8
BerWissGesch 3, 95-102 (1980) RolfWinau Bemerkungen zur "Sprache" der Medizin* Berichtezur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE '<' Akademische Vcrlagsgcscllschafl 1980 Summary: The study of medicallanguage does not end with specialist terminology, it also includes the patient's language. Furthermore, language, e. g. in charms, is part of pre- rational therapeutics. However, these aspects cannot be dealt with here; in keeping with the general theme of the meeting, the paper concentrates on the röle of language as a means of passing on scientific knowledge. Medical terminology first developed in the classical age of Greece. Until the 19th century, knowledge was only passed on verbally. Since the middle of the last century, the presentation of scientific data etc. in charts has gained more and more importance. In the course of this process, terms which originally applied to the description of features in these charts, have come tobe used independently outside this context. Schlüsselwörter: Sprache, Fachsprache, Terminologie, Graphische Darstellung, Funktion der Sprache in der Medizin. Das Problem, das der Titel nur vage andeutet, ist vielschichtig. Schon der Gebrauch des Wortes "Sprache" ist nicht eindeutig; denn es geht, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur um das gesprochene oder geschriebene Wort, sondern auch um die nicht-verbale Kom- munikation. Sprache der Medizin ist nicht nur die von den Fachleuten benutzte Terminologie, die eine Verständigung erleichtern soll und die wir mehr oder minder überzeugt und mit mehr oder weniger Begeisterung unseren Studenten im Terminologiekurs ein- und durchsichtig zu machen suchen, sie ist auch die Sprache des Patienten. Diese Sprache des Patienten ist bislang nur unzureichend untersucht. Einzig Dietiinde Goltz hat in ihrer Marburger An- trittsvorlesung "Krankheit und Sprache" versucht, dem komplexen Phänomen näher- zukommen1. Sie selber hat deutlich gemacht, daß sie ihren Beitrag nur als Anregung ge- sehen hat, sich endlich mit diesem Problem zu beschäftigen. Wenn wir heute hier dieses Problem ebenfalls nur andeuten und ebenfalls auf die Wichtigkeit weiterer Untersuchun- gen hinweisen, die über die von Dietlinde Goltz formulierten Thesen: Krankheit als das Unerklärliche 2 , Krank11eit als das Hinzugekommene 3 , Krankheit als Zustand und Bewe- gung des Hinzugekommenen 4 und Krankl1eit als Störung einer Funktion 5 in andere Ge-

Bemerkungen zur „Sprache”︁ der Medizin

  • Upload
    rolf

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

BerWissGesch 3, 95-102 (1980)

RolfWinau

Bemerkungen zur "Sprache" der Medizin*

Berichtezur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE '<' Akademische Vcrlagsgcscllschafl 1980

Summary: The study of medicallanguage does not end with specialist terminology, it also includes the patient's language. Furthermore, language, e. g. in charms, is part of pre­rational therapeutics. However, these aspects cannot be dealt with here; in keeping with the general theme of the meeting, the paper concentrates on the röle of language as a means of passing on scientific knowledge. Medical terminology first developed in the classical age of Greece. Until the 19th century, knowledge was only passed on verbally. Since the middle of the last century, the presentation of scientific data etc. in charts has gained more and more importance. In the course of this process, terms which originally applied to the description of features in these charts, have come tobe used independently outside this context.

Schlüsselwörter: Sprache, Fachsprache, Terminologie, Graphische Darstellung, Funktion der Sprache in der Medizin.

Das Problem, das der Titel nur vage andeutet, ist vielschichtig. Schon der Gebrauch des Wortes "Sprache" ist nicht eindeutig; denn es geht, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur um das gesprochene oder geschriebene Wort, sondern auch um die nicht-verbale Kom­munikation.

Sprache der Medizin ist nicht nur die von den Fachleuten benutzte Terminologie, die eine Verständigung erleichtern soll und die wir mehr oder minder überzeugt und mit mehr oder weniger Begeisterung unseren Studenten im Terminologiekurs ein- und durchsichtig zu machen suchen, sie ist auch die Sprache des Patienten. Diese Sprache des Patienten ist bislang nur unzureichend untersucht. Einzig Dietiinde Goltz hat in ihrer Marburger An­trittsvorlesung "Krankheit und Sprache" versucht, dem komplexen Phänomen näher­zukommen1. Sie selber hat deutlich gemacht, daß sie ihren Beitrag nur als Anregung ge­sehen hat, sich endlich mit diesem Problem zu beschäftigen. Wenn wir heute hier dieses Problem ebenfalls nur andeuten und ebenfalls auf die Wichtigkeit weiterer Untersuchun­gen hinweisen, die über die von Dietlinde Goltz formulierten Thesen: Krankheit als das Unerklärliche 2, Krank11eit als das Hinzugekommene 3, Krankheit als Zustand und Bewe­gung des Hinzugekommenen4 und Krankl1eit als Störung einer Funktion5 in andere Ge-

96 RolfWinau:

biete vorstoßen müßten, etwa das der Mentalitätsgeschichte oder das der Bestimmung der Krankheitsschwelle und deren Kriterien, wie sie Q)ivind Larsen in seinem Modell von der Morbiditätszwiebel angedeutet hat6, wenn wir dies nur andeuten, so weil das Rahmen­thema ermalmt, sich mit dem Medium Sprache als Medium der Wissenschaftsvermittlung zu beschäftigen.

Lassen Sie mich dennoch einen Aspekt der Sprache des Patienten hier erwähnen, der zumindest in den Bereich der Wissenschaftsvermittlung hinüberreicht. Wenn wir die Sprache des Patienten genau beobachten, so werden wir finden, daß sie zwar in weiten Be­reichen Alltagssprache ist, daß sie in immer stärkerem Maße Bestandteile der medizini­schen Terminologie enthält - ob Patientenkarriere oder bunte Presse daftir verantwort­lich sind, spielt keine Rolle - daß der Patient eine iatrogene Sprache annimmt, daß aber auch tiefverwurzelte Krankheitsvorstellungen ihren Ausdruck in der Sprache finden. Wenn der Patient davon spricht, daß ihn eine Krankheit angefallen habe, daß sie ilm ange­flogen habe, wenn er häufig das Pronomen "es" benutzt, so ist das nicht nur aus dem Ge­ftihl des Unerklärlichen der Krankheit, sondern dahinter steckt sicher auch ein gut Teil animistischer Krankheitsvorstellung.

Wenn auch heute der Patient noch von der Verunreinigung seines Blutes spricht, wenn er deutlich macht, daß die Schärfen aus dem Körper entfernt werden müßten, wenn er Zugsalbe verlangt und den abfließenden Eiter als etwas Wichtiges und Gutes beschreibt, dann sehen wir hier ohne Schwierigkeiten die humoralpathologischen Vorstellungen vor uns, die 1500 Jahre lang die westliche Medizin beherrscht hatten.

Auch auf einen anderen sehr wichtigen Aspekt des Bereiches Sprache und Medizin karu1 hier nur hingewiesen werden, weil auch er durch das Generalthema nicht oder nur unzureichend abgedeckt ist: die Sprache oder besser das Besprechen als Form der The­rapie. Jene Form der Dämonenaustreibung, die vielen Naturvölkern eigen ist, die wir aus den Beschwörungstexten der magischen Medizin des Zweistromlandes kennen, ist sicher nicht nur eine Erscheinung früher oder primitiver Kulturen. Wer in der Presse aufmerksam Kleinanzeigen studiert, wird immer wieder jene Angebote fmden, die das Bespredhen bei bestimmten Krankheiten anbieten. Das ist kein Phänomen des glatten Landes, wo man nicht die Segnungen der modernen Medizin kennengelernt hat, es ist- und das in zuneh­mendem Maße - ein Phänomen der großen Städte. Das Verblüffende ist, daß die Hei­lungsquote dieser Frauen und Männer bei bestimmten Krankheiten genauso hoch, wenn nicht höher liegen als die der Schulmedizin. Die Funktion der Sprache in dieser Krank­heits- und Heilungstheorie, die eine animistische ist, müßte dringend untersucht werden. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß das Vorhandensein einer solchen Medizin in Mitteleuropa die Vorstellung von einem stufenweisen sich auseinander entwickelnden Aufbau der einzelnen Krankheitskonzepte nicht weiter zuläßt.

Es war wichtig, auch auf diese Aspekte des Gesamtproblems ,Sprache der Medizin' hinzuweisen, ehe ich mich der Sprache als Medium der Wissenschaftsvermittlung in der Medizin zuwende.

Die Sprache, das gesprochene oder geschriebene Wort, war jahrhundertelang das be­vorzugte Medium, in dem medizinisches Wissen weitergegeben werden konnte. Die Spra­che der frühen Ärzte unterschied sich dabei nicht von der allgemeinen Umgangssprache, eine spezielle medizinische Terminologie hatte sich noch nicht herausgebildet. Krankhei­ten ließen sich mit den Worten der Umgangssprache beschreiben, selbst eine Kranklleits­theorie ließ sich formulieren. So wird etwa die Diagnose: ,Hand eines Totengeistes' in spätbabylonischen Texten bei den verschiedensten Krankheiten gestellC:

Bemerkungen zur "Sprache" der Medizin 97

Wenn seine Schläfe gepackt ist und er fortwährend schreit, auch Blut aus seiner Nase läuft: Hand eines Totengeistes".

Wenn seine Schläfe gepackt ist und er immer wieder schreit, heftigen Durchfall hat und das Bett nicht verlassen kann: Hand eines Totengeistes9

Wenn sein Herz vor Furcht zittert, sein Oberbauch immer wieder aufspringt, er beständig seine Augen zum Dunklen hinwendet: Hand eines Totengeistes 10

Ähnliches gilt auch fur die Medizin im alten Ägypten; auch sie ketmt im strengen Sinn noch keine medizinische Fachsprache, wenn auch hier, vor allem im Papyrus Ebers, An­sätze zu finden sind11:

Wenn du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet, er leidet an seinem Oberarm, an sei­ner Brust und zwar an der Seite des Magens, dann sagt man dazu: Das ist die wzd-Krankheit. Dann sollst du dazu sagen: Das ist etwas, das durch seinen Mund eingedrungen ist, es ist der Tod, der ihm naht. Dann sollst du anstachelnde Mittel machen, in Öl gekochte Kräuter soll er trinken. Dann sollst du deine Hand auf ihn legen, indem sie gebeugt ist. Dann geht es dem Oberarm besser, und er wird frei sein von Schmerzen. Dann sollst du sagen: Die Krankheit ist abgegangen zum After.

Medizinische Terminologie, die auch unsere Terminologie noch beeinflußt, entwickelte sich wohl zum ersten Mal in Griechenland. J ohannes Steudel hat darauf hingewiesen, daß wir in unseren deutschen Benennungen von Organen und Krankheiten den alten griechi­schen Bezeiclmungen gefolgt sind, ohne darüber nachzudenken, ob die damalige Bildhaf­tigkeit der Ausdrücke ftir uns überhaupt erhalten bleiben kann 12• Als besonders einpräg­same Beispiele hat Steudel die Bezeichungen Blinddarm- roü hrepov rv<P?-.ov n -,Krebs - IWPJdvo~ -, Schlüsselbeine - K ?-.eiO e~ -- genannt. Diese Beispiele zeigen dreierlei:

Der Analogieschluß des Aristoteles, der den Blinddarm beim Tier beschrieb und auf den Menschen übertrug, ist längst korrigiert; in der Bezeichnung caecum - ,Blinddarm' aber bleibt die Erinnerung erhalten, daß Anatomie im Altertum im wesentlichen eben Tieranatomie war.

Wenn wir heute eine bösartige Geschwulst als Krebs bezeichnen, dann erinnert diese Bezeichnung nicht nur daran, daß die Hippokratiker bereits den Begriff geprägt haben, sondern er beschreibt auch deren Krankheitsvorstellungen beim Brustkrebs, bei dem etwas Hartes in der Brust zu tasten ist und die Haut an einzelnen Stellen nach innen einge­zogen wird: eben ein Krebs, der die Haut mit seinen Zangen gepackt hält.

Der Begriff Schlüsselbein assoziiert kulturgeschichtliche Betrachtungen. Für Homer -schon in den homerischen Epen wird von ihnen mit dem Ausdruck 1< ?-.eio e~ gesprochen­und seine Zeitgenossen war der Vergleich sinnvoll. Zu ihrer Zeit sahen die Schlüssel so aus wie die Schlüsselbeine. Mit ihnen konnte man die Fallriegel der hölzernen Schlösser öff­nen. Die Übersetzung des Mittelalters (clavicula) deutet an, daß man schon damals den Ausdruck übersetzte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob der in ihm liegende Ver­gleich noch sinnvoll war.

Weitere Beispiele fur die Gewohnheit, medizinische Bezeichnungen aus der Umgangs­sprache zu entlehnen, sind etwa die Bezeichnungen karpos, tarsusoder acetabulum 13•

Es kann hier nicht auf die Entwicklung der Medizinischen Terminologie im einzelnen, auf ihre Ausgestaltung in der Schule von Alexandria, auf die Bedeutung der Schule von Salerno in der Rezeption des Arabischen oder auf die Bedeutung Vesals und der Anato­men des 17. Jahrhunderts eingegangen werden. Zum Teil liegen fur diese Entwicklung der Fachsprache Einzeluntersuchungen vor. Erinnert sei jedoch noch einmal an die For­derungen an eine medizinische Terminologie, wie sie schon J ohannes Steudel formuliert hat. 1. Die Termini sollen sachlich richtig sein, das heißt das Erkannte in einem kurzen Wort

umreißen.

98 RolfWinau:

2. Sie sollen eindeutig sein, das heißt nicht flir verschiedene Dinge gebraucht werden. 3. Für ein und dieselbe Sache soll es nicht zwei oder mehr verschiedene Ausdrücke

geben. 4. Diese sollen sprachlich richtig sein. 5. Sie sollen in einem möglichst großen Gebiet in einheitlichem Gebrauch sein 14

Allen diesen Forderungen entspricht wohl nur die Nomenklatur der Anatomie, die schon seit fast 80 Jahren, seit den Basler Nomina Anatomica, diesen Kriterien unter­worfen ist.

Wer sich einmal Lehrbücher der klinischen Medizin unter dem Aspekt dieser Forderung angesehen hat, der weiß, wie weit entfernt die Wirklichkeit vom Idealbild ist. Lassen Sie mich aus einem Lehrbuch der Dermatologie eines Autors zitieren: Die Sarkoidase wird auch Boecksche Krankheit genannt oder auch Morbus Besnier-Boeck-Schaumann; die Porphyria hepatica chronica heißt auch Porphyria cutanea tarda Waldenström; das Mela­nom figuriert auch unter den Begriffen Melanomalignom, malignes Melanom oder Melano­zytoblastom, und eine so banale Erkrankung wie die Entzündung eines Mundwinkels kann man als Stomatitis angularis, als Angulus infectiosus, als Perleehe oder auch als Potssanade finden 15•

Aufgaben flir den Medizinhistoriker, zur Verwirklichung der Steudelschen Forderun­gen beizutragen, liegen auf der Hand. Erinnert sei jedoch auch an die Warnung Gundolf Keils beim Diepgen-Symposium des vergangeneu Jahres, der die Gefaluen aufgezeigt hat, die dem Medizinhistoriker erwachsen, der sich verleiten läßt, sich zu weit in die Gefilde der medizinischen Fachlinguistik zu verirren und darüber seine eigene medizinhistorische Aufgabe zu vergessen 16•

Die Entwicklung der medizinischen Terminologie hat zwar die Fachsprache der Medi­zin immer weiter von der Allgemeinsprache entfernt, in den medizinischen Darstellungen bleibt jedoch der verbale Stil vorherrschend. Einzig in der Anatomie tritt die Abbildung, vor allen Dingen seit Vesal, gleichberechtigt neben das geschriebene Wort.

Selbst Felice Fontana, einer der vielseitigsten und genialsten unter den frühen natur­wissenschaftlich orientierten Forschern, Anatom, Physiologe und vor allen Dingen Phar­makologe und Toxikologe, beschreibt die Vielzahl seiner Versuche, es sind über 6000, stets verbal ohne eine einzige Tabelle, ohne Kurve, ohne Graphik. Selbst Versuche, die von ihrer Anlage her ftir uns heute eigentlich nach der Tabellenform zu drängen scheinen, werden in umständlicher und unübersichtlicher Weise abgehandelt, etwa eine Versuchs­reihe bei der Prüfung der Wirkung des Viperngiftes, bei der den gebissenen Versuchs­tieren in bestimmten Intervallen nach dem Schlangenbiß die gebissene Extremität ampu­tiert wurde. Im 18. Jahrhundert gibt es, auch bei der Darstellung von Versuchsergebnis­sen, seien sie pharmakologisch, seien sie physiologisch - ein Blick in Hallers Werk bestä­tigt das -,seien sie klinisch etwa bei Störck nur die verbale Darstellung.

Erst im 19. Jahrhundert ändert sich diese Darstellungsweise. Andreas Taubert hat dies in einer Kieler Dissertation glaubhaft gemacht17• Rüdiger Porep, zur gleichen Zeit eben­falls in Kiel, hat das Eindringen der graphischen Darstellung in die pharmakologische Dar­stellungsweise untersucht 18• Wir wollen uns jetzt die Frage stellen, welchen Stellenwert diese graphischen Darstellungen haben und inwieweit durch diese neue Darstellungs­technik sich auch die Sprache der Medizin verändert hat.

Betrachten wir da zuerst die durch Registrierung direkt gewonnenen Kurven. Älteste dieser Kurven sind Muskelkontraktionskurven und Pulskurven, wie sie zum ersten Mal von Carlo Matteucci 19 registriert wurden und wie sie Karl Ludwig20 veröffentlicht hat. Damit wurde eine neue Dimension eröffnet: Nun konnte man kurze Aktionen nicht nur

Bemerkungen zur "Sprache" der Medizin 99

sichtbar machen, man konnte sie auch mitteilen, ohne daß man auf sehr ungenaue verbale Beschreibung angewiesen war. War es bis dahin recht schwierig, sich über den Ablauf eines Pulses zu verständigen, so war nun mit einem Male diese Verständigungsmöglichkeit ge­schaffen. Muskelkontraktionskurven wurden in der Vorlesung, wenn man kein Kymo­graphion besaß, mit dem Finger am eigenen Zylinder demonstriert. Und ist es nicht typisch, daß man die galenischen Pulsbeschreibungen nun graphisch wiederzugeben ver­suchte21 - mit solchem Erfolg, daß sie heute von manchen als die Original-Galen-Puls­kurven angesehen werden?

Mit dem Aufkommen der vielfältigen Kurven mußte sich zwangsläufig auch die Spra­che der Medizin ändern. Nicht mehr die direkte Beobachtung wurde beschrieben, sondern die vorliegende Kurve, wenn man etwa von einem verzögerten Anstieg des Pulses oder der Kontraktion spricht, wenn von einem hahnenkammartigen Anstieg die Rede ist. Ähn­liches gilt fur die Registrierung von Geräuschen, vor allem von Herztönen beziehungsweise Herzgeräuschen. Auch hier hat die Beschreibung der registrierten Kurve längst die Be­schreibung der eigentlichen Phänomene verdrängt. Ganz selbstverständlich etwa wird von einem spindeiförmigen Geräusch gesprochen, von einem annähernd bandförmigen, holo­systolischen Geräusch, von einem kleinamplitudigen Geräusch. 1892 war zum ersten Mal eine solche Aufzeichnung der Herztöne von Leon Fredericq angekündigt worden22 , und 1894 veröffentlichte Carl Hürthle die ersten Bilder, die freilich noch wenig aus­sagekräftig waren23 . Die erste Veröffentlichung eines exakten Phonokardiogramms stammt von Einthoven aus dem Jahr 189424 .

Hatte sich schon bei der Registrierung mechanischer oder akustischer Kurven gezeigt, daß die medizinische Sprache sich an der Registrierung, an der Kurve selbst orientierte und nicht mehr am Phänomen, so wird das noch viel deutlicher bei der Registrierung elek­trischer Kurven:

Nehmen wir als Beispiel das EKG. Wenn wir heute einen Arztbrief in die Hand neh­men, ja selbst wenn wir ein Lehrbuch der Kardiologie betrachten, dann finden wir dort eine Beschreibung der erzeugten Kurve, nicht mehr eine der physiologischen oder patho­logischen Vorgänge im Herzen, aus der direkt diagnostische Schlüsse gezogen werden. Hebung der ST-Strecke, QRS-Zeit sind so selbstverständliche Aussagen geworden, daß man fast vergißt, daß hier, wenn man es genau betrachtet, nur eine Kurve beschrieben wird, die im strengen Sinne nicht einmal eine physikalische ist.

Um Zugehörigkeiten von Tönen beziehungsweise Geräuschen und Herzaktionen zu demonstrieren, bezieht man sich stets auf die Registrierung der beiden Kurven. Wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, das EKG als Kurve zu betrachten und nicht das zugrunde­liegende pathophysiologische Geschehen, mag aus einer kurzen Betrachtung des Myo­kardinfarkt-EKGs hervorgehen. Obwohl immer wieder darauf hingewiesen wird, daß die drei klassischen elektrokardiographischen Infarktstadien nicht bestimmten morpholo­gischen Veränderungen am Herzmuskel zuzuordnen sind, werden sie dennoch zur Be­schreibung des klinischen Bildes herangezogen. So wird das Stadium 1 gekennzeichnet durch Nekrose-Q, R-Verlust, ST-Hebung und T-Negativität. In einzelnen Ableitungen erkennt man ein Erstickungs-T. Das Stadium 2 weist eine isoelektrische ST-Strecke auf, die T-Welle wird negativ zum koronaren T; im Stadium 3 fmdet sich fast wieder ein normales Bild mit verbreiterter und vertiefter Q-Zacke, diese wird als Pardee-Q bezeich­net, wenn sie mindestens 0,04 Sekunden breit ist. Die medizinische Sprache ist hier ganz deutlich von der Registrierung geprägt, andererseits aber werden pathophysiolo­gische Vorstellungen mit der Beschreibung der Kurve zu bestimmten Begriffen vereinigt.

100 RolfWinau:

Während wir beim EKG noch auf die Schwankung der Potentiale im Herzmuskel und die ihnen zugrundeliegenden Erregungsausbreitungs- und Rückbildungsphänomene schließen können, ist dies bei einer anderen Aufzeichnung von elektrischen Potential­schwankungen wenigstens bisher noch nicht möglich: Beim EEG beschreiben wir Kurven, von deren Entstehung wir nichts wissen, differenzieren und gliedern sie, um daruas diag­nostische Schlüsse zu ziehen. Wenn hier von Spikes und Waves als typischem Zeichen einer Krampfbereitschaft gesprochen wird, dann betrifft diese Aussage formal nur die registrierte Kurve, nicht aber die pathophysiologischen Vorgänge im Gehirn. Der Aus­druck "Krampfpotentiale" ist nur eine Umschreibung der direkten Beschreibung des EEG.

Zu den selbst geschriebenen Registrierungen, die die Sprache der Medizin verändert haben, gehört schließlich auch das Szintigramm, bei dem radioaktiv markierte Trägersub­stanzen in den Körper gebracht werden, die sich in bestimmten Organen bevorzugt sam­meln und deren Aktivität mit dem Geiger-Müller-Zähler gemessen werden kann. In Form von Punkten verschiedener Farbe wird die Intensität der Strahlung des gespeicherten Stof­fes und ihre räumliche Zuordnung zueinander angegeben. Stellen besonderer Aktivität werden besonders stark gefarbt, Stellen geringerer oder gar keiner Intensität bleiben blaß. Für Stellen stärkster Strahlungsintensität, auf dem Szintigramm als roter Fleck er­kennbar, prägte man den Begriff des heißen Knoten, fur Stellen ohne Aktivität den des kalten Knoten. Beide Ausdrücke haben sich längst verselbständigt und sind zu Bezeich­nungen der Pathologie geworden.

Ähnliches ist auch von der Übemalune spezifischer Ausdrücke aus der Radiologie in die Sprache des Internisten zu sagen. Der spricht etwa von basalen Verschattungen der Lunge und hat damit eine Beschreibung der photographischen Platte als Diagnose in seinen klinischen Sprachgebrauch übernonunen. Gerade aus der Röntgenologie sind eine Menge solcher Begriffe in den klinischen Sprachschatz übergegangen. Dabei sei noch auf ein Phänomen besonderer Art hingewiesen. Soweit ich sehe, handelt es sich hier um den einzigen Fall in der medizinischen Terminologie, in dem ein Eigenname in unveränderter Form zum Verb geworden ist, weder Arzt noch Patient dürften sich dieses Phänomens be­wußt sein, wenn sie sagen, sie röntgen, beziehungsweise sie seien geröngt worden.

Wir können also festhalten, daß durch das Eindringen physikalischer direkter Registrie­rungsmethoden in die Medizin die Kurve zu einem wesentlichen Teil der Sprache der Medizin geworden ist, daß darüberhinaus aber auch diese Einfüluung zur Erweiterung der Sprache der Medizin geführt hat, in der Form, daß Beschreibungen der Registrierungen sich verselbständigt haben und ihren Bezug zur ursprünglichen Registrierung nicht mehr ohne weiteres zu erkennen geben.

Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz auf die nicht direkt gewonnenen Kurven, Diagramme und Graphiken eingehen. Auch sie sind zum wesentlichen Bestandteil der Mitteilungsmöglichkeit in der Medizin geworden. Auch sie wurden um die Mitte des vori­gen Jahrhunderts in die Medizin eingefiihrt, fur die Physiologie ist hier Du Bois-Reymond zu nennen mit seinen Untersuchungen über tierische Elektrizität 2S, ebenfalls die Gehrüder Weber mit ihrer Untersuchung Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge26, ftir die klinische Medizin Ludwig Traube, der die Registrierung des gemessenen Fiebers in Kur­venfarm einfuhrte 27

, ftir die Pharmakologie Carl Ludwig Falck 28 mit seinen Kurven über Urinausscheidungen und spezifisches Gewicht. Die erste Dosis-Wirkungskurve stammt erst aus dem 2. Jahrzehnt unseres Jaluhunderts, aus einer Arbeit von Karl Kiskalt, und ist eine einfache Gaußsehe Verteilungskurve 29.

Auch diese Kurven sind zu einem wesentlichen Bestandteil der medizinischen lnforma-

Bemerkungen zur "Sprache" der Medizin 101

tion geworden, ja sie machen in heutigen experimentellen Arbeiten den Hauptteil der Veröffentlichung aus, der vom eigentlichen Text umrahmend erläutert wird. Dabei wird die Gefahr immer deutlicher, daß die verbale Ausdrucksmöglichkeit des Wissenschaftlers mehr und mehr verkümmert. Auch diese Graphiken haben die medizinische Terminologie weitgehend beeinflußt, zumal durch eine starke Mathematisierung, zum anderen aber auch durch die Übernal1me von Ausdrücken der Kurvenbeschreibung, die sich zu eigen­ständigen Begriffen verselbständigt haben. Als Beispiel sei aus der Pharmakologie hier nur der Begriff der LD 50 genannt, jener Dosis eines Medikaments, die, aus der Kurve abge­lesen, bei 50% der Versuchstiere in einer bestimmten Zeit den Tod bewirkt.

Auf den Einfluß, den ebenfalls seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die immer stär­ker werdende Labordiagnostik auf die Sprache der Medizin ausgeübt hat, kann hier nur hingewiesen werden.

Fassen wir unsere Bemerkungen zur Sprache der Medizin zusanunen: Zunächst reichte die Alltagssprache aus, um medizinische Sachverhalte darzustellen. Im Griechenland der klassischen Zeit entwickelte sich eine erste medizinische Terminologie, die unsere heutige noch sehr stark beeinflußt. Die verbale Darstellung ist, neben der bildliehen Darstellung in der Anatomie, bis ins 19. Jaluhundert die einzige augewandte Form. Auch der Beginn der experimentellen Medizin im 18. Jahrhundert ändert daran nichts. Seit der Mitte des vori­gen Jahrhunderts gewinnt die graphische Darstellung immer größere Bedeutung, sie ver­drängt die verbale Darstellung des medizinischen Sachverhaltes immer mehr. Dabei ist das Phänomen zu beobachten, daß Termini der Beschreibung der Graphik sich aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang lösen und verselbständigen.

Die Gefalu, die durch diese Entwicklung gegeben ist, sollte von uns gesehen werden, und wir sollten der Entstehung des sprachkranken Gelehrten, vielleicht sogar des sprach­losen Gelehrten, da wo wir es können, entgegenwirken.

* Vortrag, gehalten beim XVII. Symposium der Gesellschaft ftir Wissenschaftsgeschichte, Berlin 24. -26.5.1979

102 RolfWinau:

Anmerkungen

D. Goltz: Krankheit und Sprache. Sudhaffs Archiv 53 (1969), S. 225-269, referiert von E. Seid­ler. Krankheit und Sprache, in. H. Schipperges/P. Unschuld (Hrsg.): Krankheit, Heilkunst, Hei­lung. Freiburg/München 1978, S. 415-417.

2 D. Goltz (wie Anm. 1), S. 233. 3 D. Goltz (wie Anm. 1), S. 235. 4 D. Goltz (wie Anm. 1), S. 237. 5 D. Goltz (wie Anm. 1), S. 239. 6 Vgl. A. Imhof/0. Larsen: Sozialgeschichte und Medizin. Stuttgart/Oslo 1976 (Med. Gesch. Kultur

12), S. 180-184, und$. Larsen: Die Krankheitsauffassung und ihre historische Interpretation, in: A. Imhof (Hrsg.): Mensch und Gesundheit in der Geschichte. (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaft, 39), Husum 1980 (im Druck).

7 Vgl. F. Köcher: Spätbabylonische medizinische Texte aus Kruk, in: C. Habrich u.a. (Hrsg.): Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. München 1978, S. 17-39.

8 F. Köcher (wie Anm. 7), S. 26. 9 F. Köcher (wie Anm. 7), S. 26.

10 F. Köcher (wie Anm. 7), S. 27. 11 H. Deiners/H. Grapow/W. Westendorf: Übersetzung der medizinischen Texte. (Grundriß der

Medizin der Alten Ägypter, 4/1) Berlin 1958, S. 89. 12 Vgl. J. Steudel: Die Fachsprache der Medizin. Studium Generale 4 (1951), S. 154-161. 13 Vgl. M. Michler/J. Benedum: Einflihrung in die Medizinische Fachsprache. Heidelberg/New York

1972, s. 12-17. 14 J. Steudel (wie Anm. 12), S. 156. 15 G. Korting: Dermatologisches Grundwissen ftir Studierende. Stuttgart 1973. 16 G. Keil: Der Medizinhistoriker als Terminologe (Vortrag beim Symposium "Das Selbstverständnis

der deutschen Medizingeschichte", Berlin 25./26.11.197 8). 17 A. Taubert: Die Anfänge der graphischen Darstellung in der Medizin. (Kieler Beiträge zur Ge­

schichte der Medizin und Pharmazie 1) Kiel1964. 18 R. Porep: Die Entwicklung der Darstellungsweisen pharmakologischen Wissens. Medizinhisto·

risches Journal (1969), S. 261-270. 19 C. Matteucci: Electrophysiological Researches. Philosophical Transactions 137 (1847), S. 243-

248. 2° C. Ludwig: Beitrag zur Kenntnis der Einflüsse der Respirationsbewegungen auf den Blutkreislauf

im Aortensystem.Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin •184 7, 242-302. 21 0. Schadewald: Sphygmologiae historia inde ab antiquissimis temporibus usque ad aetatem

Paracelsi. Med. Diss. Berlin 1866. 22 L. Frectericq: Über die Zeit der Öffnung und Schließung der Semilunarklappen. Centra/blatt für

Physiologie 6 (1892), S. 255-260. 23 C. Hürthle: Über die Erklärung des Cardiogramms mit Hilfe der Herztonmarkieung und eine Me­

thode zur mechanischen Registrierung der Töne. Deutsche medizinische Wochenschrift 19 (1893), s. 77-81.

24 W. Einthoven/M. A. J. Geluk: Die Registrierung der Herztöne. Pflügers Archiv 57 (1894), S. 617-639.

25 Berlin 1848. 26 Göttingen 1836. 27 Vgl. L. Traube: Gesammelte Beiträge zur Pathologie und Physiologie. 2 Bde, Berlin 1871-1878. 28 C. P. Falck: Physiologisch-pharmakologische Studien und Kritiken, Archiv für physiologische

Heilkunde 11 (1852), S. 125-140,754-772. 29 K. Kiskalt: Die Kurve der Giftdisposition. Zeitschrift für Hygiene 81 (1915), S. 42-56.

Prof. Dr. Dr. RolfWinau Institut ftir Geschichte der Medizin der FU Berlin Augustastraße 37 1000 Berlin 45