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Beitrag zur kenntnis und entstehung rhythmisch-iterierender hyperkinesen im verlaufe organischer gehirnerkrankungen

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Beitrag zur Kenntnis und Entstehung rhythmisch-iterierender Hyperkinesen im Verlaufe organischer Gehirnerkrankungen.

Von Prof. Dr. H. Zingerle.

(Aus der Nervenabteilung des Krankenhauses der Barmherzigen Briider in Graz.)

Mit 2 Textabbildungen.

(Eing~angen am 2. Juli 1925.)

Die encephalitisehen BewegungsstSrungen haben dutch ihren Formen- reichtum, ihre Beziehungen zu den Krankheitsstadien und zur Loka- lisation des Prozesses immer mehr klinisches Interesse erlangt. Die Singultusepidemien, die H~ufungen yon F~llen mit versehiedenartigen StSrungen der Atmung zeigten, da~ es sieh dabei nicht immer um krankhafte Neuprodukte handelt, sondern um wahrscheinliche Ent- hemmungen sehon bestehender Automatismen (Stern, Spatz u.a.). Ein besonders interessanter neuer Gesichtspunkt ergab sieh, als Gamper und Untersteiner unter den komplexen postencephalitischen Hyper- kinesen eine Form beschrieben, welche Beziehungen zum oralen Ein- stellungsreflex des S~uglings aufwies und mSglicherweise als Wieder- aufleben desselben beim Erwachsenen anzusprechen war. Diese Be- obachtung bildet ein neues Glied in der Kette der vielen eigenartigen Symptome dieses so vielgestaltigen Krankheitsbildes. Ein derartiges Neuerwachen eines friihkindlichen, sp~ter wieder ausgeschalteten Re- flexes ist yon allgemeiner Bedeutung ffir das Verst~ndnis der Vor- g~nge im kranken Gehirne und fiir latente FunktionsmSglichkeiten im Gehirne iiberhaupt. Es gestattet au~erdem, derartige Mechanismen auch beim Erwachsenen zu studieren, wie es auch schon gelungen ist, beim postencephalitischen Parklnson-Syndrom die Magnussehen ttal- tungs- und Stellreflexe in besonders sehSner Weise zur Darstellung zu bringen (Zingerle).

Wenn die G.-U.-Beobaehtung richtig ist, muB erwartet werden, da/~ sie nicht vereinzelt bleibt, und dab sich in den Hyperkinesen der Encephalitiker 5fters sehon physiologiseh vorgebildete Bewegungs- automatismen werden nachweisen lassen. Dies scheint mir in iiber- zeugender Weise im nachfolgenden Falle zuzutreffen, dessen kom- plexe Hyperkinese erst unter diesem Gesichtspunkte verst~ndlieh wurde.

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It. Zingerle : Kenntnis u. Entstehung rhythmisch-iterierender tIyperkinesen. 19

E. Johann, 17 Jahre alt, katholisch. Arbeiterssohn aus Obersteiermark, erb- lich nicht belastet, abgesehen von Masern und voriibergehenden Kri~mpfen in der ersten Kindheit immer gesund und normal entwickelt. ImFebruar 1919 erkrankte er an Grippe mit hohem Fieber, starken Kopf- und Genickschmerzen, Erbrechen, Schwindel und Nierenentziindung. Er war 4 Wochen bettl~gerig und Monate hindurch sehr gesehwi~cht. An]ang 1921 begann ein allm~thlich sich verstiirkendes Zittern in der rechten Hand, das nach einem Jahr auch auf die linke Hand iiber- griff. Dabei bestand auch allgcmeine Unruhe und manchmal ni~chtliche Verwirrt- heit. Zunehmende Mattigkeit und Ermiidbarkeit beim Gehen: Seit 2 Jahren er- schwertes Sprechen, Offenhalten des Mundes; zeitweise Bliclcablenkung nach oben mit krampfhaftem Zurfickneigen des Kopfcs, die 1/2--1 Stunde bei vollem Bewul~t- sein andauert. K6rperlich ist der Kranke mager, schw~chlich; Sinnesorgane frei, Augenbewegungen nicht gestSrt, erh6hte mechanische Erregbarkeit der Mund- muskulatur, schla//e Mimik; der Mund ist meist etwas geSffnet. Linksseitige Facialisparese, fibrill~res Zittern der Zunge, deren Rander etwas gerunzelt sind. Sprache wenig klangvoll; Spannungszustand in der Hals- und Nac]cenmuskulatur etwas erh6ht; leicht erhShter Widerstand bei Passivbewegungen des Kopfes, etwas vermehrter SpeichelfluB. Hochgradiger Schiitteltremor beider Ar~ne: rechts starker als links und bei Intentionsbewegungen sieh etwas verst~rkend. Das Zittern kann willkfirlich nur kurze Zeit durch festes Anpressen der Arme auf die Unterlage unterdrfickt werden, mildert sich etwas beim Heben einer schweren Last und beim Laufen. Es schwankt an St~rke an verschiedenen Tagen. An den oberen Extremit~tten ist der Muskeltonus nicht deutlich erhSht. Triceps- und Grund- gelenksreflexe beiderseits eher abgeschw~cht. Rascher Wechsel gegensatzlicher Bewegungen ist mSglich, auch mit dem Kopfe. Die Willkfirbewegungen geschehen trotz des Zitterns rasch und geschickt. Beschleunigter Atemtypus. Bauch- und Cremasterreflexe ausl6sbar. Bauchdecken gleichm~Big gespannt. M~Bige Er- h6hung des Muskeltonus an den Beinen. Kniesehnenreflexe lebhaft, FuBsohlen- reflexe plantar, yon normaler St~rke. Alle Willkiirbewegungen der Beine und des Rumpfes frei, rasche und geschickte Turnbewegungen; Gang nicht verlangsamt. Deutliche Verarmung an unwillkiirlichen Mitbewegungen bei allen Gemeinschafts- bewegungen. Es fehlen aber nicht alle Mitbewegungen. Bei Blickwendung folgt der Kopf, bei Hitndedruck spannt sich die gesamte Armmuskulatur an, beim Heben eines Beines in der horizontalen Riickenlage gegen Widerstand prel~t sich das andere Bein fest gegen die Unterlage an. Beim freien Sitzen neigt sich der K6rper etwas nach links, auch beim Stehen und Gehen hiingt der K6rper naeh links. Kein Schwanken bei AugenschluB. Im linken Arme Neigung zu Zwangshaltung in der Form, dab die Hand gebeugt und die Finger in PfStchenstellung gehalten werden. Keine Empfindungsst0rung. Deutlich gesteigerte Automatose: Nach passiven Kopfdrehungen - - in Rfickenlage mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Armen - - gleichsinnige Ablenkung der Arme, KSrpcrdrehung bis in die Bauch- lage, mit starker ~berdrehung des Kopfes. Die KSrperdrehung l~uft auch dann ab, wenn nach der passiven Kopfdrehung jede Berfihrung aufhSrt. Durch die Kopfdrehungen kann man gleichsinnige Rollungen des KSrpers um seine Langs- achse auslSsen; in sitzender Stellung folgen Arme und Rumpf ebenfalls den passiven Kopfdrehungen, der Kopf und Rumpf den passiven Armbewegungen. In geistiger Hinsicht zeigt der Kranke keine Abnahme seines Intellekts, jedoch ein eigenartiges Benchmen. Er ist mit seiner Umgebung stimdig in Konflikt, ftihlt sich beein- tri~chtigt, ist selbst gegen dieselbe rficksichtslos. Subjektiv klagt er fiber seinen Zustand, besonders fiber das Zittern und die Schw~ichegefiihle im Naeken.

AuBer den bisher geschilderten Symptomen besteht - - nach seiner

Angabe schon seit 2 J ah ren - - eine /ortwdhrende Bewegungsunruhe

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im Bereiche der Mund- und Zungenmuskulatur, die folgendermal~en abli~uft. Bei halbgeOffnetem Munde macht der Unterkiefer ab- wechselnde 0ffnungs- und Sehliel3bewegungen dureh Heben und Senken. Bei jedem Heben streckt sich die Zunge unter gleichzeitiger W61bung und Rollung durch Heben der Seitenr/~nder etwas nach vorne, mit der Spitze zwischen die Zahnreihen. Gleichzeitig sieht man ein leichtes Zusammenziehen der Lippenmuskulatur. Nach 5--6 solcher Kieferbewegungen kommt es zu einer sti~rkeren Kontraktion der Lippen- muskeln. Die Unterlippe wird naeh einwi~rts gezogen, die Zunge einen Moment sti~rker vorgestreckt, dann gegen den harten Gaumen gedrfickt, worauf sich der Mund -- manchmal mit einem schmatzenden Ger/~usche und einer tieferen Inspiration -- schlieBt, worauf der ganze Vorgang mit einer Sehluckbewegung zum Absehlusse gebracht wird. Dann wieder- holt sich der Bewegungsablauf nach einer Pause yon wenigen Sekunden yon neuem in derselben Weise. Subjektiv hat der Kranke dabei das Geffihl, dal~ ihm ,,die Zunge zu lang sei". Die Speichelabsonderung ist

w~hrend der Bewegungen nicht sti~r- ker als sonst. Begleitende Mitbe- wegungen von seiten der Augen, der Arme oder des Rumpfes fehlen. Die Bewegungen sind in der vollkom-

Abb. 1. menen Ruhe, besonders bei Augen- schlu6 am st~rksten, stSren das Spre-

chen und nach Angabe des Kranken aueh das Kauen, so da6 ihm dabei die Speisen wieder aus dem Munde fallen. Sie sind etwas gemildert bei geistiger Ablenkung in horizontaler Riickenlage, bei starker seitlieher Kopfdrehung und besonders bei starker Beugung des Kopfes sowie beim starken aktiven Vorstrecken der Zunge, bei schmerzhaftem Druck auf die Masseteren und hOren auf beim Pfeifen. Sonstige Schmerzreize und aktive K6rperbewegungen haben keinen hemmenden Einfluf3. Eine willktirliche Unterdriickung durch festes Zusammenpressen der Kiefer und Lippen ist h6chstens durch 10 Sekunden mSglich, wobei der Kranke ein Schmerz- geffihl in beiden Wangen spiirt. Dann treten die Bewegungen trotz aller Gegenanstrengungen sich allm~hlich verst~rkend wieder hervor. Der Bewegungsablauf in der geschilderten Weise ist ein fortdauernder, aul~er im Schlafe. Schwankungen im AusmaSe der Bewegungen konnten wiederholt beobachtet werden, und zwar in Verbindung mit zeitweisen Verschlechterungen des Gesamtzustandes des Kranken mit Zunahme des Zitterns und allgemeiner Schwi~che. Dabei hiingt der Unterkiefer fast ganz passiv herunter, so dal~ der Mund weir offen steht. Die Zungen- und Kieferbewegungen sind dabei ganz flaeh, die Bewegungsphasen aber trotzdem noeh deutlich erkennbar. In diesen Zust~nden dauert aber die Ruhepause nach der Sehluckbewegung viel l~nger und sieht

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man aueh den offenen Mund mi~ fief herabh~ngendem Kiefer und ruhig am Mundh6hlenboden liegender Zunge. Eine l~nger als 1 Minute dauernde Pause konnte abet aueh in diesen Schw~chezust~nden nicht beobachtet werden. Nach ihrem Abklingen stellte sich der Bewegungs- ablauf in der friiheren St~rke jedesmal wieder her. Bei diesen Schwaehe- zust~nden klagte der Kranke 6fters auch dartiber, da$ er den Kopf nieht halten k6nne, und dal3 ibm die Augen zufallen. Man konnte auch objektiv das Naehvornesinken des Kopfes beira Stehen und Sitzen beobachten. Diese Verschlechterungen schlossen sich 2mal an eine R6ntgenbestrahlung an, wurden abet sonst regelm~$ig eingeleitet durch die schon in der Anaranese erw~hnten Anf~lle rait Blickablen- kung. Diese ~ul~erten sich bei wiederholten Beobachtungen folgender- raaSen: Am 7. V. Beginn eines Anfalles, der yon 2--7 Uhr abends an- dauert. Der Kranke liegt auf dem Bauehe, den Kopf naeh links ge- dreht und nach hinten geneigt. Der Mund ist ge6ffnet, vermehrter Speiehelflul3, Dorsalflexions-Stellung der linken grol3en Zehe. Bliek naeh rechts oben abgelenkt. Der Kranke kann fiber Verlangen die Bliekriehtung auf kurze Zeit ~ndern, nach abwarts blicken, riehtet aber den Blick sofort unter stark zuckenden Bewegungen wieder nach oben. Naekenmuskulatur stark gespannt, Liehtseheu, Pupillen rea- gieren tr/~ge, sind erweitert. Die Mund6ffnung ist eine krampfhafte, der Mund kann passiv nur gegen Widerstand geschlossen werden. An den Armen starkes Schfittelzittern und erh6hter Muskelkrampf; mit der linken Hand schlechteres Greifen als sonst, mit grobem Intentions- tremor, die Finger dieser Hand stehen in Pf6tchenstellung, der Arm ist steif an den Leib gedrfickt. Beim Gehen verstarkt sich die Muskel- spannung, Taumeln nach links. Zeitweises Aufseufzen. Puls besehleunigt. Es ist unm6glich, den Kopf passiv vollkommen nach vorne zu biegen. Im 1. Beine verst~rkfer Spasmus, 1. Babinski. Der Kranke klagt dabei fiber Schmerzen in den Augen und ira Riieken. Die AnfMle verliefen immer in derselben Weise. Der Kranke liegt dabei mit Vorliebe auf dem Bauche. Bei Blickbewegungen schnellen die Augen sofort naeh reehts oben zurfick. Naeh einiger Zeit trat 6fters ein krampfhaftes Zucken der Augenlider ein, das dutch 15 Minuten andauerte. Der Kopf wird stets krarapfhaft nach rfickw~rts geneigt und kann nut sehwer und unter Schmerzen nach vorne gebracht werden. Eingeleitet werden die AnfMle durch Kopfsehmerz und st/~rkeres Zittern. Der Unterkiefer hangt herab, die autoraatisehen Zungen- und Lippenbewegungen h6ren auf, fibrillate Zuckungen der Augenlider; allgemeiner Eindruck der Sehw~iche, die den Patienten bef~llt. Nach einer halbeu Stunde kommt es dann zur Augen- ablenkung, die oft rait feinen nystagmusartigen Zuckungen verbunden ist. Starke Druckempfiudliehkeit der N. supraorbitales. Das Bewugt- sein ist erhalten, nur zeigt der Kranke ausgesprochene Apathie.

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Die Anfalle traten auch mehrmals in der Woche auf und ffihrten immer zu einer Allgemeinversehlechterung und deutlicher Zunahme des Zitterns.

Besprechung. Es handelt sich somit um einen typischen Fall rail postencepha-

litischem Parkinson-Syndrom, das sich wie so haufig verhaltnismal3ig spat nach der akuten Erkrankung entwickelt hat und langsam fort- schreitend mit zeitweisen Sehwankungen verlauft. Das Krankheits- bild bietet auch dadurch nichts UngewShnliches, dab die Muskelspan- nungserh6hung gegen das Zittern zurficktritt, keine alle Muskelgebiete gleichmaf3ig betreffende ist, und dal~ trotz der Verarmung an Mitbewe- gungen die aktive Beweglichkeit und Geschicklichkeit noch eine recht gute ist. Es fehlt auch noch jedes Zeiehen von Adiadoehokinese. Bemerkenswert ist ferner, dal3 trotz der typischen Haltungsanderung des KOrpers und des ~berh~ngens der linken K6rperh~lfte keine Gleich- gewichtsstOrungen bestehen, ein neuerlicher Beweis, dal3 diese keine sekundare Folge etwaiger Haltungsanderungen des K6rpers sind. Hin- gewiesen sei noch auf die affektive psychische Veranderung ohne star- kere lntelligenzstSrung, auf die von uns bei dieser Erkrankung wieder- holt festgestellte erleichterte Ausliisbarkeit yon Magnusschen Hal- tungs- und Stellreflexen (gesteigerte Automatose), sowie auf die eigen- artigen tonischen Krampfanfalle mit stundenlanger Blickablenkung nach oben und Streckung des Kopfes, die wir in ganz gleieher Weise auch in einem anderen Falle von postencephalitischem Parkinson beobachten konnten. Derartige Anfalle mit vertikalem (aueh seit- lichem) Blickkrampf sind zum ersten Male von B. Fischer beschrieben women, der auch das gleiche Verhalten bei dem Fixationsversuche wahrend der Anfalle beobachtete, wie es unser Fall zeigt. Liel3 er den Kranken mit maximalem Blickkrampf ein breiteres Objekt fixieren, und kamen die Bulbi beim Folgen der Objektbewegung in die Mittel- stellung, blieben sie nur wenige Sekunden in der normalen Stellung, um allmi~hlich mit klonischen, nach aufwarts gerichteten Zuckungen und gleichzeitigen ruckartigen Bewegungen des Kopfes nach hinten wieder in die extreme Schielstellung zu gelangen. Wichtig ist die wei- tere Beobachtung Fischers, daI~ diese Anfalle sonstige Bewegungser- scheinungen mit einem Schlage zum Schwinden brachten, die nach dem Anfalle aber wieder hervortraten -- genau so h6rten in unserem Falle am Beginne die Lippen-Zungenbewegungen auf. Weitere Angaben fiber solche Anfalle machten Redlich, Meyer und Leroy, der Anfalle in der Dauer bis zu 24 Stunden beobachtete, sowie Stertz, der besonders auch die Verbindung yon Augenabweichung mit Kopfrfickw/~rtsnei- gung und das sofortige Rfickkehren der Bulbi in die Zwangsstellung nach Fixation eines Objektes hervorhebt. Er sah auch wie Meyer eine

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Blickablenkung nach unten sowie das Auftreten mehrerer Anf~lle am Tage und erw~hnt auch, dal~ sein 2. Fall sich w/~hrend der Anf~lle hinlegen mul~te. Meyer beobachtete die Verst~rkung des Zitterns der Extremit~ten w~hrend des Anfalles, das auch unser Fall zeigte. Bei aller Ubereinstimmung, die unser Fall mit diesen Schilderungen auf- wcist, geht aus ihm deutlich hervor, daf3 es sich bei diesen Anf~llen nicht einfach um eine tonische Ablenkung der Bulbi handelt, sondern um einen komplexeren Vorgang, von dem die krankha[te Blickbewegung nut einen Tell bildet. In unserem Falle gliedert sich der Anfall in eine deutliche Aura mit Kopfschmerzen, Zittern, Herabsinken des Unter- kiefers und allgemeincr Schw~che in der Dauer einer halben Stunde. Der Anfall selbst zeigt neben der Blickablenkung eine Reihe anderer Symptome, halbseitiges Zunehmea des Zitterns, tonischen Muskel- krampf besonders an den linksseitigen Extremit~ten, Erweiterung und tr~ge Rcaktion der PupiUen, Nystagmus, linksseitigen Babinski, Taumcln beim Gehen, AufhSren der rhythmischen automatischen Mund- bewegungen und Pulsbeschlcunigung -- alles Symptome, die eine allge- racine Beteiligung des KSrpers erweisen. Besonders ausgepr~gt ist das 3. Stadium, das sich durch Zust~nde schwerer Ersch6pfung kcnn- zeichnet. Dabei sind sowohl die Parkinson-Symptome im ganzen verschlechtert, als auch zeigt sich eine allgemeine kSrperliche Er. mattung und Schw~che, besonders im Zungen-Mundbereiche. Der Masseterentonus ist auf Tagc vermindert. Die KSrperbewegungen er- folgen langsamer als sonst. Diesc Ersch6pfung und das verst~rkte Zittern dauerte oft mehrere Tagc. Dieser Gesamtverlauf -- Aura, Entwicklung des Anfalles bis zum H6hcstadium, ErschSpfung --, die lange Daucr der Anf/~lle und ihr Auftretcn in unrcgelm~13igen Zwischen- r~umen zeigt somit eine Analogie mit dem Verlaufe epileptischer Krampf- anf/~lle und 1/il~t erkennen, dal~ dabei mehr vor sich geht als eine tonische Erregung begrenzter Bewegungszentren. Wir wisscn, da~ die cortical entstehenden Krampfanf~lle cinch besonderen Typus dar- stellen, ebenso wie auch die Anf/~lle bci Kleinhirnerkrankungen. Es ist naheliegend, anzunehmen, dal~ die bei Encephalitikern beobachtcten Anf~lle mit ihrer Glicderung in Reiz- und Ersch6pfungszustande, dem tonischen Charaktcr der Kr~mpfe, dcr vorwiegenden Betciligung der motorischen Hirnnerven einen komplexcn Kramp/typus des Hirn- stammes darstellen.

Das besonders interessierende Symptom unseres Falles bildet die eigenartige Hyperkinese, welche gekennzeichnet ist 1. durch die Be- tciligung bestimmter Muskeln im Mundbereiche (Kiefer-, Zungen-, Lippen-Schlingmuskulatur), durch eine Kombination yon Einzelbe- wegungen; 2. durch cinch stets gleichen Ablauf dieser Bewegungen in typischer Anordnung und phasischer Aufeinanderfolgc und 3. durch

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die sti~ndige Wiederholung seit nun 2 Jahren. Durch ihre zeitliehe Anordnung und die GleichmiiBigkeit des Tempos kann sie wohl auch im Sinne Bostr6ms als eine rhythmische bezeiehnet werden. Wesentlich ist die Unfiihigkeit, den Bewegungsablauf durch willkiirliche Anstren- gungen auf l~ngere Zeit zu hemmen, sowie die verhiiltnism~$ig geringe Beeinflul~barkeit durch aktive und passive Bewegungen des Kopfes und der Extremit~ten sowie dureh sensorische Reize, aul~er durch die Anf~lle mit Augenablenkung. Bemerkenswert ist aueh der st6rende Einflul~ der Hyperkinese auf das Spreehen und Kauen, das Fehlen anderer unwillkiirlieher, choreatiseher, athetotischer oder myokloner Bewegungen sowie die strenge Beschr~nkung der tIyperkinese auf bestimmte Muskelgebiete. Sie verl~uft anders als in den F~llen yon Vasilio, welche intermittierende spastisehe Krgmpfe der Zunge (deren Spitze naeh hinten gebogen wurde) zusammen mit Kontraktionen der Kau- und Kehlkopfmuskeln zeigten. Die Bewegung ist komplexer als in dem Falle von Marie und Levy (zitiert nach Bing), wo sic sieh auf ein rhythmisehes Vorstrecken der Zunge besehri~nkte, ist aber viel begrenzter als im Falle von Gamper-Untersteiner, bei dem neben den oralen Muskeln auch noch der Kopf, die Wirbels~ule und der Oberarm beteiligr waren. In den F~llen yon Reimold handelte es sich um einen Klonus in den Hebern des Kehlkopfes und des Zungengrundes mit gleich- zeitigem Heben und Senken des hinteren Zungenabschnittes, fibrill~ren Zuckungen im vorderen Abschnitte. Mit dem Gamper-Untersteinerschen Falle hat die BewegungsstSrung das eine gemeinsam, dal~ sie nicht ein Zusammenspiel yon Muskelinnervationen darstellt, wie sie etwa durch eine zuf~llige Reizung verschiedener benachbarter motorischer Kerne zustande kommen kSnnte, wie es z. B. im 1. Falle Bostr6ms der Fall war, in welchem die zwecklose Bewegungskombination benach- barte Muskelgebiete betraf. Es sind r~umlich auseinanderliegende Kerngebiete beteiligt -- Facialis und Hypoglossus--, whhrend das dem Facialiskern benachbarte Abducenskerngebiet vollkommen freige- blieben ist. Selbst yore N. facialis ist nur ein Teil, die engere Lippen- muskulatur, beteiligt, die fibrige Gesichtsmuskulatur ganz ruhig. Mit einer einfachen Reizung l~l~t sich auch nicht die Aufeinanderfolge der Muskelinnervation, das Fortschreiten yon einem Gebiete auf das andere, erkl~ren, das eine zweckm~Bige Bewegungsanordnung verr~t. Die BewegungsauslSsung yon 5rtlich auseinanderliegenden motorischen Gebieten, unter Freilassung dazwischenliegender ist kennzeichnend fiir Automatismen, welche eine Reihe von Bewegungen ffir eine be- stimmte Funktion zusammenfassen, z. B. beim G~hnen, Niesen, Husten, beim oralen Einstellungsreflexe des Kindes.

Faint man die Aufeinanderfolge der Bewegungen n~her ins Auge, so zeigen sich deutlich 2 Phasen. Die 1. besteht aus Heben und Senken

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des Unterkiefers, rhythmischen Zungenbewegungen, die zwischen den Lippen vorgestreckt und zuriickgezogen wird, in denen selbst Muskel- anspannungen sichtbar sind. In der 2. Phase kommt es zum festen Aufeinanderpressen der Lippen und zu einer Schluckbewegung, die durch- aus nicht durch eine besondere Speichelansammlung veranla8t wird. Der Bewegungsablauf zeigt somit eine weitgehende Ubereinstimmung mit dem physiologischen Saugautomatismus, der durch das Vorstreeken der Zunge und Kieferbewegungen gekennzeichnet ist. Kussmaul 1) beschreibt den Saugakt folgendermai3en (S. 16): Wenn das Kind zuerst zu saugen versucht, so drfickt es die Warze nicht selbst zwisehen seinen Lippen zusammen, sondern nimmt die ganze Warze in den Mund, prel~t sie zwischen dem Zahnfleisch zusammen, indem es so an der Warze gleichsam kaut, driickt es die Milch hervor. Es handelt sich in unserem Falle demnach wohl mit grSi~ter Wahrseheinlichkeit im wesentliehen um ein Wiederau/leben eines physiologisch vorgebildeten Automatismus der ersten Kindheit, wie bei Gamper-Untersteiner, dureh den encepha- litischen Prozel3, wobei es unwesentlich ist, dal3 der Automatismus nicht in voller St~rke und mit demselben Kraftaufwande abliiuft wie bei S~uglingen. Es ist bemerkenswert, daI3 es sieh in unserem, als auch im G.-U.-Falle um das Wiederaufleben so alter und festgefiigter, mit der Nahrungsaufnahme und Selbsterhaltung eng verbundener Automatismen handelt. Der orale Einstellungsmeehanismus und der Saugreflex sind eigentlich nur Phasen eines zusammenh~ngenden Automatismus, kSnnen aber in pathologischen Fi~llen selbsti~ndig in Erscheinung treten. Beim normalen S~ugling werden diese Reflexe durch ~uSere Reize ausgel5st. In den beiden KrankheitsfiiUen laufen sie dagegen -- und darin liegt ein wesentlicher Unterschied -- spontan ab, also zwecklos ~nd sind durch dem S~ugling adi~quate Reize nieht auslSsbar. In unserem Fallc l~St sieh der Saugreflex durch Beriihrung der Lippen nicht erzielen, ebensowenig wie G.-U. den oralen Einstel- lungsreflex durch direkte Reizung ausl6sen konnten. Nicht nur darin liegt schon ein Hinweis auf die AuslSsung der Bewegung durch einen ungew6hnlichen, krankhaften Vorgang, sondern auch in dem weiteren Umstande, dab der Ablau[ ein /ortwdhrender ist. Eine Hemmung er- folgt nur durch ~u]ere Reize oder andere Bewegungen, wie dies auch bei anderen Hyperkinesen nach Encephalitis beobaehtet wurde. Rei- mold erw~hnt Sistieren von Zuckungen bei Bewegungsintentionen und Druck, Stern voriibergehendes Schwinden von rhythmischen Finger- bewegungen beim Schreibversuche und kr~ftigem Faustschlusse.

Es fragt sich nun: 1. Wie ]commtes i~berhaupt zur Ausl6sung dieser Automatismen in diesen Fdllen, und 2. Worin ist der rhythmische oder

1) Kussmaul hat auch den oralen Einstellungsrcflex der S~uglinge, S. 96, ganz genau beschrieben.

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iterierende Ablau/ begri~ndet? Handelt es sich um eine einfache Ent- hemmung kindlicher Reflexe, die vielleieht durch einen bestehenden Reizzustand weiterhin zu einer fortwahrenden Wiederholung gebracht werden ? Eine derartige naheliegende Annahme ist sowohl yon Bo. str6m ffir posteneephal, unwillkiirliche Bewegungen im allgemeinen als auch yon Gamper.Untersteiner abgelehnt worden; Bostr6m halt es ffir unmSglich, derartige komplizierte Bewegungen lediglich als Aus- flul~ einer Enthemmung aufzufassen. Sie sind naeh seiner Ansicht nicht erklarbar dureh das Resultat einer Regulationsst(irung oder einer aufgehobenen Ziigelung. Bei der langen Dauer der StSrung seien auch Reizerseheinungen nicht sehr wahrseheinlieh, worin ihm auch Reimold beistimmt. Man gewinne den Eindruck, als miiI~ten infolge einer falsehen Weichenstellung alle motorischen Impulse, die der be- troffenen KSrperstelle zugehen, in bestimmte Bahnen gelangen. In ahnlichem Gedankengange kommen Gamper-Untersteiner zur An- schauung, dal~ durch SchaltungsstSrungen im Neostriatum immer wieder ein und dieselbe Schablone anspreche, in der ein phylogenetisch und ontogenetisch alter Bewegungskomplex reprasentiert erscheint. Das Wesentliche ist nach diesen Autoren eine LeitungsstSrung, dutch welche alle Impulse in eine bestimmte Richtung geleitet werden, wobei freilich Gamper- Untersteiner auch ein Wiederaufleben aller Automatismen annehmen mfissen. Gegen diese Anschauung sprechen in vorliegendem Falle aber die tatsachlichen VerhMtnisse. Die automatischen Bewegungen laufen auch ohne Innervation ab. Unser Kranker kann mit der Zungen- Mundmuskulatur, also mit dem betroffenen Gebiete alle angeforderten Willkfirbewegungen ausffihren und hemmt sogar die Intention (z. B. das Pfeifen), bis zu einem gewissen Grade die unwillkiirlichen Bewe- gungen. Von einem gewohnheitsmal~igen Entgleisdn der Impulse in immer gleiche Bahnen kann nicht die Rede sein; ebensowenig wie auch rhythmische myoklonische Bewegungen darauf zurfickgeffihrt werden k0nnen, weft sie die beabsichtigten Bewegungen nicht unmSglich machen und sogar bei Intention, wie Reimold hervorhebt, aufhSren kSnnen.

Ffir unseren Fall ist zun~chst das Wiederauflebea und Freiwerden eines ontogenetisch erloschenen Automatismus nicht anders zu deuten als durch eine RegulationsstSrung, eine Enthemmung, ~hnlich wie sie etwa beim Wiederauftreten des Babins]cischen Zehenphanomens wirksam ist. Dal~ dieser Vorgang im Gefolge yon Encephalitis nichts UngewShnliches ist, zeigt die yon Janichewslci beobachtete Wieder- kehr des in den 1. Lebenswochen auslSsbaren Greifreflexes (Schlu~ der Hande bei Berfihrung der Volarflache), die er auf die funktionelle LoslSsung des Mesenceph. yon der Groi~hirnrinde bezieht. Desgleichen ftihrt Stern die ttyperpnSe nach Encephalitis auf Enthemmung der

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autonomen Atemmechanismen in Med. oblongata durch Liision supra- nuclearer Bahnen und supranuclearer Regulationsmechanismen zuriick.

Es handelt sich bei Gamper-Untersteiner und in unserem Falle um das Freiwerden einmal t~tig gewesener Automatismen, bei denen das Zusammenarbeiten bestimmter Muskelgruppen schon vorgebildet ist, yon Automatismen, die sparer unter dem zunehmenden corticalen Einflusse nicht mehr ben6tigt und gehemmt werden. Um das Wieder- auftreten eines solchen Automatismus zu erkl~iren, bedarf es wohl nicht komplizierter Annahmen yon Schaltungsst6rungen im Neostriatum. Diese frfiht~tig gewesenen Bewegungskomplexe werden ja durch den corticalen Einflui~ nicht vollstiindig ausgel6scht, sondern bleiben nur latent und k6nnen aus dieser Latenz durch corticale Enthemmung jederzeit wieder geweckt werden.

Diese Enthemmung ist die Grundlage, die das Auftreten z. B. der Greifreflexes bei entsprechender Ausl6sung gew~hrleistet. In unserem Falle und in dem von Gamper-Untersteiner ist aber das Kernproblem der spontane und rhythmisch-iterierende Ablauf der Automatismen ohne erkennbare Impulse. Man k6nnte daran denken, dab dieser in Einwirkungen krankhafter Stoffwechselvorg~nge auf die Zellen der in Betracht kommenden Zentren begriindet sei -- eine Annahme, fiir welche wir aber zun~chst keine sicheren Grundlagen haben, und die gewil~ dureh die jahrelange, sieh nicht ersch6pfende Dauer dieser Be- wegungsabliiufe nicht wahrscheinlich wird. Was ist es nun, was diese Bewegungen sti~ndig in Gang hi~lt und nicht ohne weiteres durch einen krankhaften Reizvorgang erkl~rlich ist? In den automatischen post- encephalitischen Hyperkinesen steckt nicht nur daa Problem der Wieder- erweckung alter Automatismen, sondern auch das der Rhythmik. Die Rhythmik ist eine Grundeigenschaft alles Lebendigen und kommt am sti~rksten zum Ausdrucke im Rhythmus zwischen Assimilation und Dissimilation, der Periodizit~t der Menstruation, des Schlaf- und Wachzustandes, in der rhythmisehen T~tigkeit des Herzens und der Atmung. Nach Bechlerew bietet die T~tigkeit der Nervenzentren im allgemeinen einen rhythmischen Charakter dar und entwickelt sich der Erregungsrhythmus derselben auf Grund eines eigentiimlichen Ti~tig- keitszustandes der Zellbestandteile der Nervenzentren. Aueh nach Verworn sind wahrscheinlich alle nerv6sen Entladungsimpulse von rhythmisch intermittierendem Charakter und die Zentren des Nerven- systems Sitz rhythmischer Erregungsvorgi~nge. Der rhythmische Cha- rakter der Entladungen ist nur zum Teil bedingt durch den Rhythmus der ~uBeren Reize, sondern auch durch im Inneren der lebendigen Systems selbst gelegene Faktoren. Es gibt eine endokrine Rhythmik, die lediglich dureh innere Faktoren, durch innere Eigenschaften der lebendigen Substanz bedingt ist. Beim Strychninfrosch z.B. beant-

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wortet das Rtickenmark selbst den momentanen Reiz mit einer lang- dauernden rhythmischen Reaktion. In jiingster Zeit hat besonders Leyser sich mit dem Problem der Iteration besch~ftigt und darauf hingewiesen, dab diesem Symptom ein elementares Prinzip, eine fiir jeden nervSsen Vorgang natiirliche Neigung zu rhythmischer Wiederholung zugrunde liegt, und dab das Auftreten iterativer Funktionen auf motorischem Gebiete von bestimmten Ausfi~llen und Einstellungen anderer psy- chophysischer Apparate abhi~ngig sei. Es hatte ffiiher schon L6wi darauf hingewiesen, dab automatische Funktionen, die durch hShere Gehirnteile gehemmt und infolgedessen zurfickgebildet waren, sich wiederherstellen und weiterentwickeln kSnnen. Es ist tats~chlich bekannt, dal~ unter abnormen Bedingungen rhythmische Funktionen freiwerden, dab z.B. Skelettmuskeln der Wirbeltiere unter krank- haften Verh~iltnissen sich rhythmisch kontrahieren (Bethe), dab in der Narkose an den Hinterbeinen und Flfigeln der Tauben spontane rhyth- mische Bewegungen hervortreten (Baglioni), und dab es auch beim Menschen mSglich ist, durch vestibuli~re Reizungen bis zu einer halben Stunde dauernde rhythmische KSrperbewegungen auszulOsen (Wodak und Fischer). Ganz besonders haben die bisherigen Erfahrungen bei Ence- phalitis gelehrt, dal~ im Verlaufe dieser Erkrankung StSrungen rhyth- mischer Lebens~iuBerungen nicht selten sind -- StSrungen der Men- struation, des Schlaf-Wachzustandes, StSrungen des Atmungsrhythmus. Alle diese Oberlegungen und Tatsachen ftihren zu der Annahme, dab es sich bei den fortdauernden Wiederholungen unwillkiirlicher Bewegungen um das Freiwerden einer pr~i/ormierten Rhythmik handelt. Die Enthemmung der alten Automatismen bringt gleichzeitig auch die ontogenetisch und phylogenetisch noch tiefer wurzelnde Neigung zu rhythmischer Wieder- holung an die Oberfl~che, wobei wahrscheinlich eine Empfindlichkeits- steigerung durch die Isolierung im Sinne von L6wi eine Rolle spielt.

Derselbe Vorgang gilt wohi auch fiir mannigfache andere rhythmisch- iterative Hyperkinesen, die im Anschlusse an Gehirnerkrankungen auftraten. Eine seltene derartige konnten wir in einem Falle vorge- schrittener multipler Slclerose beobachten, der alle klassischen Sym- ptome dieser Erkrankung zeigt (Nystagmus, skandierende Sprache, schweren Intentionstremor, Fehlen der Bauchhautreflexe, cerebellare Ataxie, klonische Steigerung der Sehnenreflexe mit Babinski; heitere Verstimmung). Bei diesem Kranken besteht neben dem Intentions- zittern ein rhythmischer rechtsseitiger Wackeltremor in vollkommener Ruhe bei Riickenlage, der aber nicht die ganze rechte SeRe gleichzeitig betrifft; er steigt vom Kopfe zum Arme und dann zum Beine. Die linke KSrperh~tlfte ist dabei ruhig. Zuerst erfolgt ein 3 bis 4maliges Schiitteln des Kopfes, das dann auf den rechten Arm und die rechte Schulter iibergreift. Daran schlieBt sich ein Schiitteln des rechten

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Beines mit Dreh- und Supinationsbewegungen des Fu[3es. Nach einer kurzen Pause beginnt der Verlauf in der gleichen Weise vom Kopfe absteigend, wobei jedesmal beim Fortschreiten des Zitterns der frfiher zitternde Teil ruhig wird. Manchmal wird die Reihenfolge unterbrochen, indem der Arm frfiher als der Kopf, das Bein frfiher als der Arm zittert. Dies ist aber selten; im allgemeinen ist der ab- steigende Typus vorherrschend und zittert niemals die ganze Seite gleichzeitig. Das Zittern kann vom Kranken dadurch gemildert werden, dal3 er die Beine kreuzt und die rechte Hand unter das Ges~l~ legt. Eine Milderung ist auch dureh passive Kopfdrehung naeh links m6g- lich. Eine willkfirliehe Unterdrfickung ist unmSglich, ebenso nicht dureh Sehmerzreize. Das halbseitige Waekelrhythmus dauert auch beim Stehen und Gehen an. Im Sehlafe h6rt das Zittern vollkommen auf. Bei dem Zittern weehseln st~ndig 3--4 Schfittler mit einem kurzen Ruheintervall; das Bein zittert 5fter und starker als der Arm. Die Bewegungen im Arme und Beine sind nicht gleichgeriehtet, letztere sind Drehbewegungen yon rechts nach links, erstere Heben und Senken der Sehulter. Manchmal kommt es jedoeh auch im Arme zu Dreh- bewegungen. Das Zittern verst~trkt sich durch Nadelstiche und bei jeder seelisehen Inanspruchnahme. Bemerkenswert ist, dab die ersten Krankheitserseheinungen sich im rechten Arme zeigten, und dab sich der Kranke nach rechts sehwerer drehen kann als naeh links.

Das Wesentliche ist in diesem Falle das Auftreten eines halbseitigen Ruhe- (Wackel-)Tremors, der rhythmiseh nach dem Jackson-Typus, vom Kopfe zum Beine absteigend, verl~uft. Die Exkursionen sind im Gegen- satze zum Intentionszittern yon gleichm~13iger St~rke und mildern sich durch Kopfdrehung nach der linken Seite. Das Zittern ist un- abh~ngig v o n d e r Intention, dauert in Ruhe und beim Stehen an, ohne sich dabei, wie der typisehe Intentionstremor, zu verst~,rken. Ein der- artiger halbseitiger Ruhetremor ist bei der multiplen Sklerose bisher noch nicht beschrieben worden. Mi~ller sah gelegentlich einen -- anders sich ~uBernden -- Ruhetremor und hebt aber hervor, dal3 das Auf- treten eines oszillatorischen Zitterklonus am herabh~ngenden oder auf einer bequemen Unterlage liegenden Arme oder im unterstfitzten Kopfe im Gegensatze zur Pseudosklerose oder der diffusen Hirn- sklerose sehr selten ist. Es liegt natfirlich auch in diesem Falle kein Anhaltspunkt daffir vor, dal3 dieses rhythmische Zittern auf ein immer- w~hrendes Entgleisen motorischer Impulse in bestimmte Bahnen zuriickzuffihren ist; die beste Erkl~irung gibt auch hier eine Enthem- mung elementarer rhythmischer Funktionen in denjenigen Teilen des Zentralnervensystems, in welchen das Zittern zur Ausl6sung kommt. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dal~ sich aus dem Jaeksonschen Typus des Zitterns durchaus nicht mit Notwendigkeit eine corticale

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Lokalisation erschlieBen l~$t. Eine anfiingliche halbseitige Lokalisation der Erscheinungen linden wir ja auch 6fters bei der typischen Erkran- kung des strii~ren Systems, der Paralysis agitans, und besteht in den subcorticalen Ganglien sicher schon eine gliedtopographische Lokali- sation. Nach den Anschauungen yon Stern, Sicard u. a. ist die Lokali- sation der rhythmischen klonischen Zuckungen nicht cortical oder spinal, sondern in den Mittelhirnzentren anzunehmen. Eine andere iterie- rende unwillkfirliche Bewegung sahen wir in einem Falle yon post- encephalitischem Parkinson mit allen typischen Symptomen -- Zit- tern, Steifigkeit, besonders in dan Halsmuskeln, Bewegungsverlang- samung, vorgebeugter KSrperhaltung, KSrperschwanken bei Augen- schlul3. In unregelmi~i3igen -- oft nur wenige Sekunden dauernden Zwisehenpausen -- stellt sich, eingeleitet durch langsames Heben und Senken der oberen Lider, ein Schliel3muskelkrampf der Augenlider ein, dem ein Runzeln und Herabziehen der Stirne folgt. Der Blinzel-

Abb. 2.

krampf dauert bis zu 11 Sekunden und beginnt manchmal an einem Auge friiher als am anderen. Auf dem H6hepunkte des Blinzelkrampfes beugt sich etwas der Kopf unter Anspannung der Halsmuskeln. Dieser Muskelkrampf tritt auch bei vom Fenster abgewendetem Kopfe, in einem mehr dunkleren Raume auf, mildert sich beim Gehen und beim Liegen, verst~irkt sich beim Lesen und in grellem Lichte. Er wieder- holt sich an manchen Tagen fortwghrend, ist an anderen seltener und durch l~ngerdauernde Zwischenpausen unterbrochen. Manchmal bleibt die Bewegung in den ersten Anfangen, bei den Bewegungen der oberen Lider stecken, ohne zum vollen Krampf zu gelangen.

Es handelt sich um eine iterierende komplexe Spontanbewegung, nicht zufiilliger Zusammensetzung, sondern mit dam Effekte des Ble- pharospasmus unter Beteiligung der Stirn- und Halsmuskeln. Es kommt zur unregelmi~gigen Ausl6sung eines nicht erloschenen, auch sonst noch funktionierenden Automatismus, nicht durch auitere Reize, sondern durch innere Vorgiinge, welche auf einer Enthemmung be- ruhen. Differentialdiagnostisch gegen durch echte Lichtscheu aus- gel6sten Blepharospasmus kommt in Betracht das Fehlen der sub-

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jekt iven Lichtscheu, das langsame Fortschrei ten des Krampfes von den Lidern auf die Stirne, f iberhaupt das langsame Tempo der Be- wegung, das nicht immer synchrone Krampfen der Lider beider Augen, der verh~ltnism~igig lange andauernde, sich spontan wieder 16sende tonische Krampfzus tand .

~hnliche, wenn auch nicht vol lkommen gleiche Hyperkinesen im Gesicht-Kopfbereiche sind yon mehreren anderen Autoren (Stern, Marie und Levy, Kolle, B. Fischer u. a.) beobachtet worden, yon denen die Be- ziehungen zu den Ticbewegungen und die J~hnliehkeit mit psychischen Zwangsbewegungen hervorgehoben werden. Es handel t sich aber nur urn eine oberfl~ichliche Ahnlichkeit , und es li~l~t sich auch in unserem Falle keine psychische Grundlage dieser Bewegung auffinden, die zweifellos postencephalitischen, subcorticalen Ursprunges ist und aus endogenen Ur- sachen element~rer Ar t zur st~ndigen iterierenden Wiederholung kommt .

I n den durch organische Gehirnerkrankungen ausgel6sten Hyper - kinesen stecken also 2 Probleme. 1. Die AuslOsung einfacher oder kom- plexer Muskelbewegungen - - unter denen zum Teil zweckm~ti3igc Automat i smen zu erkennen sind - - durch En themmung , 2. das Frei- werden yon elementaren, rhy thmischen oder iterierenden Grund- erscheinungen der nerv6sen Zentralorgane.

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