wenn sie eine solche Zahl enthalten sollte. Das bedeutet, daß eine

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nichtrationelle, nichtgrundlegende Größe einen qualitativen Unterschied bewirken würde. Ich betonte in meiner Antwort, wie wunderbar beru­higend das Wissen um sein Vertrauen wäre, daß die "häßliche" Idee un­abhängiger Stücke und Einzelteile für das Verständnis des Universums nicht notwendig sei. Allerdings erkannte ich klar, daß es - auch für ihn - nicht leicht war, eine konsistente theoretische Grundlegung der ge­samten Physik zu finden, die sein "radikales Postulat" befriedigte, und zu überprüfbaren Schlußfolgerungen zu gelangen. Obwohl jedoch eine Überprüfung der Folgerungen sehr willkommen gewesen wäre, beunru­higte mich ihr Fehlen im Augenblick nicht. Es war nur eine Frage des Prinzips.

Als ich meinen Beitrag4 zum Einstein-Band verfaßte, fragte ich Ein­stein, ob ich aus seinen Briefen zitieren dürfe. Ich erhielt sogleich die Antwort:

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

112 Mercer Street, Princeton, New Jersey,

den 23. April 1949

Ich danke Ihnen noch nachträglich herzlich für Ihre freundliche Gratulation zu meinem Geburtstage. Ich erhalte soeben Ihren Brief vom 18. April mit der Anfrage be­treffend Benutzung meiner brieflichen Mitteilungen. Sie können in Ihrer Abhandlung von meinen Bemerkungen Gebrauch machen, es sollte aber gesagt werden, daß es sich hier keineswegs um kategori­sche Behauptungen handelt, sondern um lediglich auf Intuition be­ruhende Vermutungen. Eddington hat viele geistreiche Vorschläge gemacht, die ich jedoch nicht alle verfolgt habe. Ich finde, daß er im Allgemeinen seinen eigenen Ideen gegenüber merkwürdig un­kritisch gewesen ist. Er hat wenig Gefühl dafür gehabt, daß eine theoretische Konstruktion kaum Aussicht auf Wahrheit hat, wenn sie nicht logisch sehr einfach ist.

Mit herzlichen Grüßen Ihr A. Einstein.

4 AE, S. 60-73

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Albert Einstein, 1954 (Mit freundlicher Erlaubnis des American Institute of Physics)

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Nach dieser umfangreichen Korrespondenz mit Einstein über die universellen Naturkonstanten schien mir, daß ich seine Ideen vollständig erfaßt hätte. Zumindest hegte ich die Hoffnung, als ich seine Briefe las, besonders den folgenden, der mit den Ausführungen in seinen auto­biographischen Anmerkungen5 übereinstimmt, wo er auf meine Frage zurückkam:

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

112 Mercer Street, Princeton, New Jersey,

den 24. März 1950

Herzlichen Dank für Ihren Geburtstagsbrief. Ich sende ein Exem­plar des Anhanges zu meinem Büchlein über Verallgemeinerung der Gravitations-Theorie.6 Es ist ein logischer Fehler darin, der in der neuen Auflage vermieden ist, die ich Ihnen in einigen Wochen senden zu können hoffe. 7

Was Sie über universelle Konstanten sagen, deckt sich mit mei­ner Ansicht. Dimensionslose Konstante in den Naturgesetzen, die vom rein logischen Standpunkt aus ebensogut andere Werte haben können, dürfte es nicht geben. Mir erscheint dies einleuchtend in meinem "Gottvertrauen", aber es dürfte Wenige geben, die die­selbe Meinung haben.

Mit freundlichen Grüßen und Wünschen Ihr A. Einstein

Seit dem Ende es zweiten Weltkrieges hatte ich mit Max von Laue häufig korrespondiert. 8 Aus unseren Diskussionen in Berlin wußte ich,

5 AE, S. 23 6The Meaning 0/ Relativity, 3. Aufl., übers. von E. P. Adams (London 1946) 7 The Meaning 0/ Relativity, 4. Aufl., übers. von E. P. Adams, mit zwei Anhängen, übers. von E. G. Straus und S. Bargmann (London 1950)

8Die erste Nachricht, die ich von Max von Laue nach dem Weltkrieg erhielt, war eine Postkarte aus Göttingen, datiert mit 18. August 1946. Sie trug einen britischen Zensurstempel. Er schrieb: "Wenn diese Karte Sie erreichen sollte, und wenn Sie sich für das, was mit deutschen Physikern geschah, noch interessieren, so schreiben Sie mir bitte an die umstehende Adresse. Vorher riskiere ich keinen längeren Brief."

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daß auch er an Grenzproblemen zwischen Naturwissenschaft und Philo­sophie stark interessiert wa.r, damals hauptsächlich an den Beziehungen der Relativitätstheorie zur Philosophie, besonders zur Kantschen (über die ich meine Dissertation geschrieben hatte).9

Kurz bevor das Ehepaar von Laue 1948 nach Amerika reiste, hatte ich an Max von Laue einen Brief betreffend Plancks "Absolutes" ge­schrieben und mein Interesse an seinen Ansichten darüber betont.

Aus Einsteins Arbeitszimmer im Institute for Advanced Study in Princeton schrieb Laue einen höchst interessanten Brief mit einer de­taillierten Beschreibung seiner ersten drei Monate in den Vereinigten Staaten und seiner Eindrücke, und er teilte mir mit, wie er die Reise unterbrochen habe, um drei Tage in Chicago zu verbringen. Er schrieb: "Dort verlieh mir die Universität in einer feierlichen Sitzung den Grad eines Doctor of Science. Die Verleihungsurkunde beschreibt mich als ,physicist and resolute champion of freedom' .10 Darüber bin ich beson­ders stolz."

Nach einer Beschreibung der Kristallographen-Konferenz, die im Juli 1948 in Cambridge, Massachusetts, stattgefunden hatte und nach der Mitteilung seiner Adresse in Cambridge beschrieb er seine Eindrücke, wen er getroffen hätte, usw. Er erwähnte Dirac, Weyl, Wig­ner und natürlich Einstein. ll Es bestand jedoch keine Hoffnung auf einen Besuch in Sydney, was mich sehr enttäuschte, da ich die Laues gerne in unserem Haus gesehen und gerne einen Vortrag von ihm gehört hätte. Meine Frage über Plancks "Absolutes" beantwortete er in einem Teil seines Briefes:

9Er las Kant immer wieder. In seiner Autobiographie schrieb er über Philoso­phie: "Sie [die Philosophie] hat mein Dasein von Grund aus umgestaltet, selbst die Physik scheint mir seitdem ihre eigentliche Würde nur dadurch zu beziehen, daß sie ein wesentliches Hilfsmittel der Philosophie abgibt." ("Mein physikalischer Werdegang, eine Selbstdarstellung" in Max von Laue, Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Braunschweig 1961), S. xvi.) Andererseits schrieb er: "Man soll nicht jede neue physikalische Theorie philosophisch gleich zu ernst nehmen."

lODies war er wirklich. Auch au f seiner Todesanzeige stand der Ehrentitel "Champion of Freedom".

llpaul A. M. Dirac (1902-1984), von 1932 bis 1969 Professor für Physik in Cambridge, Englandj Hermann Weyl (1885-1955), Professor für Mathematik in Zürich (1913-1930), in Göttingen (1930-1933), und dann in Princetonj Eugen P. Wigner (1902-), Professor für mathematische Physik in Princeton (1938-1971).

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Sehr verehrte Gnädige Frau!

The Institute for Advanced Study, School of Mathematics, Princeton, New Jersey,

den 16. September 1948

... Nun zu Ihrer Frage nach dem "Absoluten" in der Physik. Ich möchte mit Planck unter allen Umständen an dem Glauben an etwas Absolutes festhalten. Und ich meine auch, daß solche Kon­stanten wie hund c nach heutiger Kenntnis dazu zu rechnen sind. Aber während Ersteres mir heilige Überzeugung ist, ist das Letz­tere nicht sicherer als alle physikalische Erkenntnis. Bei der Entro­pie steht die Sache so: Ist - wie man doch wohl allgemein annimmt - die Entropie der Logarithmus der Wahrscheinlichkeit, so ist sie durch ganze Zahlen bestimmt, da ja die Wahrscheinlichkeit je nach Auffassung eine ganze Zahl oder der Quotient zweier ganzer Zah­len ist. Diese ganzen Zahlen sind notwendig relativistisch inva­riant. Nur stetig veränderliche Größen können in verschiedenen Bezugssystemen verschiedene Werte haben. Beweis: Für nur un­stetig veränderliche Größen gibt es notwendig Bezugssysteme, die sich gegeneinander so langsam bewegen, daß diese Größen in ih­nen übereinstimmen. Dann aber können sie sich auch für beliebig schnell bewegte Systeme nicht unterscheiden, weil man eine große Geschwindigkeit schrittweise aus kleinen zusammensetzen kann.

Mit recht herzlichem Gruß auch von meiner Frau Ihr ganz ergebener M. v. Laue

In meinen Briefen an Max von Laue hatte ich die Meinung vertre­ten, daß die Existenz der Naturgesetze natürlich die Voraussetzung al­ler naturwissenschaftlichen Forschung ist, die ohne diese Voraussetzung sinnlos wäre. Als ich dies niederschrieb, fühlte ich, daß ein gewöhnlicher Mensch wie ich für eine solch feste Überzeugung Gründe haben sollte. (Wenn es "Glaube" ist, worauf sich diese Überzeugung gründet, sollte man nicht nach Gründen suchen.) Und, wie ich früher erwähnt habe,

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Max von Laue, 23. April 1948. (Das Porträtphoto wurde anläßlich der Gedenkfeier zu Plancks 90. Geburtstag aufgenommen.)

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bietet die Existenz von universellen Konstanten wohl eine starke Stütze für eine so tief sitzende Überzeugung. Daß auch Einstein und Laue da­von fest überzeugt waren, war eine völlig andere Sache. Neben allem, was sie wußten und entdeckt hatten, müßten sie wohl intuitiv fühlen, was in der Naturwissenschaft richtig und verifizierbar ist, und - dies ist besonders wichtig - sie wären imstande, ihre Ideen mathematisch zu formulieren.

Für mich jedoch enthielt das Wesen der universellen Konstanten weiterhin ungelöste Probleme. Gerade die Existenz dieser Konstanten führt auf zahlreiche Fragen.

Fixieren alle diese jetzt bekannten und allgemein akzeptierten Kon­stanten bloß obere oder untere Schranken? Wird man, wie Edding­ton annahm, bestimmte Beziehungen zwischen ihnen aufstellen können? Und was wäre das Resultat, wenn sie voneinander unabhängig wären? Würde es unseren Glauben an die Gesetzmäßigkeiten der Natur er­schüttern? Würde Einsteins "häßliches" Universum aus unabhängigen Teilen und Stücken das Resultat sein? Und müßten wir unsere Hoffnung aufgeben, das Universum einmal verstehen zu können?

Nach seiner Rückkehr nach Göttingen schrieb Laue:

Sehr verehrte Gnädige Frau!

Göttingen, den 3. Mai 1949

... Sie fragen nach den Naturkonstanten und der Gesetzmäßigkeit in der Natur. Das sind zwei zur Zeit sehr umstrittene Fragen. Beweisen kann man die Gesetzmäßigkeit nie; denn dazu müßte man für jede physikalische Frage eine in dem System der Gesamt­Physik verankerte Antwort haben. So kann man die reinen Empi­riker, die aus dem Wahrscheinlichkeitsgesetz des radioaktiven Zer­falls und vielem Ähnlichen auf den rein statistischen Charakter je­der wahren Naturerkenntnis schließen, zurzeit nicht bündig wider­legen. Auch aus der Erkenntnistheorie lassen sich keine zwingen­den Schlüsse herleiten, einfach deswegen, weil es stets Sache der Persönlichkeit bleibt, welche Philosophie sie wählt. Für mein Teil aber halte ich, wie auch Einstein, ",n dem Glauben an eine durch­gehende, zwingende Kausalität für alle physikalischen Vorgänge fest. Bei den psychologischen bin ich dessen weniger sicher.

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Und nun die Naturkonstanten. Was da Eddington und andere Engländer über die Zahl der Elektronen und Protonen in der Welt geschrieben haben, ist meines Erachtens bis auf Weiteres reine Phantasie. Ernster ist es schon, wenn Einstein meint, eine wirk­lich vollendete allgemeine Feldtheorie, also die Ausgestaltung der Allgemeinen Relativitätstheorie, müßte alle Naturkonstanten rein mathematisch berechnen lassen. Was ist z.B. ein Meter im Sinne einer solchen Theorie? Ein Raumgitter aus Pt-Atomen, deren je­des wieder aus Protonen und anderen Elementarteilchen besteht, die nach einem bestimmten Gesetz angeordnet sind; über alle Ein­zelheiten dieser Anordnung muß eine bestimmte Lösung der Feld­gleichungen Auskunft geben. Und was ist eine Sekunde? Das So­und-so-Vielfache der Schwingung in einem H-Atom, der wiederum eine Lösung der Feldgleichungen entspricht. Also muß man auch aus der Feldtheorie ermitteln können, in wieviel Sekunden sich ein Lichtsignal von einem zum anderen Ende des Meterstabes bewegt, d.h. man muß die Lichtgeschwindigkeit ausrechnen können. Ich bin aber nicht ganz sicher, daß eine solche, in ihren Grundlagen ohne Kenntnis der Naturkonstanten aufgestellte Theorie möglich ist. Schon der Tensor ''''1.' der allgemeinen Relativitätstheorie ist, so viel ich sehe, nicht ohne Bezug auf Zentimeter und Sekunde numerisch zu definieren ....

Mit recht herzlichem Gruß von Haus zu Haus Ihr ergebener M. v. Laue.

Durch Laues Brief gelangte ich zu einem vertieften Verständnis von Einsteins Ideen, und auch er meinte, daß ihm mein Beitrag zum Einstein-Band einige Dinge klarer gemacht habe.

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Ilse Rosenthal-Schneider auf der Terrasse ihres Hauses in Sydney, 1949

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Verehrte Gnädige Frau!

Göttingen, den 20. Februar 1950

... Vor einigen Tagen bekam ich endlich den Einstein-Band der Library of Living Philosophers. Mit besonderem Interesse las ich darin Ihren Beitrag, der mir manches klar machte, was ich bisher nur aus persönlichen Bemerkungen Einsteins wußte und nicht recht verstanden hatte. Natürlich bliebe noch viel zu fragen übrig. Aber das eignet sich nicht für eine Korrespondenz, da es zu weitläufig ist. Nur eine Frage möchte ich anschneiden, nämlich die der universel­len Konstanten in einer vollkommenen Theorie. Ich habe darüber schon in Princeton einiges von Einstein gehört. Auch ich komme nicht über die folgende Frage hinweg: Im Anschluß an Ihre Dar­stellung auf Seite 144 oben, vermag ich nicht zu verstehen, wie man, wenn man nun eine Reihe dimensionsloser Zahlen als phy­sikalische Grund-Konstanten erkannt hat, aus diesen die mit Di­mension behafteten Konstanten, wie Lichtgeschwindigkeit, Gra­vitationskonstante, Elementarladung u.s.w. herleiten soll. Durch mathematische Kombination von dimensionslosen Zahlen komme ich doch niemals aus dem Bereiche der Dimensionslosigkeit her­aus. Ich hörte gern einmal Ihre Antwort darauf. Im übrigen schreibe ich demnächst eine Neubearbeitung meiner bei den Relativitätsbände,t2 zu der mich der Verlag schon längst gedrängt hat. Zurzeit lese ich viele andere Darstellungen, z.B. die von Weyl, Eddington, Tolman. Ich will beide Bände zu einem zusammenziehen, der dann freilich umfangreicher werden dürfte, als jeder der bisherigen, obwohl ich jetzt manches fortlassen kann, was seinerzeit, als man einmal alle Schlupfwinkel der damals neuen Theorie durchsuchen mußte, wichtig schien. Nun hörte ich gern einmal, was Sie etwa an Änderungen für wünschenswert erachte­ten. Ich verspreche Ihnen keineswegs, daß ich mich danach richten will. Aber lehrreich wäre es auf jeden Fall für mich ...

Ihr ganz ergebener Max von Laue

12Max v. Laue, Die Relativitätstheorie, 2 Bde. (Braunschweig 1921); Neuauflage (Braunschweig 1951-1953)

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In meiner Antwort sagte ich, daß ich mich durch sein Ersuchen um mein Urteil sehr geehrt fühle, doch daß er leider meine Kompetenz über­schätze, seine Darstellung der Relativitätstheorie zu beurteilen. Trotz­dem würde ich ihm gerne meine Ansichten mitteilen, die er selbst prüfen möge.

Ich schrieb außerdem, daß ich nicht wisse, ob Einstein aus dem Be­reich der "Dimensionslosigkeit" mittels mathematischer Operationen herauszukommen erwarte, und wenn dies der Fall sei, welche Operatio­nen er zu benützen beabsichtige, um zu der logisch fundierten Theorie zu gelangen.

Meine eigenen Ideen, so schrieb ich weiter, wären noch sehr vage und verschwommen. Ich würde eher annehmen, daß alle Naturphänomene schließlich auf Unterschiede ihrer Struktur zurückführ bar seien (weise nicht die moderne Chemie in diese Richtung?). Wie das Verhältnis des Umfanges zum Durchmesser eindeutig die typische Form des Kreises bestimmt, so könnten nach meinem Gefühl dimensionslose Zahlen Be­ziehungen in der Natur bestimmen. Solche für die Struktur der Objekte charakteristischen Zahlen könnten jene sein, die Einstein, die "wahren Konstanten der Natur, der Gesamtstruktur" nannte. Dann wären diese die einzigen "wahren" Universalkonstanten, die in einer vollständigen Theorie auftreten.

Ich schrieb:

Als Einstein über die willkürlichen Konstanten sagte: "Solche willkürlichen Konstanten existieren nicht", meinte er wahrschein­lich: "Solche Konstanten können nicht willkürlich sein." Ich glaube, daß sie in der Struktur der Natur vorgegeben sind und durch Be­obachtung und Berechnung festgestellt werden. Wissenschaftliche Wahrheit würde damit von der Struktur des Universums der rea­len Objekte abhängig sein. Die theoretischen Naturwissenschaftler können daher nicht nach Belieben Theorien erdenken; die dimen­sionslosen Zahlen würden ihre Freiheit einschränken.

Im folgenden Brief verwies Laue auf die vollständig revidierte fünfte Auflage, von der er mir ein Exemplar sandte. Er wollte mir damit dokumentieren, daß er immer noch der Ansicht war, Kant habe bei seiner Behandlung des Zeit begriffs recht gehabt.

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Verehrte gnädige Frau!

BerHn,

den 27. Dezember 1951

... Mein Relativitätsbuch, Band I, ist gerade neu herausgekom­men ... Trotzdem die Einteilung die alte geblieben ist, sind nur die mathematischen Teile unverändert übernommen. Vieles ist weg­gefallen, was, wie z.B. die relativistische Hydrodynamik, wichtig war, um die Möglichkeit einer allgemeinen Durchführung der R. T. zu beweisen, an der heute ohnehin niemand zweifelt. Dafür ist viel Neues hinzugekommen, sodaß der Umfang des Buches ziem­lich genau der alte ist. Das Manuskript zu Band 11, Allgemeine Relativitätßtheorie, ist auch schon fertig und wäre beim Drucker, hätte nicht in den letzten Monaten Max Kohler in Braunschweig13

eine grundlegende Umgestaltung der ganzen allgemeinen Theorie herausgebracht, welche z.B. die Erhaltungssätze für Energie und Impuls besser zu formulieren gestattet. Die bildeten ja noch im­mer einen unbefriedigenden Punkt. - Jetzt will ich noch einen Zusatz, der dies betrifft, hinzufügen. Aber zunächst habe ich mit einer Polemik über die Supraleitung viel zu tun. Fehler bei ande­ren in ihren Grundlagen zu entdecken ist manchmal viel schwerer, als die Sache selbst richtig zu machen.14 - Sie werden in einigen Monaten Sonderdrucke darüber erhalten.-

Die jüngeren Physiker sind manchmal so in Quantentheorie be­fangen, daß sie deren Ideen auf die ältere Physik übertragen; daß .sie letztere niemals gründlich gelernt haben, spielt dabei eine er­hebliche Rolle.

Mit recht herzlichem Gruß, auch an Ihren Gatten,

Ihr ergebener

M. v. Laue

13Max Kohler (1911- ), Professor für Physik in Braunschweig (1953-1966) und in Göttingen (1966- )

14Laue gab 1932 eine Erklärung der Bedingungen, unter denen der Zusammenbruch der Supraleitung in Magnetfeldern erfolgt.

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Planck war stets gerne bereit, wissenschaftliche Fragen zu disku­tieren. Daher wagte ich es, ihn über das besondere Problem des We­sens der universellen Konstanten zu befragen, die ich gerade in meiner Korrespondenz mit Einstein und Laue diskutiert hatte. Ich berich­tete ihm von einigen Problemen und erwähnte kurz die von Eddington ins Auge gefaßte Möglichkeit, die universellen Konstanten miteinan­der zu verknüpfen und dadurch ihre Anzahl zu verkleinern (vielleicht bliebe nur eine einzige übrig). Ich berichtete ihm auch über die Briefe von Einstein und Laue und über deren Ansichten. Wenn die in den Fundamentalgleichungen einer "vollständigen" physikalischen Theorie enthaltenen universellen Konstanten logisch ableitbar wären - wie in Einsteins "Vermutungen" -, dann sollten sie auf eine Weise verknüpft sein, die es uns ermöglichen sollte, diese Beziehungen in mathemati­scher Form darzustellen. Ich fügte hinzu, daß weder mein Gatte noch ich das Problem lösen könnten.

Ich hatte das Gefühl, daß es vielleicht nicht richtig sei, Planck zu belästigen, der damals 89 Jahre alt war. Doch bereitete es ihm im Gegenteil stets Vergnügen, sich mit seinem Fach zu beschäftigen. Lei­der war er bei sehr schlechter Gesundheit, worüber mich seine Frau informiert hatte.

Seine Antwort kam bald und war klar und prägnant geschrieben:

30. März 1947

Sehr verehrte Frau Rosenthal!

... Nehmen Sie meinen verbindlichen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 22. 2. 47, dessen reicher Inhalt mich sehr interessierte. Auch für Ihre hochherzige Sendung von Lebensmitteln habe ich, so wie auch meine Frau Ihnen herzlich zu danken. Sie ist wohl­behalten hier eingetroffen und wird mit Vergnügen ihrem Zweck zugeführt werden. Was Ihre Frage nach dem Zusammenhang der universellen Konstanten betrifft, wo ist es ohne Zweifel ein schöner Gedanke, ihn so eng als möglich zu gestalten, indem man diese verschiedenen Konstanten auf eine einzige zurückführt. Ich für meinen Teil zweifle allerdings daran, daß dies gelingen wird. Aber ich kann mich ja auch irren. Uns ist es nach einer überstandenen Lungenentzündung, die mich auf einer Vortragsreise ins Rheinland überfiel, recht gut ergangen.

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Max Planck, ca. 1920

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Wir haben diesen furchtbaren Winter in der geheizten Klinik bes­ser überstanden, als es in Göttingen möglich gewesen wäre. Mit den besten Grüßen an Sie und Ihren verehrten Gatten von mir und meiner Frau,

Ihr aufrichtig ergebener Dr. Max Planck.

Der letzte Satz des ersten Absatzes ist für Plancks Bescheidenheit und für sein vorsichtiges Urteil typisch - besonders, wenn er über An­sichten oder Arbeiten anderer befragt wurde, die er_nicht selbst einge­hend studiert oder erprobt hatte.

Die Passage im Brief über die Nahrungsmittelpakete illustriert die schlimmen äußeren Bedingungen, die das tragische Schicksal dieses her­vorragenden Menschen und seiner Frau erschwerten. Sie mußten von alten Freunden und Schülern Hilfe annehmen. Frau Planck schrieb, daß sie ihn ohne diese Hilfe nicht hätte am Leben erhalten können.16

15Viele Stunden war das greise Ehepaar Planck in einern Luftschutzkeller unter den Ruinen eines zerbombten Hauses eingeschlossen gewesen. Er überstand mit 89 Jahren eine Lungenentzündung. Frau Planck schrieb: "Wir haben ungefähr alles verloren, was wir nur verlieren konnten." Sie hatten ihre Wohnung, ihre Ersparnisse und ihre persönliche Habe einschließlich Plancks Klavier und Bibliothek verloren. Von den drei Söhnen war der älteste, Kad, 1916 vor Verdun gefallen, und Erwin hatte für seine Teilnahme am Widerstand gegen Hitler mit dem Leben gezahlt.

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3 Substanzbegriff und Erhaltungsgesetze

Beim Versuch, Einsicht in die Entwicklung wissenschaftlicher Vor­stellungen zu gewinnen, habe ich stets die Wissenschaftsgeschichte nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Chronologie, sondern auch unter Berücksichtigung der Evolution wissenschaftlicher Begriffe und, damit verbunden, von wissenschaftlichen Problemstellungen und Theorien be­trachtet. Dies ist besonders bei Grenzproblemen zwischen Naturwissen­schaft und Philosophie von Interesse. Einige dieser Probleme, wie zum Beispiel Raum und Zeit, Kontinuität und Kausalität, werden allgemein als Grenzprobleme anerkannt. Der Substanzbegriff erfordert jedoch eine eigene Behandlung.

Um eine Bemerkung Laues interpretieren zu können, werde ich zunächst die Entwicklung des Substanzbegriffs und der damit verknüpf­ten Grenzprobleme skizzieren. Die im Laufe der Jahrhunderte stark differierenden Interpretationen verdeutlichen den Wandel, der durch die Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft zustande gekom­men ist.

Wenn wir mit den ionischen Naturphilosophen! beginnen, können wir annehmen, daß ihre Vorstellungen, die dem später "Substanz" ge­nannten Begriff entsprechen, hauptsächlich im Bereich des "Konkreten" oder "Realen" (Wasser, Luft, Feuer, Erde) lagen.

N ach Ansicht des Aristoteles begannen die Menschen zu philoso­phieren, als sie über die verschiedenen beobachtbaren Veränderungen der Natur zu "staunen" (thaumazein) begannen2 und sich die Frage stellten, ob es etwas Dauerhaftes gäbe, das in diesem ewigen Fluß er­halten bliebe. Sie betrachteten ein unverändertes und unveränderliches Substrat als die ursprüngliche Substanz, als das Urmaterial und das len­kende Prinzip des Universums (arche), wobei das Wort Assoziationen mit Ursprung und Herrschaft hervorruft.

IJedoch behauptet Aristoteles, manche seien der Meinung, daß Ideen wie die des Thales bereits vor Thales geäußert wurden (Metaph1l8ik 1.3.6.983b28).

2"Zuerst dachten sie über die nächst liegenden Probleme nach, dann über die weiter entfernten, z.B. die Mondphasen, die Sonne und die Sterne, den Ursprung des Universums" (ibid., 1.2.9.982b12)

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In Form eines ersten, primitiven "Erhaltungsgesetzes" ist diese Idee im Fragment des Anaxoras enthalten: ",Entstehen' und ,Vergehen' wird von den Griechen mißverstanden, denn kein einziges Ding entsteht oder vergeht, sondern es wird aus bereits existierenden Dingen zusammenge­mischt und wiederum getrennt. Und daher sollte ,Entstehen' eigentlich ,Zusammengemischt werden' und ,Vergehen' sollte ,Getrennt werden' genannt werden."3

Mit der Vernunft (logOJ) des Heraklit und dem Verstand (nouJ) des Anaxagoras begann langsam abstraktes Denken die rein "konkreten" Interpretationen zu verdrängen.4 Doch selbst der nOUJ des Anaxagoras war für Plato eine bittere Enttäuschung, der seinen Sokrates über den Mangel von Anaxagoras' Verständnis des wahren Ursprungs aller Dinge Beschwerde führen läßt.5 Plato sah "Vernunft" als das Leitprinzip. Sein Welt bild trennt die materielle Welt des "Werdens" (me on) von der reellen Welt des "Seins" und der "Dauer" (ontoJ on), dem Bereich der Ideen. Diese Ansicht wurde von seinem Schüler Aristoteles heftig kritisiert, dessen "Substanz"-Begriff in einer höchst interessanten Kom­bination aus Transzendenz und Immanenz die von Plato geschaffene Kluft überbrücken wollte. Von den Stoikern wurde jedoch die Materie wiederum als die "wahre" und "reale" Substanz6 aufgefaßt, genau wie die Vorsokratiker gelehrt hatten. Das fundamentale Prinzip, die arche, wurde wiederum konkret und wurde als materielle Substanz gedacht.

Diese Ansicht ist oft "materialistische Ontologie" oder "Hylozois­mus" genannt worden. Wir werden bald sehen, wie Heisenberg diese Bezeichnung in einem völlig anderem Zusammenhang wieder aufgriff.

Die Deutungen des Substanz begriffes veränderten sich in den ver­schiedenen Zeitepochen beträchtlich und hingen von den philosophi­schen und religiösen Grundvoraussetzungen der jeweiligen Epoche ab. Sie machten einen Wandel vom Materiellen (Konkreten) über metaphy­sische Systeme durch und kehrten zum Materiellen zurück. In der Phi-

3Diels-Kranz, Die Fragmente der Vor8okratiker 59 B 17. (Im weiteren als DK zitiert) 4Heraklit dachte, daß die Welt aus vielen verschiedenen Elementen besteht, die den

logo6 gemeinsam haben, die vernünftige Anordnung, die dem Gesamten Ordnung verleiht. Mittels philosophischer Überlegungen kann der Mensch Selbsterkenntnis erreichen und dadurch die Welt-Ordnung in sich selbst erkennen (DK 22 B 1, 2, 50). Anaxagoras' nOU8 ist der universelle Verstand, der die Welt regiert (DK 59 B 12, 13, 14).

5Siehe Plato, Phaidon 97b 6"Substanz" bedeutet wörtlich das "unter allem Liegende" oder "unter allem Ste­hende".

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losophie des Descartes besteht eine Dualität der Substanzen: Verstand (cogitatio) und Materie (ezten.!io). Den modernen Wissenschaftsphilo­sophen wird es sicher auch interessieren, daß Descartes ein Erhaltungs­prinzip der Bewegung formuliert hat. In ähnlicher Weise postulierte Leibnitz ein Erhaltungsprinzip - den Kraftbegriff.

Spinoza war ein Monist, dessen pantheistisches System in bewußtem Widerspruch zu Descartes formuliert war. Er löste den kartesischen Dualismus in einer höheren Einheit auf: Gott, die einzige Substanz (Deu.! .!ive .!ub.!tantia mit unendlich vielen Attributen). Verstand und Materie waren Gottes Attribute, und alles sollte als Ausdruck verschie­dener Aspekte dieser einzigen Substanz erklärt werden. T

Die von Locke und Hume vertretenen Anschauungen von Substanz und Erhaltung entsprechen einem anderen Denken. Man kann sie als Vorläufer zu Kants Vorstellung der Substanzialität auffassen, die not­wendigerweise erhalten ist:

"Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert." 8

Gott, Freiheit und Unsterblichkeit waren für Kant die Hauptthemen seiner Untersuchung, nicht jedoch die Substanz.9

Die Erhaltung der Substanz war in Kants Sicht eine synthetische A-priori-Voraussetzung, die in allen "reinen" Naturgesetzen den ersten Platz einnehmen sollte. Dabei betonte er, daß alle reinen Naturgesetze dieser Art nur in Hinblick auf "mögliche Erfahrung" gültig sind. Obwohl er sie apriori nennt, meint er dabei nicht, daß sie einer Erfahrung vorausgehen oder angeboren sind. Sie sind apriori von einem logischen, nicht von einem psychologischen Standpunkt aus, das heißt, sie sind von der Erfahrung logisch unabhängig.

Auch heute betrachten wir das Erhaltungsgesetz für die verschie­denen Erscheinungsformen der Energie als das wichtigste unter allen reinen Naturgesetzen. Einsteins Verschmelzung der beiden Erhaltungs­gesetze der Masse (Lavoisier) und der Energie (Mayer, Joule, Helm­holtz) in ein einziges Gesetz ist als Triumph der Bemühungen, Kräfte zu

7Spinoza, Ethik, par. 1, prop. 11, par. 2, props. 1, 2, 7 schol. Spinozas Deu6 6ive natura stand Einsteins Vorstellung sehr nahe.

81. Kant, Kritik der reinen Vernunft, (2. Aufl., Riga 1787) (unten als KdrVzitiert), B224, "Erste Analogie: Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz"

9 Kdr V 86-87 (-A3) B395n

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vereinheitlichen, von größter erkenntnistheoretischer Bedeutung. Laue war sicherlich einer der wenigen Physiker, die diese besondere Bedeu­tung voll erkannten. Er wußte aus unserer Korrespondenz, daß ich über das Problem "Substanz" arbeitete, und am Ende eines interes­santen Briefes, der nur wenige wissenschaftliche Bemerkungen enthielt, schrieb er:

Berlin-Dahlem, Faradayweg 8,

den 28. Dezember 1954

... über das Substanz-Problem, von dem Sie schreiben, weiß ich auch nichts Vernünftiges zu sagen. Die Einsteinsche Gleichung kann doch kaum den Begriff der Individualität ersetzen, der uns verloren gegangen ist.

Mit recht herzlichem Gruß verbleibe ich Ihr ganz ergebener M. v. Laue

Es ist kaum wahrscheinlich, daß Laue hier über den Massenpunkt sprach, die klassische Einheit der Materie, die durch das Wellenbild verdrängt worden ist, wodurch in Zukunft weder ein Modell noch ein Bild, sondern nur eine mathematische Struktur ohne Möglichkeit der Visualisierung gestattet ist. Diese Ersetzung des Massenpunkts ist nicht durch Einsteins Formel erfolgt und hat nichts direkt mit ihr zu tun. Höchstwahrscheinlich bezog sich Laue auf jenen neuen Aspekt der Atomphysik, den Schrödinger einst durch die Aussage charakterisierte, daß er den Atomen die "Würde, absolut identifizierbare Individuen zu sein", nehme. In Laues Geschichte der Physik lesen wir, daß er als die am "tiefsten erschütternde Entdeckung" ansah, die jemals von den Na­turwissenschaften gemacht wurde, daß "wir den Beweis für die Notwen­digkeit besitzen, unsere Vorstellungen über Substanz zu revidieren".10 (Man beachte, daß er nicht von der "Wirklichkeit" sprach.) Es gibt

lOMax von Laue, Ge8chichte der PhY8ik (Bonn 1946), S. 128

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nicht länger das individuelle Stück Materie, dessen Schicksal - zumin­dest "in Gedanken"ll - durch alle seine Verwandlungen im Laufe seiner Existenz verfolgt werden kann. Laue sieht diesen Verlust der Identität in der Tatsache, daß "Gammastrahlung sich ... umsetzen kann in ein Elektronenpaar, ein negatives und ein positives ... auch die Umkeh­rung der Paarbildung ist möglich (das heißt, daß sich ein negatives und ein positives Elektron unter Emission von Gammastrahlung gegenseitig vernichten)". Er beschrieb in einem Brief aus Pasadena vom 12. Februar 1949, wie die Messung der Wellenlänge der Gammastrahlung erfolgte. Laue konnte Experimente dieser Art in den USA sehen und war von ihnen höchst beeindruckt, wie er in seinen Briefen mitteilte. Als er von der "Vernichtungsstrahlung" sprach, die von O. Klemperer 1934 nach­gewiesen worden war, setzte Laue das Wort in Anführungszeichen.12

Dies war typisch für seine wissenschaftliche Haltung: Vernichtung fin­det in der Natur nicht statt.

Nach meinem Verständnis faßte er die Umwandlung der gel amten Masse eines Körpers als eine Entdeckung von höchster Bedeutung auf. Vielleicht sollte man aber auch daran erinnern, daß das Prinzip der Unzerstörbarkeit der Substanz nicht zugunsten der Vorstellung ihrer Vernichtung aufgegeben werden muß. Anaxagoras hat bereits darauf hingewiesen, daß dieses Wort falsch verwendet wird. Dies war auch Kants Ansicht. Ich glaube, man sollte daran denken, daß alle früheren Vorstellungen über Substanz und ihre Unzerstörbarkeit als Erhaltungs­prinzipien ausgedrückt wurden, die sich auf jeweils eine Geamtheit be­zogen: eine Gesamtsumme der Materie, eine Gesamtsumme der Kraft, eine Gesamtsumme der Bewegung. Das Interesse der klassischen Natur­wissenschaft konzentrierte sich auf einzelne mehr oder weniger meßbare Teile einer solchen Gesamtheit. Der quantitative Aspekt, der alle wis­senschaftlichen Untersuchungen seit Galilei dominierte, förderte den Trend nach Meßbarkeit, der sich besonders in Lavoisiers und Kants "Beweisen" des Erhaltungsprinzips zeigt. (Zur Illustration der Idee der Erhaltung verwies Kant auf die Frage: Was ist das Gewicht von Rauch?13)

llMax von Laue, "Trägheit und Energie", in AE, S. 388. Siehe auch "Was ist Mate­rie", in Ge6ammelte Schriften (Braunschweig 1961), Bd. 3, S. 90-97

l2loc. dt. 13 "Ein Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe von

dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbleibenden Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauchs." (KdrV B228)

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Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde das Prinzip der En­ergieerhaltung uneingeschränkt akzeptiert. Mir scheint es daher keinen Grund zu geben, warum wir der Materie (Masse) das Privileg einer ausgezeichneten Energieform zugestehen sollten. Als Julius Robert Mayer14 das Erhaltungsgesetz der Energie im Jahre 1842 entdeckte und formulierte, wurde er von prominenten Wissenschaftlern beschul­digt, nur auf philosophischer Grundlage zu spekulieren (im Sinne von Kants Aussage: "Nichts kann aus dem Nichts entstehen, nichts kann ins Nichts zurückkehren"16). Als bald darauf Joule, Heimholtz und an­dere die Idee einer experimentellen Überprüfung unterzogen, und als Mayer eine vergleichsweise gute Näherungsberechnung des mechani­schen Wärmeäquivalents vorlegte, verstummten diese Einwendungen. Heute ist es wiederum experimentelle Evidenz, die Naturwissenschaft­ler und Philosophen zwingt, althergebrachte Ansichten über Substanz und über Materie im allgemeinen aufzugeben. Laue fühlte, daß dies ein tiefes Problem ist; in seinen Briefen drückte er dies genauso deutlich aus wie auch am Schluß seines Beitrages zum Einsteinband.16

Erst als ich Laues Brief las, erkannte ich, welch großes Opfer die­ses wissenschaftliche Resultat bedeutet. Es widerspricht nicht so sehr einem tief eingewurzelten Glauben, sondern es geht einem eher gegen den Strich. Ich meine, daß der Glaube an die strikte Kausalität oder an die Einheitlichkeit der Natur, die ein einheitliches Weltbild ermöglicht, durch diese Entdeckungen der modernen Naturwissenschaften nicht be­einflußt wird.

In einer Vorlesung zum Thema Determinismus versus Indeterminis­mus erwähnte Schrödinger einst eine dritte Möglichkeit, die zwischen diesen beiden Ideen steht - ohne sie jedoch selbst zu vertreten. Da­nach würde die Interpretation folgendermaßen lauten: Die Naturgesetze müssen mit Ausnahme der Gesetze der Erhaltung von Energie und Im­puls als statistische Gesetze betrachtet werden. Energie- und Impulser­haltung würden eine Ausnahme darstellen. Sie müßten als strikt gültig

14Robert Mayer war 1842 überzeugt, daß Lavoisiers Prinzip die Erhaltung dessen, was er "materielle Substanzen" nannte, umfaßte. Was er jedoch erreichen wollte und tatsächlich erreichte, war die Verallgemeinerung dieses Prinzips auf alle - wie er sie nannte - "Kräfte": mechanische Energie, Wärme, etc.

15"Gigni de nihilo nihil, in nihilum nil posse reverti" (KdrV 8229, ein Zitat aus Persius 3.83-84)

16Max von Laue, "Trägheit und Energie", in AE, S. 388

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angesehen werden, wie sie es entsprechend der alten deterministischen Ansicht waren.

Ich fühlte, daß diese dritte Möglichkeit völlig unannehmbar ist, weil sie die Einheitlichkeit der wissenschaftlichen Auffassung der gesamten Natur stört. Schrödinger sagte selbst, daß er nicht sehen könne, wie dieser Bruch zu vermeiden sei, wenn die dritte Möglichkeit akzeptiert würde.

In einem Aufsatz über "Kausalität und Wahrscheinlichkeit" disku­tierte ich die äußerst unerwünschten und unbefriedigenden Aspekte ei­ner solchen Annahme. Als Einstein und Planck den Aufsatz lasen, bestätigten sie ihre Übereinstimmung mit meinen Einwänden gegen die Zerstörung der Einheitlichkeit der Gesamtheit der Naturgesetze in un­serem wissenschaftlichen Weltbild. Einstein schrieb:

Sehr geehrte Frau Schneider-Rosenthall

Caputh bei Postdam,

den 4. Juli 1931

Ihr Artikel ist durchaus vernünftig und geeignet, bei Fernerstehen­den Klarheit über die Natur des aktuellen Problems zu verbreiten.

Es grüßt Sie freundlich

Ihr A. Einstein

Planck schrieb auf seine Visitkarte:

Berlin, Grunewald,

den 28. Oktober 1931

... dankt verbindlichst für die freundliche Zusendung des Aufsat­zes über Kausalität, den er mit Interesse und Zustimmung gelesen hat.

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Die Formulierung in Einsteins Brief entsprang einer Konversation, die wir am Rückweg von der Universität hatten, als ich ihm meinen Artikel gab. Mit der Frage: "Was soll ich damit tun?" schob er ihn in seine Tasche. Ich erwiderte: "Bitte lassen Sie ihn nicht in ihrer Tasche, sondern lesen Sie ihn, wenn Sie Zeit finden, und lassen Sie mich wissen, ob Sie ihn vernünftig finden", was in diesem Fall eher umgangssprach­lich gemeint war. Darauf erhielt ich den Brief. Der Herausgeber, bei dem ich den Artikel einreichte, sagte, er hätte in seinem Leben niemals einen seltsameren Empfehlungsbrief gesehen, doch wurde der Aufsatz sofort gedruckt.

Auch Planck erwähnte einmal eine dritte Möglichkeit zwischen De­terminismus und Indeterminismus und gab ein Beispiel dafür, indem er über Versuche sprach, die Gesetze der gravitativen und elektrischen Anziehung als Gesetze mit deterministischem Charakter zu erhalten und die restlichen Naturgesetze als statistische Gesetze aufzufassen. Er sagte nicht, was er davon hielt. Ich glaube jedoch, daß er niemals Ver­suche gebilligt hätte, die Einheit des Weltbildes zu zerstören.

Einige - vielleicht gar nicht so wenige - Naturwissenschaftler glau­ben, daß solche Überlegungen völlig unwichtig sind. Ich bin jedoch von ihrer grundlegenden Bedeutung überzeugt.

Wenn wir versuchen, die Natur zu verstehen, zu beschreiben und zu deuten, können wir beobachtbare Tatsachen und ihre gegenseitigen Beziehungen beschreiben, um künftige Beobachtungen vorherzusagen. Dies allein wäre bereits nützlich und von praktischem Wert. Anderer­seits könnten wir in Ergänzung dazu versuchen, auch ein befriedigen­d~s einheitliches und kohärentes physikalisches Weltbild zu erreichen. Wir würden damit die Interessen des Philosophen neben die utilitari­stischen Interessen der praktischen Anwendung stellen. Es stellt sich die Frage, ob ein philosophisch interessierter Naturwissenschaftler mit einer Deutung der Natur zufrieden sein kann, die durch eine künstli­che Dichotomie gespalten ist. Meiner Meinung nach hat der Glaube an "die Einheitlichkeit und Einfachheit der Natur" - Worte Poincares -den homo sapiens dazu gebracht, nach einem einheitlichen Weltbild zu suchen. Dies würde durch eine Spaltung der erwähnten Art unmöglich. Es hängt allerdings von der Einstellung des Einzelnen ab, ob ein Aufge­ben dieser Suche überhaupt möglich ist. Mir erscheint dies unmöglich.

Jedenfalls zeigt die gesamte Entwic,Jung der Naturwissenschaften, daß jene Theorien, welche die weitestreichenden Vereinheitlichungen zustande gebracht haben, den wichtigsten Fortschritt der Wissenschaft

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darstellten. (Die wichtigsten Beispiele sind Maxwells Vereinheitlichung der elektrischen und magnetischen Wechselwirkung oder auf rein be­grifflicher Ebene die Theorie der Relativität, die ad hoc-Hypothesen überwand und trotz ihrer Ferne von Alltagserfahrungen verifiziert wer­den konnte. Ihre Einheitlichkeit hat zusammen mit ihrem umfassenden Gültigkeitsbereich alle Erwartungen übertroffen.)

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4 Physikalische Wirklichkeit

Eines der kontroversiellsten Probleme an der Grenze zwischen N a­turwissenschaft und Philosophie betrifft den Begriff der physikalischen Wirklichkeit. Als Laue feststellte, daß wir unseren Substanzbegriff revidieren müssen, forderte er nicht, daß wir unser Realitätskonzept überdenken sollten. Dies würde wesentlich mehr bedeuten, als die Ver­wendung von Modellen in der Physik oder die Anwendung immer ab­strakterer Mathematik aufzugeben. In diesem Sinne sprach Bohr von der "wesentlichen Unzulänglichkeit des gewohnten Standpunkts der Na­turbeschreibung" und von der "Notwendigkeit, ... unsere Haltung ge­genüber dem Problem der physikalischen Wirklichkeit von Grund aus zu revidieren".1

Das deterministische Weltbild von Einstein, Laue und Planck und ihre Ansichten über die Realität physikalischer Objekte stehen in deut­lichem Kontrast zu Bohrs Ansichten, der sagte:

"Die in der Atomphysik vorliegende Notwendigkeit einer erneuten Überprüfung der Grundlagen für die zulässige Anwendung elementa­rer physikalischer Ideen erinnert in gewissem Sinne an die Situation, die Einstein zu seiner ursprünglichen Revision der Grundlagen für jegliche Anwendung der raumzeitlichen Begriffe geführt hat und die durch ihre Betonung der fundamentalen Bedeutung des Beobach­tungsproblems unserem Weltbild eine so starke Einheitlichkeit ge­geben hat2 ••• Trotz aller Unterschiede in den physikalischen Proble­men, die zur Entwicklung der Relativitätstheorie, bzw. der Quan­tentheorie Anlaß gegeben haben, enthüllt ein Vergleich der rein lo­gischen Aspekte relativistischer und komplementärer Darstellungs­weise weitgehende Ähnlichkeiten hinsichtlich des Verzichtes auf die absolute Bedeutung althergebrachter physikalischer Attribute der Objekte."3

Ich kann die Ähnlichkeit der beiden Situationen nicht sehen, obwohl das Problem der Beobachtung für beide wichtig ist.

1 Niels Bohr, "Diskussion mit Einstein über erltenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik", in AE, S. 143

2Ibid., S. 124 3Ibid., S. 148

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Meiner Meinung nach steht die Aufgabe der klassischen Vorstellung einer "Gleichzeitigkeit entfernter Ereignisse" - wie sie durch Einstein erfolgte - auf einer anderen Stufe. Sie unterscheidet sich von der Kom­plementarität in logischer Hinsicht. Die Unmöglichkeit, diesem Begriff eine gen aue Bedeutung zu geben, kann nicht mit der "Unmöglichkeit einer scharfen Trennung zwischen dem Verhalten atomarer Objekte und der Wechselwirkung mit den Meßgeräten, die zur Definition der Bedin­gungen dienen, unter welchen die Phänomene erscheinen" ,4 verglichen werden. Wie kann die radikale Anwendung der Heisenbergschen Unbe­stimmtheitsrelation in Bohrs Komplementaritätsdenken, das uns nach Bohr "zu einem Verzicht [auf die kausale Beschreibung] zwingt" ,6 als rationale Verallgemeinerung des Ideals der Kausalität betrachtet wer­den?

Mir erscheint es nicht als rationale Verallgemeinerung des Ideals der Kausalität, sondern als Negierung sowohl von Kausalität als auch der objektiven Realität physikalischer Objekte, wenn Bohrs "Revision" in der von ihm als notwendig behaupteten Weise angewendet wird. Hei­senberg stellt mit Recht fest, daß die Gegner der Kopenhagener Deu­tung den Realitätsbegriff der klassischen Physik beibehalten wollten. Lediglich seine Formulierung: "Es wäre nach ihrer Ansicht wünschens­wert, zu der Realitätsvorstellung der klassischen Physik, oder allgemei­ner gesprochen, zur Ontologie des Materialismus zurückzukehren" ,6 ist nicht zutreffend. Für sie sollte es nicht eine Rückkehr bedeuten, weil sie niemals das Realitätskonzept der klassischen Physik aufgegeben hatten. Heisenberg nannte es eine "Ontologie des Materialismus", was meiner Ansicht nach eine falsche Bezeichung ist. Es ist weder materialistisch noch eine Ontologie. Für Einstein, Laue und Planck existierte eine ob­jektive reale Welt, "deren kleinste Teile in der gleichen Weise objektiv existieren wie Steine und Bäume". 7 Für Einstein, Laue und Planck ist es eine Welt, deren Gesetze sie zu entdecken versuchten. Heisenberg, dessen Leistungen von den drei Gegnern der Kopenhagener Deutung voll anerkannt und gewürdigt wurden, betonte, daß seine Auffassung nicht positivistisch sei.

Wenn man eine Ausbildung in Mathematik und Philosophie erfah­ren hat und in Vorlesungen, Büchern und Diskussionen mit den An-

4Ibid., S. 122 5Ibid., S. 124 6W. Heisenberg, Physik und Philosophie (Ullstein, Frankfurt 1959), S. 105 7 Ibid.

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sichten von Einstein, Laue oder Planck vertraut wurde, wird es nicht leicht fallen, die Kopenhagener Deutung, soweit sie den Begriff der phy­sikalischen Realtität betrifft, vollständig zu akzeptieren. Andererseits wird auch ein Physiker, der mit dem Operationalismus oder wenigstens einer Form des Observationalismus aufgewachsen ist, nicht leicht ein­sehen, daß sich das Blatt glücklicherweise wendet - oder sich vielleicht bereits gewendet hat.

Selten hat mir die Rezension eines Buches soviel Vergnügen berei­tet wie die Besprechung von Quantum Theory and Reality,8 das von Mario Bunge herausgegeben wurde und seine ausgezeichnete Einlei­tung "The Turn of the Tide" enthält. Ich glaube, daß auch die begei­stertsten Anhänger der Kopenhagener Deutung sich zu fragen beginnen (wenn sie dies nicht schon getan haben), ob die Objekte der äußeren Welt nicht vielleicht doch existieren; ob der naive Realismus wirklich so naiv, unwissenschaftlich oder selbst lächerlich ist, wie sie zu glauben lernten; und ob es gerechtfertigt war, sich der Philosophie der "neuen" Physik zu verschreiben, die - wie Bunge es so köstlich ausdrückt -"das physikalische Objekt auf wenig mehr als das Lächeln einer Katze zurückführte". Was blieb, waren "Beobachter und Observable". "Die letzteren waren nicht reale Eigenschaften von selbständig existierenden Dingen, sondern reine Beobachtungsmöglichkeiten."9 In einem äußerst interessanten Beitrag mit dem Titel "Quantum Mechanics without the ,Observer' " stellt Popper seinen Standpunkt dar. Er hält die Ansicht für unberechtigt, daß die "objektive Realität entschwunden ist", daß die Quantenmechanik "nicht Teilchen repräsentiert, sondern statt des­sen unsere Kenntnis, unsere Beobachtungen und unser Bewußtsein von Teilchen" .10

Diese Kontroverse über das "Entschwinden" der physikalischen Rea­lität erinnert an eine ähnliche Situation in der Antike. Im fünften vor­christlichen Jahrhundert "verflüchtigte" sich das schöne und abgerun­dete Weltbild der Eleaten. Es gibt verschiedene Interpretationen dieser Zeit; die meisten stimmen jedoch in der Ansicht überein, daß es an­gesichts der Erschütterung und Zerstörung dieses Kosmos notwendig wurde, die "Phänomene unserer Erfahrung zu retten" (sozein ta phe­nomena). Die Stücke, in die der Kosmos zerbrach, waren die rhizomata

SM. Bunge (Hrsg.), Quantum Theory and Reality (Berlin 1967). Von mir rezensiert in Australian Journal of Science 29 (1968)

9Ibid., S. 3 IOK. Popper, "Quantum Mechanics without the ,Observer' ", ibid., S. 7

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(Wurzeln) des Empedokles, die 3permata (Samen) des Anaxagoras und die atomoi (Atome) des Leukipp und des Demokrit. Nicht nur "Bäume und Steine" wurden von den Atomisten als real betrachtet. Sie öff­neten den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der geistigen und der materiellen Natur. Was von Demokrits Beschreibungen menschli­cher Beziehungen überliefert ist, beweist überraschende psychologische Einsicht.

Weder Planck noch Einstein oder Laue akzeptierten die Vorstel­lung, daß sich die Wirklichkeit zugunsten des Begriffspaars Beobach­tung und Beobachter aufgelöst habe. Am 31. März 1944 fügte Ein­stein einige handschriftliche Zeilen auf einer gedruckten Dankeskarte für Glückwünsche anläßlich seines Geburtstages hinzu:

Princeton, New Jersey, den 31. März 1944

... Es war sehr lieb von Ihnen, meiner dort zu gedenken ... Ich bin ganz wild auf die Arbeit und glaube, das Quantenrätsel doch noch herauszukriegen, ohne daß man auf die Darstellung einer Realität verzichten muß.

Herzliche Grüße Ihr A. Einstein

In meinem Dank an Einstein für diese Zeilen sagte ich, wie glücklich ich sei, seine Handschrift nach so langer Zeit wiederzusehen und zu lesen, was er über seine Arbeit sagte. Ich schrieb ihm auch, daß seine Zeilen mich und meinen Gatten unablässig raten ließen, welchen neuen Zugang zum Quantenproblem er gefunden hätte. "Sie wären belustigt, wenn Sie unsere Vermutungen hören könnten. Es ist zu schade, daß ich nicht mit Ihnen in der Tram zur Universität fahren kann. Ich würde Sie mit meinen Fragen quälen, wie ich es oft in Berlin getan habe."

Die weitreichenden Abstraktionen der modernen Physik haben von der "Realität", mit der wir aufgewachsen sind, so wenig übriggelas­sen, daß sie für mich nur geringe intellektuelle Befriedigung bedeuten. Als wir annahmen, daß jenen konstanten quantitativen Beziehungen, die wir mit den Mitteln der Mathematik beschrieben, eine Realität zu­grunde liegt, hatten wir zumindest die Befriedigung, daß wir ein Bild

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(oder eines von mehreren Bildern) einer zugrundeliegenden Realität studierten, welches eine gewisse Aussicht auf Verifikation hätte. Doch soweit ich die moderne Physik verstehe, verweigert sie dem Wissen­schaftler selbst dieses kleine Stück an Befriedigung.

Wie Einstein hielt auch Planck an der Vorstellung eines objektiv existierenden und realen Universums fest und betonte seine Überzeu­gung, wann immer das Thema diskutiert wurde. In seiner Autobiogra­phie beschreibt Planck seine Auffassung der Naturgesetze, die unseren menschlichen Denkgesetzen, mit denen wir Einsicht in die Welt der äußeren Objekte erhalten können, entsprechen. Einleitend schreibt er:

"Dabei ist es von wesentlicher Bedeutung, daß die Außenwelt et­was von uns Unabhängiges, Absolutes darstellt, dem wir gegenüber stehen, und das Suchen nach den Gesetzen, die für dieses Absolute gelten, erschien mir als die schönste wissenschaftliche Lebensauf­gabe."ll

An Einsteins Ansichten über die "realen Objekte" besteht ebenfalls kein Zweifel. Wie er in dem "erkenntnistheoretischen Credo" in sei­nen autobiographischen Anmerkungen sagt, gibt es die "Gesamtheit der Sinnenerlebnisse" . Daher erhalten "die Begriffe und Sätze Sinn, beziehungsweise Inhalt nur durch ihre Beziehung zu den Sinnenerleb­nissen" P Er war von der objektiven Realität der Natur überzeugt, wie der folgende Brief zeigt:

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

112, Mercer Street,

Princeton, New Jersey,

den 9. April 1946

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Gratulation. Wenn meine neue Abhandlung gedruckt wird, werde ich sie Ihnen senden, weil ich

11 M. Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie (Leipzig 1948), S. 7 12 AE, S. 4-5

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wirklich Hoffnung habe, das Problem der Einheit der Naturkräfte endlich beim richtigen Zipfel erwischt zu haben.

Mit freundlichen Grüßen und Wünschen Ihr A. Einstein

Obwohl oft gesagt wird, daß "alle maßgeblichen Physiker wissen, daß die Kopenhagener Deutung richtig ist", ist dies - wie Popper aufzeigt -bloße Behauptung und als historische Tatsache falsch. l3 Er verweist auf Physiker wie Einstein, Planck, von Laue und Schrödinger. Wie Popper wollte auch Laue den "Bewußtsein" oder "Beobachter" genannten Geist austreiben. Er schrieb:

Berlin-Dahlem, Faradayweg 8,

6. März 1953

... In Ihrem Sonderdruck las ich etwas über die Rolle des Beob­achters in der Relativitätstheorie. Mir scheint dieser einer un­geschickten Darstellung Einsteins sein Dasein zu verdanken, und nichts anderem. In meinen Büchern kommt er nicht vor. Ich, diese eine und dieselbe Persönlichkeit, messe so oder so, je nach dem Bezugssystem, welches ich mir nach freiem Ermessen aussuche.

Mit herzlichem Gruß, auch an Ihren Gatten, Ihr ergebener M. v. Laue

Laue wollte den "Beobachter" sogar aus der Relativitätstheorie ver­trieben haben.

Ich muß gestehen, daß ich den Beobachter sehr nützlich und über­aus hilfreich finde, wenn ich die Grundbegriffe der Relativitätstheorie erklären und die Theorie für eine Zuhörerschaft verständlich machen möchte, die nicht weiß, was ein Bezugssystem ist.

13K. Popper, "Quantum Mechanics without the ,Observer' ",Ioe. eit., S. 7

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Systeme mit Beobachtern sind nicht mehr oder minder real als Be­zugsysteme ohne Beobachter. Man erfindet sie, um physikalische Tat­sachen zu beschreiben und zu erklären, um möglichst viel über sie zu verstehen, um der Wahrheit über die Realität so weit wie möglich nahe zu kommen. (Wenn die Verwendung dieser altmodischen naiven Be­griffe gestattet ist.) Ohne eine genaue Definition zu geben, möchte ich einen Vorschlag Landes akzeptieren, den Popper erwähnt:14 Phy­sikalisch real ist alles zu nennen, was gestoßen werden kann - wobei ich mir der viel weiteren Bedeutung des Begriffes "Realität" bewußt bleibe, den jene Physiker besaßen, mit denen ich über seine Bedeutung in den Naturwissenschaften diskutierte. Kann beispielsweise Strahlung gestoßen werden? Und was ist, wenn auch eine Rückwirkung erfolgt? Es gibt keine allgemein akzeptierten Kriterien für die Realität der in ei­ner wissenschaftlichen Theorie behandelten Objekte und noch weniger für die Wahrheit einer wissenschaftlichen Theorie, die akzeptierte und "wohldefinierte" Begriffe enthält. Ist die Möglichkeit zur Überprüfung der wesentliche und entscheidende Faktor bei der Beurteilung des Wahr­heitswertes einer Theorie? Dies sind wichtige Fragen, die bestimmt eine Untersuchung wert sind. Eine Theorie wird üblicherweise nur dann ak­zeptiert, wenn sie verifiziert ist oder die Möglichkeit der Verifikation besteht. 15 Eddington sagte darüber: "Die Erfahrung ist die letzte Be­rufungsinstanz." Doch es besteht auch die Möglichkeit, daß eine Theorie von den Naturwissenschaftlern als wahr akzeptiert oder als falsch ver­worfen wird, bevor eine Überprüfung stattgefunden hat oder selbst für möglich erachtet wurde.

Diese Fragen erinnern mich an einen Nachmittag, als mich Ein­stein während meiner Studienzeit eingeladen hatte, mit ihm ein Buch zu lesen, das Einwendungen gegen die Relativitätstheorie enthielt. Als wir begannen, sah ich, daß er das Buch bereits mit äußerst amüsan­ten Randbemerkungen versehen hatte. Ich gab zwar vor, es sei nicht fair gewesen, daß er bereits soviel gelesen hätte, doch sah er, wie mich diese Randanmerkungen belustigten. Da gab es zum Beispiel eine Be­merkung des Verfassers: "Es ist völlig unverständlich, warum Einstein behauptete ... ". Daneben hatte Einstein an den Rand "Bekenntnis

l4Ibid., S. 33 lOlch habe nicht die Absicht, hier die Diskussion um Verifikation und Falsifikation

wissenschaftlicher Theorien zu wiederholen.

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einer schönen Seele"16 geschrieben. Auf einer anderen Seite hatte er vermerkt: "Adventavit asinus pulcher et fortissimus." Diese unterhalt­samen Einschübe machten die sonst ernsthafte Diskussion noch un­vergeßlicher. Plötzlich unterbrach Einstein die Lektüre und übergab mir ein Telegramm, das er vom Fensterbrett genommen hatte, mit den Worten: "Dies könnte Sie interessieren." Es war ein Telegramm von Eddington mit den Resultaten der berühmten Expedition zur Sonnen­finsternis. Voll von Begeisterung rief ich aus: "Wie wunderbar, dies ist fast der Wert, den Sie berechnet haben." Völlig ruhig bemerkte er: "Ich wußte, daß die Theorie richtig ist. Haben Sie daran gezweifelt?" Ich antwortete: "Nein, natürlich nicht. Doch was hätten Sie gesagt, wenn die Bestätigung nicht so ausgefallen wäre?" Er antwortete: "Da könnt' mir halt der liebe Gott leid tun, die Theorie stimmt doch." Hier verwendete er - wie so oft - das Wort "Gott" statt "Natur".

Er war so sicher gewesen, daß seine Grundannahmen und seine Rech­nungen richtig waren; daher empfand er deren Bestätigung als Selbst­verständlichkeit. Er sagte oft, daß die axiomatische Grundlage der theo­retischen Physik nicht nur aus der Erfahrung erschlossen werden kann; doch war für ihn keine Theorie ein "Bestandteil des physikalischen Wis­sens", bevor sie nicht so weit wie möglich empirisch geprüft worden war. (Wer kennt allerdings nicht die an Prokrustes erinnernden Methoden, mit denen gelegentlich die experimentelle Bestätigung von vorgeschla­genen Theorien gesucht wird. In solchen Fällen - und wir alle kennen Beispiele - wird stets behauptet: "Die Beobachtungen haben gezeigt, daß ... " oder "Das Experiment beweist, daß ... ")

Ein weiterer sehr wichtiger Faktor war für Einstein die Einfachheit oder, wie er sie oft nannte, die Natürlichkeit einer Theorie, die durch die Verringerung der Anzahl der logisch unabhängigen Elemente charakte­risiert ist. 11 Dies ist etwas völlig anderes als mathematische Einfachheit, wie jeder bestätigen wird, der versucht hat, die allgemeine Relativitäts­theorie zu verstehen. Daß eine Theorie als geeigneter aufgefaßt werden muß (das heißt, vorzuziehen ist, wenn es eine Wahlmöglichkeit gibt), wenn sie einer größeren Zahl unabhängiger Fakten umfassend Rechnung trägt, ist selbstverständlich.

Wenn es um die Beurteilung der "Wahrheit" einer Theorie geht, finden wir oft "Objektivität" als ein entscheidendes oder sogar als das

16Titel des 6. Buchs von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hier sarkastisch als Eingeständnis des Unverständnisses gebraucht.

17Siehe I. Rosenthal-Schneider in AE, S. 65

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einzig entscheidende Kriterium erwähnt. Es ist jedoch nicht immer leicht, Objektivität zu erreichen und dabei auf einige häufig anzutref­fende protagoreische Methoden zu verzichten. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge", sagte Protagoras. Die Elimination des Beobachters oder des Instruments kann nicht in jedem Fall mit jener allen Zweifel aussch­ließenden Sicherheit erfolgen, mit der Lehrbücher der Elementarmathe­matik ihre Bewertungen von wahr oder fa13ch abgeben. Es ist oft mehr als schwierig, "wissenschaftliche Wahrheit" festzustellen und gleichzei­tig "Objektivität" zu bewahren. Es ist nicht nur die Störung der Dinge bei der Untersuchung durch den Forscher, die soweit wie möglich eli­miniert werden muß, sondern - was vielleicht noch schwieriger ist -sein subjektiver Standpunkt. Ich verweise auf die von ihm getroffene Wahl des Problems, die den gesamten Fortgang der Untersuchung des Forschers bestimmt. Dieser protagoreische Aspekt ist für den Experi­mentator wie für den Theoretiker unvermeidlich. Er muß sein Untersu­chungsgebiet eingrenzen, das heißt, sein System abschließen. Dies muß zuerst getan werden. Erst danach kann er entscheiden, welche Fakto­ren in seinen Untersuchungen wichtig sind, und er kann alle unwichtigen eliminieren. Solch unwichtige Faktoren mögen immer noch sehr real, jedoch für seine Untersuchung irrelevant sein. Diese selbst auferlegte Beschränkung ist unvermeidlich. Sie ist eine unbedingte Voraussetzung jedes Versuches, der wissenschaftlichen Wahrheit über einen Bereich der Realität näher zu kommen, dessen Grenzen der Wissenschaftler selbst definiert.

Wenn ein mathematischer Physiker eine völlig neue Theorie vor­schlägt, muß er einige Fragen nach seinem Gewissen beantworten: Ist meine Methode zulässig? Sind meine axiomatischen Grundlagen, die betroffenen Grundkonzepte und ihre Anwendungen zulässig? Besteht ein adäquates mathematisches Verfahren? Wenn er auf diese Fragen eine positive Antwort gefunden hat, wird er eine weitere, ebenso schwie­rige, vielleicht noch schwierigere zu beantworten haben. Sie betrifft weder ein Spezialgesetz oder dessen Unverträglichkeit mit anerkannten Methoden der Physik noch die Frage, ob die Theorie vorhersagbare praktische Anwendungen hat, sondern sie betrifft die Möglichkeit, die volle physikalische Bedeutung des Gefundenen zu erforschen. Ein Bei­spiel finden wir in den Briefen zur Wellenmechanik, wo Einstein, der ebenso wie Planck 1926 von Schrödingers neuer Idee begeistert war, eine Gleichung vorschlug, die sich später als dieselbe Gleichung herausstellte, auf die Schrödinger seine Überlegungen begründet hatte. Abschließend

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schrieb er über diese Gleichung: " ... ohne daß ich ihr deshalb phy­sikalische Bedeutung zusprechen möchte, worüber ich nicht genügend nachgedacht habe" .1S

"Gedankenexperimente" - ein von Experimentalphysikern oft ins Lächerliche gezerrtes Wort - haben meist an der Wiege neuer Theo­rien gestanden und können sogar als Grundlage vieler wissenschaftli­cher Theorien aufgefaßt werden. Für Einstein, Laue und Planck waren sie sehr wichtig. Sie sind jedoch von der Methode zu unterscheiden, die Mario Bunge folgendermaßen charakterisiert: " ... eine Mode, charakte­ristisch für die zeitgenössische theoretische Physik, nämlich zuerst eine mathematische Struktur zu errichten und sich dann nach möglichen Kunden umzusehen, denen diese Form paßt" .19

Mathematik mit ihrer - wie sie Bunge nennt - "selbst vorwärts­treibenden Kraft" liefert dem Forscher mehr als das traditionell ak­zeptierte Werkzeug, vielleicht sogar mehr als heuristische Prinzipien. Doch wieviel mehr?

Der beträchtliche heuristische Gehalt, von Einstein "Spürkraft" ge­nannt, den rein mathematisch vorgeschriebene Bedingungen besitzen, sollte anerkannt und ausgenützt werden. Ich weiß, daß nicht alle Physi­ker zustimmen werden. Es mag paradox erscheinen, daß Bedingungen, die einer Teildisziplin der Mathematik entspringen, dem Forscher bei ei­ner weitreichenden "Verallgemeinerung" wichtige Hilfe bieten können. Einstein nutzte diese "Spürkraft" bei der Formulierung des Prinzips der allgemeinen Relativität durch die "Vorschrift", daß alle Gaußschen Koordinatensysteme - die er als "Mollusken" bezeichnete, zulässig sein müssen. Sein Hauptziel war die Verallgemeinerung der Speziellen Rela­tivitätstheorie, die selbst eine Verallgemeinerung der Galileischen Theo­rie darstellt. Er pflegte zu sagen, daß es das wunderbarste Schicksal einer physikalischen Theorie sei, wenn sie den Weg zur Schaffung einer umfassenderen Theorie weise, in der sie als Grenzfall weiterlebe. 20

IBBrief A. Einsteins vom 16. April 1926. Abgedruckt in Briefe zur Wellenmechanik (hrsg. von K. Przibram, Wien 1963), S. 21-22.

19M. Bunge, "The Structure and Content of a Physical Theory", in Delaware Seminar on the Foundation8 of PhY8ics 1 (Berlin 1967), S. 16

20Dies war das Schicksal der speziellen Relativitätstheorie. Wenn die Koeffizien­ten 'Y/J,V des Fundamentaltensors der allgemeinen Relativitätstheorie konstant sind, dann wird die spezielle Relativitätstheorie mit euklidischer Geometrie und kartesi­schen Koordinaten "gültig" (anwendbar) und Newtons Theorie wird eine sehr gute Näherung.

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Es hat keinen Sinn zu fragen, ob Einstein ohne die Vorarbeiten von Gauß und Riemann zur allgemeinen Relativitätstheorie gelangt wäre, wenn es nur kartesische Koordinaten gegeben und Gauß nicht die "Mollusken"21 gefunden hätte, wenn nicht Riemann die Gaußschen Ideen weiterentwickelt hätte,22 wenn der Tensorkalkül nicht bereits -unter anderen von Levi-Civita - ausgearbeitet worden wäre. Einstein betonte immer, wieviel er diesen Männern und den Schöpfern von nicht­euklidischen Geometrien verdankte.

Die Rolle der reinen Mathematik habe ich hier nur für den Spezialfall der Entwicklung der Einsteinschen Theorie der allgemeinen Relativität skizziert. Nur wenige Namen konnte ich erwähnen; und nichts konnte ich über die philosophischen und physikalischen Aspekte in Einsteins Werk in dieser Periode sagen, die in der allgemeinen Relativitätstheorie ihren Abschluß fand.

21e. F. Gauß, Disquisitiones generales circa superficies curvas (Göttingen 1827) 22G. S. B. Riemann, "Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen"

(Göttingen 1854), abgedruckt in Gesammelte mathematische Werke (hrsg. von H. Weber, Leipzig 1876), S. 254-269

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5 Die kleinste Länge

Eine andere Idee der modernen Naturwissenschaft, die mir großes Kopfzerbrechen bereitet hat, ist Heisenbergs Einführung einer "klein­sten Länge" von der Größenordnung 10-13 cm, die gelegentlich auch als "Hodon" bezeichnet wurde. Ich kann die zwingende Notwendig­keit nicht sehen, die Heisenberg zur Einführung dieser kleinsten Länge veranlaßte. 1 Nachdem er sich mit der Lichtgeschwindigkeit und der Planckschen Konstanten beschäftigt hat, erklärt Heisenberg:

"Es muß aber noch eine dritte universelle Naturkonstante geben. Dies folgt einfach, wie der Physiker sagt, aus Dimensionsgriinden. Die universellen Konstanten bestimmen die Maßstäbe der Natur . . . . Man braucht aber mindestens drei Grundeinheiten für einen vollständigen Satz solcher Einheiten."

Er erwähnt das Zentimeter-Gramm-Sekunden-System, oder als Alter­nativen: Länge, Geschwindigkeit und Masse, oder: Länge, Geschwin­digkeit und Energie und so weiter.

"Mit der Lichtgeschwindigkeit und dem Planckschen Quantum ha­ben wir aber erst zwei dieser Einheiten. Es muß noch eine dritte geben, und nur eine Theorie, die eine solche dritte Einheit enthält, kann möglicherweise zur Bestimmung der Massen und der anderen Eigenschaften der Elementarteilchen führen. Wenn man von unse­rer gegenwärtigen Kenntnis der Elementarteilchen ausgeht, so ist vielleicht die einfachste und angemessenste Weise, die dritte univer­selle Konstante einzuführen, die Annahme, daß es eine universelle Länge von der Größenordnung etwa 10-13 cm gibt, also eine Länge, die etwa mit den Radien leichter Atomkerne vergleichbar ist."

Nach der Lektüre eines Großteils von Heisenbergs Schriften glaube ich mich zur Annahme berechtigt, daß er wie fast alle Physiker die Relativitätstheorie als gesicherte physikalische Erkenntnis akzeptierte. Doch wie können wir dann das Hodon akzeptieren? Ich kann unmöglich

lZ.B. in W. Heisenberg, Physik und Philosophie (Ullstein, Frankfurt 1959), S. 136

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Max von Laue am Fritz-Haber-Institut in Berlin, 9. Oktober 1953, anläßlich der doppelten Feier seines vierundsiebzigsten Geburtstags

und des jünjzigjährigen Doktorjubiläums

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sehen, wie die Äquivalenz aller Bezugssysteme aufrecht erhalten werden kann, wenn wir eine kleinste Länge haben. Nachdem ich die Unverträg­lichkeit des Begriffs einer kleinsten Länge mit der Relativitätstheorie gesehen hatte, erwähnte ich diese Frage gegenüber Laue und bat ihn um seine Meinung. Die folgenden Briefe bedeuteten für mich eine große Erleichterung. Sie bewiesen, daß nicht ich allein Schwierigkeiten hatte, die bei den Theorien in Einklang zu bringen. Laue schrieb:

Berlin, den 5. November 1952

... Sie fragen nach den kleinsten Längen und Zeiten, von denen Heisenberg spricht. Die Raum- und Zeit- Vor"tellung wird m.E. dadurch nicht betroffen, sie bleibt kontinuierlich. Daß es in Raum und Zeit physikalisch hervorgehobene Punkte, etwa ein vierdi­mensionales Raumgitter, gibt, wäre damit vereinbar, nur sehe ich nicht, wie man dann das Relativitätsprinzip aufrecht erhalten soll. Ein solches Gitter hat bestimmt eine gar nicht große Zahl ausge­zeichneter Achsen, ausgezeichnet etwa durch besonders geringe Länge, u.U. auch durch Symmetrie-Eigenschaften des Gitters ...

Verehrte gnädige Frau!

Berlin-Dahlem, Faradayweg 8,

den 6. März 1953

... Besten Dank für Ihren Brief vom 16. 1. 53 und den Sonder­druck! Daß Heisenbergs Idee der kleinsten Länge und Zeit mit dem Relativitätsprinzip nicht leicht in Übereinstimmung zu brin­gen sein dürfte, habe ich Ihnen schon einmal geschrieben. Denn erklärt man ein 4-dimensionales Gitter von Weltpunkten als allein (im Sinne der Physik) existent, so hebt man die Gleichwertigkeit der durch die Lorentztransformation verbundenen Bezugssysteme auf. Denn ein solches Gitter hat Vorzugsrichtungen ...

Mit herzlichem Gruß, auch an Ihren Gatten, Ihr ergebener M. v. Laue

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Auch in einem meiner Briefe an Einstein machte ich einige Bemer­kungen über die Unmöglichkeit, das Relativitätsprinzip aufrecht zu er­halten und gleichzeitig Heisenbergs Vorschlag einer kleinsten Länge zu folgen. Ich sagte, ich könnte nicht sehen, wie man die Ideen überhaupt verbinden könnte. In seiner Antwort verwies Einstein auf die offen­sichtliche Unverträglichkeit einer kontinuierlichen Feldtheorie, die keine Singularitäten zuläßt (eine bereits erwähnte Forderung Einsteins ), mit der Quantentheorie, die "im Prinzip" atomistisch ist.

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

112 Mercer Street Princeton, New Jersey,

den 6. Januar 1953

Freundlichen Dank für Ihren Brief vom 29sten Dezember und den ArtikeI.2 Der letztere ist ja in der Hauptsache referierend, so daß ich nicht viel dazu zu sagen habe. Ihre Frage ist so zu sagen ein kleines Stückchen eines Abgrun­des, der zwischen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie gähnt. Es ist schwer zu denken, die Relativitätstheorie anders als auf der Grundlage des kontinuierlichen Feldes durchzuführen, welches seinerseits keine Singularitäten zuläßt und damit die Ver­bindung zu der im Prinzip atomistischen Quantumtheorie uner­reichbar erscheinen läßt. Die letztere ist andererseits der bisher einzige Weg, den undulatorischen Charakter der materiellen Teil­chen zu erfassen, und zwar durch die undulatorischen Eigenschaf­ten der 'li-Funktion. Letztere ist aber vieldimensional und läßt sich nicht als Feld im Sinne der Feldtheorie auffassen, auch darum nicht, weil man für jeden Wert der Eigenrnasse ein besonderes Feld einzuführen hätte. Die relativistische Feldtheorie anderer­seits ist zwar formal viel befriedigender und logisch einfacher, in der Anwendung aber so kompliziert (wegen der Forderung der Sin­gularitätsfreiheit), daß man weit davon entfernt ist, ihre physika­lischen Folgerungen entwickeln zu können. Die Bemühung, etwas wie eine untere Länge einzuführen läßt sich nach meiner Meinung

2 "Limits in Modern Physics and Their Epistemological Implications", A u6tralian Journal o/Science 13 (1952)

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überhaupt nicht konsequent durchführen. Es ist in meinen Augen weiter nichts als der Versuch eines faulen Kompromisses zwischen Punkt-Mechanik und Feldtheorie. Ich gratuliere Ihnen auch zu Ihrer neuen Würde,3 die glück­licherweise eine konkretere Basis aufzuweisen hat.

Mit herzlichen Grüßen Ihr A. Einstein.

3Die Geburt meines erstell Enkelkinds.

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6 Über ihr Denken und Fühlen

Im Gegensatz zu vielen - leider muß ich sagen, den meisten - moder­nen Physikern waren Einstein, Laue und Planck nicht nur an der Phi­losophie interessiert, sondern sie anerkannten ihre fundamentale Rolle für die theoretische Physik. Und es war natürlich die Erkenntnistheorie, die einen Großteil der Probleme lieferte, welche die Naturwissenschaften betrafen. Wir diskutierten zum Beispiel den Einfluß der Relativitäts­theorie auf die Deutung der Begriffe Raum und Zeit oder die Konse­quenzen der Quantentheorie für Kontinuität und Kausalität, und wir diskutierten die Frage von Determinismus versus statistische Vorstel­lungen, Realität und viele andere mehr.

Bezeichnenderweise hegten alle drei für Kants Werk größte Bewun­derung und stimmten mit seinem Standpunkt überein, daß die Philo­sophie die Grundlage aller Wissenschaften sein sollte, obwohl sie nicht alle Ideen Kants akzeptierten.

Vor Beendigung meines Studiums erhielt ich von Einstein eine Post­karte, die vielleicht den Eindruck erwecken könnte, daß er die Probleme der Kantschen transzendentalen Ästhetik nicht ernst nahm. Ich wußte jedoch, daß er sie für wichtig erachtete. Er wollte mich bloß necken, als er schrieb:

15. September 1919

Sehr geehrtes Fräulein Schneider!

Ich habe die genannte Dissertation von S. erhalten (Erkenntnis­theorie und Relativitätstheorie). Wenn Sie Zeit und Lust haben, kommen Sie nächster Tage einmal zu mir, daß wir die Sache durch­sprechen. Mich erinnert die gepriesene Kantsche Ansicht über die Zeit an Andersens Märchen vom Kleid des Königs, nur daß es sich statt um das Kleid des Königs um die Form der Anschauung handelt! Bitte um vorherige telephonische Nachricht.

Es grüßt bestens Ihr A. Einstein

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Albert Einstein, etwa 1919

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Ich erhielt von ihm auch eine kurze Mitteilung, bevor mein Buch Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein erschien.

5. Januar 1920

Sehr geehrtes Frl. Schneider!

Besten Dank für die freundliche Gratulation. Wann kommt Ihr relativierter Kant1 heraus? Ich freue mich darauf.

Mit besten Grüßen Ihr A. Einstein

Selbst viele Jahre später erinnerte sich Einstein offensichtlich meines besonderen Interesses an den Beziehungen der Kantschen Philosophie zur Relativitätstheorie. Im Jahr 1947 fügte er einem Brief eine Anmer­kung über Gödel und dessen Lektüre meines kleinen Buches an.

Liebe Frau Rosenthal-Schneider!

112 Mercer Street, Princeton, New Jersey.

den 3. Februar 1947

Auf Ihren freundlichen und interessanten Brief vom 14. Januar muß ich gleich antworten von wegen der offiziellen Veranlassung. Ich habe mich längst dazu entschließen müssen (wegen geschwäch­ter Gesundheit), auf alle Betätigung außerhalb meines Wohnortes zu verzichten. Deshalb kann ich der freundlichen Einladung nach Australien nicht Folge leisten. Ich bitte Sie aber, den wohlwollen­den Menschen, die die Initiative genommen haben, meinen besten Dank auszusprechen. Ich hoffe, Ihnen privatim schreiben zu können, wenn ich mehr Zeit habe. Einstweilen will ich Ihnen nur erzählen, daß mein hiesiger Freund, der bekannte mathematische Logiker Gödel, nach langem

1 Ich warnte ihn, daß sich dieses Buch als kantianisierter Einstein erweisen könnte.

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Bemühen endlich Ihre Studie über die Beziehung von Kants Lehre zur Relativitätstheorie erhalten und studiert hat.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr A. Einstein

Ich erhielt diesen Brief, als ich gerade Gödels Artikel über Russells mathematische Logik las und es sehr bedauerte, daß Russell nicht sagte, was er von Einsteins philosophischen Ideen hielt. 2

Wir waren sehr enttäuscht, daß Einstein einer Einladung, Australien zu besuchen, nicht folgen konnte. In einem Brief an ihn hatte ich vor­gefühlt, ob er eine solche Reise in Betracht ziehen würde. Ich hatte mit einigen Professoren der Universität von Sydney gesprochen und hatte angeboten zu erkunden, ob Hoffnung bestünde, ihn hier zu sehen.

In meiner Antwort schrieb ich, daß mein Gatte und ich gehofft hätten, er würde uns besuchen und an unserer schönen Küste segeln, da Segeln bekanntlich sein Hobby war. Außerdem hätten wir lieber von ihm gehört, daß ihm Sydney zu langweilig und zu uninteressant sei, statt daran denken zu müssen, daß er bei schlechter Gesundheit sei. Es machte uns traurig, denn ich kannte ihn gut genug, um sicher zu sein, daß sein schlechter Gesundheitszustand der wahre Grund für die Ablehnung der Einladung war. In seiner freimütigen Weise sagte er immer, was er für richtig hielt, und niemals hätte er eine Geschichte ersonnen, um sie als Ausrede zu gebrauchen.

Kehren wir zu Einsteins Beziehung zu Kant zurück. Einstein be­tonte, daß es falsch sei anzunehmen, wir könnten irgendeinen Begriff erhalten, indem wir ihn nur aus Sinneseindrücken ableiten. Dies ist in völliger Übereinstimmung mit den Kantschen Ansichten. Einstein schrieb:

" ... im Denken benützen wir - mit eInIgem ,Recht' - Vorstellun­gen, zu denen von dem Material der Sinneserfahrung kein Zugang

2 Als Russell Sydney auf einer Vortragsreise besuchte, fragte ich ihn, warum er kei­nen Beitrag zu AE geleistet habe, während Einstein zum Russell-Band der Reihe Library of Living Philosophers (Bd. 5) beigetragen hatte. Ich erhielt zur Antwort: "Ich habe keine Zeit zum Schreiben - Sie sehen ja, ich bin hier, immer auf Reisen, immer auf Reisen."

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existiert, wenn wir die Situation vom rein logischen Standpunkt be­trachten. ,,3

Dies gehört zu Einsteins "erkenntnistheoretischem Credo". Doch wenn man solche Aussagen zitiert, sollte man nicht vergessen, daß er explizit hervorhob, seine Aussage erfolge vom Standpunkt der Logik. Nach Ein­steins Ansicht waren alle Begriffe frei gewählt. Ihre Bedeutung erhal­ten sie nur durch ihre Koordination mit der sinnlichen Wahrnehmung. Der Wahrheitsgehalt eines Systems hängt von der Gewißheit und der Vollständigkeit einer solchen intuitiven Koordination mit der Gesamt­heit der Wahrnehmungen ab. Für ihn unterscheidet sich "wissenschaft­liche Wahrheit" von Vermutungen und Spekulationen nur dadurch, daß eine solche Koordination möglich ist.

Kants apriorische Begriffe, die Prinzipien des reinen Verstehens und die Wahrnehmungsformen (Raum und Zeit), müssen ebenfalls vom Standpunkt der Logik als logisch unabhängig von der Erfahrung, jedoch nicht als der Erfahrung vorausgehend angesehen werden. Dies scheint mir eine akzeptable Deutung. Alois Riehl, ein Philosoph in Berlin, der an Naturwissenschaft interessiert war und über sie mehr als die meisten Philosophen wußte, stimmte mir zu. In seiner Deutung Kants war er unvoreingenommen.

Die psychogenetische Frage wird weder in Kants Kritik der reinen Vernunft noch im "Credo" von Einstein, Laue oder Planck angeschnit­ten. Kants inhärente Notwendigkeit und universelle Gültigkeit treffen allerdings nicht auf Einsteins freigewählte Begriffe zu. Einstein schätzte die Klarheit von Kants Schriften, durch die die schwierigsten und subtil­sten Probleme transparent werden. Er fühlte den unvergänglichen Wert von Kants Werk und äußerte häufig in sehr bestimmter Form eine ei­gene Interpretation von Kants höchst wertvollen Erkenntnissen. Einmal sagte er, nachdem wir einige Ansichten Kants diskutiert hatten: "Je­der hat seinen eigenen Kant." Dies war damals in Deutschland richtig. Später schrieb Laue jedoch: "Kant existiert für die meisten Ausländer nicht", und fügte hinzu, er sei nicht sicher, wie es nun in Deutschland stehe. In den "Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbei­ten" kommentiert Einstein H. Reichenbachs Artikel, den er im ganzen günstig beurteilte4 • Und doch läßt er den Nicht-Positivisten (oder ist

3 Albert Einstein, "Russell's Theory of Knowledge", Library 01 Living Philosophers, Bd. 5

4 AE, S. 503

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es Einstein selbst?) sagen: "Auch scheint es mir, daß Du dem wirklich bedeutenden physikalischen Verdienste Kants nicht gerecht geworden bist." Und dies war ein sehr mildes Urteil. Einstein hat bekanntlich Kants Werke genau studiert und dies - dessen bin ich mir sicher - mit tieferer Einsicht und tieferem Verständnis als H. Reichenbach.

Als Einstein an der Universität Berlin Vorlesungen über Spezi­elle Relativitätstheorie und später über Allgemeine Relativitätstheorie hielt, durften wir Studenten nach den Vorlesungen Fragen stellen. Da ich oft von dieser Möglichkeit Gebrauch machte, lernte er mich ken­nen, und wenn ich ihn in der Straßenbahn traf, mit der er zur Uni­versität fuhr, lud er mich stets ein, neben ihm zu sitzen. Dadurch hatte ich immer wieder Gelegenheit, ihn mit meinen Fragen während der Straßenbahnfahrt und der oft langen Wartezeit an der Haltestelle zu überschütten.

Obwohl er alle meine ernsten Fragen ernst beantwortete, gebrauchte er Analogien, Bilder und Modelle, die seinen wunderbaren Sinn für Hu­mor zeigten. Er neckte mich stets, wenn sich eine Möglichkeit bot. Er wußte, daß ich gerne Kant las. Daher neckte er mich zum Beispiel auf jener Postkarte, indem er Kants Anschauungsform mit des Kaisers Klei­dern verglich. Ein anderes Mal sagte er nach einer längeren Diskussion über rein philosophische Probleme:

"Ist nicht die ganze Philosophie wie in Honig geschrieben? Wenn man hinsieht, sieht alles wunderbar aus, wenn man aber nochmals hinsieht, ist alles fort. Nur der Brei ist übrig."

Als wir einmal längere Zeit einige komplizierte Fragestellungen Kants diskutierten und die verschiedenen stark unterschiedlichen Deutungen durch die Kantianer in ihren philosophischen Schulen erwähnten, von denen es ungefähr soviele gab, wie Universitäten in den deutschspra­chigen Ländern (und gelegentlich mehrere Philosophenschulen an der­selben Universität), verdeutlichte Einstein seine Ansichten auffolgende Weise:

"Der Kant ist so eine Landstraße mit vielen, vielen Meilensteinen. Dann kommen die kleinen Hunderln, und jeder deponiert das Seinige an den Meilensteinen."

Auf meinen Hinweis, daß dies ein unangebrachter Vergleich sei, antwor­tete Einstein nur unter lautem Lachen:

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"Aber, was wollen Sie denn, Ihr Kant ist ja die Landstraße, die bleibt doch bestehen."

Mit einem anderen netten Vergleich wollte er uns das Verständnis er­leichtern, warum die menschliche Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung auf drei Dimensionen beschränkt ist:

"Denken Sie sich flache, äußerst flache Wesen, stellen Sie sich vor, sie hätten nur zwei Dimensionen und sie wären, na, sagen wir Wanzen, die auf geodätischen Linien auf der Oberfläche des kug­eIförmigen Körpers herumkriechen, und sie könnten nicht weg von der Oberfläche dieses Globus ... Na ja, wir leben in drei Dimensio­nen ... Diese flachen Wanzen würden nicht unsere ebene euklidische Geometrie haben ... "

Diese "nichteuklidischen Wanzen" wurden von Einstein in einer Vorle­sung eingeführt, um das Verständnis der Studenten für ein endliches, jedoch unbegrenztes Universum zu wecken. Alle diese amüsanten Illu­strationen lockerten seine Vorlesungen für die meisten seiner Studenten auf, und wir konnten ihm dadurch leichter folgen. Gelegentlich glaubte man, daß Einstein seine Ideen beim Vortrag gewann, indem er vergaß, daß er zu Studenten sprach oder daß er überhaupt Zuhörer hatte. Wenn er sich dann unserer Anwesenheit bewußt wurde, gab er einen seiner drastischen, jedoch immer passenden Vergleiche zum Besten. Als er über seine kosmologischen Vorstellungen sprach, führte er eine mittlere homogene Massenverteilung im Universum mit den Worten ein:

"Laßt uns annehmen, daß das stimmt, glauben Sie nicht auch, daß es viel angenehmer wäre, als auf einer Materieninsel im weiten, leeren Raum zu leben? Das müßten wir nach Newtons Theorie tun."

Als er den Übergang von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitäts­theorie erklärte, sagte er:

"Warum sollen wir Koordinatensysteme in gleichförmiger Bewegung vorziehen. Jede Bewegung sollte erlaubt sein. Was kümmert sich die Natur um unsere Bezugssysteme?"

Diese Art, den Kern der Allgemeinen Relativitätstheorie aus­zudrücken, war für Einsteins Methode typisch, eine Idee seinen Zu­hörern auf eine Weise nahe zu bringen, daß ihn auch der schwächste

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Student verstehen mußte. Was er mathematisch formulieren und sei­nen Studenten klar machen wollte, waren nicht Beschreibungen dieses oder jedes Phänomens, sondern allgemein gültige Gesetze der Natur, nach denen sich Ereignisse abspielen. Wie für Laue und Planck stellten sie für ihn das Ziel der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit dar. Die objektiv existierende reale Welt war für diese drei Physiker kein Problem. Sie wurde vorausgesetzt.

Während Einsteins Vorlesungen stets ein wenig unterhaltsam wa­ren und seinen Sinn für Humor zeigten, war Planck stets ernst und bestens vorbereitet; er hielt die Vorlesungen mit klarer und niemals eintöniger Stimme. (Er mag gefühlt haben, wie wichtig dies war, weil er das Gegenteil bei seinem verehrten und geliebten Lehrer Helmholtz kennen gelernt hatte. Dieser berühmte und noch heute bewunderte Wissenschaftler muß ein schlechter Vortragender gewesen sein. Planck berichtete, daß er meist völlig unvorbereitet und ohne Notizen zu sei­nen Vorlesungen gekommen sei. Er schlug Details in einem kleinen Notizheft nach oder fand sich mittels winziger Zettelchen zurecht und machte in seinen Rechnungen oft Fehler. Die meisten Studenten blieben seinen Vorlesungen fern. Schließlich waren nur noch drei übrig, Planck war einer von ihnen.) In Plancks Vorlesungen ging es ganz anders zu. Ich kann mich an keinen einzigen Fehler erinnern, den er an der Tafel gemacht hätte. Wenn hingegen Einstein nicht gleich das erwartete Re­sultat erzielte, wandte er sich an uns Studenten und fragte: "Wer kann mir meinen Fehler sagen?" oder "Wo habe ich einen Fehler gemacht?" Sollte ein Student einen Fehler entdecken, vielleicht ein Plus, wo ein Mi­nus hätte stehen sollen, dann sagte Einstein gewöhnlich: "Mit meiner Mathematik war nie viel los, sagte ich Ihnen schon oft."

So verschieden Planck und Einstein in ihren Vorlesungen waren, so ähnlich waren sie sich in ihren wissenschaftlichen und philosophischen Ansichten, auch wenn sie nicht in allen Einzelfragen vollständig übe­reinstimmten. Ihr strikter Determinismus ist gut bekannt. Sie teilten diese Haltung mit Laue. Dies kann man leicht an einigen Briefen (zum Beispiel dem Brief vom 3. Mai 1949, den ich bereits erwähnte) ablesen, und es wird vom folgenden Brief Laues bestätigt:

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Verehrte gnädige Frau!

Berlin, den 30. Juli 1955

... Vorher war ich in Bern auf einer Konferenz, die sich ,,50 Jahre Relativitätstheorie" nannte, und schon vor Einsteins Tod einberu­fen war. So kamen jetzt noch ein paar Gedächtnisvorträge hinzu. Aber - das ist kennzeichnend - niemand gedachte der Einstein­schen Quantenleistungenj die Quanten-Physiker sind ihm böse, daß er die statistische Deutung nicht übernehmen wollte. Sie ha­ben ja sich viel Mühe gegeben, ihn zu "bekehren". Aber das hieße denn doch die Selbständigkeit, um nicht zu sagen, den erfreulichen Starrsinn Einsteins zu unterschätzen, wenn man eine Bekehrung für möglich hielt. Der Determinismus stak ihm viel zu fest in den Gliedern - wie mir auch. Wer weiß, ob ich Physiker geworden wäre, hätte in meiner Jugendzeit jemand ernstlich an ihm gezwei­felt. Und auch heute noch stehe ich auf dem Standpunkt, daß die Physik als Wi33en3chaft ihren Bestand nur auf Grund des De­terminismus haben kann. Als Vorübung für die Technik freilich könnte sie auch mit einer statistischen Grundhaltung bestehen. Aber ich habe für Technik nie viel übrig gehabt. In Bern wurde meist Englisch und kaum Deutsch gesprochen, ob­wohl die offiziellen Drucksachen, die man dort erhielt, alle auf Deutsch abgefaßt waren. Auch die Schweizer Kollegen sprachen fast immer Englisch oder Französisch. Der Rückgang im Ansehen des deutschen Geistes ist erschreckend. Sachlich war mir die Konferenz insofern wichtig, als ich aus ihr die Gewißheit bekam, daß das bisher Bleibende der allgemeinen Relativitätstheorie auch ganz in meinem Buche enthalten ist. Alle die Weiterbildungen, auf die es nur im letzten Kapitel und ziem­lich kursorisch eingeht, erfuhren eigentlich Ablehnung, mehr oder weniger. Die Teilnehmer kamen aus aller Herren Länder: manche aus Mos­kau und Leningrad, manche aus Pasadena und Berkeley. Einen Australier habe ich freilich nicht gesehen ...

Mit recht herzlichem Gruß, auch an Ihren Gatten, Ihr ganz ergebener M. v. Laue.

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Meine erste persönliche Begegnung mit Planck erfolgte bei einem Kammermusik-Konzert, bei dem Freunde mich und meinen Gatten dem Ehepaar Planck vorstellten. Gemeinsam hörten wir eine ausgezeichnete Aufführung eines Quartetts von Schubert. Bei dieser Gelegenheit er­lebte ich, was Musik für ihn bedeutete, mit welch tiefen Gefühlen und welch großem Wissen er sie erlebte. Im Alter von 17 Jahren war er unentschlossen, ob er Musik oder Physik als Beruf wählen sollte. Er befragte einen Professor der Physik in München, der ihm sagte, die Physik sei eine hochentwickelte Wissenschaft, die sich der Vollendung nähere und bald ihre "endgültige stabile Form" erreichen werde. Ob­wohl es vielleicht noch einige "kleinere Einzelheiten gebe, die überprüft und klassifiziert" werden müßten, habe die theoretische Physik jenen Grad an Vollendung erreicht, den die Geometrie seit einigen Jahrhun­derten besitze - oder sie sei zumindestens nahe daran. Trotz dieses Rats folgte Planck seiner Neigung, Physik zu studieren, und er dachte: "Es mag nützlicher und daher besser sein, ein mittelmäßig guter Phy­siker zu sein als ein mittelmäßiger Musiker." Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, daß dieser Student nicht nur erfolgreich viele der "kleineren Betails" aufklären, sondern auch eine revolutionäre physikalische Theo­rie schaffen sollte, die den ersten Bruch mit den Ideen der klassischen Physik darstellt.

Plancks zahlreiche Bücher, Schriften und Aufsätze beschränken sich nicht auf die verschiedenen Zweige der Physik, sondern sie handeln auch oft von Problemen an der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, wobei einige seine ganz persönlichen Auffassungen zeigen. Alle Schriften Plancks sind klar und überzeugend und zeigen seine große Wahrheitsliebe: Sie stellen alle Voraussetzungen und notwendigen Hy­pothesen offen dar, ohne jemals ein Problem zu verschweigen. Wenn auch Plancks Schriften seine Rolle als Wissenschaftler und Lehrer be­zeugen, so wirkte er noch stärker durch das gesprochene Wort. Nahezu ein halbes Jahrhundert lehrte er an der Universität und übte dabei auf seine Studenten einen großen Einfluß aus. Viele von ihnen wurden selbst anerkannte Wissenschaftler: der hervorragendste unter ihnen war sicher Max von Laue.

Es war nicht ganz leicht, Plancks Vorlesungen an der Universität Berlin zu folgen. Man brauchte große Konzentration. Man durfte keine einzige Stunde versäumen, wenn man nicht das nächste Mal im Nachteil sein wollte. Seine öffentlichen Vorlesungen und Ansprachen vor wis­senschaftlichen Gesellschaften, WIe zum Beispiel der Kaiser-Wilhelm-

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Max Planck als junger Professor

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Gesellschaft (der späteren Max-Planck-Gesellschaft), waren hauptsäch­lich für den gebildeten Laien bestimmt und stellten meist Popularisie­rungen von Fragen dar, die er für wichtig und geeignet hielt. Plancks Darstellung ließ keinen Zweifel an seinem aufrichtigen Bemühen, seine Ideen der Zuhörerschaft klar darzulegen, und an seiner äußersten Be­scheidenheit. Seine Themen waren meist rein theoretische Fragestellun­gen, obwohl er sagte, er habe in seiner Jugend zuviel Betonung auf die Phänomenologie gelegt. Noch beeindruckender als in seinen Büchern und Vorlesungen wirkte seine Persönlichkeit im privaten Gespräch und in Diskussionen. Als ich einmal Genaueres über seine Ansichten zu ei­nem Grenzproblem, das er in einer Vorlesung behandelt hatte, wissen wollte, bat ich ihn um eine Unterredung, die er mir sofort zusagte.

Ich fand ihn tief in Gedanken versunken und - wie es offensichtlich seine Gewohnheit bei der Arbeit war - an seinem altmodischen Schreib­pult stehend. Wir setzten uns dann in der ruhigen und doch anregenden Atmosphäre seiner gemütlichen Wohnung. Der große Flügel und die reichhaltige Bibliothek, die seine vielfältigen Interessen widerspiegelte, beeindruckten mich besonders. Leicht konnte ich die letzte Befangen­heit in dieser Umgebung, die wie zu Hause war, ablegen. Als er die Diskussion begann, konnte ich Fragen stellen und seine Gegenfragen beantworten, ich konnte frei und unbefangen ein schwieriges Thema mit einer so ungeheuer überlegenen Person diskutieren. Obwohl ich nicht erwartet hatte, daß dies möglich sein werde, war er keineswegs nur der verehrte Universitätsprofessor, sondern ein Mensch, mit dem man ein Problem besprechen konnte.

Das Problem der Kausalität in der Natur, das eng verbunden ist mit der Frage nach der Allgemeinheit und Universalität des Kausa­litätsprinzips, stand bald im Mittelpunkt unserer Diskussion. Planck war ein überzeugter "Determinist" und bezog eine feste Position ge­genüber den Indeterministen und Positivisten aller Schattierungen.

Das Prinzip der Kausalität als Voraussetzung aller wissenschaftli­chen Arbeit beruht auf dem Glauben - ich nenne es absichtlich Glauben -, daß die Gesetzmäßigkeit der Natur unbeschränkte Gültigkeit besitzt. Zu meiner großen Befriedigung stimmte Planck meiner Deutung dieses Glaubens als einer Voraussetzung jeglicher Naturwissenschaft zu, ohne die der Forscher keine verifizierbaren Resultate erwarten kann.

Naturwissenschaft wäre in ihrer gegenwärtigen Form nicht möglich, wenn das Prinzip der strikten Kausalität aufgegeben werden müßte, wie die extremsten Anhänger der rein statistischen Gültigkeit der Na-

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turgesetze vorgeschlagen haben, oder wenn ihre Gültigkeit beschränkt wäre. 5 Andererseits lesen wir in Heisenbergs Schriften (und zweifellos bei vielen anderen Wissenschaftlern), daß das "Kausalitätsgesetz in der Quantentheorie nicht oder jedenfalls nicht in der gleichen Weise wie in der klassischen Physik angewandt" werden könne.6

In vieler Hinsicht schien Planck Kants Ansichten über die philo­sophischen Grundlagen der Naturwissenschaft zu teilen. Es war ihm jedoch offensichtlich nicht bewußt, daß seine Ansichten teilweise von einer Kant-Interpretation bestimmt oder wenigstens stark beeinflußt waren, die auf Helmholtz zurückging, den er sehr verehrte. Dies wurde besonders deutlich, als wir Kants reine Anschauungen von Raum und Zeit besprachen. Der Irrtum in der Helmholtzschen Interpretation be­ruht wahrscheinlich auf der nicht-kantischen Ansicht, die von vielen Wissenschaftlern geteilt wurde, daß das Kantsche A-priori "zeitlich vor der Erfahrung" bedeutet. Dies ist aber nicht so. Es ist ein logisches A-priori und nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern auf sie an­gewandt, wie ich oben ausgeführt habe, als ich die Kantschen mit den Einsteinsehen Vorstellungen verglich. Kant nannte es ein ,,A-priori" in dem Sinne, daß es Erfahrung ermöglicht, obwohl es selbst von Erfah­rung logisch unabhängig ist. Er setzte keine angeborenen Vorstellungen voraus.

Angesichts der Bedeutung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsre­lation für die Atomphysik akzeptierte Planck sie ohne Zögern. Gleich­zeitig hielt er am prinzipiell strengen Determinismus fest. Für ihn gal­ten die Gesetze der Natur auf Grund des strengen Kausalgesetzes, das er dadurch "rettete", indem er den Begriff des Weltbildes der Physik als einer aus Symbolen bestehenden Hilfsvorstellung einführte. Er be­schränkte die Unbestimmtheit auf den Übergang von meßbaren Größen der Welt der Wahrnehmungen (in der notwendigerweise nur ungenaue Messungen möglich sind) zum Weltbild der Physik und wieder zurück zur Welt der Wahrnehmungen. Planck hob die zwei verschiedenen Be­deutungen jeder meßbaren Größe hervor, nämlich ob sie in der Welt der Wahrnehmungen oder im Weltbild betrachtet wird, welches nicht ein tatsächliches Experiment in der Wahrnehmungswelt, sondern ein Gedankenexperiment darstellt.

5Laue war ebenfalls dieser Meinung. (Siehe se;nen Brief vorn 3. Mai 1949 im zweiten Kapitel dieses Buches.)

6W. Heisenberg, Physik und Philowphie (Frankfurt 1959), S. 67. (Hervorhebung durch I. R.-S.)

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Allerdings räumte Planck ein, daß das Weltbild der Quantenmecha­nik sehr weit vom Weltbild der klassischen Physik entfernt sei, wie sich beispielsweise daran zeige, daß der Massenpunkt nicht mehr Bestandteil dieses Weltbildes ist, sondern durch die Wellenfunktion ersetzt ist, die durch die Anfangs- und Randbedingungen vollständig bestimmt wird. Trotzdem stellt sie keinen physikalischen Zustand oder Prozeß direkt dar, sondern nur die Wahrscheinlichkeit dafür. Für einen strengen De­terministen ist dies eine unbefriedigende Interpretation und sicher nicht die endgültige, als welche sie von den Indeterministen aufgefaßt wird.

Planc~ sagte einmal, daß die Unmöglichkeit einer gleichzeitigen ge­nauen Messung von Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons nicht das "Versagen des Kausalitätsprinzips" bedeute. Er fügte hinzu, daß man eine physikalisch sinnvolle Antwort auf eine physikalisch sinnlose Frage nicht erwarten könne. Diese Art der Argumentation ist der Kantschen Argumentation in der Antinomie der Reinen Vernunft ähnlich.

Es wird oft behauptet, daß alte Wissenschaftler nicht mehr imstande seien, unorthodoxe moderne Ideen und Theorien zu verstehen und zu akzeptieren. Planck war alt, als der neuerliche Bruch mit den klassi­schen Vorstellungen erfolgte; für viele Physiker war es ein vollständiger Bruch. Der erste Bruch wurde ja von ihm selbst im Jahr 1900 bewirkt, als er zweiundvierzig Jahre alt war, und es ist gut bekannt, wie zögernd er seine eigene Quantentheorie akzeptierte, als sie ihm unvermeidlich schien. Man sollte daran erinnern, daß Einstein und Laue um zwanzig Jahre jünger als Planck waren, und Schrödinger war noch jünger. Auch de Broglies Haltung in der Determinismuskontroverse steht im Wider­spruch zur Kopenhagener Deutung. Daher scheint mir Born keineswegs recht zu haben, als er über Einstein schrieb, daß er "nun seinen Weg der Einsamkeit gehen müsse". 7 Ich glaube, daß er jedenfalls in sehr guter Gesellschaft war - es könnte keine bessere gegeben haben.

Es steht außer jeder Diskussion, daß Einstein, Laue und Planck bis an ihr Lebensende am strengen Determinismus festgehalten haben, und daß besonders ihre philosophischen Ansichten über die Kantschen Vorstellungen dabei eine bedeutende Rolle gespielt haben. Laue wies beispielsweise in seinem Vortrag "Erkenntnistheorie und Relativitäts­theorie" im Jahre 1959 auf folgendes hin:

7 AE, S. 84

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"Zu einem mich befriedigenden Verständnis der Relativitätstheorie bin ich erst gekommen, als es mir gelang, sie mit der Kantschen Lehre von Raum und Zeit in Verbindung zu bringen."8

In diesem Vortrag erklärt er auch, wo seiner Meinung nach Kant in Hinblick auf die Unverträglichkeit jeder anderen als der euklidischen Geometrie mit unserer Raumvorstellung irrte. In diesem Zusammen­hang mag die Kantsche Vorstellung von der Abhängigkeit der Natur des Raumes (d.h., der Anzahl seiner Dimensionen) vom Gravitationsgesetz von Interesse sein, da sie gewissermaßen Einsteins Ideen über den Zu­sammenhang von Geometrie und Physik vorausgeht. Laue diskutierte diesen Punkt mit mir, nachdem er meine Dissertation gelesen hatte, in der ich Kants Idee erwähnte. Im genannten Artikel ging er allerdings nicht darauf ein.

Einstein und Laue äußerten sich meist offen und rückhaltslos, während Planck zurückhaltender war, als ob er zweimal überlegte, be­vor er Stellung bezog. Einstein nahm hingegen keinerlei Rücksicht, wenn er in der Gegenwart Fremder Dinge sagte, die sonst niemand zu sagen gewagt hätte. Als mein Gatte und ich einmal mit Einstein zu­sammen bei Freunden waren, sprachen wir über Intuition und Einsicht in die Naturgesetze, die nicht durch hartes Ringen, sondern sozusagen als unmittelbares und vollständiges geistiges Erfassen erworben werde. Einstein bemerkte über einen sehr berühmten Kollegen, dessen Namen er erwähnte:

"Er hat ein wunderbar feines Fingerspitzengefühl für die N aturge­setzlichkeit, es ist nur schade, daß er keine Ahnung von Mathematik hat. Wie schön wäre es, wenn er auch davon etwas verstünde."

Als ich leise zu ihm sagte: "Aber Herr Professor, wie können Sie so etwas sagen, wenn so viele Leute zuhören?" brach er in Gelächter aus und sagte laut:

"Wieso denn, es stimmt doch, und ich habe auch gerade gesagt, was für ein wunderbares Gefühl er für die Naturgesetzlichkeit hat."

8Ygl. Max von Laue, Gesammelte Schriften und Vorträge, Bd. 3, S. 159-167. Eine bemerkenswerte Aussage von Laues, der ber .. its 1911 das erste Buch über die Re­lativitätstheorie mit allen mathematischen Einzelheiten und später Schriften über die Allgemeine Relativitätstheorie und die Theorie der Gravitation veröffentlichte.

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Auch Laue schrieb und sagte, was er für richtig hielt. Ich erinnere mich, ihn einmal über ein bestimmtes Buch gefragt zu haben. Er er­widerte: "Ich habe es hier in meinem Bücherschrank, doch hatte ich bisher keine Zeit es zu lesen. Jedenfalls glaube ich nicht, daß der Ver­fasser ein so tiefer Denker ist, wie dieses Thema erfordert." Er hatte wahrscheinlich keinerlei Absicht, das Buch zu lesen. Er war auch keines­wegs vorsichtig, wenn er sah, daß er helfen könnte. Er dachte dabei nie an ein Risiko für sich selbst. Seine kompromißlose Haltung während der Nazizeit war gut bekannt - leider auch dem Regime. Er setzte seine Aktivitäten für Kollegen und Freunde fort, von denen er wußte, daß sie in Gefahr standen, verfolgt zu werden. Selbst wenn keine un­mittelbare Gefahr bestand, dachte er stets an Hilfe für seine Freunde. Bei meinem letzten Besuch vor unserer Auswanderung nach Austra­lien bestand er darauf, daß ich von ihm einige Empfehlungsschreiben mitnehmen sollte. Ich meinte jedoch, es könnte für ihn zu gefährlich sein, Leute zu unterstützen, die das Dritte Reich verlassen wollten, und weigerte mich unter Hinweis auf die Gefahr, daß wir an der Grenze durchsucht würden. Am nächsten Morgen fand ich in der Post ein Ku­vert mit offiziellen Visitkarten Laues und einer Notiz: "Sie mü.",en sie, nehmen. Die könnten Sie ja von mir gestohlen haben." Ich behielt sie, denn ich hatte versprochen, die Namen und Adressen seiner Freunde in Übersee zusammen mit verschiedenen persönlich zu überbringenden Nachrichten auswendig zu lernen.

Als ich kurze Zeit in London war, schickte ich eine dieser Karten an Sir William Bragg mit einigen erklärenden Zeilen. Er lud mich sogleich zu einem Gespräch ein und empfing mich mit äußerster Freundlichkeit: "Nehmen Sie bitte Platz, ein Freund meines Freundes Laue ist auch mein Freund." Und dann bot er mir in vielfältiger Weise Hilfe an. Bei­spielsweise schrieb er mir die Namen einiger Professoren in Australien auf, an die ich Laues Visitkarten schicken sollte.

Laue wurde wegen seiner regimekritischen Tätigkeiten mehrmals scharf verwarnt. Doch konnte ihn dies nicht davon abhalten zu tun, was er für richtig hielt, und unerschrocken anderen zu helfen. Trotz des damit verknüpften Risikos schrieb er weiterhin Briefe an Einstein. Als ich einmal fragte: " Wann haben Sie Einstein geschrieben?" antwor­tete er: "Erst kürzlich. Sie sind so dumm, diese Leute, die meine Post zensurieren. Ich habe bloß geschrieben: ,Professor Albert, Fine Hall, Princeton, USA', und es kommt auch an." Ich hätte nicht gewagt, dies

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Fünf Nobelpreisträger in Berlin-Zehlendorf (V.l.n.r.:) Walter Nernst, Einstein, Planck, Millikan und von Laue.

(Photo: Physikalisch-Technische Reichsanstalt; mit freundlicher Genehmigung des American Institute of Physics)

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zu tun. Laue war nicht nur mutig, sondern ließ sich durch Warnungen im vollen Bewußtsein möglicher Konsequenzen nicht einschüchtern.9

"Das Regime scheint einige Abwechslung für mich bereit zu halten", bemerkte er einmal. Dies war für seine Haltung gegenüber Drohungen charakteristisch.

Berlin, 15. 5. 39.

Sehr geehrte gnädige Frau!

Für Ihren interessanten Brief vom 20. 3. herzlichen Dank! Um­stehend das K.W.1. für Physik, welches seit Juni 38 Max­Planck-Institut heißt. Es war nicht leicht, diese Benennung durchzusetzen. lO Von hier läßt sich nicht viel Neues berichten. Wir warten in Ergebung, was die Zukunft bringen soll. Die un­gewöhnlich geschickte Redell vom 28. 4. konnten Sie ja auch im Rundfunk hören. Mit den besten Wünschen für Ihre Zukunft und bestem Gruß

Ihr ergebener M.v. L.

Laue hielt mich über alle wichtigen Veränderungen am Kaiser­Wilhelm-Institut für Physik regelmäßig auf dem laufenden. Zu den interessantesten Briefen Laues an mich gehören jene, in denen er de­tailliert beschreibt, wie die Physiker und Chemiker in Hechingen und Tailfingen, wohin die Institute aus Berlin verlegt worden waren, im April 1945 gefangen genommen wurden, und wie am 27. April 1945 ihre achtmonatige Irrfahrt begann. Sie wußten nicht, warum die gemischte amerikanisch-englische Einheit sie gefangennahm, wodurch Laue die "vollkommen unverdiente Ehre" genoß, zur Gruppe der Kernphysiker

9Damals war er Professor an der Universität Beriin and stellvertretender Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts. Ein Jahr vor dem gesetzlichen Emeritierungsalter wurde er 1943 mit seiner Einwilligung vorzeitig emeritiert.

lODer Grund war, daß Plancks Ablehnung des Naziregimes bekannt war. 11 Es war HitIers Rede vor dem Reichstag gemeint, in der die Schuld für die Kriegs­

stimmung Großbritannien zugeschoben werden sollte, während HitIer gleichzeitig den Britisch-Deutschen Flottenvertrag kündigte.

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zu gehören. Diese bestand aus Otto Hahn und von Weizsäcker. Später kamen Heisenberg und einige weitere hinzu. Schließlich waren sie zehn Personen. Nachdem das Uran und das schwere Wasser beschlagnahmt worden waren, wurden sie über Paris und Versaille nach Huntingdon in der Nähe von London gebracht. Dort waren sie sechs Monate "Ge­fangene" an einem ruhigen und angenehmen Platz. Es stand ihnen ein Garten zur Verfügung, und sie genossen gute Verpflegung, die sie in dieser Qualität in Deutschland schon lange nicht mehr gekannt hat­ten. Sie veranstalteten häufig Vorträge, konnten Radio hören, und man zeigte ihnen hin und wieder die Umgebung. Sie waren allerdings völlig isoliert und durften erst nach vier Monaten an ihre Familien schreiben, die nicht wußten, wo sie waren. Nicht einmal ihre Bewacher durften ihre Namen wissen, und sie reisten niemals nach Cambridge, wo sie vielleicht erkannt worden wären. Laue bemerkte: "Es gab eine einzige Abwechslung, als Hahn den Nobelpreis erhielt." Sie veranstalteten ein "Festessen", bei dem Laue die Tischrede hielt.

Am 6. August 1945 erfuhren sie von der Hiroshima-Bombe. Zuerst konnten die Atomphysiker nicht glauben, daß es eine Kernexplosion war. Doch hörten sie am Abend die von Außenminister Attlee verlesene Erklärung, die vom Kabinett Churchill verfaßt worden war, und damit schwanden alle Zweifel. Otto Hahn sagte: "Wenigstens habe ich das nicht gemacht."

Am 9. November 1945 fand in London eine Röntgenfeier statt, zu der Laue eingeladen wurde. Er durfte allerdings die Einladung nicht anneh­men, doch schätzte er diese besonders freundliche Geste der britischen Kollegen, die die Leistungen eines deutschen Physikers so kurz nach dem fürchterlichsten Krieg aller Zeiten würdigten und einen anderen Deutschen einluden, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Es scheint ihn auch die herzliche Aufnahme tief berührt zu haben, die ihm im Juli 1946 auf einem Kristallographenkongreß zuteil wurde, den er besuchte, als er nach seiner Freilassung aus Huntingdon anläßlich der Newton­feier nochmals mit Planck in England warP Er schrieb in seinem Brief über die Bemühungen um Frieden und Versöhnung, die vor dem Hin­tergrund allgemeinen Hasses, "des unglücklichsten Erbes des Hitlerregi­mes", unternommen wurden und über die freundliche Begrüßung durch Delegierte aus vielen verschiedenen Ländern, die ihm ihre Sympathie

12Laue kehrte nach London zurück, wo er bei der Jahrestagung der Royal Society zahlreiche interessante Neuigkeiten über Röntgenstrukturanalysen komplizierter organischer Kristalle erfuhr.

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bezeugten. Seine Leistungen, seine Einstellung gegen das Naziregime und seine mutige Haltung waren gut bekannt. War die ihm erwiesene Freundlichkeit und Freundschaft vielleicht doch eine Ausnahme, oder könnte Sir Gavin de Beer recht gehabt haben, als er schrieb: "Die Na­turwissenschaften führten niemals gegen einander Krieg."

Die drei großen Philosophen und Naturforscher hatten viel gemein­sam. Ein wesentlicher Zug war ihre tiefe Religiosität, die nicht mit dem Bekenntnis zu einer Kirche gleich zu setzen war. Einstein schrieb: "Ich behaupte, daß kosmische Religiosität die stärkste und edelste Anregung zu wissenschaftlicher Forschung darstellt."13 Sein engster Freund Laue sagte über ihn:

"Das Tiefste daran ist seine Religiosität (nicht zu verwechseln mit Kirchlichkeit). Für ihn war die Welt das Werk eines schöpferi­schen Geistes, der trotz seiner erhabenen Überlegenheit dennoch den Menschen verständlich bleibt, und zwar im Grundsatz vollständig verständlich, wenngleich dies Verständnis nur allmählich, in vielen Mühen und schrittweise dem Sterblichen enthüllt, ja ihm restlos nie zuteil wird. Deswegen muß das System einer Wissenschaft, welche der Erforschung der Natur dient, ein einheitliches Ganzes sein."14

Diese pantheistische Auffassung Einsteins steht Spinozas Vorstellung von Gott als einer 3ub3tantia 3ive natura sehr nahe.

Ich weiß nicht, ob Laue diese Ansichten vollständig geteilt hat, weil wir religiöse Fragen nicht diskutierten. Hingegen weiß ich, daß er an sich sehr hohe ethische Forderungen stellte. Er bemühte sich, in al­len seinen Handlungen stets richtig und gerecht zu verfahren, und sein Urteil über richtig oder falsch war stets eindeutig. Seine Wahrheits­liebe und seine Aufrichtigkeit in moralischen Fragen weisen ebenfalls in diese Richtung. Ich weiß aus Gesprächen, daß er tief enttäuscht und persönlich unglücklich war, als er von verantwortungslosen Handlungen einiger junger Wissenschaftler erfuhr, die er als Betrug einstufte.

Plancks religiöse Vorstellungen spiegeln eine sehr persönliche Ein­stellung wieder. Er fühlte, daß der Schutz Gottes dem Gläubigen Glück und inneren Frieden gewährt. "Der Mensch braucht die Naturwissen­schaft zur Erkenntnis und die Religion für seine Handlungen des tägli-

13A. Einstein, The World as I see it (New York 1934), S. 28 14Max von Laue, "Albert Einstein" in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. April 1955

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chen Lebens." Die Symbole der verschiedenen Religionen sah er weder als absolute Werte an, noch als etwas, das über Bord zu werfen sei. Er hielt sie für die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis in­nerhalb einer Gemeinschaft für notwendig - sie waren Hinweise auf den Erhabenen. Als Protestant war er allen anderen Religionen gegenüber tolerant. Für ihn gab es keinen Konflikt zwischen Naturwissenschaften und Religion: "Sie kämpfen einen gerechten Kampf ... gegen Skeptizis­mus und Dogmatismus, gegen Unglauben und Aberglauben."16

Einstein war ein wahrer Menschenfreund und Kosmopolit, des­sen wissenschaftliches und politisches Handeln und Denken internatio­nal ausgerichtet war. Nicht erst durch seine Erfahrungen in Hitler­Deutschland, die - wie Laue sagte - "jeden Deutschen vor Scham erröten lassen sollten", war Einstein zu dieser Einstellung gelangt; er war stets ein Kosmopolit gewesen, eine Verkörperung des wahren Inter­nationalismus. Weisheit, Güte und Vorurteilsfreiheit waren neben der Anerkennung echter Leistungen auch für Planck und Laue charakteri­stisch. Ich glaube jedoch, daß sie nicht in demselben Ausmaß wie Ein­stein Kosmopoliten waren. Natürlich hofften sie auf wahre Verbrüde­rung aller Menschen, auf gegenseitige Hilfe und Verständnis, Toleranz und Wertschätzung. Sie haben jedoch oft ihre Trauer bekundet, die sie angesichts des Verlustes an Wertschätzung für deutsche Kulturlei­stungen fühlten, der besonders durch die Hitlerzeit verursacht war. Sie äußerten ihre tiefe Besorgnis um den Zustand der deutschen Naturwis­senschaft. Dieses Bedauern finden wir in Laues Brief vom 30. Juli 1955, als er gerade aus England zurückgekehrt war und unter dem Eindruck der vorurteilsfreien und aufrichtigen Haltung seiner britischen Kollegen stand. Er nahm mit Dankbarkeit die Freundlichkeit und Freundschaft, die ihm in England entgegengebracht wurde, zur Kenntnis, jedoch, so fügte er in seinem Brief hinzu, machte es ihn ein wenig traurig, daß "so viele der allerbesten Physiker in England Deutsch als Muttersprache" hatten.

Auch Planck sorgte sich um die deutsche Wissenschaft und er hoffte, sie möge innerhalb der internationalen Gemeinschaft nicht vollständig an Anerkennung verlieren, wobei dies zum Teil bereits in den Jahren 1914 und 1915 erfolgt war. Im folgenden Brief findet sich ein Satz in dieser Richtung:

15Max Planck, Religion und Naturwi8senschaft (Leipzig 1938)

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Sehr verehrte Frau Rosenthal-Schneider!

Berlin-Grunewald, Wangenheimstraße 21

den 6. Januar 1939

Ihr werter Brief vom 29. 11. 38 war mir eine rechte Neujahrsfreude, denn wenn ich an Ihren let zen Besuch bei mir zurückdenke, wie Sie mir die Schwierigkeiten Ihrer Lage so eindrucksvoll schilderten und die Geringfügigkeit der Hoffnung auf eine befriedigende Ge­staltung Ihrer und Ihres Gatten Zukunft, so finde ich die Nachricht von Ihrem Wohlergehen wie eine wundervolle Überraschung, die ich aufs wärmste begrüße. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück, daß Ihr mutiger Entschluß, das Äußerste zu versuchen und an dem fernsten Ort der Erde sich eine neue Zukunft zu schaffen, von so augenfälligem Erfolge gekrönt worden ist. Möge Ihnen auch wei­terhin Ihr Leben sich zufriedenstellend gestalten und Sie in der neuen Heimat, die ja menschlich wie landschaftlich ihre besonde­ren Reize haben muß, bald feste Wurzeln schlagen. Freilich wird immer ein Rest von Wehmut bei Ihnen zurückbleiben, wenn Sie an Ihr altes Vaterland denken. Aber es wird Sie erleichtern, wenn Sie sich vergegenwärtigen, daß Sie es hier unerträglich finden würden, wenigstens für absehbare Zeiten. Ich meinerseits danke Ihnen herzlich für Ihre guten Wünsche zum neuen Jahr, das ich mit Frau, Kindern und Enkeln in gutem Wohl­sein angetreten habe. Nach meinem soeben erfolgten Rücktritt von der Leitung der Akademie der Wissenschaften hoffe ich auf eine Zeit der Erleichterung und Erholung von den vielerlei Amts­pflichten.

Mit bestem Gruß, auch an Ihren werten Gatten, Ihr aufrichtig ergebener M. Planck

Wie Laue hielt auch Planck nicht mit seiner Meinung über die Nazis zurück. Sowohl öffentlich als auch privat und auch schriftlich, wie in dem soeben zitierten Brief, äußerte er sich freimütig. Ich erinnere mich an die Ansprache anläßlich der Feier zum neunzigsten Gründungstag

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der Berliner Physikalischen Gesellschaft im Jahre 1935, als er, durchaus nicht emotionslos, sagte: "Wenn wir in zehn Jahren den hundertsten Geburtstag dieser Gesellschaft feiern, wenn dann die deutsche Physik überhaupt noch bestehen sollte ... " Gerade nach diesen zehn Jahren traf ihn der härteste Schlag: Sein geliebter Sohn, "sein Stolz und bester Freund", wurde von den Nazis wegen des Verdachts der Mitwisserschaft an der Verschwörung gegen Hitler hingerichtet.18 Planck erholte sich niemals mehr von diesem Schicksalsschlag, doch hielt er weiterhin Vor­lesungen zur Unterstützung von Studentenhilfswerken. Er versuchte "irgendwie nützlich" zu sein. Im Juli 1946 besuchte er mit Laue in England die Feiern zum 300. Geburtstag Newtons, die kriegsbedingt drei Jahre verspätet stattfanden, und sie waren beide von dem Emp­fang beeindruckt, der ihnen bei dieser Gelegenheit zuteil wurde.

Ein weiterer charakteristischer Zug dieser drei Wissenschaftler war ihre Bescheidenheit. Selbst als sie weltberühmt waren und mit Ehre überhäuft wurden, behandelten sie einen Fragesteller niemals in her­ablassender Weise, solange die Frage wirklich in der Absicht gestellt wurde, Information zu erhalten. Sie behandelten einen Studenten in derselben freundlichen Art, die sie auch gegenüber einem berühmten Kollegen gezeigt hätten. Ich machte oft diese Erfahrung. Ob es nun im Physikkolloquium war,17 gleich nach einer Vorlesung oder bei ihnen zu Hause, niemandem wurde eine Erklärung verweigert, der lernbegierig fragte. Doch gab es auch viele, die zu den Vorlesungen nur kamen, um sagen zu können, sie hätten diese berühmten Männer gehört. Als sich einmal hunderte in Einsteins Hörsaal drängten, führten wir Studen­ten Beschwerde, daß wir wegen dieser Uninteressierten keine Sitzplätze fänden. Einstein antwortete: "Warten Sie nur, die werde ich loswer­den." Und er machte seine Vorlesungen immer schwieriger, bis nur sehr wenige Hörer übriggeblieben waren. Einmal fragte ich Einstein nach seiner Rückkehr aus Zürich, wo er einen Vortrag gehalten hatte: "Wie war es? Wieder alles voll?" Er antwortete:

16Es wurde sogleich - auch vom greisen Planck - alles versucht, um seine Freilassung zu erwirken. Laue schrieb, daß Himmler Hoffnung verspreche. Hitler allerdings ordnete nach seiner Rückkehr nach Berlin die sofortige Hinrichtung an.

1TGeiegentlich unterbrach Einstein einen Vortrag mit der Bemerkung: "Nun möcht' ich einmal eine ganz dumme Frage stellen." Dies führte oft zu höchst interessanten Diskussionen.

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"Der ganze Berg hat gewackelt, so viele Menschen waren gekommen. So ist es heute, aber in dreißig Jahren wird niemand mehr meinen Namen kennen."

Dies war vermutlich die einzige Vorhersage, die Einstein vollständig mißlang.

Er lehnte stets den Kult um seine Person ab, der ihm peinlich war. Im Jahr 1955 sollte der fünfzigste Jahrestag der Lichtquanten in West­Berlin, jener der Relativitätstheorie in Ost-Berlin gefeiert werden; zu diesen Feiern war Einstein eingeladen worden. In seinem letzten Brief an Laue schrieb er darüber, daß die Feier die Entwicklung einer Theorie betreffe, an der viele wesentlich mitgewirkt hätten, und die bei weitem noch nicht vollendet wäre, so daß "lärmende Feiern dem wahren Stand der Lage nicht angemessen" seien. Diese Haltung war für ihn typisch. Jedesmal, wenn ich ihn über zeitgenössische Theorien befragte, war er ein unparteiischer, toleranter und gerechter Richter. Obwohl seine kind­liche Offenheit entwaffnend und gelegentlich für den Zuhörer peinlich war, war der Kern seiner Aussagen stets Wahrheit und ein faires Urteil.

Hand in Hand mit der Bescheidenheit dieser großen Männer ging oft deutliche Unterschätzung ihrer eigenen Leistungen. Diese Beschei­denheit zeigte sich auch dabei, wie sie die Leistungen anderer Zeitge­nossen und insbesondere ihrer Vorläufer anerkannten. Einstein lobte immer wieder jene, die - wie er sagte - seine Arbeit möglich gemacht hatten. Ich erinnere mich an Newtons und Faradays Bilder in seinem Arbeitszimmer18 und den Ausdruck von Bewunderung für ihre Werke und für die Entdeckungen vieler anderer Wissenschaftler. Einsteins Brief vom 24. März 1950 über einen "logischen Fehler" in seinem Buch und Laues Bemerkungen vom 20. Februar über sein eigenes Buch kenn­zeichnen die wahre Größe dieser bescheidenen Menschen. Sie konnten es sich leisten so zu sein: sie brauchten keinen Heiligenschein.

Eine weitere gemeinsame Eigenschaft dieser drei Persönlichkeiten war ihr weiter Horizont und ihr umfassendes Interesse an den schönen Künsten, ihre Liebe zur Musik, für deren Schönheit sie sehr empfänglich waren, und ihre Liebe zur Natur, an der sie sich in sehr verschiedenen Aktivitäten erfreuten. Einstein liebte die Ruhe und Stille des Segelns und hatte kein Interesse an anstrengendem Sport. Segelboot und Vio-

l8In dem kleinen Dachgeschoßzimmer, in das er sich zurückzog, wenn er völlig un­gestört sein wollte, gab es nur einen Tisch mit Papier und Bleistiften. Soweit ich mich erinnere, gab es in diesem Raum nicht einmal Bücher.

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line waren wohl die einzigen irdischen Güter, die ihm wichtig waren. Laue und Planck waren begeisterte Bergsteiger. Laue schrieb mir 1955, als er im Berner Oberland war, wie sehr es ihn gefreut hätte, noch einmal die "großen Drei, die Überreste der letzten Eiszeit", die Berge Jungfrau, Mönch und Eiger, gesehen zu haben, und daß er die Jungfrau zweimal bestiegen habe, "als ich jünger, viel jünger war". Planck ver­brachte gerne seine Ferien im Gebirge. Selbst als er schon über siebzig Jahre alt war, war Bergsteigen eine seiner Lieblingsbeschäftigungen in der Freizeit, und kein jüngerer Begleiter durfte ihm den Rucksack tra­gen, wie mir Lise Meitner19 berichtete, als wir sie einmal im Gebirge trafen. Als Freundin der Familie kannte sie Planck als einen tempera­mentvollen und fröhlichen Kameraden, während ich ihn stets freundlich, jedoch immer ernst kennengelernt hatte. Seine Zurückhaltung stand im Gegensatz zum knabenhaften Lachen und zum Humor von Einstein und Laue, die mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu necken ver­suchten. Ganz besonders bewunderte ich ihre edle und warmherzige Gesinnung. Sie waren mehr als nur Wissenschaftler.

Am eindrucksvollsten fand ich jene handgeschriebenen Zeilen auf einer gedruckten Dankeskarte, die Einstein nach seinem Geburtstag im Jahre 1954 verschickte. Ich hatte ihm geschrieben, daß viele meiner Probleme gelöst werden könnten, wenn ich ihn nur eine Viertelstunde sprechen könnte. Einstein, dessen Genius so viele beflügelt hatte und dessen Verständnis der Physik so immens tiefer war, schrieb:

19Lise Meitner (1878-1968) war zunächst Assistentin bei Max Planck am Institut für Theoretische Physik der Universität Berlin. Anschließend war sie viele J.ahre Mit­arbeiterin von Otto Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie und leitete ab 1918 die physikalisches Abteilung des Instituts. 1938 mußte sie Deutschland ver­lassen und flüchtete über Dänemark nach Schweden, wo sie am Nobel-Institut für Physik in Stockholm eine Arbeitsmöglichkeit fand. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in Cambridge. Gemeinsam mit Otto Hahn erhielt sie aus der Hand Laues in einer besonderen Feier in Bonn am 23. September 1949 die Planck-Medaille. Im offiziellen Smyth Report on Atomic Energy (1945) wurde anerkannt, daß sie und ihr Neffe Otto Frisch als erste die Möglichkeit der Kernspaltung erkannt hatten. (Sie hatten die Resultate von Hahn und Straßmann richtig als "Kernspaltung" ge­deutet.) Einstein sagte von ihr, daß sie ihren Weg in der Familie der radioaktiven Substanzen besser kenne als er in seiner eigenen.

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Princeton, den 5. April 1954

Ich freue mich über die wie immer energische Schrift. Weiß Gott, ob ich auf Ihre Fragen antworten könnte. Man versteht gar wenig und ist unsicher.

Herzliche Grüße Ihr A. Einstein

Ich habe in dieser Schrift viel über Wirklichkeit und wissenschaftli­che Wahrheit geschrieben.

Daß diese hervorragenden Philosophen und Forscher an meinem Le­ben "wirkliches" und "wahres" Interesse gezeigt haben, bedeutet mir sehr viel und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.

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Anhang Über Eddingtons Philosophie der Naturwissenschaft

Die folgende Darlegung und Kritik! von Eddingtons Vorstellun­gen zu einer Philosophie der physikalischen Wissenschaften beruht hauptsächlich auf seinem Buch The Philo~ophy 0/ Phy~ical Science. 2

Wo es notwendig oder angebracht erscheint, wird auch auf seine früheren Arbeiten und auf sein posthum veröffentlichtes Buch Funda­mental Theory verwiesen.3

Begriffe, ihre Definitionen und Anwendungen, werden ohne Hinweis auf Prioritätsfragen einer Prüfung unterzogen, doch soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, daß Eddington als erster oder einziger das Thema behandelt hat. Vergleiche mit früheren oder zeitgenössischen Philosophen werden nur dann angestellt werden, wenn diese Licht auf die Bedeutung eines besonderen Aspekts von Eddingtons Philosophie werfen.

Eine Untersuchung der Besonderheiten von Eddingtons Philosophie muß zweckmäßigerweise mit der Vorstellung seiner "naturwissenschaft­lichen Erkenntnistheorie" beginnen. In der einen oder anderen Form hat naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie (Epistemologie) das Den­ken von Philosophen und Forschern seit Jahrhunderten beschäftigt, heute wird sie als "Hilfe in der Suche nach Erkenntnis mit dem Ziel, das Wesen der gesuchten Erkenntnis zu verstehen", betrachtet. "Im Zuge der Entwicklung der modernen Theorien von Materie und Strah­lung ist ein klarer erkenntnistheoretischer Standpunkt zur Notwendig­keit geworden. Er ist die direkte Quelle für die weitestreichenden wis­senschaftlichen Fortschritte."4 Es besteht kein Zweifel, daß die erkennt-

1 Die vorliegende Übersetzung stellt eine straffende Überarbeitung der englisehspra­ehigen Originalfassung dar.

2 Arthur Eddington, The Philo~ophy of Physical Science (Cambridge, 1939); im fol­genden als PPS zitiert.

3 Arthur Eddington, Fundamental Theory (Cambridge 1946); im folgenden als FT zitiert.

4PPS, S. 5

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nistheoretische Methode in der Entwicklung der Quanten- und Relati­vitätstheorie entscheidend war.

Eddington definiert naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie als je­nen "Zweig der Erkenntnistheorie, der sich mit der Beschaffenheit des Wissens beschäftigt, das wir mit den Methoden der physikalischen Wis­senschaften erworben haben". Dieses Wissen wird - in der heute ak­zeptierten Form - physikalisches Wissen genannt. Es impliziert nicht vollständige Wahrheit, sondern "hat die Form einer Beschreibung der Welt", des sogenannten physikalischen Universums. Die Definition des physikalischen Universums als "Gegenstand eines besonderen Wissens­bereiches"6 - nämlich des physikalischen Wissens - kehrt die übliche Folge von Konstrukten um und vermeidet Ausdrücke .wie "objektive Realität" oder "Existenz der äußeren Welt". Diese Grundposition, das Fehlen jeglicher vorausgesetzter Objektivität, ist ein Aspekt, der den Begriff Subjektivismus in dem Namen "selektiver Subjektivismus" rechtfertigt, den Eddingtoll seiner Wissenschaftsphilosphie gegeben hat. (Warum er diesen Subjektivismus "selektiv" nennt, wird später erklärt werden.) Der Bereich, dem er Subjektivität zuschreibt, umfaßt den ge­samten Anwendungsbereich der erkenntnistheoretischen Methode, und schließt im Prinzip alle fundamentalen Naturgesetze ein, die "zur Gänze aus erkenntnistheoretischen Überlegungen vorhergesagt werden können. Sie entsprechen apriorischer Erkenntnis und sind daher zur Gänze sub­jektiv!"6 Diese Subjektivität ergibt sich aus "der sinnlichen und in­tellektuellen Ausstattung" des Beobachters. Eddington behauptet je­doch, daß sein Subjektivismus wenig Verwandtschaft hat mit der Auf­fassung des englischen Philosophen Berkeley, der im 18. Jahrhundert der äußeren Welt jegliche Objektivität abstritt. Er sagt auch nicht, daß das physikalische Universum - in diesem Fall ein Synonym für die äußere Welt - zur Gänze subjektiv ist (noch ist es zur Gänze objektiv; "auch ist es keine einfache Mischung von subjektiven und objektiven Größen oder Eigenschaften"7), sondern er vertritt die Ansicht, daß die Naturgesetze vollkommen apriori und deshalb subjektiv wären. Das Wort "deshalb" wird vielen Philosophen unbegründet erscheinen, und die Ausdrücke "subjektiv" und "a priori" werden üblicherweise mit ei­ner anderen Bedeutung und in einem anderen, engeren Zusammenhang verwendet.

5ibid., 5. 3 6ibid., 5.57 7 ibid., 5. 27

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Eddingtons Apriorismus geht weit über jenen von Kant hinaus, er wird nur von der deutschen Schule des Idealismus übertroffen, deren Hauptvertreter Schelling war. Bei Kant bedeutet ,,a priori" unabhängig von Erfahrung; es ist ein logisches, nicht ein zeitliches A-priori; es geht der Erfahrung nicht voraus, noch ist es früher als "die tatsächliche Be­obachtung". Kant findet die Bedingungen für die Möglichkeit von Er­fahrung in den Kategorien der Intuition, von Raum und Zeit sowie in den Prinzipien der reinen Vernunft. Diese sind apriorische Elemente der Erkenntnis, von der Kant sagt8 :

"Erkenntnis, die bloß auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt ist, ist darum nicht alle von der Erfahrung entlehnt."

Nach Kant ist der reine Verstand nicht befähigt, den Phänomenen apri­orische Gesetze aufzuerlegen mit Ausnahme jener Gesetze, auf denen die Natur beruht - "natura formaliter spectata"9 - wie die Prinzipien von Kausalität und Substanz.

"Weil besondere Gesetze empirisch bestimmte Phänomene betref­fen, können sie nicht vollständig aus solchen apriorischen Prinzipien (Gesetzen) abgeleitet werden, obwohl sie insgesamt durch sie be­stimmt werden."

Gesetze, die spezielle Fakten 10 betreffen (also alle Gesetze, die nu­merische Beziehungen ausdrücken), können nur durch die Erfahrung bestätigt werden. Dies ist der Kantsche Apriorismus, soweit er die phy­sikalische Welt betrifft.

Im Gegensatz zum Kantschen transzendentalen Idealismus erlaubt die EddingtonscheYhilosophie keine Formen der reinen Wahrnehmung oder Kategorien des reinen Verstandes, um die Kluft zwischen den subjektiven und objektiven Elementen zu überbrücken, wodurch die Verständlichkeit der äußeren Welt garantiert würde. Er spricht hin­gegen von "gewissen tief eingewurzelten Formen des Denkens", auf Grund derer "wir die fundamentalen Gesetze und Konstanten vorher­sagen können", obwohl "wir nicht vorhersagen können, wie die Ent-

8KdrV, B166 9 KdrV, B165: Natur formal betrachtet.

lO"Spezielle Fakten" bedeuten hier - im Gegensatz zu PPS - nicht unsere zufällige Kenntnis der "Randbedingungen" der Differentialgleichungen eines deterministi­schen Systems der Physik.

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sprechung zwischen Elementen in dieser apriorischen physikalischen Be­schreibung und Elementen in der uns vertrauten Auffassung des Uni­versums beschaffen sein wird" Y Für ihn sind fundamentale Natur­gesetze subjektiv, sie haben einen erkenntnistheoretischen Ursprung, sie sind zwingend und gelten wie die Kantschen apriorischen Gesetze unveränderlich und universell. Jedoch unterscheiden sie sich nach Art und Anwendungsbereich völlig. Nach Eddington können die Naturge­setze nicht nur in ihrer algebraischen Form aus rein erkenntnistheore­tischen Überlegungen erhalten werden, sondern sogar die in den Glei­chungen enthaltenen Parameter, die Naturkonstanten, "können aus er­kenntnistheoretischen Überlegungen abgeleitet werden, so daß wir von ihnen apriorisches Wissen besitzen können."12 In seinen Vorlesungen über Neue Wege in den Naturwi3Jen~chaften13 reduziert er die sieben hauptsächlichen Naturkonstanten auf vier und dachte bereits 1934, daß es vielleicht möglich wäre, diese vier auf eine einzige wesentliche Kon­stante zu reduzieren. Er untersuchte das Problem der Naturkonstanten in seinen Schriften Philosophy 0/ Physical Science und Fundamental Theory weiter. Eddingtons Überzeugung, daß die wahren Naturkon­stanten irgendwie in der Struktur unseres Universums verankert sind, wurde von vielen großen Physikern geteilt. Einstein erwartete, daß die echten Naturkonstanten reine Zahlen seien, deren Werte durch die logi­sche Grundlage der gesamten Theorie festgelegt sind und die nicht mit rein empirischen Mitteln bestimmt werden können.14

Es werden kaum viele Wissenschaftler Eddingtons Ansicht teilen, daß wir über diese Konstanten apriorisches Wissen besitzen können, insbesondere über die kosmische Zahl, die Gesamtzahl der Teilchen im Universum, und daß ihr "Erwartungswert" - zugegebenerweise mit ei­ner gewissen Unsicherheit - berechnet werden kann. Die kosmische Zahl wird allerdings nicht durch tatsächliche Abzählung bestimmt, ge­nauso wenig wie die Elektronen in einem Gramm Wasserstoff gezählt werden können. Das Ergebnis wird auf indirekte Weise mittels der Quantenarithmetik erhalten. Die Quantentheorie hat Arithmetik und Wellenmechanik vereinheitlicht, wie die Relativitätstheorie Geometrie und Mechanik vereinigt hat. Eddington benützt daher die Ausdrücke "Arithmetik" und "Geometrie" nicht im Sinn der reinen Mathematik.

11 PPS, S. 134 12ibid., S. 58 13 Arthur Eddington, New Pathways in Science (Cambridge 1935) 14Siehe das zweite Kapitel dieses Buches

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"Die kosmische Zahl N übernimmt in der relativistischen Quanten­arithmetik die Rolle des Unendlichen genauso wie in der elemen­taren Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit an die Stelle der unendlichen Geschwindigkeit tritt."15

Einstein führte das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit auf der Grundlage von experimentellen und theoretischen Erfahrungen in der Physik ein; er war sich bewußt, daß dies eine Hypothese war (in seinen Vorlesungen betonte er dies immer wieder). Eddingtons Methode ist offensichtlich eine völlig andere. Für ihn stellt die kosmische Zahl N in höchst bildhafter Weise die Anzahl der Protonen und Elektronen im Universum dar und hat als Fundamentalkonstante ihren Platz in vielen physikalischen Formeln:

"Sie bestimmt das Verhältnis der elektrischen zu den gravitativen Kräften zwischen den Teilchen, die Reichweite und Stärke der nicht­Coulombsehen Kräfte in Atomkernen und die kosmische Abstoßung, die sich in der Flucht der Nebel zeigt."

Dies ändert nichts an der Methode, mittels der Eddington das Resultat N = 2 . 136 . 2256 erhält: "Wir müssen in mathematischer Notation ausdrücken, was wir zu tun glauben, wenn wir Dinge messen" und

"Alle unsere Resultate sind aus der Bedingung abgeleitet, daß die begriffliche Deutung, die wir auf die Resultate der Messung folgen lassen, mit unserer Interpretation des Meßprozesses konsistent sein muß. Wir müssen Symbole mit Eigenschaften definieren, die genau den eingeführten Vorstellungen entsprechen."ls

Wenn wir ein Verfahren zur Abzählung der verschiedenen Teile eines Gebäudes angeben sollen, müssen wir ein System von Maßstäben und Meßgrößen finden; Eddington nennt dies das "Strukturproblem" . Bevor wir in Einzelheiten eingehen, mag es angebracht sein, das Gleichnis vom Fischkundler zu zitieren, der das Leben des Meeres erforscht. Nachdem er sein Netz ins Wasser geworfen hat und seine Beute herausgeholt hat, zieht er zwei verallgemeinernde Schlüsse: Kein Meerestier ist kleiner als zwei Zoll, und alle Meerestiere haben Kiemen.

15PPS, S. 175 16 FT, S. 265-266

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Der Fang entspricht unserem physikalischen Wissen, das Netz der ,;sinnlichen und intellektuellen Ausstattung", mit der wir Wissen erwer­ben, und das Auswerfen des Netzes entspricht der Beobachtung. Der Fischkundler würde den Hinweis eines Zusehers, daß es vielleicht doch kleinere Meerestiere gäbe, die mit dem Netz nicht gefangen werden können, mit der Behauptung zurückweisen:

"Was mein Netz nicht fangen kann, ist kein Fisch, es ist nicht Teil des Reichs der Fische, das als das Thema der Fischkunde definiert ist."

Der außenstehende Beobachter denkt an ein objektives Reich der Fi­sche, der Ichthyologe an eine subjektiv ausgewählte Klasse, die durch die selektive Wirkung des "Netzes" des Beobachters, seiner Wahrneh­mungsorgane und seines Denkens Teil des physikalischen Wissens ge­worden ist.

"Wenn wir Beobachtung als Grundlage der Physik ansehen und dar­auf bestehen, daß ihre Aussagen durch Beobachtungen verifizierbar sein müssen, unterwerfen wir jenes Wissen, das wir als physikalisches anerkennen, einer Selektion."

Beobachtung ist eine unverzichtbare Methode der Physik. Darin stim­men seit Galileis Tagen alle Physiker überein. Beobachtung als die letzte Entscheidungsinstanz wird von allen anerkannnt, ganz besonders von jenen, die tiefer in den "objektiven" Bereich eindringen wollen; und sie können dies, indem sie dem Rat folgen, "durch Studium des Netzes und der Art seiner Verwendung leichter zu denselben Resultaten zu ge­langen". Dies hat Kant in seiner Erkenntnislehre versucht, als er auf der von Locke und Hume gelegten Grundlage für die Naturwissenschaf­ten heuristische Prinzipien fand, die zwar heute nicht mehr als solche allgemein anerkannt sind, die sich jedoch für Generationen von Natur­forschern als äußerst nützlich erwiesen haben. Eddington behauptet, daß die Erkenntnistheorie viel mehr für die Naturwissenschaften leisten kann, als nur solche Wegweiser aufzustellen.

In welchem Ausmaß der Erkenntnistheoretiker dem Physiker bei der Suche nach Naturgesetzen helfen kann, hat sich durch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften gezeigt. Das "Netz" siebt jenen Teil des Ganzen aus, das einer "tatsächlichen" (oder "hypothetischen") Beobachtung zugänglich ist, so daß" U nbeobacht bares" ausgeschlossen

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wird. So wird beispielsweise in der Relativitätstheorie "Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten" mittels rein erkenntnistheoretischer Überle­gungen eliminiert. Subjektive Auswirkungen der "artspezifischen" Be­schaffenheit des Beobachters werden im Gegensatz zu den "persönli­ehen" Eigenschaften des Beobachters in der Relativitätstheorie nicht eliminiert. In der Speziellen Relativitätstheorie muß der Beobachter sozusagen "Teil der Gleichungen" werden.

Die Erkenntnis, daß eine Größe unbeobachtbar ist, ergibt sich nicht aus dem Versagen sämtlicher Versuche, sie zu beobachten, sondern aus einer "gründlichen Analyse ihrer Definition," die in sich als widersprüch­lich oder in irgendeiner Weise unlogisch erweist. Durch das Studium des Verfahrens, durch Beobachtung solch falsch definierte Größen zu erken­nen, können wir Prinzipien für Unbeobachtbarkeit entdecken. Während die zweite Verallgemeinerung des Fischkundlers ("Alle Fische haben Kiemen") durch reine Beobachtung erhalten wurde und durch jeden neuen Fang widerlegt werden könnte, würde dies für die erste Verall­gemeinerung ("Alle Fische sind größer als zwei Zoll") wegen ihres er­kenntnistheoretischen Charakters nicht zutreffen. Eddington zieht den Schluß, daß jene Naturgesetze, die einen erkenntnistheoretischen Ur­sprung haben, "zwingend" sind und daß man von ihnen erwarten kann, daß sie "immer und überall befolgt" werden. So wird eine neue Art von Sicherheit in die Wissenschaftsphilosophie eingeführt. Es wird jedoch nicht behauptet, daß tatsächliche Beobachtungen immer solch zwin­genden Gesetzen genügen - auf keinen Fall dann, wenn sie "schlechte Beobachtungen" sind.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Observable sind Größen, die durch ein festgelegtes Beobachtungsverfahren nachgewiesen werden können. Nicht-Observable treten hingegen auch in physikalischen Glei­chungen auf: sie hängen teilweise von der mathematischen Hilfskon­struktion ab, die nicht "beobachtet" werden kann, und sie werden in den letzten, zu verifizierbaren Ergebnissen führenden Rechenschritten elimi­niert. Um Widersprüche innerhalb der Theorie zu vemeiden, werden in Relativitätstheorie und Quantentheorie Bedingungen für die Beob­achtbarkeit vorgeschrieben. Eddington betont, daß der Ausdruck "Ob­servable" bedeuten soll, daß die fragliche Größe beiden Überprüfungen standhält. Die im Rahmen der Relativitätstheorie geforderten Bedin­gungen, nämlich die Unmöglichkeit absoluter Bewegung und die not­wendige Relativität von beobachteter und beobachtbarer Bewegung, haben sich als erstaunlich fruchtbar erwiesen; gleiches gilt für die im

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Rahmen der Quantentheorie geforderte Unmöglichkeit, gleichzeitig und beliebig genau Ort und Geschwindigkeit eines physikalischen Objekts zu beobachten. Eddington wendet die beiden Prinzipien der Beobacht­barkeit gleichzeitig an, was - wie er behauptet - selbst von jenen sel­ten gemacht wurde, die eine relativistische Quantentheorie entwickeln wollten: "Eine Koordinate ~ ist nur dann beobachtbar, wenn sie eine Relativkoordinate von zwei Objekten ist, die jedes für sich Orts- und Impulsunschärfe besitzen.'<l7

"Primäre Verankerung" ist die Grundvorstellung, wie theoretische Gleichungen mit Beobachtung verbunden werden, indem Beobachtungs­vorschriften für die theoretischen Größen angegeben werden, die die Bestimmung ihrer Werte durch Messung ermöglichen.18 Der von Ed­dington eingeführte Wellen-Tensor-Kalkül ist sehr schwierig. Mit seiner Hilfe findet Eddington einige eindrucksvolle Übereinstimmungen zwi­schen von ihm berechneten und gemessenen Größen.

Da nur relative Lagen und Geschwindigkeiten beobachtet werden, benötigt eine beobachtbare Koordinate oder ein observabler Impuls im­mer zwei physikalische Objekte. Für den Zweck der Messung werden zwei weitere Objekte benötigt, um den als "Vergleichsobservable" be­nutzten Standard zu erhalten. Eine meßbare Größe hängt von vier Objekten ab. Maßstäbe zur Längenmessung sollen nicht wie bisher durch einen Metallstab (z.B. das Urmeter zu Paris), sondern durch Auswahl eines physikalischen Gebildes festgelegt werden, das an jedem Ort und zu jeder Zeit reproduzierbar ist. ("Ein Kalzitkristall, der 108

Gitterlängen lang ist, kann eine Vorstellung von dem geforderten Stan­dard geben.") Der quantitative Teil der Festlegung eines solchen Stan­dards darf nur reine Zahlen enthalten, da sie sonst zirkulär wäre. In der Quantentheorie wird eine numerische Beschreibung eines materiel­len Gebildes als Anordnung einer bestimmten Anzahl von Kernen und Elektronen mit gewissen Quantenzahlen gegeben. Als einzige Bedin­gung muß ein Standard erfüllen, daß er eine aus den Quantenangaben eindeutig reproduzierbare Struktur ist. Die Längeneinheit hirne tritt in den Grundgleichungen der Quantentheorie auf. Standards, die feste numerische Vielfache dieser Längeneinheit sind, sind zu ihr äquivalent. Eine zeitlich periodische Veränderlichkeit eines wie beschrieben definier­ten Gebildes legt einen Standard zur Zeitmessung fest. Ob diese Stan-

17FT, S. 1 18Eddington benutzt auch "sekundäre Anker", alternative Verfahren mit unterschied­

lichen experimentellen Methoden.

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dards "wirklich" konstant sind, ist für Eddington eine Frage ohne Sinn. Sie stellt sich ihm nicht auf Grund seiner Vorschrift, nur konstruier­bare Standards zur Beschreibung von Beobachtungen zuzulassen. Die Frage impliziert nämlich, daß "wir uns einen endgültigeren Standard vorstellen, an dem wir das Versagen der physikalischen Standards mes­sen" .19 Wie er in seiner Schrift Fundamental Theory betont, "muß der Längenbegriff von dieser Art metaphysischer Verbrämung frei gehalten werden" .20

Ob die Frage wirklich sinnlos ist, ist besonders deshalb diskussi­onswürdig, da Eddington selbst auf die "Beschränkungen" seiner durch Quantenbedingungen festgelegten Standards (z.B. in starken elektri­schen und magnetischen Feldern) hinweist. Wäre die Frage: "Sind diese Standards unter allen möglicherweise auftretenden Umständen re­produzierbar?" statt: "Sind die Standards wirklich konstant?" gestellt worden, hätte sie Eddington kaum als "metaphysische Verbrämung" bezeichnen können.

Auch Eddingtons Apriorismus fordert zur Kritik auf. Zusammen­fassend sagt er: "Obwohl Schlüsse auf Grundlage der Erkenntnistheorie ihrem Wesen nach Binsenwahrheiten sind, haben sie in der Physik weit­reichende Konsequenzen.'<21 Der von Eddington gebrauchte Ausdruck truism, zu Deutsch "Binsenwahrheit", scheint hier nicht angebracht. Es ist zweifellos nicht möglich, auf der einen Seite alle fundamentalen Naturgesetze und Naturkonstanten aus erkenntnistheoretischen Überle­gungen allein abzuleiten und andererseits zu behaupten, daß "Schlüsse auf Grundlage der Erkenntnistheorie ihrem Wesen nach Binsenwahr­heiten sind". Binsenwahrheiten haben nicht diese Aussagekraft, wie sie Eddingtons Gesetze haben sollen. Die Unbeobachtbarkeit von Gleich­zeitigkeit über große Distanzen oder die Einführung des Wahrschein­lichkeitskonzepts können nicht als Erkenntnis interpretiert werden, die nur auf Binsenwahrheiten beruht. Nach dem Ozford Dictionary be­zeichnet truism eine selbst evidente oder unzweifelhafte Wahrheit oder eine Aussage, die nichts anderes aussagt, als bereits in einem ihrer Teile enthalten ist. Wenn truilJm dem Wörterbuch entsprechend verstanden wird, kann ich nicht sehen, wie irgend welche wertvolle physikalische Konsequenzen daraus folgen können, die wenigstens denselben Zweck wie Tautologien in der Logik erfüllen sollen. Eine Tautologie ist eine

19 PPS, S. 76 20FT, S. 8 21 PPS, S. 103

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"leere" Aussage. Nach Reichenbach besteht ihr Wert darin, daß sie un­ter allen Bedingungen wahr ist, ohne daß wir dadurch etwas über den Wahrheitsgehalt ihrer Teile erfahren.

"Solche Formeln können stets zu physikalischen Aussagen addiert werden, da dadurch deren empirischer Gehalt nicht geändert wird. Und wir müssen sie hinzufügen, wenn wir aus physikalischen Aussa­gen Folgerungen ziehen wollen. Die Konstruktion von ausgeklügel­ten Tautologien gibt dem Physiker ein wirkungsvolles Instrument zur Gewinnung von Schlüssen. Die gesamte Mathematik muß als ein solches Instrument aufgefaßt werden."22

Ich kann die Vorstellung nicht akzeptieren, daß die Mathematik zur Gänze nur aus Tautologien besteht, doch stimme ich dem ersten Teil von Reichenbachs Aussage zu.

Mit seiner Behauptung: "Obwohl Schlüsse auf Grundlage der Er­kenntnistheorie ihrem Wesen nach Binsenwahrheiten sind, haben sie in der Physik weitreichende Konsequenzen" besteht Eddington darauf, daß wir alle fundamentalen Naturgesetze (einschließlich der rein numeri­schen Konstanten) ,phne jegliche physikalische Hypothese" bestimmen können. Offensichtlich führt er - im Unterschied zu Kant - keine Form einer synthetischen apriorischen Aussage ein, wodurch er den apriori­stischen Charakter der Naturgesetze bewahrt haben könnte, ohne die Verbindung zur Physik durchschneiden zu müssen. Eddington scheint jedoch die Gesetze von der Physik getrennt zu haben, indem er sie zu Binsenwahrheiten machte.

In dem Kapitel "Discovery or Manufacture" seines Buches The Phi­losophy 0/ Physical Science stellt Eddington die Wechselwirkung des Forschers mit den von ihm studierten Objekten an Beispielen dar. Als eines der Beispiele nennt er die Tatsache, daß weißes Licht eine völlig unregelmäßige Störung ist, die wir als Überlagerung von periodischen Fourierkomponenten auffassen können. Es erscheint zunächst nur als Frage des Geschmacks, ob wir sagen, das Spektroskop sondere jene be­sondere Frequenz, die wir als Licht einer bestimmten Farbe sehen, aus oder es erzeuge diese. Er bevorzugt das Wort "aussondern", da das Spektroskop die besondere Frequenz dann nicht "erzeugen" kann, wenn die entsprechende Fourierkomponente "zufällig" im Licht fehlt. Dies er­scheint mir sehr wichtig, denn es scheint mir den Gebrauch des Wortes

22Reichenbach, Philosophie Foundations, S. 149

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"erzeugen" in diesem Zusammenhang zu verbieten. Die Frage: "Wieviel entdecken wir und wieviel erzeugen wir durch unsere Experimente?" ist eine klare Formulierung des zur Diskussion stehenden Problems. Die Frage ist weder unsinnig noch trivial, was sie auf den ersten Blick schei­nen könnte. "Als uns Rutherford das Atom zeigte, fund er es oder :Jchuf er es?" Eddington glaubt, daß es auf diese Frage keine eindeutige Ant­wort gibt.

Indem wir Licht durch ein Prisma oder ein Beugungsgitter schicken, greifen wir in das irreguläre weiße Licht ein. Eddington nennt diesen Eingriff "physikalische Gewalttätigkeit". Damit berührt er eine tiefe Wahrheit, die schon vor langer Zeit von Forschern erkannt wurde, de­nen an einer Rechtfertigung ihrer Methoden gelegen war, auch wenn sie dies nur selten eingestanden. Die Vorstellung, daß wir die von uns untersuchten Objekte beeinflussen, war nicht mehr völlig neu, als sie Poincan\ in seinen Schriften einem größeren Publikum präsentierte.23

Jedoch haben erst die jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen, ins­besondere die Quantentheorie, diese Idee an die Öffentlichkeit gebracht. In Büchern über Quantentheorie wird dieser Eingriff offen zugegeben; oft wird weit über Eddington hinausgegangen, z.B. durch Aussagen wie: "Das Experiment versetzt die Atome in den Zustand, dessen Ei­genschaften wir messen." Dies nennt Eddington die Methode des Pro­krustes. Jedoch übersehen oder unterspielen die meisten Autoren die philosophischen Konsequenzen dieses Eingeständnisses - zweifellos die einfachste und häufigste Methode, mit einem Problem umzugehen; gele­gentlich werden die philosophischen Konsequenzen auch wegdiskutiert. Was Poincare verdeutlichen wollte, ist der Einfluß, den der Beobachter durch Auswahl auf die untersuchten Objekte nimmt, etwa dadurch, wie er sein System abschließt: Wir wählen gewisse Fakten aus und betrach­ten andere als irrelevant. Physik, die bis zu diesem Zeitpunkt als die objektivste aller Wissens2haften galt, erhielt einen Hauch von Subjek­tivismus, als die Bedeutung der Auswahl zum ersten Mal erkannt und anerkannt wurde.

Eddington sagt, daß es keinen Unterschied macht, ob wir die unter­suchten Bedingungen erzeugen oden auswählen. Hinter "guten" Beob­achtungen verbirgt sich das Bett des Prokrustes. In engstem Zusam­menhang mit diesem Problem bemerkt Eddington, daß der Substanz-

23Henri Poincare, La Valeur de la Science (Paris 1912) und Dernieres Pensees (Paris 1913)

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begriff aus den Grundlagen der Physik verschwunden ist und "Worauf wir schließlich stoßen, ist Form. Wellen! Wellen! Wellen!!!" Wenn die Erhaltungsgröße Energie in der heutigen Physik den Substanzbegriff ersetzt, fühlen wir, daß es sicher der allgemeine Formbegriff ist, der als einer der Grundbegriffe der Naturwissenschaft aufgefaßt werden kann.

Allerdings verweist Eddington nicht darauf, daß es neben "Form" noch andere Grundkonzepte gibt. Naturwissenschaft strebt in allen ihren Zweigen danach, die Gesetze der funktionalen Abhängigkeiten in der Natur zu finden, die Gültigkeit von unveränderlichen Beziehungen nachzuweisen. Er hätte wahrscheinlich keinen Einwand dagegen erho­ben, daß wir seine Vorstellung von "Wellen" oder "Formen" um den Begriff der Funktion erweitert haben, doch hätte er sicher gegen den Ausdruck "funktionale Abhängigkeit in der Natur" protestiert, den er uns durch "funktionale Abhängigkeit in unserem Wi""en über die Na­tur" ersetzen ließe.

Was die "Entdeckung" des Atomkerns betrifft, so meint Edding­ton, daß wir damit lediglich etwas über die Wellen gelernt haben, die unser Wissen über den Atomkern darstellen. Genaues Befolgen von Eddingtons Terminologie sollte eine Fehlinterpretation seines Formbe­griffs verhindern. Dieser ist weder ein Synonym zur rein metaphysischen Formvorstellung noch zu Aristoteles' Entelechie. Aristoteles nennt als Beispiel der Entelechie als reiner Form die Schaffung einer Bronzesta­tue durch einen Künstler. 24 Auch Eddington wählt als Beispiel einen Bildhauer.

"Unterscheidet sich die Arbeitsweise eines Bildhauers wesentlich von der des Physikers? Letzterer trägt in sich das Bild harmonischer Wellen, die er an den unwahrscheinlichsten Orten sieht - beispiels­weise in irregulärem weißem Licht. Mit einem Beugungsgitter trennt er sie vom restlichen weißen Licht und zeigt sie uns. Wie der Bild­hauer mit dem Meisel den rohen Marmorblock in eine Büste und ei­nen Berg von Splittern trennt, so trennt der Physiker die irreguläre Wellenerscheinung in eine einzige harmonische Welle und einen Ab­fallhaufen der restlichen Komponenten."

Der Forscher übt die Methode des Prokrustes aus, indem er eine gege­bene Form in Komponenten "spaltet" und dadurch eine Form aus~ählt, die er selbst "vorgeschrieben" hat.

24 Aristoteles, Metaphysik 11.9.4.1065b23f

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Eddington macht sich vorübergehend zum Anwalt eines extremen Standpunkts. Seine Idee ist vernünftig, wenn - aber nur wenn - die Wahl einer Form durch den Forscher in Einklang mit seiner früheren Erfahrung mit funktionalen Abhängigkeiten erfolgt. Dann ist die Me­thode eines der wirkungsvollsten und häufigst angewandten Verfah­ren der Naturwissenschaft. Jedoch - und dies muß betont werden -können wir Eddingtons Vorschlag nur mit der soeben genannten Ein­schränkung akzeptieren. Die Methode des Physikers unterscheidet sich von der Methode des Künstlers, der innerhalb der durch Material und Werkzeug gesetzten Grenzen seiner Phantasie freien Lauf lassen kann. Der Forscher ist nicht nur von seinem Material und seinen Werkzeu­gen abhängig, er ist außerdem durch die existierenden funktionalen Abhängigkeiten gebunden, die - für den naiven Realisten - zwischen den Objekten der äußeren Welt bestehen, bzw. - in Eddingtons Sprech­weise - innerhalb seines Beobachtungsmaterials. Beobachtung als die letzte Berufungsinstanz spielt eine entscheidende Rolle in den Hypo­thesen und Voraussetzungen sowie in den Experimenten der Forscher. Jeder Teil physikalischer Erkenntnis muß nach Eddington so beschaf­fen sein, daß wir eine Beobachtungsvorschrift angeben können, die über ihr Zutreffen entscheidet. Im Gegensatz zum Künstler kann daher der Forscher nicht frei schöpfen. Seine kreativen Absichten müssen mit der Erfahrung harmonieren, die das gesamte durch Beobachtung erworbene Faktenwissen und ihre Interpretation umfaßt.

Eddington verweist darauf, daß die "analytische Phantasie" des ma­thematischen Physikers sich noch nicht bis zur ungebundenen Phanta­sie des Künstlers entwickelt hat. Der Forscher "spielt das Spiel nach bestimmten Regeln", die "ein Erkenntnisprinzip ausdrücken, das im menschlichen Denken seine Wurzeln hat". Weiterhin müssen wir jedoch Eddington vorwerfen, daß er die Bedeutung der von ihm so genannten funktionalen Abhängigkeit unterschätzt hat.

In der Besprechung des Aussiebens benutzt Eddington die "Form" oder den "gedanklichen Rahmen", in den das durch Beobachtung ge­wonnene Wissen eingepaßt wird. Die erkenntnistheoretische Methode sagt uns, daß wir den Rahmen studieren müssen, um apriori gewisse Eigenschaften jeglichen im Rahmen enthaltenen Wissens vorher sehen zu können; und Physiker werden diese Eigenschaften aposteriori ent­decken. Eddington glaubt, daß der Bt-griff Analyse, d.h. die Vorstel­lung, daß "ein Ganzes in Teile zerlegbar ist, so daß die Koexistenz der Teile die Existenz des Ganzen bedeutet", die fundamentalste aller

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Denkformen ist. Ein Teil ist stets Element eines vollständigen Satzes von Teilen. Wenn Analysensysteme auf jene beschränkt werden, die ei­nen "vollständigen Satz positiver Teile" liefern, spricht Eddington von "Substanz-Analyse", die allgemeinere Analyse, die positive und nega­tive Teile enthält, nennt er "Form-Analyse".

Kants zweite Antinomie 26 behandelt dieses Problem von einem rein philosophischen Gesichtspunkt. Diese Lösung würde nur zum Teil Ed­dingtons Zustimmung finden. Eddington hält den Begriff der Analyse für eine Voraussetzung jeder Art wissenschaftlichen Denkens. In der Physik wurde der Analysebegriff einem Leitprinzip entsprechend spe­zialisiert, und die Ergebnisse der Analyse sind Moleküle, Atome, Pro­tonen, Elektronen, Photonen usw. Die Atomvorstellung stellt ein Ziel der Physik dar. Protonen unterscheiden sich jedoch von Elektronen. Nach Eddington legt die Relativitätstheorie nahe, daß "sie tatsächlich ähnliche Bausteine" sind, und daß "der Unterschied seinen Ursprung in ihren Beziehungen zur allgemeinen Verteilung der Materie, die das Universum bildet, hat" .26

Das letzte Endprodukt der Analyse sollte die Identität sein. Ed­dington behauptet, daß die Unterschiedlichkeit von Bausteinen nicht echt ist. Im Fall der Fourier-Komponenten des weißen Lichts kann diese Behauptung nur aufrecht erhalten werden, wenn wir im Zuge der Auffassung von Photonen als Wellenzügen von meßbaren Eigenschaf­ten, z.B. den unterschiedlichen Wellenlängen im System eines beliebig gewählten Beobachters, absehen. Es wäre präziser gewesen - aber in seinem System schwierig -, hätte Eddington in diesem Beispiel scharf zwischen der menschlichen Wahrnehmung (in physiologischer und psy­chologischer Hinsicht) und den Ursachen unterschieden, die in wissen­schaftlicher Sicht diese physiologischen Effekte hervorrufen - ein Punkt, auf den bereits Newton hingewiesen hat.

Daß wir Beobachtungswissen in einen vorgeschriebenen Rahmen zwängen können, ist wahrscheinlich weniger signifikant als die Tatsa­che, daß "Beobachtungswissen die Neigung zeigt, ohne großen Zwang in den Denkrahmen zu passen". Eddington warnt uns, diese Neigung zu überschätzen. Wir wissen, daß sich das wissenschaftliche Weltbild sehr von der vertrauten Welt unterscheidet, was beweist, wieviel Zwang

25Kant, Kdr V B462: "Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existieret überall nichts als das einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist."

26 PPS, S. 124; FT, S. 111

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notwendig ist. Wenn er das "Sehen" der Massenerhaltung für signifi­kanter hält als das "Sehen" von Elektronen (die wir in einer Wilson­schen Nebelkammer fast "sehen" können), dürfen wir fragen, warum er die Wahrnehmung, die uns die Massenerhaltung illustriert, als "sponta­nes Sinnenzeugnis der Angemessenheit apriorischer Analyse" ansieht. Bloß weil weniger experimenteller Aufwand notwendig ist? Oder ist es nicht eher die Idee der "Permanenz", die Eddingtons Einschätzung des Erhaltungssatzes zu Grunde liegt? Was meint er mit der Aus­sage: "Leben wäre ohne eine gewisse Harmonie zwischen den Ergebnis­sen der Auswahl und unseren unauslöschlich eingeprägten Denkformen unmöglich."? Eddington berührt hier einen Teilaspekt des Problems der Verständlichkeit der äußeren Welt - ein Problem, das Planck in Kants transzendentalem Idealismus gelöst sieht, das jedoch für Ein­stein ungelöst bleibt. Eddington geht das Problem ähnlich wie Kant an, ohne jedoch den transzendentalen Idealismus zu akzeptieren, durch den Kant seine Beweisführung vom Subjektivismus befreite.

Eddingtons "Permanenz" (ein modifizierter Substanzbegriff) scheint der Kantschen Idee der Substantialität sehr ähnlich zu sein, die aus Lockes Kritik erwuchs. Locke hatte die Unmöglichkeit, die Natur der Dinge durch den Substanzbegriff zu erklären, gezeigt. Damit war der Weg frei für Kants rein formale Substantialitätsvorstellung, die er auf der Grundlage der Physik seiner Zeit darstellte, gerade wie Eddington "Permanenz" auf der Grundlage der modernen Physik verdeutlichte. Für Locke und Kant gab es nur erworbene, keine angeborenen Ideen. Eddington legte sich in dieser Frage nicht fest. Die elementaren Teile und auch Kombinationen dieser Teile sollen nach Eddington in gewis­sem Maße Permanenz besitzen.

Die Vorstellung der Selbstgenügsamkeit der Teile l?esteht nach Ed­dington in der Quantentheorie weiter und läßt bloß die Möglichkeit zur Wechselwirkung. Diese Selbstgenügsamkeit erinnert an die Leib­nizschen Monaden, und wir würden wohl auf die gleichen Interpreta­tionsprobleme stoßen.

Die elementare Struktureinheit ist ein Elektron oder Proton in ei­nem elementaren Zustand. Elementare Zustände der Atome werden durch Wechselwirkungen mit anderen Teilchen im Gegensatz zur Wahr­scheinlichkeitsverteilung der verschiedenen elementaren Zustände nicht verändert. Was das Ganze betrifft, so sind seine Teile begrifflich un­abhängig, wenn sie auch "in der tatsächlichen Beobachtung interdepen­dent" sind. In Einklang mit seinem extremen Subjektivismus möchte

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uns Eddington erkennen lassen, daß die Teile völlig selbstgenügsame identische Bausteine sind, und daß die zwischen den Teilen von uns hinzugefügte Wechselwirkung zur Gänze subjektiv ist.

Die "harten Beobachtungstatsachen" sind nur Wahrscheinlichkei­ten; ein Beobachtungsergebnis ist wissenschaftlich nur wertvoll, weil es uns über die Wahrscheinlichkeit einer anderen Tatsache informiert. Die verallgemeinernden Aussagen der Physik beziehen sich auf diese "sekundären Fakten".

Wenn Wahrscheinlichkeiten die "echten Größen" sind, mit denen wir es zu tun haben und über die wir gen aue Kenntnis besitzen, muß Wahrscheinlichkeit als statistische Vorstellung aufgefaßt werden, nicht als Maß für unsere Erwartungen.

"Als Hilfsmittel zur Berechnung künftiger Wahrscheinlichkeiten bil­den die Gesetze ein vollständig deterministisches System; als Mit­tel zur Berechnung künftigen Beobachtungswissens sind die Gesetze nichtdeterministisch. "

Unsere Gleichungen verknüpfen Wahrscheinlichkeiten in der Zukunft mit Wahrscheinlichkeiten in der Gegenwart. Wahrscheinlichkeit ist je­doch von jeder anderen gewöhnlichen physikalischen Größe wegen der "Irreversibilität ihrer Beziehung zur Beobachtung" verschieden.

"Das Ergebnis einer Beobachtung bestimmt eine Wahrscheinlich­keitsverteilung einer Größe mit Gewißheit, jedoch bestimmt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung nicht mit Gewißheit das Ergebnis ei­ner Beobachtung."27

Die Kenntnis einer Gruppenstruktur ist völlig unabhängig von je­dem Wissen über die Elemente dieser Struktur; nur das Wissen über eine Gesetzmäßigkeit kann in mathematischen Zeichen ausgedrückt wer­den. Eddington erklärt,28 wie dieses Wissen Informationscharakter an­nimmt, d.h., wie die Zeigerablesungen, die Ergebnisse von Abzählun­gen, mit eiriem bestimmten Muster, einer Gruppenstruktur zusam­menhängen, und daß "Physik aus reinem Strukturwissen besteht, so daß wir nur die Struktur des beschriebenen Universums kennen" .29 Die

21 PPS, S. 94 28Eddington, New Pathways in Science, S. 255-277; PPS, S. ix, 136-153 29 PPS, S. 142

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mathematische Disziplin der Gruppentheorie ist es, mit der wir Bezie­hungen zwischen Beziehungen oder Operationen, die auf Operationen ausgeübt werden, beschreiben. Ein "Strukturkonzept" kann aus dem entsprechenden allgemeinen Konzept durch Elimination all dessen ge­wonnen werden, was für seine Rolle innerhalb der Gruppenstruktur unwesentlich ist. Dadurch wird das Strukturkonzept Bestandteil eines Musters ohne eigene Merkmale bis auf jene, die die Beziehungen seiner Verknüpfungen mit anderen Elementen darstellen.

In seinem Werk Fundamental Theory bringt Eddington Beispiele für solche Strukturkonzepte.3o Das Symbol beschreibt die "Wesen" der Größe. "Wesen" wird durch Bezug auf Konzepte wie relativistische Invarianz, Chiralität und Idempotenz definiert. Sie lassen sich im Kon­zept der Gruppenstruktur zusammenfassen. Durch die Abstraktion al­ler speziellen Züge unserer gewöhnlichen Denkformen wird der früher erwähnte Denkrahmen zu einem mathematischen Rahmen, die in die­sem mathematischen Rahmen enthaltene Erkenntnis ist Wissen über eine Gruppenstruktur. Zur Verdeutlichung wählt Eddington die Struk­tur der Kugeloberfläche. Durch eine Drehung der Kugel kann jeder Punkt auf der Kugel in einen anderen übergeführt werden. Dies wird durch die Drehoperatoren bewirkt. Der Raum hat daher die Struk­tur der Drehgruppe. Nicht mehr als diese Gruppenstruktur ist über den "Raum" in struktureller Hinsicht bekannt; wir können in keiner Weise sagen, was es wirklich ist, das diese Struktur hat. Auf die Frage: "Welche Art von Dingen kenne ich?" antwortet Eddington: "Die Grup­penstruktur. "

Der logische Ausgangspunkt der Physik ist die "Gruppenstruktur eines Satzes von Wahrnehmungen in einem Bewußtsein". 31 Fragmente der Struktur werden zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen For­schern zusammengetragen und in den gedanklichen Rahmen eingepaßt. Und wenn Extrapolation all das hinzugefügt hat, was nicht direkt be­obachtet werden konnte, "erhalten wir die als physikalisches Universum bekannte Struktur".

Mit der Untersuchung der Gruppenstruktur eines Satzes von Wahr­nehmungen in einem Bewußtsein verläßt Eddington die Wissenschafts­philosophie. Trotzdem müssen wir einige Punkte aufgreifen, die Ed­dington in diesem Zusammenhang erwähnt. Er hofft durch die Synthese

30 FT, S. 139 31 PPS, S. 148

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der Struktur jeden Teil der Struktur in derselben Weise beschreiben zu können wie die physikalische Erkenntnis. Für ihn wird daher die Be­schreibung der ursprünglichen Wahrnehmungen mittels physikalischer Begriffe dadurch möglich, daß sie Elemente dieser Struktur sind. Er glaubt, daß diese Beschreibung möglich ist, obwohl er eingestehen muß, daß "unsere Kenntnis der Physiologie wahrscheinlich nicht ausreicht, das gen aue physikalische Ereignis anzugeben, das auch eine Wahrneh­mung im Bewußtsein einer Person ist"j32 versuchsweise substituiert er dafür "elektrische Impulse in einem Nervenstrang an seinem gehirnsei­tigen Ende".

Eddington verweist auf die räumliche und zeitliche Ferne eines Spi­ralnebels, der in uns eine visuelle Wahrnehmung auslöst.

"Verursachung überbrückt die Kluft in Raum und Zeit, doch das physikalische Ereignis am Sitz der Wahrnehmung ... ist nicht die Ur­sache der Wahrnehmung, es ist die Wahrnehmung. Genauer gesagt, das physikalische Ereignis ist das Strukturkonzept dessen, wofür die Wahrnehmung das allgemeine Konzept ist."33

Diese Unterscheidung erläutert Eddington in einem weiteren Beispiel, der in unserem Wissen gespeicherten Information über Geräusch­Wahrnehmungen. Eddington unterscheidet das allgemeine Konzept ei­ner Geräusch-Wahrnehmung (etwas, das "meinem eigenen Bewußtsein von Geräusch-Wahrnehmung ähnlich" ist) von dem "Strukturkonzept der Geräusch-Wahrnehmung" (einem Teil der Struktur des physika­lischen Universums, beschrieben als "elektrisch erregtes Ende eines GehÖrnervs"). Er sagt:

"Von den bei den Konzepten der Geräusch-Wahrnehmung bezieht sich das eine darauf, was sie in sich selbst ist, während das andere zum Inhalt hat, was sie als Bestandteil des ,physikalischen Univer­sums' ist."

Der Ausdruck "in sich selbst" könnte als etwas Ähnliches wie Kants "Ding an sich" mißverstanden werden. Kants Differenzierung zwischen Erscheinung und Ding unterscheidet sich jedoch von Eddingtons Un­terscheidung zwischen Strukturkonzept und allgemeinem Konzept.

32 PPS, S. 148 33 PPS, S. 149

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Eddingtons Ausführungen über physikalische Ereignisse und Wahr­nehmungen erscheinen reichlich zweifelhaft. Sie sind einigermaßen vage und erinnern an die unexakten und unzusammenhängenden Bemerkun­gen in seinen früheren Schriften, die Susan Stebbing bereits früher kri­tisiert hat.34

Wenn Eddington von einer "erweiterten" Physik oder allgemein von "Naturwissenschaft" spricht, die Objektives wie Subjektives enthält, behauptet er, daß das "Objektive", das dem Muster der modernen Physik nicht zu entsprechen braucht, im nicht-physikalischen Teil der Naturwissenschaft gefunden werden könnte, etwa in der Biologie, der Psychologie oder vielleicht der Theologie. Er nennt Leben, Bewußtsein und Geist als rein objektive Quellen objektiver Erkenntnis.

Eddington betont immer wieder, daß ein physikalisches Ereignis auch eine Wahrnehmung einer Person ißt. Doch suchen wir vergeb­lich nach Gründen, die diese Behauptung belegen. Wir sind es frei­lich gewohnt, physikalische Ereignisse als raum-zeitliche Koinzidenzen, nicht aber als Wahrnehmungen zu definieren. Durch die Identifikation physikalischer Ereignisse mit Wahrnehmungen eliminiert Eddington das gesamte psychophysische Problem mit einem Federstrich:

"Die Erkenntnis, daß physikalisches Wissen Strukturwissen ist, schafft den Dualismus von Bewußtsein und Materie ab."

Zu behaupten, daß ein physikalisches Ereignis auch eine Wahrnehmung ist, ist eine genauso dogmatische Aussage, wie wir sie in Spinozas Ethik35 oder anderen metaphysischen Systemen finden. Wir können uns mit Eddington freuen, daß die Gruppentheorie - deren innnere Schönheit von keinemLgeleugnet wird, der sie studiert hat - ein an­gemessenes Hilfsmittel ist, unser physikalisches Wissen auszudrücken; jedoch können wir seiner dogmatischen Aussage: "Alles, was uns die Physik in der äußeren Welt enthüllt, ist eine Gruppenstruktur, und diese ist auch im Bewußtsein zu finden" nicht zustimmen.

Die grundlegende Bedeutung, die Eddington dem Strukturbegriff zumißt, wird gleichermaßen in seinen Ausführungen zum Existenzpro­blem deutlich. Er behauptet, daß der Begriff Existenz in der von Phi-

34L. Susan Stebbing, Philosophy and the Physicists (London 1937) :)5B. D. Spinoza, Ethik 2.7,5.1,3.2. Schol.: "quod scilicet mens et corpus una eadem­

que res sit" ("daß Geist und Körper als ein und dasselbe aufgefaßt werden sollten")

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losophen verwendeten Weise nicht eindeutig ist und gelegentlich über­haupt keine klare Bedeutung hat. Die Frage nach Existenz oder Nicht­Existenz von Dingen ist nach Eddington eine primitive Form des Den­kens und ist keineswegs relevant, wenn wir die erkenntnistheoretische Methode befolgen. Das Universum ist teils subjektiv, teils objektiv. Eddington betont immer wieder die subjektive Seite:

"Was erkenntnistheoretisch beschrieben werden kann, ist ipso facto subjektiv; es ist als Teil der objektiven Welt zerstört .... Wir müssen die Frage bereitwillig prüfen, ob das physikalische Universum Objek­tivität besitzt und dürfen Objektivität nicht als Teil der Definition des Universums hereinschmuggeln."

Er behauptet, keineswegs etwas wie "wirkliche Existenz" zu benutzen, eine "metaphysische" Vorstellung, die er ablehnt. Seltsamerweise führt er ohne Zögern das "Strukturkonzept Existenz" in einem mathematisch definierten Sinn ein. Er definiert dazu einen Operator J; dieser besitzt zwei Eigenwerte: J = 1 bei Existenz und J = 0 bei Nichtexistenz. Der Operator J erfüllt offensichtlich die Gleichung J2 = J und ist da­her idempotent, d.h., er ist gleich seinem Quadrat. Das Strukturkon­zept Existenz wird durch ein solches idempotentes Symbol repräsen­tiert. Existenz ist "das einzige Beispiel einer Struktur mit nur einem Element".

Dem Punkt der reinen Geometrie, der keine Ausdehnung und keine Teile hat, entspricht in der Physik das Elementarteilchen. Eine Bezie­hung zwischen zwei Teilchen mit den einfachen Existenzsymbolen J1, J2

ist das zusammengesetzte doppelte Symbol J1 • J2 • Die Beziehung be­steht nur, wenn J1 und J 2 den Eigenwert 1 haben. Eine Beziehung zwischen zwei Beziehungen besteht nur dann, wenn beide Beziehungen existieren; ein vierfaches Existenzsymbol muß ihr zugeordnet werden.

Aus der beschriebenen Einführung mathematischer Symbole und ih­rer Wechselbeziehungen in ihrer Anwendung auf die Darstellung physi­kalischer Erkenntnis ergibt sich der Eindruck, daß Eddington metaphy­sische Aussagen vermeiden wollte, indem er sie in ein mathematisches Gewand kleidete. Dadurch läßt sich jedoch das Wesen einer Vorstel­lung nicht von einer metaphysischen Idee, die Eddington ablehnt, zu einem zulässigen Mitglied einer angesehenen Gesellschaft verändern, die einzeln und als Gesamtheit von den Physikern vorbehaltlos akzeptiert wird. Die Einführung von Symbolen ist wie die Vergabe von Namen

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willkürlich. Ob die Schaffung von Symbolen auf "Erfahrung" beruht oder als Konstruktion und freie Erfindung des menschlichen Geistes anzusehen ist,36 interessiert nur dann, wenn die Frage vom psychogene­tischen Standpunkt gestellt wird. Logisch gesehen vertreten Symbole in der Mathematik Begriffe und die zwischen ihnen geltenden Regeln - sie sind Konstrukte. Keinesfalls können wir der Behauptung von A. D. Ritchie (Re/lections on the Philosophy 0/ Sir Arthur Eddington) zu­stimmen, daß die Symbole Dinge sind. Eddington geht nicht so weit, zumindest sagt er dies nicht explizit. Doch im wesentlichen zieht er seine Schlüsse über die Physik aus Eigenschaften mathematischer Sym­bole, die er ihnen selbst gegeben hat.

In der Physik stellen Symbole meist Observable (meßbare Größen) dar, doch können wir nicht sagen, daß sie diese Größen sind. Für den Augenblick wollen wir die Berechtigung von Symbolen in Eddingtons Wissenschaftsphilosophie außer acht lassen und versuchen, ihm weiter zu folgen.

Wir kennen Eddingtons Überzeugung, das System der Physik sei nicht mehr deterministisch. Das unbestimmte Element eines Systems wird als Zufalls element behandelt.

"Es ist eine Hypothese in der Physik, die durch die Beobachtung gestützt wird, daß es keine objektiven Gesetze gibt - wenn nicht Zufall als Gesetz beschrieben wird."

Später modifiziert Eddington diese Vorstellung und betrachtet das Feh­len objektiver, die Systeme regierender Gesetze nicht als Hypothese der Physik, sondern als "Beschränkung des Gegenstands der Physik". Und wieder müssen wir Eddingtons Weg in einen Bereich der "Manifestatio­nen von etwas Außerphysikalischem, nämlich Bewußtsein oder Leben" folgen. Dieser Bereich ist nicht vollständig vom Zufall beherrscht. Ab­weichungen vom Zufall erfolgen - oder besser - können erfolgen. Er führt die Idee der "bewußten Materie" ein, die ein Teil unseres Gehirns ist, wo "unser Wollen beginnt". Wenn er sagt, daß diese "bewußte Materie" den Grundgesetzen der Physik gehorcht, so muß man ihm zustimmen, da sie auch nur Materie ist. Jedoch nennt er uns keinen Grund, warum oder wie ein Teil des Gehirns "bewußte Materie" ge­nannt werden kann.

36 A. Einstein, On tke Metkod 0/ Tkeoretical Pkysics (Oxford 1933)

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Auch die nächste Behauptung, daß sie "nicht in jeder Hinsicht iden­tisch mit anorganischer Materie" sein kann, wird jeder akzeptieren, der den menschlichen Körper nicht für einen Automaten hält. Nach Ed­dington muß der Unterschied "notwendigerweise" im unbestimmten Teil des Verhaltens liegen. Dieser durch die Grundgesetze der Physik un­bestimmte Teil muß in der bewußten Materie völlig unabhängig vom Gesetz des Zufalls sein; er muß durch "objektives Gesetz" oder "Len­kung" geleitet werden. Die Anerkennung des "Wollens" bedeutet die Elimination des Zufalls, d.h., im Bereich der bewußten Materie werden die Heisenbergschen Bedingungen fallen gelassen. Statt des Ausdrucks "Gesetz des Zufalls" schlägt Eddington vor, das unbestimmte Verhalten der einzelnen Teilchen in gewöhnlicher Materie als Nicht-Korrelation zu beschreiben; in bewußter Materie solle hingegen Korrelation auftre­ten. Diese Korrelation bedeute eine Interferenz mit den gewöhnlichen Phänomenen der Natur; sie sei "der physikalische Aspekt des Willens­akts". Nicht-Korrelation stelle das "objektive Merkmal von Systemen dar, für die die gewöhnlichen Formeln der Physik gelten". Korrelation müsse etwas "außerhalb der Physik" sein. Der Bereich, in dem objek­tive Gesetze die Materie beherrschen, sei das "Zusammenspiel von Ge­danken, Gefühlen, Erinnerungen und Wollen im Bewußtsein" .31 Stel­lungnehmend zum psychophysischen Problem identifiziert Eddington die subjektiven Elemente in unserer Erfahrung mit den physikalischen Aspekten der Erfahrung und die objektiven Elemente mit "bewußten und geistigen" Aspekten. Und mit der Analogie, daß "bewußtes Han­deln die ,Materie' und Zufall der )eere Raum' der objektiven Welt sind", möchte er sagen, daß - genau wie Materie im physikalischen Universum wichtiger sei als der sich wesentlich weiter ausdehnende leere Raum -Bewußtsein bedeutender sei, obwohl es nur "in isolierten Zentren vor einem Hintergrund aus Chaos" auftrete.

Ein Bild kann vielleicht helfen, Eddingtons Vorstellungen und Ideen und ihre wechselseitigen Beziehungen zu entwirren, wobei wir uns strikt an seine Terminologie halten (siehe Diagramm I).

Der kleine Halbkreis stellt den Bereich der "bewußten Materie" dar, und das viel größere Rechteck jenen der "gewöhnlichen Materie". Der Bereich des unbestimmten Verhaltens hat die folgenden Eigenschaften: a) im Teil, der die "gewöhnliche Materie" repräsentiert, Zufall und Nicht-Korrelation, Gültigkeit der Heisenbergschen Bedingungen, b) im

-----~-- _._- -37 PPS, S. 183

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11 []]

Diagramm I

Diagramm II

Unbestimmt, korreliert, gerich­tet (nicht-Heisenberg)

Materie mit Bewußtsein, sub­jektive Gesetze

Unbestimmtes Verhalten - ob­jektive Gesetze

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o l;:;:;;I

• ~

Unbestimmt, nichtkorreliert, zufällig (Heisenberg)

Even tuelle Gültigkei t obj ektiver Gesetze

Gewöhnliche Materie unter dem Einfluß von subjektiven (apriorischen) Gesetzen

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Teil der "bewußten Materie": objektive Gesetze, Korrelation, Lenkung, Willensakte, ...

Die beiden Diagramme haben im wesentlichen dieselbe Bedeutung. Sie entsprechen zwei geringfügig verschiedenen Darstellungen Edding­tons. In Diagramm I wird der unbestimmte Teil als Rand dargestellt, der an gewöhnliche und bewußte Materie grenzt. In Diagramm 11 ist der unbestimmte Teil unregelmäßig in gewöhnlicher und bewußter Materie verteilt.

N ach dieser diagrammatischen Erklärung der Zusammenhänge sei­ner Ideen will Eddington sich "von der naturwissenschaftlichen zur phi­losophischen Einbettung der naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre" wenden. (Wir haben das Gefühl, daß er sich schon längst aus dem rein naturwissenschaftlichen Gebiet entfernt hat.)

Zu seiner Abwendung vom logischen Positivismus erklärt Edding­ton, daß er nicht die Regel: "Eine wissenschaftliche Aussage muß durch Angabe der Schritte, die zu ihrer Verifikation notwendig sind, gestützt werden" auf alle Aussagen ausdehnen möchte - wie es die Positivisten tun -, sondern daß er sie nur auf physikalische Erkenntnis anwenden will.

Zur Vorstellung des "einfühlenden Verstehens" verweist er auf die Tatsache, daß "Ihr Verständnis dessen, was ich meine" weder struktu­relles Wissen noch direktes Bewußtsein ist, sondern irgendwie "einge­standen" werden muß. Bewußtsein ist weder ein strukturelles Konzept, noch ist uns das Bewußtsein eines anderen Menschen direkt bewußt. Er leugnet nicht, daß es anderes als physikalisches Wissen geben kann, und lehnt den Solipsismus ab.

Wenn Eddington über die Wurzeln unseres Wissens spricht, fin­det er, daß der Begriff Analyse "uns die Einheit des Bewußtseins in Form einer Kollektion von Wahrnehmungen, Gefühlen etc." darstellt. Er glaubt, daß die Zerlegung des Bewußtseins in Teile zu dens'elben Problemen führt wie die Zerlegung des physikalischen Universums. Das Bewußtsein sei jedoch ein Ganzes, das wir in Teile zerlegen, nicht jedoch ein Aggregat diskreter Einheiten. Dies erinnert wieder an Kantsche Ideen. Für Kant verbindet die Einheit des Bewußtseins die Formen der Anschauung mit den Kategorien, und sie bildet die synthetische Ein­heit des Bewußtseins, die Erfahrung möglich macht. Doch während bei Kant die formale Synthese eine notwendige Ergänzung der Wahrneh­mungsfähigkeit ist, erfahren wir bei Eddington mehr über das Rohma­terial unseres Wissens wie Wahrnehmungen und Sinneseindrücke, auch

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über bewußte Empfindung und Gedächtnis, als über den formalen Aspekt des Synthetisierens. Eddington ist überzeugt, daß der erste Schritt zu Strukturwissen ein Vergleich von Wahrnehmungen in einem einzigen Bewußtsein ist, daß aber "die Externalität der physikalischen Welt der Tatsache entspringt, daß sie aus Strukturen aufgebaut ist, die im Bewußtsein verschiedener Menschen zu finden sind". Er sieht die Wurzel der Vorstellung einer Verursachung darin, daß das Auftreten einer speziellen Struktur (z.B. eines Sternbilds) im Bewußtsein vieler Menschen nicht als Zufall angesehen werden kann. Wir sehen hier die Hypothese, daß die zahlreichen ähnlichen Strukturen Reproduktionen eines einzigen Originals sind, d.h., wir schreiben sie einer einzigen ge­meinsamen Ursache zu, die dieselbe Struktur besitzt. Eddington sagt, daß wir die Existenz einer äußeren Welt als gegeben ansehen, um ge­meinsame Ursachen lokalisieren zu können, die wie das Auftreten einer Supernova nicht an ein einziges Bewußtsein gebunden sind.

In seiner Philosophy of Physical Science behandelt Eddington nicht die formale Seite des Kausalitätsproblems. Vermutlich dachte er, daß nach der heftigen Diskussion in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit die Frage hinreichend diskutiert ist, um so mehr, als seine indetermi­nistische Einstellung in allen seinen Schriften deutlich zum Ausdruck kommt.

Seiner ursprünglichen Absicht treu, von unserem Wissen auszuge­hen und die entscheidende Bedeutung des Begriffs Struktur zu vertiefen, führt Eddington die äußere Welt als "Träger der Struktur" ein, und des­wegen ist unser Wissen über sie auf Strukturwissen beschränkt, das wir im Rahmen der Physik untersuchen. Daneben läßt er jedoch Platz für "eine spirituelle Deutung dessen, wovon das physikalische Universum bloß die abstrakte Struktur ist" .38

In der äußeren Welt besorgt nach Eddington die Ausbreitung von Einflüssen von einem Teil zum anderen nicht nur die Übermittlung von Nachrichten zwischen dem Bewußtsein verschiedener Menschen, son­dern sie "verteilt die Merkmale der Welt laufend neu und bringt da­durch ihre verschiedenen Teile in einen raum-zeitlich kausalen Zusam­menhang". Die Aufgabe der Physik sei es, "ein Beschreibungssystem der äußeren Welt und ein System von Gesetzen zu formulieren, die auf die in der Beschreibung vorkommenden Größen anwendbar sind; Be­schreibung und Gesetze sollen in jeder Hinsicht mit den tatsächlichen

38 PPS, S. 209

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Korrelationen der sinnlichen Wahrnehmung in Einklang sein". Über den ersten Satz wird wohl allgemeines Einverständnis herrschen; am zweiten Satz wird sich allerdings einiger Zweifel regen, wie "die tatsäch­lichen Korrelationen der sinnlichen Wahrnehmung" zu verstehen sind, und die von Eddington selbst gegebene Erklärung ändert nichts am vagen Charakter der Behauptung.

Nach Eddingtons Auffassung betrifft unser Wissen zum einen Struk­turen und ist andererseits subjektiv. Dies seien "gewissermaßen ... Alternativen", d.h., die rein strukturelle Form (die Gruppentheorie ) "eliminiert einen Großteil des subjektiven Elements, das in weniger for­malen Formulierungen auftritt". Im Grunde muß die Objektivität des Inhalts der äußeren Welt bewahrt werden. Wenn wir die früher zitierte Aussage "die Subjektivität der durch Physik beschriebenen Welt und all de.,.,en, was sie enthalten soll" [Hervorhebung durch I. R.-S.] betrach­ten, erscheint sie im Widerspruch mit einer anderen Behauptung über die Objektivität der äußeren Welt. Wir müssen nach Eddington der ge­meinsamen Ursache ähnlicher Strukturen im Bewußtsein verschiedener Individuen "einen ebenso objektiven Status wie den Strukturen selbst zuschreiben", und daher betrachtet er es als "Axiom, daß die äußere Welt objektiven Inhalt haben muß". Dagegen könnte man einwenden, daß die durch die Physik beschriebene Welt eher als die "Welt der Phy­sik" oder als das Weltbild der Physik aufzufassen ist und nicht mit der äußeren Welt identisch ist.

Die schwierige Frage, wie Phänomene "ohne Kenntnis irgendeines Gesetzes, das den objektiven Inhalt des Universums regiert", erfol­greich vorhergesagt werden können, muß noch beantwortet werden. "Reine Subjektivität" bleibt auf die Gesetze der physikalischen Welt beschränkt, und Eddington läßt "ein objektives Element in den beson­deren Fakten, die einen Großteil unseres Wissens über das Universum rund um uns bilden", zu. (Daß der Raum zum Großteil "nahezu leer" ist, ist eine besondere Tatsache, nicht ein Grundgesetz der Physik, hat aber große Bedeutung.) Vorhersagen sind Vorhersagen besonderer Fak­ten, denen objektiver Charakter zukommt. In Vorhersagen sind die Grundgesetze der Erkenntnis mit dem Zufallsgesetz gekoppelt. Bei der Ableitung eines möglichen Versuchsergebnisses nehmen wir Unkorre­liertheit im unbestimmten Teil des Verhaltens der individuellen Teile an. Damit gelangt Eddington zu dem einigermaßen paradoxen Er­gebnis: Scharfe Vorhersagen, die durch Beobachtung überprüft werden können, sind nur möglich durch das Zufallsgesetz. Letzteres wirkt nicht

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immer, aber meist. Wenn es nicht wirkt - wenn nach Eddington Kor­relationen bestehen - deutet er dies als Manifestation von bewußtem Wollen.

Für Eddington beginnt die "synthetische Sicht der Stuktur der Welt" mit einzelnen Teilchen, die zu wahrnehmbaren Objekten zusammenge­fügt werden müssen; diese Konstruktion sichere das Fehlen einer Kor­relation, so daß eine zusätzliche Unkorreliertheitshypothese überflüssig sei. Hingegen enthalte die analytische Sicht der Struktur der Welt, die mit groben und wahrnehmbaren Objekten beginne und sie in ihre Bau­steine zerlege, die Nicht-Korrelation nicht notwendigerweisej die Teil­chen können korreliertes Verhalten zeigen. Eddington akzeptiert die analytische Betrachtungsweise, die das "Gesetz" der Nicht-Korrelation nicht als apriorisches Gesetz, sondern als besonderes Faktum zuläßt, als Prinzip der "Seltenheit" von Korrelation.

Eddington hat explizit gesagt, er habe kein neues philosophisches System schaffen wollen; zweifellos hat er ein originelles Gebäude der Erkenntnistheorie errichtet und hat es in einer Weise dargestellt, die seinen Lesern intellektuelles Vergnügen bereitet. Die weitere Entwick­lung wird zeigen, ob die Ausarbeitung von Eddingtons Ideen mehr als Wegweiser auf dem Weg der Naturwissenschaft liefert.

Daß sich ein Forscher von Eddingtons Format so eingehend mit der Grenzzone zwischen Physik und Philosophie beschäftigt hat, sollte al­len Befriedigung bereiten, die sich seiner Führung anvertrauen. Selbst wer anderer Meinung als Eddington ist, wird Gewinn ziehen. Die in diesem Beitrag geäußerte Kritik schmälert nicht unsere Wertschätzung der Leistungen Eddingtons.

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Facetten der Physik herausgegeben von Prof. Dr. Roman Sexl

Band 1 Weber/Mendoza, Kabinett physikalischer Raritäten Es ist verblüffend zu lesen, wieviel Witz, Humor und Schalk in der Physik und in den Physikern steckt, wenn man ihnen einmal im Kabinett des freischöpferischen Gedankenfluges begegnet, und nicht wie üblich im Labor, im Hörsaal oder im Lehrbuch. Physikalische Beiträge über die "Trägheit eines Besenstiels" oder über das Problem des "rotierenden Hundes" sind rar. Jeder, dem die Zeit nicht zu schade ist, in aller wissen­schaftlichen Strenge mit-, nach- und weiterzudenken und dabei immer auch über die ernste Wissenschaft hinauszudenken, sei zu einem Lesebesuch in diesem "Kabinett" eingeladen.

(Neue Osnabrücker Zeitung)

Band 2 Boltzmann, Populäre Schriften (vergriffen)

Band 3 Marder, Reisen durch die Raum-Zeit

Band 4 Gamov, Mr. Tompkins' seltsame Reisen durch Kosmos und Mikrokosmos Die Lektüre der insgesamt fünfzehn Kapitel über die erlebten Träume des Mr. Tompkins in seinem Versuch, moderne Wissen­schaft zu verstehen, ist ein Hochgenuß, hauptsächlich wegen der überraschenden Geistesblitze, die dem Autor - einem in die Physikgeschich te eingegangenen Wissenschaftler - einge­fallen sind. Dabei hatte es Gamov sehr schwer, diese Nicht-Science-Fiction­Geschichten an den Mann zu bringen. Er schrieb die ersten im Jahre 1938, und erst nach mehreren Mißerfolgen nahm das populärwissenschaftliche Magazin "Discovery" diese Geschich­ten auf Rat des Enkels von Charles Darwin auf. Schon nach dem Eingang der ersten Geschichte schrieb der Herausgeber an Gamov: "Schicken Sie mehr." (Bild der Wissenschaft)

Band 5 Kuhn, Die Kopernikanische Revolution

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Band 6 Voigt, Physicalischer Zeit-Vertreiber Mit einem Faksimile-Druck weist der Verlag nach, daß populär­wissenschaftliche Sach-Literatur keine Erfindung unserer Zeit ist. Geändert hat sich aber ihr Publikum. Damals brach die Wissenschaft gerade auf, das geozentrische Weltbild des Ptolomäus zu widerlegen; Galilei kam in Schwung, Newtons Gesetze aber waren noch nicht festgeschrieben. So suchten die am Umbruch der Wissenschaft interessierten Kreise in der altgriechischen Atomistik Zuflucht - und daraus resul­tierte eine Flut von physikalischen Erkenntnissen, die Autoren wie Voigt mit eleganter Sprache unter das bildungshungrige Volk brachten. Es sind amüsant (im Deutsch jener Zeit) zu lesende, kurze Ab­handlungen, die mit der Frage "Warumb" beginnen und allerlei Erscheinungen erläutern. Warum können Betrunkene nicht gut sehen? Warum sind kleingeratene Leute so böse (weil die Galle nicht genug Platz hat in ihrem kleinen Leib, sondern den Ver­stand angreift), und warum gehen die Läuse erst vom Menschen, wenn er stirbt? Und warum sind die Mohren so schwarz?

(Gießener Anzeiger)

Band 7 Ziman, Wie zuverlässig ist wissenschaftliche Erkenntnis?

Band 8 Schilpp (Hrsg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher - Eine Auswahl Dieser Band enthält eine Auswahl der wichtigsten Beiträge aus dem wenige Wochen nach dem Tode Albert Einsteins im Jahre 1955 erschienenen Buch "Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher", herausgegeben von Paul Arthur Schilpp. Dieses Buch wurde zu einem Klassiker der Einstein-Literatur. Ein­steins einzige Autobiographie ist darin zu finden, ebenso seine Antwort auf die Kritiken und Beiträge führender Physiker und Philosophen. De Broglie, Pauli, Bohr, Reichenbach, von Laue, Gödel u. a. zeigen, in welchem Maße Einstein das Weltbild der Naturwissenschaften erschüttert hat.

Band 9 Born, Physik im Wandel meiner Zeit J edetn, dem nicht nur an der Beherrschung des Formalismus der Physik gelegen ist, sondern der sich auch für den weiten und oft verschlungenen Weg, der zur Erkenntnis führt, und für die philosophischen Grundlagen der Physik interessiert, und der darüber hinaus bereit ist, auch über die ethischen Konse­quenzen seiner Wissenschaft nachzudenken, sei dieses Buch wärmsten empfohlen. Er wird bei der Lektüre feststellen, daß " ... Ideen wie absolute Richtigkeit, absolute Genauigkeit, end-

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gültige Wahrheit usw. Hirngespinste sind, die in keiner Wissen­schaft zugelassen werden sollten .... Ist doch der Glaube an eine einzige Wahrheit und deren Besitzer zu sein, die tiefste Wurzel allen übels auf der Welt."

(Berichte der Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie)

Die "populären Schriften" des größten Physikers und eines der bedeutendsten Philosophen und Moralisten unseres J ahrhun­derts gehören in die Privatbibliothek eines jeden N aturfor­

schers. (Physikalische Blätter)

Band 10 Sellerie, die Debatte um die Quantentheorie

Band 11 Baumann/Sexl, Die Deutungen der Quantentheorie

Band 12 Forman/von Meyenn, Quantenmechanik und Weimarer Republik (in Vorbereitung)

Band 13 Lichtenberg, Aphoristisches zwischen Physik und Dichtung

Band 14 Fraunberger/Teichmann, Das Experiment in der Physik In der Tat bietet der Band genügend Stoff, um über das Wech­selspiel Hypothese - Experiment nachzudenken. Aber man kann auch mit tiefer gehängten Ansprüchen an dieses Buch herangehen; man kann ganz einfach darin schmökern, sich durch die vielen Abbildungen einfangen und zum Weiterlesen verführen lassen. Text und Illustrationen sind so allgemeinverständlich, daß der naturwissenschaftlich interessierte Laie nicht überfordert wird. Sie sind aber zugleich so präzise, daß es auch dem Physiker Ver­gnügen bereiten wird, die Anfänge seines Fachgebietes nachzu­

erleben. (Süddeutscher Rundfunk, Wissenschaftsredaktion)

Band 15 Pauli, Physik und Erkenntnistheorie

Band 16 Schroeer, Physik verändert die Welt? Die gesellschaftliche Dimension der Naturwissenschaft

Band 17 Franks, Polywasser. Betrug oder Irrtum In der Wissenschaft?

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Band 18 Trigg, Experimente der modernen Physik. Schritte zur Quantenphysik

Band 19 Holton, Themata. Zur Ideengeschichte der Physik Neue wissenschaftliche Theorien werden erst nach einer aus­führlichen Wertung und Bestätigung durch die wissenschaft­liche Fachwelt anerkannt. Bis vor kurzem betrachtete man die­sen Bestätigungsprozeß als durch rein objektive Kriterien deter­miniert, während die Entstehung neuer Theorien, also der eigentlich kreative Anteil der Wissenschaft, einer rationalen Analyse unzugänglich erschien. In diesem Buch widerlegt Prof Gerald Holton diese Ansicht und zeigt auf, wie Phantasie und Kreativität die Entstehung einer neuen wissenschaftlichen Theorie beeinflußt. über Er­folg oder Mißerfolg der Forschung entscheiden oft bewußte oder unbewußte Annahmen, Vorurteile und Traditionen. Diese "Themata" sind auch für die allgemeine Anerkennung oder die kontroverse Natur eines Ergebnisses ausschlaggebend. Damit verbinden sich öffentliche Bestätigung und individueller Schöp­fungsprozeß in der Wissenschaft, wie hier an den Arbeiten von Kepler, Einstein, Heisenberg und Oppenheimer gezeigt wird.

Band 20 Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis Anläßlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages des Physik­Nobelpreisträgers erscheint dieser Band als Reprint der bedeu­tendsten Beiträge aus seinem zweibändigen Werk "Atomphysik und menschliche Erkenntnis".

Band 21 Weber, Kammerphysikalische Kostbarkeiten Das Buch bietet Abhandlungen, Kurzbeiträge, Aphorismen, Anekdoten und Karikaturen in Prosa, Poesie und Bild zum Generalthema Physik. Jeder allgemein gebildete Leser wird darin Kurzweil finden und verblüfft sein, wieviel Humor in der Physik steckt.

Band 22 Saunders, Katastrophentheorie. Eine Einführung für Naturwissenschaftler In der Natur laufen keineswegs nur stetige Prozesse ab - Wel­len brechen, Brücken stürzen ein, Zellen teilen sich; man denke auch an die Bildung unterschiedlicher Gewebe im Verlauf der Embryonalentwicklung. Allen diesen Beispielen ist gemein, daß plötzliche, sprunghafte Änderungen - Diskontinuitäten - auf­treten; der französische Mathematiker Rene Thom nannte sie "Katastrophen".

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Dieses Buch führt in die Grundlagen der Katastrophentheorie ein und stellt eine Reihe von Anwendungen vor. Das Spektrum dieser Anwendungen reicht von der Physik bis hin zur Biologie und den Sozialwissenschaften.

Band 23 Aichelburg, Zeit im Wandel der Zeit Was ist "Zeit"? Kann die Zeit rückwärts laufen? - Fragen die­ser Art beschäftigten schon die Philosophen der Antike; die Frage nach der Zeitumkehr ist gegenwärtig Forschungsgegen­stand der theoretischen Physik. Die in diesem Band zum Thema "Zeit" zusammengestellten Arbeiten geben einen über­blick über die Wandlung des Zeitbegriffs aus physikalischer und philosophischer Sicht. Enthalten sind neben einer Einleitung des Bandherausgebers Beiträge von Plotin, AristoteIes, Augustinus, Kant, Mach, Boltzmann, Poincan!, Bergson, RusselI, Minkowski, Reichen­bach, Wiener, Piaget, Gödel, v. Weizsäcker, Hund, Heckmann, Gardner, Prigogine/Stengers und Aichelburg.

Band 24 Brush, Die Temperatur der Geschichte Daß eine enge Wechselwirkung zwischen dem Theoriengebäude der Naturwissenschaften und den kulturellen Strömungen einer jeweiligen historischen Epoche besteht, ist vielen nicht bewußt,' wird jedoch deutlich, wenn man die Physik des 19. J ahrhun­derts im kulturellen Umfeld der jeweiligen Epoche betrachtet. Der Autor verfolgt die Entwicklungsgeschichte von thermody­namischen und statistischen Theorien im Kontext der kulturel­len Strömungen Romantik, Realismus und Neoromantik. Es scheint, daß viele Begriffe der Wärmelehre zu Leitmotiven der kulturellen Strömungen wurden. So läßt sich beispielsweise der Versuch von Henry Adams verstehen, den Verlauf der Ge­schichte in Analogie zum Schmelzen oder Verdampfen einer Substanz zu beschreiben: Der übergang von einer kulturellen Phase in eine andere erfolgt diskontinuierlich; auch können zwei Phasen nur in ganz bestimmten Situationen koexistieren - genau wie zwei stoffliche Phasen nur bei einer ganz bestimm­ten Temperatur (konstanten Druck vorausgesetzt) nebenein­ander vorliegen können. In diesem Sinne läßt sich auch der Ge­schichte eine "Temperatur" zuordnen.