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BLOOMSBURY PUBLISHING • LONDON • NEW YORK • BERLIN Benoîte Groult Meine Befreiung Autobiografie Aus dem Französischen von Barbara Scriba-Sethe und Irène Kuhn

Benoîte Groult: Meine Befreiung

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Benoîte Groult hat endlich ihre Autobiographie geschrieben! Es ist nicht nur die Beschreibung einer privilegierten Kindheit, dreier Ehen mit drei Töchtern und des Lebens einer erfolgreichen Autorin. Es ist vor allem die Geschichte einer fortwährenden Bewusstwerdung und Befreiung, um der »Gefangenschaft«, wie sie es nennt, zu entkommen. Und schließlich geht es um den Tod: den ihres geliebten Mannes Paul Guimard, und um das Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit.

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BLOOMSBURY PUBLISHING • LONDON • NEW YORK • BERLIN

Benoîte Groult

Meine BefreiungAutobiografie

Aus dem Französischenvon Barbara Scriba-Sethe

und Irène Kuhn

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Prolog

Für die Jugend von heute ist es schwer, sich die außergewöhn-liche Strecke vorzustellen, die die Frauen im zwanzigsten

Jahrhundert zurückgelegt haben. Ich, 1920 geboren, bin wohlbehütet in einer katholischen Schule groß geworden und habe das Erwachsenenalter erreicht, ohne selbst über die legale Möglichkeit zu verfügen, meine Mei-nung über die Ziele meines Landes zum Ausdruck zu bringen. (Ich habe erst 1945, mit 25 Jahren, das Stimmrecht erhalten.) Erst als ich die vierzig erreichte, wurde mir bewusst, dass ich einen Gutteil meines Lebens ohne Empfängnisverhütung und auch ohne Fehlgeburt (was leider nicht bedeutet, ohne Abtreibungen) verbracht hatte, ohne die Schulen meiner Wahl zu besuchen, ohne politische Macht und hohe staatliche Funktionen erlangen zu können. Ich hatte nicht einmal die elterliche Autorität über meine eigenen Kinder, sondern war zu einem endlosen Hindernislauf verdammt gewesen. In einem Alter, in dem es mehr als Zeit wird, seine Autobiogra-fie zu schreiben, erscheint mir mein bisheriges Leben wie ein lan-ger Marsch zu einer Autonomie, die mir ständig wieder entglitt, und zu einer Unabhängigkeit, die andere nicht mehr einschrän-ken würden, sondern die ich mir Schritt für Schritt auf einem von mir selbst gewählten Weg erobert hatte. Mit Leben heißt frei sein (1998) wollte ich den Stand der fe-ministischen Revolution ermitteln, die das Leben der Frauen und die menschlichen Beziehungen tiefgreifend verändern sollten. All-mählich würde sich auch das Leben der Männer in allen Ländern verändern, ob sie es wollten oder nicht. Es ging in diesem Buch

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nicht so sehr um den Bericht meines Lebens als vielmehr um eine Bewusstwerdung, die niemals völlig abgeschlossen wurde, denn die Gefängnisstäbe und -mauern haben die ärgerliche Neigung nachzuwachsen wie die Bambusstangen. Ich habe darin in gewisser Weise die einzelnen Etappen meiner zweiten Geburt erzählt, die auf das »Jahr Null des Feminismus« zurückgeht, wie die damalige Presse es bezeichnete, den Tag, an dem die französische Frauenbewegung (MLF) sich bildete und unter dem Arc de Triomphe vor dem Grab des Unbekannten Sol-daten demonstrierte, um jemanden zu ehren, der noch unbekann-ter war als der Soldat: seine Frau. Das war am 28. August 1970, ich war schon fünfzig Jahre alt und hatte noch immer den Eindruck, gerade erst Staatsbürgerin geworden zu sein und einen Platz inne-zuhaben, der mir von oben aufgezwungen worden war in einer Welt, die seit Ewigkeiten den Männern gehört hatte. Und mir war nicht klar, dass es so hart sein würde, sich vom Zwang der Tradi-tionen, all den Bindungen zu befreien, die einem solch enge Fes-seln anlegen, dass man sie nicht mehr von seinem eigenen Fleisch unterscheiden kann. Ich habe festgestellt, dass man die Freiheit nicht ergreifen kann, sondern dass man sie erlernen muss. Tag um Tag und oft unter Schmerzen. Und für diesen Lernprozess brauchte ich weder die Philosophie noch die Naturwissenschaft und schon gar nicht ei-nen religiösen Glauben. Und ich brauchte auch keine Männer. Sie verschafften mir zweifellos viel Wunderbares, aber nicht das, was ich in jenem Stadium meines Lebens benötigte. Dafür brauchte ich andere Frauen, diejenigen, die man während meiner Schulzeit sorgsam vor mir verborgen hatte. Endlich entdeckte ich ihre Exis-tenz und erkannte, dass sie für mich gearbeitet hatten, jede auf ihre Weise und der Epoche gemäß, Christine, Olympe, George, Flora, Pauline, Jeanne Hubertine, Marguerite, Séverine und so viele andere, damit es uns gelang, die traditionelle Aufteilung in erstes und zweites Geschlecht zu erschüttern, um ganz einfach Mensch zu werden. Ich brannte darauf, ihre Lebenswege kennen-

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zulernen, ihre Schwierigkeiten, ihre heldenhaften Entscheidun-gen*, immer allein gegen die ihnen Nahestehenden und die Ge-sellschaft, trotz ihres Bedürfnisses nach Liebe und Anerkennung, das sie in ihrem Herzen trugen wie wir alle. Ist der Feminismus etwas anderes als eine Seelentransfusion einiger Wagemutiger an jene, die lieber die gängigen Spielregeln akzeptieren? Es gehört heute zum guten Ton zu verkünden, dass es keine Frauenfeindlichkeit mehr gibt. »Aber wo ist es denn, das Patriarchat?« »Es sticht in die Augen, ist unbesiegbar«, wie es Marie-Victoire Louis wunderbar ausdrückt. Sie hat den Verein »Gewalttätigkeit gegen Frauen am Arbeitsplatz« gegründet. Man könnte genau dasselbe über die Misogynie, die Frauen-feindlichkeit, sagen. Ich gehöre ja einer Übergangsgeneration an, in der die meisten es ablehnen, sich als Feministin zu bezeichnen, so als handelte es sich um eine eklige Krankheit. Sich allerdings damit zu rühmen, eine Antifeministin zu sein, bleibt in allen Ge-sellschaftsschichten eine ausgezeichnete Visitenkarte. Erfolg ist dadurch leichter verzeihbar. Die Männer schätzen es sogar, wenn man eine Antifeministin ist; es erspart ihnen, den Macho zu spie-len. Es ist an uns, dieses schmutzige Geschäft zu übernehmen. Jedes Mal, wenn ich auf unseren Bildschirmen eine begabte oder einflussreiche Frau sehe, weiß ich, dass sie auf der Stelle verkünden wird, natürlich keine Feministin zu sein, und damit weiter eine Sache in Misskredit bringt, auf die wir im Interesse unserer Kultur stolz sein sollten. Sie vergisst dabei, dass sie ihre Präsenz auf dem Bildschirm nur den vorangegangenen Kämpfen der Frauen und keinesfalls einer spontanen Geste ihrer männli-chen Partner zu verdanken hat. Ebenso wird ein Buch, das sich zum Feminismus bekennt,

* Vor allem Olympe de Gouges, die 1793 guillotiniert wurde, und Pauline Ro-land, die während ihrer Deportation nach Algerien 1852 starb.

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niemals als ein normales Buch angesehen werden, das die Le-ser beider Geschlechter interessieren könnte. Es wird eher als eine Art Messbuch betrachtet, das einigen zurückgebliebenen Frömmlerinnen vorbehalten ist, kurz, das Werk eines Wohltä-tigkeitsvereins. Einige blättern es durch, einige lesen es bis zum Ende. Aber nach meiner Erfahrung nehmen es neunzig Prozent der Männer nicht einmal in die Hand. Dass ein feministisches Buch wie alle anderen gut oder schlecht sein kann, gut oder schlecht geschrieben, brillant oder tödlich langweilig, berührt sie nicht. Es kann nur beschissen sein; das Wort spiegelt genau ihr unterentwickeltes Denken wider. Man kann noch von Glück sagen, dass es die Ehemänner nicht mehr schaffen, ihre Gattin-nen davon abzubringen, in der Hoffnung, sie vor einem Virus zu schützen. Das Virus, das ihnen zum Trotz in aller Stille sei-nen Weg verfolgt. Was mich betrifft, sind alle unsere Errungenschaften zu neuen Datums (einige sind sogar zu spät geschehen, als dass ich davon hätte profitieren können … zu meinen Lebzeiten, wenn ich das zu sagen wage), als dass ich vergessen könnte, dass unser Unab-hängigkeitskrieg noch nicht gewonnen ist. Zumal er für Hun-derte von Millionen Gleichgesinnte auf allen Kontinenten kaum begonnen hat. Deshalb denke ich, dass jedes Recht, jegliches wei-tere Vorrücken etwas Kostbares, Wesentliches, aber auch Fragiles und Heikles darstellt. Dennoch ist mir eine große Chance zugutegekommen: Es sind die Frauen, die die Bücher von heute kaufen, Romane oder Sach-bücher. Ohne sie wäre ich jetzt Ausschussware in der Literatur. Rauchen tötet, aber der Feminismus kann auch töten. Nach sieben oder acht Romanen, in denen ich wie die meisten Romanschriftsteller Realität und Fiktion miteinander vermischt habe, hatte ich Lust, mein wirkliches Leben aus größerer Nähe zu erzählen. Dieses Buch ist sozusagen Band 2 von Leben heißt frei sein, das ich zwölf Jahre nach dem ersten schreibe, um bis jetzt bewusst im Dunkel gelassene Lebensbereiche zu beleuchten,

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und zwar mit der Offenheit und Sorglosigkeit, die nur das Alter gewähren kann. Einen Roman zu schreiben war schön bequem, vor allem für die mir Nahestehenden, denn die Realität ist häufig rau oder ver-letzend. Aber es kommt leider Gottes eine Zeit, in der die Na-hestehenden weniger werden, vor allem wenn sie die eigenen Zeitgenossen sind, und eines Tages befindet man sich auf dem abgegrasten Feld der wüstenähnlichen Halbfreiheit. Stattdessen gehört zu den wenigen Vorteilen des Alters, sich kaum noch vor etwas zu fürchten, und dass es für eine Änderung des Lebenswe-ges zu spät und das Gemälde mehr oder weniger endgültig ist. Dies ist also die Stunde der Wahrheit. Ist das die ganze Wahrheit? Jedenfalls ist es nichts anderes als die Wahrheit. Aber kann man sich jemals rühmen, die ganze Wahrheit über sich selbst zu kennen? Und ist die Art, wie man sein Leben erzählt, nicht ebenso enthüllend wie das eigene Leben selbst? Ebenso wie es ein Glück ist zu schreiben, ist es auch ein Glück, Personen entstehen zu lassen, die man selbst nicht war, nicht wagte zu sein. Es ist eine Art Revanche für alles, was einem im Leben entgangen ist. Und das ist die Gelegenheit, seine Ge-schichte wie ein Märchen beginnen zu lassen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das am 31. Januar 1920 in Paris geboren wurde und dem man den Namen Rosie gab …«