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Bei der ersten Begegnung Risiken zu Beginn psychosozialer Hilfeprozesse Frau B sucht zum ersten Mal professionelle Hilfe. Das Angebot psychosozialer Unterstützung ist ihr noch nicht vertraut. Ihrem Eindruck nach erhält sie von Anbeginn der Gespräche mit der Fachkraft Frau M nur unzureichende Informationen über die Art des Hilfsangebots, den Ablauf und den Umfang. In ihrer Verunsicherung traut sie sich jedoch auch nicht nachzufragen. Ähnlich geht es ihr mit der diag- nostischen Abklärung. Die diagnostische Einschätzung der Fachkraft ist ihr nicht eingängig und bestärkt Frau B in ihrer Unsicherheit. Das Vertrauensverhältnis zwischen Frau B und der Fachkraft Frau M erlebt dadurch eine wei- tere Erschütterung, die letztlich in Zweifel über die Sinnhaftigkeit der Behandlung seitens Frau B mündet. Nach ca. einem Jahr bricht die Klientin die Hilfeleistung ab und zieht eine ernüchternde Bilanz: „Eine gute Beziehung kam nie zustande. Die Therapeutin hat überhaupt nicht meine Res- sourcen gesehen.“ Psychosoziale Hilfeleistungen auf ihre Risi- ken, Nebenwirkungen und Schäden zu unter- suchen, ist noch neu und ungewöhnlich. Zu- dem stößt dieses Vorhaben auch auf Irritation in der Fachwelt und methodische Komplika- tionen. An der Donau-Universität Krems hat sich eine Forschungsgruppe – ausgehend von einer Studie zu Risiken, Nebenwirkungen und Schäden der Psychotherapie (RISK) und weite- rer Forschung im psychosozialen Versorgungs- bereich in Deutschland und Österreich – der Problematik negativer Aspekte von Hilfepro- zessen zugewandt 1 . Im Zentrum des Interesses steht das Anlie- gen, Risiken und Nebenwirkungen aufzuspü- ren und daraus Ideen zur Prävention negativer Verläufe zu entwickeln. Einen Schwerpunkt da- bei bilden Behandlungsabbrüche, die sich bereits in der Eingangsphase angedeutet haben. In die- sen Fällen spielen häufig die Gestaltung der Ein- gangssequenz und Sorgfalt sowie Art und Wei- se der diagnostischen Abklärung eine entschei- dende Rolle. Methodisches Vorgehen Qualitätssicherung wird in allen Versorgungs- strukturen zunehmend mehr Bedeutung bei- gemessen, sie stellt jedoch für die psychosozi- ale Versorgung ein komplexes Unterfangen dar. Forschung in diesem Bereich muss daher multi- methodisch vorgehen und detailliert beschreiben wie analysieren. Besonderer Wert wurde des- halb darauf gelegt, im Forschungsprozess eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven ein- zubeziehen: die Sicht von AdressatInnen, die Be- schwerden führten, die Sicht von KlientInnen, die sich in einer psychosozialen Hilfeleistung be- finden bzw. befanden, und die Sicht von Fach- kräften, die sich in Form von Gruppendiskussi- onen mit dem Thema beschäftigten. Dies sollte ermöglichen, sich dem Gegenstand von verschie- denen Seiten zu nähern. Das Untersuchungsdesign trianguliert dafür qualitative und quantitative Methoden. Die qua- litativen Daten wurden anhand der Beschwer- debriefe von KlientInnen gesammelt. Zudem wurden sieben Gruppendiskussionen mit Ex- pertInnen aus psychosozialen Arbeitsfeldern durchgeführt. Danach wurde – basierend auf den qualitativen Ergebnissen – anhand einer zweistufigen quantitativen Erhebung erneut die Perspektive der KlientInnen erhoben. Die Aus- wertung erfolgte mittels computergestützter Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) in Kombi- nation mit einer vertiefenden induktiven Kate- gorienbildung unter Anwendung des Kodierpa- Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Beitrag beschäftigt sich mit negativen Aspekten im Kontext psychosozialer Hilfeprozesse. Von Interesse sind insbesondere Behandlungsabbrüche, die sich oft schon zu Beginn der Hilfemaßnahme andeuten. Der Beginn einer Hilfemaßnahme vollzieht sich jedoch häufig in einem sehr beschränkten zeitlichen Fenster. So kommt eine für Zuweisungen sowie generell für die Gestaltung des Hilfeprozesses wesentliche dialogisch erarbeitete biopsychosoziale Diagnostik häufig zu kurz. Dieses Vorgehen hat negative Folgen auf den Hilfeprozess. Keywords / Stichworte Negative Aspekte von Hilfeprozessen, Erstgespräch, biopsychosoziale Diagnostik, Partizipation Silke Birgitta Gahleitner *1966 Dr. phil, arbeitete langjäh- rig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in so- zialtherapeutischen Ein- richtungen sowie eigener Praxis. Seit 2006 Profes- sorin für Klinische Psycho- logie und Sozialarbeit an der ASH Berlin; seit 2012 für den FB „Integrative Therapie und Psychosozia- le Interventionen“ am De- partment für Psychothera- pie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Uni- versität Krems zuständig. [email protected] Christina Frank *1985 Mag. a , wissenschaftli- che Mitarbeiterin am De- partment für Psycho- therapie und Biopsycho- soziale Gesundheit der Donau-Universität Krems. christina.frank@ donau-uni.ac.at Heidemarie Hinterwallner *1986 MA MA, wissenschaft- liche Mitarbeiterin und Lehrgangsleiterin des Universitätslehr- gangs „Psychothera- peutisches Propädeu- tikum“ am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Ge- sundheit der Donau- Universität Krems. heidemarie. hinterwallner@ donau-uni.ac.at Katharina Gerlich *1971 Mag. a Dr. in , wissen- schaftliche Mitarbeiterin und Vortragende am De- partment für Psychothe- rapie und Biopsychoso- ziale Gesundheit der Do- nau-Universität Krems. katharina.gerlich@ donau-uni.ac.at 11 Sozial Extra 11|12 2013: 11-14 DOI 10.1007/s12054-013-1096-9 Beruf und Qualifikation 

Bei der ersten Begegnung

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Bei der ersten BegegnungRisiken zu Beginn psychosozialer Hilfeprozesse

Frau B sucht zum ersten Mal professionelle Hilfe. Das Angebot psychosozialer Unterstützung ist ihr noch nicht vertraut. Ihrem Eindruck nach erhält sie von Anbeginn der Gespräche mit der Fachkraft Frau M nur unzureichende Informationen über die Art des Hilfsangebots, den Ablauf und den Umfang. In ihrer Verunsicherung traut sie sich jedoch auch nicht nachzufragen. Ähnlich geht es ihr mit der diag-nostischen Abklärung. Die diagnostische Einschätzung der Fachkraft ist ihr nicht eingängig und bestärkt Frau B in ihrer Unsicherheit.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Frau B und der Fachkraft Frau M erlebt dadurch eine wei-tere Erschütterung, die letztlich in Zweifel über die Sinnhaftigkeit der Behandlung seitens Frau B mündet. Nach ca. einem Jahr bricht die Klientin die Hilfeleistung ab und zieht eine ernüchternde Bilanz: „Eine gute Beziehung kam nie zustande. Die Therapeutin hat überhaupt nicht meine Res-sourcen gesehen.“Psychosoziale Hilfeleistungen auf ihre Risi-

ken, Nebenwirkungen und Schäden zu unter-suchen, ist noch neu und ungewöhnlich. Zu-dem stößt dieses Vorhaben auch auf Irritation in der Fachwelt und methodische Komplika-tionen. An der Donau-Universität Krems hat sich eine Forschungsgruppe – ausgehend von einer Studie zu Risiken, Nebenwirkungen und Schäden der Psychotherapie (RISK) und weite-rer Forschung im psychosozialen Versorgungs-bereich in Deutschland und Österreich – der Problematik negativer Aspekte von Hilfepro-zessen zugewandt1.Im Zentrum des Interesses steht das Anlie-

gen, Risiken und Nebenwirkungen aufzuspü-ren und daraus Ideen zur Prävention negativer Verläufe zu entwickeln. Einen Schwerpunkt da-bei bilden Behandlungsabbrüche, die sich bereits in der Eingangsphase angedeutet haben. In die-sen Fällen spielen häu�g die Gestaltung der Ein-gangssequenz und Sorgfalt sowie Art und Wei-se der diagnostischen Abklärung eine entschei-dende Rolle.

Methodisches VorgehenQualitätssicherung wird in allen Versorgungs-

strukturen zunehmend mehr Bedeutung bei-gemessen, sie stellt jedoch für die psychosozi-ale Versorgung ein komplexes Unterfangen dar. Forschung in diesem Bereich muss daher multi-methodisch vorgehen und detailliert beschreiben wie analysieren. Besonderer Wert wurde des-halb darauf gelegt, im Forschungsprozess eine Reihe von unterschiedlichen Perspektiven ein-zubeziehen: die Sicht von AdressatInnen, die Be-schwerden führten, die Sicht von KlientInnen, die sich in einer psychosozialen Hilfeleistung be-�nden bzw. befanden, und die Sicht von Fach-kräften, die sich in Form von Gruppendiskussi-onen mit dem Thema beschäftigten. Dies sollte ermöglichen, sich dem Gegenstand von verschie-denen Seiten zu nähern.Das Untersuchungsdesign trianguliert dafür

qualitative und quantitative Methoden. Die qua-litativen Daten wurden anhand der Beschwer-debriefe von KlientInnen gesammelt. Zudem wurden sieben Gruppendiskussionen mit Ex-pertInnen aus psychosozialen Arbeitsfeldern durchgeführt. Danach wurde – basierend auf den qualitativen Ergebnissen – anhand einer zweistu�gen quantitativen Erhebung erneut die Perspektive der KlientInnen erhoben. Die Aus-wertung erfolgte mittels computergestützter Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) in Kombi-nation mit einer vertiefenden induktiven Kate-gorienbildung unter Anwendung des Kodierpa-

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Beitrag beschäftigt sich mit negativen Aspekten im Kontext psychosozialer Hilfeprozesse. Von Interesse sind insbesondere Behandlungsabbrüche, die sich oft schon zu Beginn der Hilfemaßnahme andeuten. Der Beginn einer Hilfemaßnahme vollzieht sich jedoch häu�g in einem sehr beschränkten zeitlichen Fenster. So kommt eine für Zuweisungen sowie generell für die Gestaltung des Hilfeprozesses wesentliche dialogisch erarbeitete biopsychosoziale Diagnostik häu�g zu kurz. Dieses Vorgehen hat negative Folgen auf den Hilfeprozess.

Keywords / Stichworte Negative Aspekte von Hilfeprozessen, Erstgespräch, biopsychosoziale Diagnostik, Partizipation

Silke Birgitta Gahleitner *1966

Dr. phil, arbeitete langjäh-rig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in so-zialtherapeutischen Ein-richtungen sowie eigener Praxis. Seit 2006 Profes-sorin für Klinische Psycho-logie und Sozialarbeit an der ASH Berlin; seit 2012 für den FB „Integrative Therapie und Psychosozia-le Interventionen“ am De-partment für Psychothera-pie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Uni-versität Krems zuständig.

[email protected]

Christina Frank *1985

Mag.a, wissenschaftli-che Mitarbeiterin am De-partment für Psycho-therapie und Biopsycho-soziale Gesundheit der Donau-Universität Krems.

[email protected]

Heidemarie Hinterwallner *1986

MA MA, wissenschaft-liche Mitarbeiterin und Lehrgangsleiterin des Universitätslehr-gangs „Psychothera-peutisches Propädeu-tikum“ am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Ge-sundheit der Donau-Universität Krems.

[email protected]

Katharina Gerlich *1971

Mag.a Dr.in , wissen-schaftliche Mitarbeiterin und Vortragende am De-partment für Psychothe-rapie und Biopsychoso-ziale Gesundheit der Do-nau-Universität Krems.

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radigmas nach Strauss (1987) für die qualitativen und mittels sta-tistischer computergestützter Auswertung für die quantitativen Daten (vgl. ausführlicher Leitner u.a. 2012).

Gründlicher VerstehenDie zeitlich begrenzte Eingangsphase psychosozialer Hilfepro-

zesse verhindert nicht selten eine sorgfältige, dialogisch angeleg-te und diagnostisch ausgewogene Hilfeplanung. In psychosozialen Hilfeprozessen ist jedoch eine komplexe biopsychosoziale Diag-nostik – sowohl für eine angemessene Zuweisung zu einer Hilfe-leistung als auch für eine fachgerechte Gestaltung der Hilfe – un-abdingbar. Diagnostik ist „ein zentrales Element jeder psycho-sozi-alen Intervention. Sie ... ‚durchwirkt’ als permanenter Bestandteil jeder Phase des Arbeitsprozesses“ (Pauls 2004, S. 204) die gesam-te Hilfeleistung. Diesem Anspruch ist jedoch durch die hohen An-forderungen und die zeitliche Begrenzung zu Beginn eines Hilfe-prozesses schwer nachzukommen.So berichtet Frau B, sie habe sich vor ihrer Behandlung noch

nicht näher mit Formen der professionellen Unterstützung be-fasst. Demnach weiß sie nur sehr wenig über die typischen Ele-mente einer psychosozialen Intervention, ebenso wenig über ih-re Rechte als KlientIn. Sie zeigt sich sehr verwundert darüber, dass die Fachkraft Frau M schon nach kurzer Gesprächsdauer eine vermeintlich sorgfältige, klinisch-psychologische Diagnose stellen kann, führt dies aber zu Beginn auf ihre eigene Unkenntnis und nicht auf die mangelnde Kompetenz der psychosozialen Fachkraft zurück: „Außerdem wurden sehr ‚interessante’ Spontandiagnosen gestellt – nach der zweiten Sitzung wurde mir erklärt, ich hätte Borderline … Lässt sich ja auch prima so schnell ... diagnostizie-ren. Von dem Zeitpunkt an war es mir auch nicht mehr möglich, meine Therapeutin ernst zu nehmen.“Frau B ist mit Recht irritiert. Gerade in psychosozialen Arbeits-

feldern, in denen häu�g in interprofessioneller Kooperation kom-plexe Hilfeleistungsprozesse gestaltet werden müssen, sollten von Beginn an dialogisch ermittelte bio-psycho-soziale Krankheits- und Gesundheitskonzepte – und nicht rein expertokratische Zu-weisungen – zugrunde liegen. Nur so ist es möglich, das diag-nostische Geschehen für alle Beteiligten intersubjektiv nachvoll-ziehbar zu gestalten und Frau B’s aktuelle Situation angemessen auszuleuchten. Psychosoziale Forschung und Theoriebildung ha-ben dazu in den letzten beiden Jahrzehnten konzeptionell umfas-sende Beiträge geleistet, die in der Praxis jedoch bisher nur wenig Anwendung �nden (vgl. u. a. als Überblick Gahleitner u.a. 2013). Das hat unter anderem auch strukturelle Gründe.Zielsetzung ist eine „lebens-, subjekt- und situationsnahe Diag-

nostik, die die klassi�katorische Diagnostik und grundlegende As-pekte der Biogra�e und Lebenswelt zusammenträgt“ (Gahleitner u.a. 2009, S. 324). Voraussetzung für die Genehmigung der meis-ten Hilfen ist zunächst allerdings die klassische psychiatrische Di-agnostik. Diese Situation verführt dazu, Diagnostikprozesse auf dieses monodisziplinäre Geschehen zu reduzieren, wie es auch Frau B erlebt. Für eine sorgfältige Abklärung komplexer Proble-

matiken werden jedoch verschiedenste Informationen benötigt: sowohl zur Pathologie im medizinisch-psychologischen Sinne als auch zur Biogra�e sowie zur aktuell vorliegenden Lebenssituati-on. Neben der medizinisch-psychiatrischen Abklärung muss daher ausreichend Raum für biogra�sche Selbstbeschreibungen (Hanses 2002) sowie dialogische sozial- und lebensweltorientierte Abklä-rungen bleiben, um ein gelingendes „Diagnostisches Fallverste-hen“ (Heiner 2010) im interprofessionellen Gefüge möglich zu ma-chen (vgl. beispielhaft zum konkreten Vorgehen Gahleitner/Pauls 2013; für die Kinder- und Jugendhilfe Gahleitner 2011).

Partizipation gestaltenIn der Praxis psychotherapeutischer, beraterischer und ande-

rer psychosozialer Hilfeprozesse sind wir jedoch von einem sol-chen Vorgehen noch weit entfernt. Insbesondere die Relevanz von Selbstdeutungen bleibt in Hilfeprozessen, an denen das Gesund-heitswesen beteiligt ist, oftmals unberücksichtigt. Die Eingangs-phase muss daher – so auch die Ergebnisse des vorliegenden For-schungsprojekts – genügend Raum für Selbstreporte (Homfeldt/Kreid 2007) und Selbstdeutungen bieten. Die Dimension dialo-gischer und partizipativer Gestaltung der Eingangsphase geht je-doch in den administrativen Notwendigkeiten in der Eingangs-phase häu�g verloren. Frau B berichtet weiterhin von immer wieder vorkommenden

Änderungen in der Sitzungsdauer und Frequenz der statt�nden-den Sitzungen, die vonseiten der Fachkraft nicht oder nur unzu-reichend begründet werden. Ihre aufkommenden Zweifel über die Vorgehensweise spricht sie jedoch nicht an – aus Angst darü-ber, die Fachkraft würde die weitere Betreuung möglicherweise ablehnen oder ihr au�ehnendes Verhalten gar sanktionieren. Sie emp�ndet vor allem Scham und Unsicherheit über ihre derzeiti-ge Situation, die sich trotz der Unterstützungsmaßnahme nicht zum Besseren wendet. Der mangelnde Raum für Partizipation ist umso bedauerlicher,

da sich in Studien zur Qualität psychosozialer Versorgung die Komponente partizipativer Gestaltung als mächtiger Wirkfaktor erwiesen hat (vgl. u.a. Macsenaere u.a. 2012; Macsenaere/Esser 2012; Linden 2011). Auch in der vorliegenden Studie spielt diese Dimension in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Auch wenn in kei-ner Weise die Verantwortung für missglückte psychosoziale Hil-feprozesse auf die AdressatInnen übertragen werden soll, wird an den Ergebnissen deutlich, dass adäquate Fehler-Prävention in ein dialogisches Geschehen eingebettet sein muss.Auch ExpertInnen der Untersuchung betonen die Bedeutung

der Mitsprache von KlientInnen im Behandlungsprozess: „Und ich denk’ mir, es geht ja auch darum, sich immer wieder auf et-was zu einigen, so im Großen und Ganzen: Was ist überhaupt in unserem methodischen und settingmäßigen und versicherungs-technischen und sonstigen de�nierten Arbeitskontext möglich.“Mehr Bereitschaft zu kooperativen Interaktionen zwischen Hilfe-

suchenden und HilfeanbieterInnen ist also hilfreich (Duncan u.a. 2007). KlientInnen nicht nur zu ermutigen, ihre Wahrnehmun-

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gen zuzulassen und in den Hilfeprozess einzubringen, sondern tragfähige strukturelle Vorgaben und Möglichkeiten im Hilfepro-zess dafür zu scha�en und umzusetzen, ist zur Prävention nega-tiver Verläufe und zur Intervention in bereits schwierige Verläu-fe de�nitiv hilfreich. Partizipation und dialogisches Vorgehen er-weisen sich damit auch in der vorliegenden Studie als ein wichtiges Element der Qualitätssicherung in psychosozialen Hilfeprozessen.

Raum für BeziehungIn die Zeit der Anfangsphase fällt zudem der für den Hilfeprozess

elementar wichtige Aufbau einer tragfähigen professionellen Be-ziehung. An Studien zur Bedeutung der Qualität der Hilfebezie-hung in psychosozialen Hilfeprozessen besteht kein Mangel (Gra-we 1998; Orlinsky u.a. 1971; Überblick Hermer/Röhrle 2008; Überblick für die Kinder- und Jugendhilfe Gahleitner 2011). Die vorliegende Studie zeigt jedoch sowohl in den qualitativen als auch quantitativen Daten auf, dass gelingende Beziehungsgestaltung da-neben auch einen zentralen Schutzfaktor vor Hilfeabbrüchen dar-stellt. In der Untersuchung wird deutlich, dass eine konstruktive professionelle Beziehungsgestaltung, die eine authentische, dia-logische Begegnung möglich macht, nicht nur den Erfolg der psy-chosozialen Hilfeleistung erhöht, sondern sie nimmt auch Ein�uss darauf, inwiefern Fehler in der Interventionsgestaltung schädigen-des Potenzial entfalten (Leitner u.a. 2012).Nach den Untersuchungsergebnissen kann jedoch eine Viel-

zahl von Ebenen und Vertragspunkten den Rahmen eines Erstge-sprächs sprengen. Auch die professionelle Beziehungsgestaltung, die eine zentrale Fehlerquelle in professionellen, psychosozialen Interaktionen darstellt, kann unter diesen Strukturbedingungen leiden. So beschreibt ein Experte als wesentliche Anforderung, „diese Balance auch wirklich immer zu �nden, dass das funktio-nal für den Klienten oder für die Vereinbarung, die mit dem Kli-enten getro�en wird, dient und nur dem dient … und zugleich ... keine mechanistische und ‚autoreparaturwerkstattsmäßige’ Bezie-hung, sondern doch eine sehr persönliche.“Hier schließt sich der Kreis zur ersten Thematik – der Diag-

nostik. Nur eine umfassende fallverstehende Abklärung macht ein exaktes Anknüpfen an die Beziehungskonstellation der Klien-tInnen möglich. So betonen die ExpertInnen der Untersuchung, dass gerade die Anfangsphase ausreichend zeitlicher Ressourcen bedarf, um der Fachkraft einer Art „innere Klarheit“ in Bezug auf die Vorgeschichte der PatientInnen, auf eigene bewusste wie auch unbewusste Ziele, auf die Symptomatik, die vorläu�ge Dia-gnose und die Vertragsvereinbarungen zu ermöglichen. „Das war einfach im Erstgespräch nicht so sichtbar“, erzählt eine Expertin, „aber manchmal kann man schon einiges klären. … Und kriegst du hier überhaupt das, was du dir erwartest, oder z.B.: Ist irgend-was anderes indiziert?“ In der Praxis zeigt sich oftmals, dass die hohen Anforderungen an die Vertragserstellung sowie an psycho-soziale Fachkräfte und KlientInnen im Widerspruch zum zeitli-chen Rahmen und einer qualitativ hochwertigen Diagnostik ste-hen: „Das heißt, im Grunde genommen müsste ich einfach mir die

Zeit lassen – das kann man wahrscheinlich erst nach einigen Wo-chen oder Monaten beurteilen, ob das für den Betro�enen Sinn macht oder nicht.“ Besteht eine vertrauensvolle Beziehung, können Fehler i.d.R.

rechtzeitig besprochen, geklärt und abgefangen werden und dar-über sogar z.T. qualitätssteigernde Wirkung entfalten (Gahleitner u.a. i.Vorb). Für die psychosoziale Fachkraft entsteht jedoch auf-grund der vielen zentralen Aufgaben nicht selten eine Kon�iktsi-tuation zwischen dem knappen Zeitkontingent und einem ausrei-chend sorgfältigen Vorgehen.

FazitIn der Psychotherapieforschung gibt es erste Stimmen, wie be-

deutsam es ist, die Klärung der Risiken der Behandlung bereits zu Beginn jeder Therapie als Priorität zu betrachten, um dadurch Ri-siken vorzubeugen (Linden 2011). Auch gibt es eine bereits lang-jährige Re�exion der anamnestischen Gestaltung der Eingangs-phase, die jedoch in der praktischen Durchführung nur selten Umsetzung �ndet (vgl. z.B. Osten 2000). Dieses Bewusstsein be-steht im psychosozialen Hilfebereich erst ansatzweise. Die Emp-fehlungen aus Studien zu Risiken, Nebenwirkungen und Schä-den in der Psychotherapie wiederum münden in ein der Sozialen Arbeit sehr bekanntes und in Theorie wie Praxis viel bearbeite-tes Themenfeld – in eine wachsende Sensibilität gegenüber dem Thema Partizipation und gelingender professioneller Beziehungs-gestaltung.Beziehungsorientierung, Lebensweltorientierung, die Selbstver-

ständlichkeit von Selbstre�exion und die partizipativ orientier-te Grundhaltung quali�zieren psychosoziale Berufsgruppen da-her o�enbar in besonderer Weise zur Versorgung psychosozial schwer belasteter Menschen (Pauls 2004/2011). Denn psychoso-ziale Fachkräfte handeln stets vermittelt durch die eigene Person. Das bedeutet, die Realisierung der Professionalität ist „gebunden an das Medium der Interaktion und Kommunikation“ (Gildemeis-ter 1983, S. IX). Es bedarf daher einer andauernden „selbstre�e-

„INSBESONDERE DIE RELEVANZ

VON SELBSTDEUTUNGEN BLEIBT IN

HILFEPROZESSEN, AN DENEN DAS

GESUNDHEITSWESEN BETEILIGT IST,

OFTMALS UNBERÜCKSICHTIGT.“

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xiven“ Aneignung und Gestaltung der Berufsrolle, „sich als Han-delnder in diesem Spannungsfeld von Widersprüchen und Para-doxien als ‚sein eigenes Werkzeug’ zu erfahren, sich als solches ‚einzusetzen’“ (ebd., S. XI; vgl. aktuell dazu Hanses 2010).Dies gilt o�enbar vom ersten Moment an. Bereits im Erstge-

spräch müssen zentrale Fragen wie „Ist der/die KlientIn bei mir richtig aufgehoben?“ oder „In welcher Problem- und Ressourcen-lage be�ndet er/sie sich?“ mit re�ektiert werden, jedoch ohne in einen verkürzenden Aktionismus zu verfallen. Die dialogisch-kommunikativen Grundsteine für positive Hilfeverläufe können nach den vorliegenden Studienergebnissen oftmals schon bei der ersten Begegnung mit Hilfesuchenden gelegt werden. Diese dia-logische Grundstruktur sowie die Komplexität des diagnostischen Prozesses in psychosozialen Behandlungen erweisen sich bei der Suche nach Risiken und konkreten Fehlentwicklungen als zentra-le Faktoren. Es gilt daher, die grundlegende Bedeutsamkeit der Einstiegsphase als Chance zu begreifen die Komplexität der Pro-blematik im Dialog einzuschätzen und Diagnostik – und somit zugleich immer auch Intervention – qualitativ umfassend zu ge-stalten.

∑1. Die Quellstudie dieses Artikels wurde am Department für Psychotherapie und Biopsychoso-ziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems unter der Projektleitung von Anton Leit-ner, in Kooperation mit Michael Märtens, unter Mitarbeit von Claudia Höfner, Alexandra Koschier, Katharina Gerlich, Heidemarie Hinterwallner, Gregor Liegl, Gerhard Hintenber-ger und Brigitte Schigl durchgeführt (vgl. u. a. Leitner u.a. 2012). Forschungsbericht unter www.donau-uni.ac.at/psymed/forschung.

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