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Aus dem Allgem. Krankenhaus St. Georg, Hamburg (I. chirurg. Abteilung, Oberarzt: Dr. Wiesinger). Beitrag zur Organtherapie der postoperativen akuten Tetanie. Von Dr. Schneider, Assistenzarzt. Die Theorie vonder parathyreogenen Ursache der Tetanie hat festen FuB gefal3t, wenn man nach dem Gesamteindruck urteilt, der in der neueren Literatur sich wiederspiegelt, und auch die letzten Auflagen der Handbiicher haben derselben Rechnung getragen. Vassalle und Generali haben zuerst die These von der gesonderten Funktion der Nebenschilddriisen ausgesprochen: Nicht der Ausfall der Thyreoidea, wie man allgemein vordem annahm, sondern der Ausfall der Epithelk6rperchen ziehe das Auftreten der Tetanie nach sich. Die miihereichen Arbeiten wm Pineles, Erdheim, Pfeiffer und Meyer und Chosteck haben das Ihrige dazu beigetragen, diese Anschauung experimentell und wissen- schaftlich zu fundierel~. Li~wenthal und Wiebrecllt haben den Weg der Beweisf/ihrung rtickwSrts beschritten und wenn sie am Kranken- bette durch Darreichung von Nebenschilddrfisensubstanz be- stehende tetanische Symptome zur Besserung oder zum Schwinden brachten, so haben sie damit ex juvantibus den kausalen Zu- sammenhang wahrscheinlich gemacht. Es darf nicht verschwiegen werden, dab auch Stimmen gegen die neuere Auffassung laut wurden. So hflt C a r o in einer Ver- 6ffentlichung aus den Grenzgebieten i9o8 unter Verwertung alter klinischer Erfahrungen und neuer eigener Eperimente strenge Kritik an den neuereu Arbeiten und h~lt den Beweis nicht fiir erbracht. P i n e 1 e s konnte in einer anderen Arbeit bei interner 26*

Beitrag zur Organtherapie der postoperativen akuten Tetanie

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Page 1: Beitrag zur Organtherapie der postoperativen akuten Tetanie

Aus dem Allgem. Krankenhaus St. Georg, Hamburg (I. chirurg. Abteilung, Oberarzt: Dr. W i e s i n g e r ) .

Beitrag zur Organtherapie der postoperativen akuten Tetanie.

Von Dr. Schneider , Assistenzarzt.

Die Theorie v o n d e r parathyreogenen Ursache der Tetanie hat festen FuB gefal3t, wenn man nach dem Gesamteindruck urteilt, der in der neueren Literatur sich wiederspiegelt, und auch die letzten Auflagen der Handbiicher haben derselben Rechnung getragen.

V a s s a l l e und G e n e r a l i haben zuerst die These von der gesonderten Funktion der Nebenschilddriisen ausgesprochen: Nicht der Ausfall der Thyreoidea, wie man allgemein vordem annahm, sondern der Ausfall der Epithelk6rperchen ziehe das Auftreten der Tetanie nach sich.

Die miihereichen Arbeiten wm P i n e l e s , E r d h e i m , P f e i f f e r und M e y e r und C h o s t e c k haben das Ihrige dazu beigetragen, diese Anschauung experimentell und wissen- schaftlich zu fundierel~.

L i ~ w e n t h a l und W i e b r e c l l t haben den Weg der Beweisf/ihrung rtickwSrts beschritten und wenn sie am Kranken- bette durch Darreichung von Nebenschilddrfisensubstanz be- stehende tetanische Symptome zur Besserung oder zum Schwinden brachten, so haben sie damit ex juvantibus den kausalen Zu- sammenhang wahrscheinlich gemacht.

Es darf nicht verschwiegen werden, dab auch Stimmen gegen die neuere Auffassung laut wurden. So hf l t C a r o in einer Ver- 6ffentlichung aus den Grenzgebieten i9o8 unter Verwertung alter klinischer Erfahrungen und neuer eigener Eperimente strenge Kritik an den neuereu Arbeiten und h~lt den Beweis nicht fiir erbracht. P i n e 1 e s konnte in einer anderen Arbeit bei interner

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T a b l e t t e n v e r a b r e i c h u n g von Nebenschi lddr i i sensubs tanz keine Bes-

se rung bei mehre ren F~illen yon chronischer Tetanie sehen.

Somit diirfte es von In te resse sein, von einem einschlSgigen

Fal le zu ber ichten, in dem wir Gelegenhei t ha t t en , bei der heu te

so sel ten gewordenen aku t en pos tope ra t i ven Te tan ie die in Rede

s tehende Organ the rap ie in A n w e n d u n g zu br ingen und ihre Wir-

k u n g auf diese chirurgische F o r m der Te tan ie zu beobach ten .

A n a m n e s e : Am 3o. VI I I . vergangenen Jahres wurde dem Krankenhause eine 46 j~ihrige Kaufmannsfrau fiberwiesen. Pat. war aus gesunder Familie und selbst frfiher immer gesund gewesen. Vor 8 Wochen bemerkte sie eine schnell wachsende Geschwulst am Halse, wShrend vorher eine kropfiihnliche Bildung nicht bestanden hatte. :Schon nach 4 Wochen merkliche Atembeschwerden und jetzt wegen ,beSngstigender Kurzluftigkeit vom Arzte hereingeschickt.

Die U n t e r s u c h u n g ergab: Kleine an~imische Frau. Gra- �9 ziler KSrperbau. Leidlicher ErnShrungszustand. Groge Struma am Halse. Umfang 37 cm derbe Konsistenz. Driisen der Regio submaxil- laris und collilateralis beiderseits betr~ichtlich vergr6Bert und von gleich derber Konsistenz. Haut wenig fiber Tumor verschieblich und nicht entzfindlich.

D~impfung fiber Manubrium sterni. Auswurf schleimig-eitrig, ungeformt, reichlich, T r a c h e i t i s . Organ des Thorax und Abdomens sonst o. B. Keine Protrusio bulborum, keine Tachykardie. Kein GrSfe, M6bius, Stellwaag, kein Tremor. Pat. wird leicht dyspnoisch bei geringen Bewegungen und bei

Heben des linken Armes nach hinten. Die D i a g n o s e war: Tumor malignus glandulae thyreovideae. Die Probeexcision einer Drfise ergab als Resultat des Anatomischen

Inst i tuts (Prof. S i m m o n d s): Sarkoma. Im R6ntgenbild war fiber die Ausdehnung der Geschwulst wegen

Dyspnoe der Pat. wenig zu eruieren. Am 9. XI. I9o 9 wurde die O p e - r a t i o n in Vertretung von Herrn Oberarzt W i e s i n g e r yon Herrn Oberarzt S u d e c k ausgeffihrt, in halbsitzender Stellung in Schleichnarkose. Nach Kragenschnit t zeigte sich die Schilddrfise iiberall mit Kapsel und Umgebung verwachsen. Die Ausl6sung war schwierig. Ein Zapfen reichte unter das Manubrium. Da die Ge- schwulst per contiguitatem in die Trachealwand fiberging und die groBen Gef'aBe dicht umwachsen hatte, wurde von einer radikalen Ent- fernung alles Erkrankten abgesehen. Der Tumor wurde m6glichst in toto entfernt. Die region~iren Drfisenmetastasen dagegen belassen. Kleiner Docht, Naht.

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Der Tumor war auf dem Schnitt makroskopisch derbe, homogen, weil3gl~inzend und liel3 keine Schilddriisensubstanz mehr erkennen.

Die histologische Untersuchung des Tumors ergab: reines Rund- zellensarkom. Nur sehr sp~irliche Inseln mit wenig Driisenschl~iuchen und Kolloid noch am Rande vorhanden.

Von den Epithelk6rt~erchen in der derben Tumormasse etwas zu finden, erschien bald aussichtslos.

V e r 1 a u f : Um Ausfallserscheinungen von seiten der Schild- drtise vorzubeugen, wurde vom I. Tage der Operation ab mit Dar- reichung von Thyreoidtablet ten begonnen.

Pat. erhielt Burroughs Wellcome-Tabletten, beginnend mit 2 Ta- bletten pro die. Gleichzeitig erhielt sie als einzige interne Medikation: Liquor. arsen. Fowleri.

Der Erfolg war anfangs giinstig. Pat. verlor alle Ateinbeschwerden und ftihlte sich 4 Tage hindurch sehr wohl. Am 4. Tage trat Heiserkeit ohne laryngoskopischen Befund auf.

Am 6. Tage klagte Pat. iiber Fingersteifigkeit. Am 7. Tage Iiel h~iufiges Schwitzen auf. Am 8. Tage klagte Pat. fiber Kr~impfe in beiden H~inden. Die Grundphalangen standen in Hyperextensionsstellung. Trousseaus und Chosteks Phiinolnene waren deutlich.

Am 9. Tage HautkriebeIn. Am Io., I I . und 12. Tage hielten die reflektorischen Ph~inomene in

gleicher StS~rke an. Der Stuhl war normal. Keine Durchf~ille. Puls- frequenz gesteigert. Eigentliche Kr~impfe oder Kontrakt ionen treten auBer der tonischen lJberstreckung der Fingergrundphalangen nicht auf. Dagegen klagt Pat. dauernd iiber Angstgefiihl, Kurzluftigkeit, obwohl (lie Trachea auch subjektiv frei. Ziehende Schmerzen im ganzen K6rper. Zugeschniirtsein der Brust, auch Ziehen in den Beinen. Kon- traktionen der angegebenen Muskeln sind nicht palpabel.

Vom i i . Tage ab wurde jetzt s ta t t 4real t~iglich Burroughs Well- come-Tabletten solche von Merk his 6 pro die verabreicht.

Aus dem in unserer Nervenpoliklinilr (Dr. S a e n g e r) aufge- nommenen Nervenstatus dieser Tage hebe ich heraus:

Schlag auf den N. ulnaris und facialis erzeugt pronapte Zuckungen im ganzen Verbreitungsgebiet.

Druck auf (lie Nervenst~imme erzeugt tetanische Kontraktionen. Vom N. ulnaris aus bei einer St:irke yon nicht ganz I MA. p rompte

KSZ. bei 3,5 MA. = KSTe. Vom Musc. extensor digitorum communis aus ebenfalls bei I MA. =

KSZ, bei 4 MA. KSTe. Am 13. Tage anhaltende Froschschenkelstelhmg beider Beine,

deutliche Spannung in den Muskelgruppen fiihlbar. Starke Schweil3e und Angstgefiihl.

Am 14. Tagc Verabreichung frischer Pferde-Nebenschilddriise. Die frische Dr/ise wurde getrocknet und mit Sacharum lactis dispensiert.

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Die trockene Driise wog 2 Zentigramm. Sie wurde in Io Pulver verteilt und in 2 Tagen gegeben.

Am I6. Tage war, nachdem die qu~lenden Erseheinungen 3 Tage fast ohne Unterbrechung angehalten hatten, deutliche Besserung subjekt iv und objektiv zu konstatieren. D aher wurde mit Verabreichung des Mittels ausgesetzt.

Am 17. Tage brachen wieder Schweige aus und anhaltende tonische Beinkontraktionen. Facialisph~inomenen und Trousseau wieder st~irker. Es wurde wieder Nebenschilddriisensubstanz verabreicht, an diesem nnd am folgenden Tage, zusammen 3 Zentigramm.

Darauf am 18. Tage v611iges Verschwinden aller Symptome wie mit einem Schlage, Wohlbefinden. Keine Angstgeftihle, keine Kr~mpfe oder Schweige. Die reflektorischen Ph~inomene verschwunden oder stark herabgesetzt.

Zwei Tage darauf war Pat., die sieh ffir v611ig gesund hielt, nicht mehr zu halten und reiste nach Hause.

Leider war inzwischen auch laryngoskopische rechtsseitige Re- kurrensparese nachweisbar und ebenso ein Anwachsen der regionS, ren Metastasen nicht zu verkennen.

Zu Hause sind angeblich keine Kr~impfe mehr aufgetreten. Wie mir der Ehemann mitteilte, ist bei unsrer Pat. die Geschwulst dann in der Ohrspeicheldriise aufgetreten und dort nach augen durchgebrochen. Pat. mul3te reichlich steigend Morphium erhalten und erlag ihrem Leiden im November.

E p i k r i s e : Wenn auch der endgiiltige Verlauf der Krank- heir sich unserem Urteil entzieht, so ist doch aus dem Gesagten eine spezifische, gtinstige Wirkung der reinen Nebenschilddriisen- substanz auf das tetanische, akute postoperative Krankheitsbild nicht zu verkennen. Die Darreichung von Schilddr'iisentabletten, in denen unter Umst~inden auch sehr geringe Mengen Nebenschild- driise enthalten sein k6nnen, liel3 im Stich, wenigstens was Tetanie anlangt.

Ob man die Lehre v o n d e r parathyreopriven Entstehung der Tetanie fiir abgeschlossen halten will oder nicht, daftir sind ein- zelne kliifische Beobaehtungen, wie die vorliegende, gewig nicht mal3gebend, vor allem nicht neben den ausfiihrlichen experimen- tellen Arbeiten, wie sie tiber diese Frage existieren.

Eine Frage aber wird besonders durch unsern Fall beriihrt. Das ist das durch v. E i s e 1 s b e r g charakterisierte Dilemma: ,,Unter keinen Umstiinden (auger vielleicht bei Carcinom) darf die Totalexstirpation vorgenommen werden. Eine postoperative

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Tetanie tritt bisweilen selbst dort auf, wo das ganze Organ yon Carcinom durchsetzt war und anscheinend keine Funktion mehr erfiillen konnte. Meist wird man der Forderung, ein mindestens hiihnereigroI3es Stiick der Driise zuriickzulassen und die Gegend der Epithelk6rper zu schonen, gerecht werden k6nnen ; sollte man aber bei einer Operation gezwungen sein, mehr als man will, vom Kropfe zu entfernen, so muB man bei den geringsten Anzeichen von Ausfallserscheinungen sofort zur Schilddriisenfiitterung schreiten und dieselbe lange genug fortsetzen."

Nach dieser unserer tetzten Erfahrung m6chten wir es bei der n{ichsten Gelegenheit in demselben Gewissenszwiespalt wagen, so radikal vorzugehen, wie es die Malignitiit der Geschwulst fiir wiinschenswert erscheinen l~iBt, aber von vornherein dem K6rper geniigend Nebenschilddriisensubstanz aul3er der Schilddriisen- substanz zuzufiihren, um damit wom6glich das Auftreten von Tetanio, trotz radikaler Entfermmg der erkrankten Organe zu verhiiten, bzw. ausgebrochene Tetanie giinstig zu beeinflussen.

Bei dieser 6elegenheit sei zwecks Gewinnung der Nebenschild- drtisen bemerkt, dab man dieselben am besten dem frisch geschlach- teten Pferde entnimmt. Dort sind sie am leichtesten und sichersten zn finden. Gut erbsengroB, plattkugelig, liegen die gr6Beren unteren Exemplare fast konstant symmetrisch zu beiden Seiten des unteren Schilddrtisenpoles, yon ihm fast bis I cm getrennt und hiiufig yon einem GefiiB durchbohrt. Ihre Farbe ist gelbbr/iunlich, ungefbihr vom Ton der Nebenniereminde, jedenfalls schon mit blol3em Auge leicht von normalen oder pathologischen Lymph- driisen derselben Gegend zu unterscheiden. Auch ist es angezeigt, durch eine histologische Stichprobe sich vor Verwechselungen mit etwaigen akzessorischen Schilddriisen zu schiitzen.

Das von der Firma Dr. Freund & Redlich in Berlin hergestellte Tablettenpr~parat war uns zurzeit der Behandlung leider nicht bekannt, doch soll es an Wirksamkeit hinter dem frischen PrSparat nicht nachstehen.