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Berg der Magier

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ATLAN 2 – König von Atlantis

Nr. 301

Berg der Magier von Clark Darlton

Sicherheitsvorkehrungen, die auf Atlans Anraten durch die SolAb, die USO und die Solare Flotte noch gerade rechtzeitig getroffen wurden, haben verhindert, daß die Erde des Jah-res 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Aber die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederauf-getauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftau-chen von Atlantis oder Pthor zur Strafe für sein »menschliches« Handeln auf die Erde ver-bannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die die Sperre unbeschadet durchdringen können, mit der sich die Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Kleidung und ihre technische Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am BERG DER MAGIER ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Atlan und Razamon – Zwei Schiffbrüchi-ge auf Atlantis. Efoluzzio – Stammesführer der Guurpel. Gemonio – Ein junger, tapferer Guurpel. Hammroon – Das Ungeheuer vom Skoli-on. Der »Steinerne« – Ein Magier.

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1.

Bei seinem Volk galt Gemonio schon seit

vielen Zeitperioden als einer der besten unter den Fischern. Kaum jemand übertraf ihn an Wendigkeit, wenn es darum ging, in fremden Meeren die Wasserbewohner zu jagen, einzu-fangen oder zu töten.

Die neue Sonne, ein weißgelber Stern, war heute zum zweiten Mal aufgegangen, und der Stammesführer Efoluzzio hatte die jungen Männer ausgeschickt, die unbekannten Ge-wässer vor der Küste zu erkunden und Nah-rung zu suchen.

Das Meer war warm und salzig und fiel schnell in die Tiefe ab. Um eventuelle Gefah-ren schneller erkennen zu können, mußte Gemonio tauchen. Mit weit geöffnetem Mund holte er noch einmal tief Luft und stellte sich dann auf die Kiemenatmung um. Langsam sank er nach unten.

Um sich herum sah er seine Stammesge-nossen. Zwei von ihnen schleppten ein großes Netz, in dem die Beute verstaut werden sollte. Das behinderte ihre Bewegungsfreiheit. Sie blieben allmählich zurück.

Gemonio lockerte den Griff des Messers im Gürtel, seinem einzigen Bekleidungsstück. Seine Beine wirbelten in gleichmäßigem Rhythmus, und wie ein großer Fisch schoß er voran und überholte bald seine Freunde.

Das Wasser war von blaugrüner Farbe und ungemein klar. Wenn Gemonio nach oben blickte, sah er die hin und her tanzende Scheibe der Sonne. Hier unten aber war alles ruhig und scheinbar unbeweglich. Tief unter sich glaubte er, die Konturen des Meeres-grunds erkennen zu können.

Er schwamm gern allein und trennte sich von seinen Stammesbrüdern, die wie er dem Volk der Guurpel angehörten. Das geschah nicht allein deshalb, um ihnen und sich selbst seine Tapferkeit zu beweisen, sondern vor allen Dingen, weil er so die Annäherung einer Gefahr besser und schneller bemerkte. Gemo-nio war nicht nur mutig, sondern auch klug.

Jedoch, wie sich bald zeigen sollte, nicht immer klug genug.

Als er zehn Minuten später kurz auftauchte, sah er zurück. Der Berg Skolion, der nörd-lichste der Großen Barriere von Oth, die den

Kontinent nach Süden zu vom Meer trennte, ragte wie ein Wahrzeichen in den klaren und blauen Himmel. Südlich davon lag in der weit geschwungenen Bucht Panyxan, die Ansied-lung der Guurpel.

Gemonio nahm das Bild in sich auf und tauchte wieder.

Schwärme fingerlanger Fische zogen an ihm vorüber, aber sie kümmerten ihn nicht. Er würde sich schämen, mit einer so kümmerli-chen Beute nach Panyxan zurückzukehren und sich von Efoluzzio ausschimpfen zu las-sen. Die Frauen würden über ihn lachen und ihn verspotten.

In diesem fremden Meer mußte es eine bes-sere Beute geben.

Zwei oder drei Guurpel holten ihn langsam ein, aber er schwamm nicht schneller. Wenn es hier große Fische gab, die vielleicht auch noch angriffslustig waren, konnte Hilfe nicht schaden.

Wir müssen weiter nach Norden, signali-sierte ihm einer seiner Freunde. Vielleicht haben wir dort mehr Glück.

Gemonio signalisierte sein Einverständnis zurück, hielt sich dann aber mehr rechts und schwamm langsamer. Absichtlich blieb er zurück, bis die vor ihm Schwimmenden nur noch als schemenhafte Schatten zu sehen wa-ren, dann bog er wieder nach rechts ab und tauchte der Sonne entgegen. Er war davon überzeugt, daß sich die größeren Fische nicht so nahe an die Küste heranwagten.

Er war wieder allein. Der Meeresboden fiel weiter ab und ver-

schwand schließlich. Zehn Meter unter der Wasseroberfläche

schoß Gemonio dahin, trotzdem sparsam mit den Kräften umgehend. Bei einem Kampf würde er sie nötig haben.

Es war sein Pech, daß er genau nach Osten schwamm, sonst wäre der plötzliche Aufprall nicht so hart gewesen.

Das unsichtbare Hindernis war wie eine massive Mauer, die sich ins Wasser gesenkt hatte. Gemonio verspürte einen furchtbaren Schmerz in den Armen, die den Schwung des Körpers nicht mehr auffangen konnten.

Auch der Kopf prallte gegen das Hindernis. Gemonio handelte rein instinktiv, als er

sich herumschwang und mit dem letzten Rest

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seines Bewußtseins von der unsichtbaren Mauer abstieß. Ein energetischer Stromstoß zuckte seine Beine hoch, fuhr durch den gan-zen Körper und aktivierte erneut das halb ge-lähmte Gehirn.

Aber noch immer sank sein Körper in die dunkelblaue Tiefe. Die Sonne wurde zu einem verwaschenen Fleck und die Wasseroberflä-che zu einem milchigen Himmel, der allmäh-lich verblaßte. Dann landete Gemonio sanft auf dem sandigen Meeresboden.

Seine Stammesbrüder hatten nichts von dem Unfall bemerkt, denn sie hatten genug mit sich selbst zu tun. Mehr oder weniger heftig stießen auch sie gegen das plötzliche Hindernis, ohne sich dessen Natur erklären zu können, aber niemand wurde verletzt. Sie kamen einfach nicht weiter, und die lohnende Beute schien sich jenseits der Mauer aufzu-halten.

Sie machten sich nicht viele Gedanken, sondern kehrten um. Es mußte auch in Küs-tennähe Fische und andere eßbare Meerestiere geben, das war bisher in jedem Meer so ge-wesen, warum nicht auch in diesem, das sie noch nicht kannten. Pthor war erst vor zwei Tagen in diese fremde Welt versetzt worden.

Sie fingen nur wenig, das Netz wurde nicht einmal halb voll.

Efoluzzio würde mit ihnen unzufrieden sein, befürchteten sie.

Sie vermißten Gemonio, aber das war nicht das erste Mal nach einem Fischzug in unbe-kannten Gewässern. Trotzdem beschlossen sie, noch zu warten. Etwa dreißig Kilometer nördlich von Panyxan gingen sie in einer ein-samen Bucht an Land und beschlossen, ein wenig später abermals ihr Jagdglück zu ver-suchen.

Die Sonne hatte noch lange nicht ihren höchsten Stand erreicht.

*

Der Berg Skolion lag nördlich von Pany-

xan. Er bildete den äußersten Ausläufer der Großen Barriere von Oth und stellte zugleich die Grenze zu der mehr als hundert Kilometer entfernten »Bucht der Zwillinge« dar, an de-ren beiden Rändern die Städte Zbahn und Zbohr lagen.

Der Gipfel des dreitausend Meter hohen Berges war mit ewigem Eis und Schnee be-deckt, die Baumgrenze lag bei etwa zwölf-hundert Meter.

Mächtige Gesteinsbrocken und schroffe Felsen ließen diese Region wild und unbe-wohnt erscheinen, wenn der Fuß des Skolion auch flach auslief und im Osten in den sandi-gen Strand des Meeres überging. Die Sied-lung der Guurpel lag im Süden.

Hier in diesem unwegsamen Gelände hoch über dem Meer hatte der Eskirte Hammroon vor langer Zeit die Höhle entdeckt.

Hammroon unterschied sich nicht nur durch seine Größe von den Guurpel, deren Körper-formen schon verrieten, daß sie aus dem Meer stammten. Er war doppelt so groß wie sie, fast drei Meter hoch, wenn er sich auf die Hinter-füße stellte. Sein mächtiges Gebiß und das zottige dunkelbraune Fell gaben ihm ein furchterregendes Aussehen.

Halbintelligent veranlagt, gelang es dem Ungeheuer immer wieder, unachtsame Guur-pel zu überraschen, auf den Berg zu ver-schleppen und dort zu verspeisen. Somit war er im Lauf der Jahrzehnte zum Schrecken der Fischer von Panyxan geworden.

Aber auch der Eskirte hatte seine Sorgen. Größere Ausflüge brachten ihn höchstens

bis zu den Bergen Io-Parth und Ziowarth, die westlich und südlich der Siedlung lagen und den Beginn der Großen Barriere bildeten. Hammroon wußte, warum er sich nicht weiter in das Gebirge vorwagte. Dort wohnten Mächtigere als er. Sie hätten ihn getötet, wäre er in ihr Reich eingedrungen. Er blieb auf dem Skolion, wo er sich sicher fühlte.

Damals, als er die Höhle fand, in der er nun hauste, sagte ihm sein erwachender Verstand, daß er eine wichtige Entdeckung gemacht hatte. Viele seltsame Gegenstände lagen in ihr herum, mit denen er nichts anzufangen wußte. Nur das »Weitauge« war für ihn von Wert, denn wenn er durch das Rohr hindurch sah, rückte Panyxan ganz nahe heran. Bei gutem Wetter konnte er sogar die einzelnen Guurpel erkennen.

Er konnte sich notfalls mit den Fischern verständigen, denn von einigen Gefangenen hatte er ihre Sprache bruchstückweise erlernt. Aber meist war eine solche Verständigung

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nur Zeitverschwendung. Er fraß seinen Ge-sprächspartner hinterher ja doch.

An diesem Tag, der wie alle anderen be-gann, kroch Hammroon aus seiner Höhle und trank von dem eiskalten Wasser des Glet-scherbachs. In seinen Gedärmen rumorte es verdächtig, und sofort verspürte er Hunger. Es wurde höchste Zeit für eine gute Beute.

Vom Bach aus kletterte er auf das Höhlen-plateau zurück, von dem aus man eine gute Aussicht auf Panyxan und das Meer im Osten hatte. Er setzte das Weitauge an und suchte den Strand ab.

Zuerst konnte er nichts entdecken, was ihm äußerst ungelegen kam. Er hatte wenig Lust, in die Siedlung einzudringen, um sich dort seine Beute zu holen. Mit Messern, Netzen und Knüppeln würden die Fischer ihn trotz ihrer angeborenen Feigheit aus der Stadt ja-gen, wenn sie ihn frühzeitig entdeckten. In der Masse waren selbst Feiglinge gefährlich. Und diese hier bewegten sich auf dem Land ge-nausogut wie im Wasser, ihrem ursprüngli-chen Element.

Schon wollte Hammroon das Weitauge wieder absetzen, als er die Gruppe entdeckte. Sie lagerte am Strand einer kleinen Bucht, ziemlich weit von der Siedlung entfernt.

Immerhin, überlegte er, waren es mehr als zwanzig Guurpel. Alle waren sie mit Messern bewaffnet, wenn sie fischen gingen. Er aber hatte nur seine riesigen Pratzen als Waffe. Mit vier oder fünf von ihnen wurde er leicht fer-tig, aber zwanzig ...

Manchmal gab es Nachzügler, wenn sie ins Dorf zurückkehrten, die wurden eine leichtere Beute. Also beschloß Hammroon, noch ein wenig zu warten.

Es war noch früh am Tag.

* Bei den Guurpel handelt es sich um andert-

halb Meter große humanoide Geschöpfe, de-ren Körper vollständig von silbernen Schup-pen bedeckt waren. Zwischen den zartgliedri-gen Fingern und Zehen der ebenso zarten Arme und Beine spannten sich durchsichtige Schwimmhäute. Der Kopf war fast ohne er-kennbaren Hals mit dem übrigen Körper ver-bunden und nur leicht drehbar. Die Augen

saßen seitlich und ermöglichten ein größeres Blickfeld. Statt Ohren besaßen die Guurpel zwei Haarbüschel mit etwa zehn Zentimeter langen Fühlern. Auf dem Land atmeten sie durch den aufgestülpten Mund, unter Wasser durch am Halsansatz sitzende Kiemen.

Die Kiemen waren es auch, die Gemonio vor dem Ertrinken retteten, als er hilflos und halb gelähmt auf dem Grund des Meeres lag. Er wußte nicht, womit er da zusammen gesto-ßen war, ein großer Fisch jedenfalls war es nicht gewesen. Gemonio verstand nicht viel von moderner Technik, und so konnte er nicht wissen, daß dieses Hindernis nichts anderes als die Energiebarriere war, die von den Ter-ranern aus Sicherheitsgründen um den plötz-lich wieder aufgetauchten Kontinent Atlantis gelegt worden war.

Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen. Es schmerzte, war aber erträglich. Seiner Schätzung nach lag er etwa fünfzig Meter tief. Die eingestauchten Arme waren kaum zu gebrauchen, aber in die Beine kehrte das Le-ben schon wieder zurück.

Die Sonne zeigte ihm die Richtung an, sie stand jetzt fast in seinem Rücken, als er über dem dunklen Sandboden schwebte und lang-sam an Höhe gewann. Mit jedem Meter wur-de es heller, bis sein Kopf endlich die Was-seroberfläche durchstieß.

Geblendet schloß er die Sehschlitze und schützte die Augen.

Dann sah er die Küstenlinie, den Berg Sko-lion und links davon Panyxan. Er hielt darauf zu, die Arme nach hinten gestreckt.

Nachdem er sich der Küste bis auf wenige hundert Meter genähert hatte, sah er seine Stammesfreunde in der kleinen, einsamen Bucht. Sein erster Impuls war, hinzuschwim-men und sich helfen zu lassen, aber dann ü-berwog sein Stolz. Nein, sie sollten ihn nicht so schwach sehen. Wenn sie es im Dorf er-zählten, würden die Frauen über ihn lachen, vielleicht sogar die Kinder.

Spontan änderte er die Richtung und hielt auf den nördlichen Küstenstrich zu, der von der Bucht durch einige Hügel getrennt wurde. Er wollte sich ausruhen, um Kräfte zu sam-meln. Dann erst würde er sich wieder zu den anderen gesellen.

Er umschwamm das Kap und gelangte in

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eine andere Bucht, die von den Guurpel nicht eingesehen werden konnte. Als er Grund un-ter den Füßen fühlte, wollte er sich stellen, aber seine Beine knickten ein. Er war noch zu schwach, die Beine noch immer halb gelähmt.

Er ließ sich treiben, bis er den Sand unter seinen Bauchschuppen spürte. Auf allen vie-ren kroch er dann weiter, bis ihn erneut die Erschöpfung übermannte. Er drehte sich auf den Rücken und blieb liegen, kaum zwanzig Meter von der Wasserlinie entfernt. Die Ge-wißheit, daß seine Kameraden nur zwei oder drei Kilometer südlich von ihm lagerten und wahrscheinlich auf ihn warteten, beruhigte ihn.

Er schlief ein.

* »Wir müssen ihn suchen«, schlug einer der

Fischer in der zischelnden Sprache der Guur-pel vor, die sie auf dem Land benutzten, um sich zu verständigen. »Einige suchen im Was-ser, die anderen am Strand. Gemonio ist ein guter Jäger. Vielleicht hat er einen besonders großen Fisch erlegt und braucht unsere Hil-fe.«

Der Gedanke daran, doch noch zu einer an-sehnlichen Beute zu kommen, um den Häupt-ling Efoluzzio und die Technos zufriedenzu-stellen, gab den Ausschlag. Die anderen Fi-scher überwanden ihre Trägheit.

Zehn von ihnen kehrten ins Meer zurück, um nach Gemonio zu forschen, die anderen bereiteten sich auf einen Spaziergang am Strand entlang vor. Dabei warfen sie scheue Blicke in Richtung des viel zu nahen Berges Skolion.

Die Furcht vor dem Eskirten Hammroon saß ihnen allen im Nacken. Nur das nahe Meer bot Schutz vor dem wasserscheuen Un-geheuer, dem schon viele Guurpel zum Opfer gefallen waren.

Am Ende der Bucht standen sie vor den Hügeln. Unschlüssig berieten sie, ob sie die steilen Hänge landeinwärts umgehen sollten, aber die Furcht vor Hammroon war größer als die Sorge um Gemonio.

»Wir entfernen uns viel zu weit vom Was-ser, wenn wir das tun«, gab einer zu beden-ken. »Gemonio wird schon von selbst zurück-

kehren.« »Er ist sehr mutig und tapfer«, stimmte ein

anderer zu und war sichtlich froh, eine Ausre-de gefunden zu haben.

»Wir warten eine Stunde in der Bucht, dann brechen wir auf nach Panyxan«, schlug ein dritter vor.

Nach und nach kamen auch die Guurpel aus dem Meer zurück. Sie hatten keine Spur von Gemonio gefunden. Auf den Gedanken, im sicheren Schutz des Wassers weiter nördlich zu suchen, kamen sie nicht.

Ihre Skrupel wurden jedoch schließlich stärker als ihre Angst vor Hammroon. Hinzu kam die Gewißheit, in Panyxan nicht gerade freudig empfangen zu werden, da die Ausbeu-te des Ausflugs viel zu gering war, um den Eigenbedarf zu decken, geschweige denn die Ansprüche der »Herren der FESTUNG« zu befriedigen.

»Wenn wir alle zusammenbleiben«, sagte einer der älteren Fischer am frühen Nachmit-tag, als die Schatten schon länger wurden, »wird Hammroon uns nicht angreifen. Er weiß, daß wir bewaffnet und tapfer sind. Wir gehen um die Hügel herum und suchen Ge-monio. Vielleicht ist er auch verletzt und braucht Hilfe.«

»Warum schwimmen wir nicht?« »Das Meer ist fremd, und ihr erinnert euch

an die unsichtbare Wand weiter draußen. Es wird bald dämmerig. Wir wissen nicht, wel-che Gefahren im Wasser auf uns noch lauern. Dann schon lieber Hammroon. Er ist eine Gefahr, die wir kennen.«

Das leuchtete den anderen ein. Sie legten ihre Beute mit dem Netz ins

Wasser, damit sie frisch blieb, rückten ihre Messer im Gürtel zurecht und brachen auf.

Als sie die steilsten Stellen der Hügel um-gangen hatten, standen sie auf dem schmalen Plateau, das die beiden Buchten trennte.

Unten am Strand lagen zwei Gestalten, die sich jetzt zu bewegen und zu erheben began-nen.

Es waren keine Guurpel. Sie sahen vielmehr fast wie Technos aus ...

*

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Als Gemonio erwachte, schrak er zusam-

men. Der Stand der Sonne verriet ihm, daß es

schon spät war. Die Naturverhältnisse der Welt, in die Pthor versetzt worden war, waren ihm unbekannt, aber in vielen Dingen ähnel-ten sie sich alle. Wenn die Sonne aufging, war es Morgen, ging sie unter, wurde es Nacht.

Gemonio richtete sich auf und sah sich um. Er lag noch immer in der Bucht, nicht weit

vom Wasser entfernt. Im Süden war eine Hü-gelkette. Er konnte Panyxan nicht sehen. Hin-ter ihm erhob sich der Berg Skolion, drohend und schneebedeckt.

Er fröstelte, obwohl es nicht kalt war. Um alles in der Welt wäre er jetzt nicht zurück ins Wasser gegangen.

Weiter unten, wo die Wellen weit auf den Sand hinaufliefen, entdeckte er mit seinen guten Augen zwei helle Flecke, die er vorher nicht gesehen hatte. Es waren keine Felsen und auch kein angeschwemmtes Holz. Aber Guurpel waren es auch nicht.

Mühsam stand er auf, und seine Beine tru-gen ihn wieder. Schwankend und unsicher näherte er sich den verdächtigen Objekten, bis er erkennen mußte, daß es sich um zwei Le-bewesen handelte, die offensichtlich vom Meer angespült worden waren.

Sie sahen aus wie Technos, aber sie waren keine.

Als Gemonio sie erreichte, hockte er sich nieder und untersuchte sie. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken, um sie besser studieren zu können.

Nein, Technos waren das nicht. Sie stamm-ten nicht aus den Städten im Norden, aus Zbahn oder Zbohr.

Der eine war schon älter und hatte langes weißes Haar, aber er trug keine Kleidung. Der zweite, schlank und sehnig gebaut, fiel durch sein blauschwarzes Haar auf. Als Gemonio ihn umdrehte, kam ein seltsamer Gegenstand zum Vorschein, den der Fremde mitgebracht haben mußte.

Es war eine unregelmäßig geformte Platte, deren Ränder vermuten ließen, daß sie aus einem größeren Stück herausgebrochen war. Die Farbe war grau, die unbekannten Schrift-zeichen darauf schwarz. Die Größe betrug etwa zwanzig mal vierzig Zentimeter. Als

Gemonio sie vorsichtig in die Hand nahm, verriet ihm schon das Gewicht, daß sie aus Metall bestand.

Er wußte nichts damit anzufangen, dennoch interessierte ihn die Platte mehr als die beiden Fremden, die noch immer bewußtlos waren. Wenn er das Stück Metall und die Neuigkeit nach Panyxan zurückbrachte, würde man sei-nen Schwächeanfall sofort vergessen haben, falls er ihn nicht überhaupt vertuschen konnte.

Er ließ die beiden nackten Männer liegen und ging landeinwärts, um sich dann nach Süden zu wenden, wo die Küste wieder flach wurde.

In diesem Augenblick sah er den heranja-genden Hammroon.

*

Der Eskirte hatte sich nicht getäuscht. Als er wieder einmal den Strand mit seinem

Weitauge absuchte, entdeckte er die reglose Gestalt eines Guurpel. Sie lag nicht weit vom Wasser entfernt im Sand.

In das bärenähnliche Ungeheuer kam Le-ben. Hastig schob Hammroon das wertvolle Metallrohr, mit dem er so weit sehen konnte, in eine Felsspalte unterhalb der Höhle und begann mit dem Abstieg zur Küste. Er kannte jeden Meter des Geländes und benutzte den ausgetretenen Pfad.

Er lief mit einer Geschwindigkeit, die man ihm seiner Größe wegen nicht zugetraut hätte. Erst jetzt zeigte sich, wie wendig er wirklich war. Kleinere Hindernisse übersprang er ein-fach, um keine Zeit zu verlieren. Wenn die Guurpel in der Nachbarbucht ihren Gefährten vor ihm erreichten, gab es unnötigen Ärger.

Als er sein Ziel bald erreicht hatte, ver-schnaufte Hammroon einen Augenblick und sah hinab zum Meer. Seine Beute hatte sich erhoben und taumelte zu zwei im Sand lie-genden Gestalten, bückte sich und machte sich an ihnen zu schaffen.

Hammroon fehlte das Weitauge. Er konnte nicht feststellen, wer die Gestalten waren, aber Guurpel waren es nicht. Technos viel-leicht?

Na, und wenn schon? Guurpel waren schmackhafter.

Er setzte sich erneut in Bewegung, denn

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wenn sein Guurpel ins Meer hinausschwamm, würde er in Sicherheit sein.

Je mehr er sich der Bucht näherte, desto vorsichtiger wurde der Eskirte. Er nutzte jede Deckung, um sein »Wild« nicht zu warnen. Ein paar dichtbelaubte Büsche unterstützten ihn dabei. Er duckte sich dahinter und verhielt sich ruhig, als er sah, wie der Guurpel sich aufrichtete, etwas unter den linken Arm schob und dann auf ihn zukam.

Hammroon wartete, bis er nahe genug he-rangekommen war, um nicht mehr ins Meer fliehen zu können. Dann brach er aus seinem Versteck hervor und raste auf die vor Schreck erstarrte Beute zu.

*

Gemonios Entsetzen lähmte ihn nur für Se-

kunden. Er wußte, daß nur das Wasser ihn retten konnte. Die Metallplatte fest an sich gepreßt, wandte er sich zur Flucht, aber er kam nur ein paar Schritte weit. Wenige Meter von den beiden immer noch bewußtlosen Fremden holte ihn das Untier ein und stürzte sich auf ihn mit markerschütterndem Gebrüll.

Gemonio rechnete mit einem sofortigen tödlichen Biß der riesigen Reißzähne und wehrte sich, so gut er konnte, aber die mäch-tigen Arme hielten ihn fest umklammert. Nicht so fest, daß sie ihn zerquetscht hätten, aber fest genug, um jeden Fluchtversuch im Keim zu ersticken.

Ohne sich um die beiden auf dem Rücken liegenden Gestalten zu kümmern, trat Hamm-roon den Rückzug an. Er wußte nicht, ob die Guurpel hinter den Hügeln seinen Jagdschrei gehört hatten. Vielleicht würden sie ihre Angst überwinden und ihm folgen, worauf er keinen gesteigerten Wert legte.

Er achtete daher besonders auf Deckung nach Süden und war froh, den Pfad endlich zu erreichen. Gemonio wehrte sich nicht mehr. Der Schreck und der bestialische Gestank, der von dem Eskirten ausging, hatten ihn aber-mals bewußtlos werden lassen.

*

Atlan kam als erster wieder zu sich. Als er den von der Sonne durchwärmten

Sand auf der Haut spürte, wußte er, daß sie die Küste erreicht hatten und vorerst in Si-cherheit waren.

Razamon! Er richtete sich mühsam auf und sah den

Gefährten dicht neben sich im Sand liegen. Er schien noch ohnmächtig zu sein. Auch er war nackt. Als sie die Sperre durchfuhren, waren Kleider und Ausrüstung verschwunden, nur das Parraxynt war geblieben.

Der Gedanke an die geheimnisvolle Me-tallplatte elektrisierte Atlan. Er konnte nur ahnen, wie wichtig das Artefakt wirklich war, da nützten alle Erklärungsversuche Razamons nichts. Aber er wußte von dem unsterblichen Atlanter, daß das Parraxynt nur ein Bruch-stück des vollständigen Artefakts war, das, zusammengesetzt, das Rätsel um Atlantis lö-sen würde.

Atlan kümmerte sich um Razamon und suchte gleichzeitig nach dem Parraxynt, ohne es finden zu können. Sollte der Freund es wirklich verloren haben? Das war kaum vor-stellbar.

Er drehte Razamon auf die andere Seite, doch die Metallplatte kam nicht zum Vor-schein. Dann aber sah er die Spuren.

Es waren Spuren wie von einem großen Vogel mit Schwimmhäuten, an vielen Stellen von einer anderen und viel größeren Spur verwischt und fast unkenntlich gemacht. At-lans Finger tasteten die Eindrücke im Sand ab. Kalt lief es über seinen Rücken. Die zwei-te Spur mußte von einem Ungeheuer stam-men, das über den ersten Besucher mit den Schwimmhäuten hergefallen war.

Allmählich verrieten die Spuren die ganze Geschichte.

Zuerst war der mit den Vogelfüßen ge-kommen und hatte Razamon und ihn auf den Rücken gedreht, dabei mußte er das Parraxynt gefunden und an sich genommen haben. Ohne sich weiter um die Bewußtlosen zu kümmern, war er dann landeinwärts gegangen, ohne allerdings sehr weit zu kommen. Das Unge-heuer mit den großen Krallen war herbeige-stürzt, hatte den Unglücklichen gepackt und war mit ihm davongerannt, in Richtung auf den hohen Berg zu. Von dieser Stelle an näm-lich fehlten die Vogelspuren.

Atlan rüttelte Razamon so lange, bis dieser

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sich endlich bewegte und die Augen auf-schlug.

»Wir haben Land erreicht, Razamon. Es muß Pthor sein.«

Razamon hatte Atlantis immer nur Pthor genannt.

»Pthor! Wir haben es also geschafft?« »Ja, Razamon, wir haben es geschafft.« Der Atlanter, seit dem letzten Verschwin-

den des Kontinents vor mehr als zehntausend Jahren auf die Erde verbannt, schüttelte den Sand aus den blauschwarzen Haaren. Dann setzte er sich aufrecht hin.

»Das Parraxynt – wo ist es?« Atlan deutete auf die Spuren, die eine nur

zu deutliche Sprache sprachen. »Jemand hat es geholt, während wir be-

wußtlos waren. Sobald du dich kräftig genug fühlst, holen wir es uns wieder.«

Razamon lachte kehlig und stand schwan-kend auf. Vorsichtig ging er ein paar Schritte hin und her, wobei er das linke Bein nachzog. Eine Folge des »Zeitklumpens«, der daran hing, wie er behauptete.

»Mir geht es gut, und was ist mit dir, At-lan?«

»Mir wäre es lieber, wir hätten etwas zum Anziehen. Es wird kalt, wenn die Sonne un-tergeht.«

»Dann sehen wir aber auch keine Spuren mehr«, mahnte Razamon ärgerlich. »Komm schon!«

Die etwas schleppende Stimme warnte At-lan. Wenn das Böse aus Razamons Unterbe-wußtsein wieder durchbrach, konnte das un-angenehm werden. Er stand auf und bekämpf-te das Schwindelgefühl, das ihn erneut zu Boden zwingen wollte.

»Du hast recht, Razamon. Wir müssen die Verfolgung aufnehmen. Von wem mögen die Spuren stammen?«

Zum Glück konnte sich der Atlanter erin-nern.

»Die kleineren stammen von einem Guur-pel. Du würdest sie vielleicht als Fischmen-schen bezeichnen und das sind sie auch. Ihre Aufgabe ist es, Nahrung aus dem Meer zu holen, für die Technos und die Herren der FESTUNG. Harmlos und ängstlich von Natur aus, sind sie in der Masse nicht zu unterschät-zen. Ja, und die großen Spuren ... Hier kann

es sich nur um eins der zahllosen Ungeheuer handeln, die auf Pthor leben. Wir haben keine Waffen.«

»Dann nehmen wir die Fäuste«, sagte Atlan entschlossen. »Wir müssen das Parraxynt wiederhaben.«

Sie waren kaum ein Dutzend Schritte ge-gangen, immer der Tatzenspur folgend, die in Richtung des hohen Berges führte, als links von den Hügeln etwa zwanzig Gestalten auf sie zugelaufen kamen. Sie schwangen Knüp-pel, Messer und Netze und machten nicht ge-rade einen friedfertigen Eindruck.

Razamon winkte Atlan zu. »Keine Sorge, das sind nur Guurpel. Wenn

wir uns mit ihnen einig werden können, sind sie sicher bereit, uns Waffen und Kleidung zu geben. Schlag also nicht gleich um dich.«

»Und wenn sie uns angreifen?« »Dann beruhigen sie sich auch wieder.« Mit gemischten Gefühlen sah Atlan der

heranstürmenden Horde entgegen. In der Tat erinnerten ihn die kleinen Guurpel entfernt an Fische mit Beinen und Armen, aber es mußte schon lange her sein, daß ihre Vorfahren das Wasser als Lebenselement verlassen hatten.

Die Guurpel kreisten sie ein, dann warfen sie ihre Netze, ehe Razamon zu ihnen spre-chen konnte. Die beiden Männer, noch ge-schwächt von den hinter ihnen liegenden Strapazen, rafften sich nicht einmal zur Ge-genwehr auf. Sie waren davon überzeugt, das Mißverständnis schnell klären zu können, sobald die Guurpel sich sicher fühlten.

Einige der Fischer waren weitergelaufen, und Spuren konnten sie ebensogut lesen wie Atlan und Razamon. Aufgeregt kamen sie zurück. Ihr Bericht war so erschreckend, daß die Gruppe fast von Panik ergriffen worden wäre. Aber der älteste der Fischer mahnte zur Besonnenheit und prophezeite Efoluzzios Wohlwollen, wenn sie die beiden Fremden als Gefangene mit ins Dorf brächten.

»Sie sind keine Technos, sondern Fremde«, behauptete er.

»Vielleicht die Söhne von Göttern?« ver-mutete jemand zaghaft.

»Das wird sich herausstellen! Los, gehen wir, ehe Hammroon zurückkehrt. Er hat sich Gemonio geholt und wird ihn fressen. Wir können ihm nicht helfen.«

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»Laßt uns frei und gebt uns Waffen, dann

holen wir euch Gemonio lebendig zurück«, schlug Razamon im Dialekt der Guurpel vor.

Als Antwort schlug ihm einer der Guurpel einen Knüppel über den Kopf. Der Netze we-gen konnten sich die Gefangenen kaum be-wegen. Über den Sand hinweg schleifte man sie davon in die Nachbarbucht, wo zwei Fi-scher die magere Beute aus dem Wasser hol-ten.

Dann traten sie endgültig den Weg nach Süden an.

*

Efoluzzio wußte, daß er nicht mehr lange

Stammesfürst der Guurpel bleiben würde, wenn ihm keine neuen Tricks mehr einfielen, um seine Untertanen zu beeindrucken. Noch besaß er das Wohlwollen der Technos im Norden, aber das allein genügte nicht.

Er war zu alt, um noch auf die Jagd gehen zu können, Gicht und Kurzsichtigkeit plagten ihn. Hinzu kamen seine beiden bösartigen Frauen, die jede seiner Schwächen ausnutz-ten, um Vorteile für sich daraus zu ziehen. Aber er konnte sie nicht davonscheuchen, denn ohne sie wäre er völlig hilflos gewesen und damit eine leichte Beute einiger junger Männer, die sich schon jetzt um sein Erbe stritten.

Sein ältester Sohn müßte eigentlich sein rechtmäßiger Nachfolger sein, aber der taugte zu überhaupt nichts. Meist hing er am Rock-zipfel seiner Mutter und tat alles, was sie ihm auftrug. Er würde kein guter Häuptling sein.

»Sind denn die Fischer noch immer nicht zurück?« keifte er, als es langsam dunkel wurde. »Morgen oder übermorgen kommen die Technos, um den Tribut abzuholen. Sie bestrafen uns, wenn sie mit leeren Händen umkehren müßten.«

»Dann geh doch selber fischen, Feigling!« keifte eine der Frauen wütend zurück. »Aber dazu bist du zu faul und ängstlich!«

»Ich bringe dich noch eines Tages um!« drohte Efoluzzio verzweifelt über seine Hilf-losigkeit. »Wo ist Tassion?«

»Was willst du von ihm?« »Das geht dich nichts an.« »Dann warte auch, bis er kommt.«

Efoluzzio hüllte sich in das netzartige Ge-wand und überlegte, wie er den ungehorsa-men Weibern Respekt beibringen könnte. Sie waren noch schlimmer als die jungen Männer, die ihn nur noch der Form halber als Häupt-ling duldeten, weil sie sich vor den Technos fürchteten. Und gerade die Rache der Technos war es auch, die Efoluzzio immer heraufbe-schwor, wenn ihm die Bevölkerung von Pa-nyxan zu aufsässig wurde.

Die Stadt bestand aus eintausendzweihun-dert Gebäuden, keines höher als fünf Meter und errichtet aus einer Mischung von Lehm und Muschelschalen. Sie waren rund, mit nur einem Eingang und keinem Fenster. Die Ein-richtung bestand aus primitiven Gebrauchs-gegenständen, die aus Knochen oder Holz hergestellt worden waren.

Viertausendfünfhundert Guurpel lebten in Panyxan, der Siedlung am Fuß der großen Berge und am Meer. Das Haus des Häuptlings lag im Zentrum der Stadt, knapp hundert Me-ter vom Strand entfernt.

Efoluzzio verließ sein Heim und humpelte zur nächsten Feuerstelle, an der schon mehre-re ältere Guurpel hockten, und sich wärmten. Sie machten ihm bereitwillig Platz, nicht etwa aus Ehrfurcht und Achtung, sondern nur weil sie hofften, etwas Neues zu erfahren.

Aber der Häuptling wußte auch nicht mehr als sie.

»Sie müssen sehr weit hinausgeschwom-men sein«, vermutete einer.

Die anderen nickten. »Bald kommen die Technos, dabei haben

wir selbst bald keine Vorräte mehr«, gab je-mand zu bedenken. »Du mußt mit ihnen re-den, Efoluzzio.«

Der Häuptling machte sich ein paar Zenti-meter größer.

»Natürlich werde ich mit ihnen reden, sie sind ja meine Freunde. Sie werden uns einen Aufschub gewähren, denn schließlich ist das neue Meer ein fremdes Gewässer. Wir brau-chen Zeit.«

»Du bist der einzige, auf den sie hören.« »Da hast du recht«, stimmte Efoluzzio

selbstgefällig zu. »Wie gut, daß ich euer Häuptling bin ...«

Wieder entstand eine Pause, in der sich fast alle um das Feuer sitzenden Guurpel den

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Kopf darüber zerbrachen, wie man Efoluzzio am besten ersetzen könne, ohne Ärger mit den Technos zu bekommen.

In die Stille hinein hörte man eilige Schrit-te. Jemand kam herbeigelaufen, dann erschien ein heftig atmender Guurpel im Lichtschein des Feuers. Erschöpft setzte er sich auf einen Stein und rang mühsam nach Luft und Wor-ten.

Efoluzzio erkannte in ihm einen der Fi-scher, die am frühen Morgen ausgezogen wa-ren.

»Was ist los?« fragte er ungeduldig. Stockend berichtete der Guurpel von der

unsichtbaren Wand draußen im Meer, der geringen Beute und dem Raub Gemonios durch das Scheusal Hammroon. Dann erst kam er auf die beiden Gefangenen zu spre-chen, um den ersten schlechten Eindruck, den seine Erzählung hinterlassen mußte, wieder abzumildern.

»Sie werden gleich hier sein«, schloß er und hielt die Hände über das wärmende Feu-er.

»Fremde?« vergewisserte sich Efoluzzio neugierig. »Es werden nach hier verschlagene Technos sein. Vielleicht stürzten sie mit ih-rem Zugor ab.«

»Es sind keine Technos«, wiederholte der Fischer störrisch.

Efoluzzio hatte keine Gelegenheit mehr, den Streit fortzusetzen. Die Heimkehrenden machten, als sie in die Nähe kamen, genügend Lärm, die halbe Stadt auf die Beine zu brin-gen. Jemand warf ein Stück Holz ins Feuer, damit es heller brannte. Fackeln wurden ge-holt und entzündet.

Efoluzzio starrte auf die beiden Gefange-nen, die man aus den Netzen wickelte, nach-dem man ihnen Hände und Füße zusammen-gebunden hatte. Trotz seiner Kurzsichtigkeit wurde ihm sofort klar, daß zumindest der eine kein Techno war. Bei dem anderen war er sich nicht sicher.

Die Fischer begannen damit, Lobreden auf sich selbst und ihre Tapferkeit zu halten, weil sie die beiden Fremden nach hartem Kampf überwältigt hatten. Gemonio wurde nur ne-benbei erwähnt. Für sie war er schon längst so gut wie tot.

Efoluzzio winkte nach einer Weile ärger-

lich ab. »Ihr Narren, die ihr seid! Was habt ihr nur

getan?« Das allgemeine Erstaunen drückte sich in

einem beklommenen Schweigen aus. Die Ent-täuschung über das Ausbleiben eines ü-berschwenglichen Lobes war zu groß.

»Der eine dort muß ein Sohn der Götter sein!« donnerte Efoluzzio seine erschrocke-nen Fischer an. »Seid ihr denn blind, ihr Dummköpfe? Wie kann man einen Gott ein-fangen und fesseln? Bindet ihn sofort los. Den anderen auch!«

Atlan und Razamon warfen sich einen schnellen Blick zu und waren sich einig, vor-erst nichts zu sagen. Der Alte mußte der Häuptling hier sein, und wenn er sie für Göt-ter hielt ...

Zögernd wurde der Befehl ausgeführt. Efoluzzio erhob sich um einige Zentimeter

und setzte sich schnell wieder, nachdem er auf der anderen Seite des Feuers einige Guur-pel mit einer Handbewegung fortgescheucht hatte.

»Setzt euch, Fremde, und verzeiht den Nar-ren, die euch unziemlich behandelten. Seid die Gäste von Panyxan und nennt mir eure Wünsche. Ich werde alles tun, um sie zu erfüllen. Sicher habt ihr euch auf der ›Straße der Mächtigen‹ befunden und seid vom Weg abgekommen. Ihr habt euch verirrt, ist es nicht so?«

Ehe Atlan antworten konnte, sagte Raza-mon, nachdem sie sich Efoluzzio gegenüber ans Feuer gesetzt hatten:

»Ja, wir verirrten uns, und wir verzeihen deinen Fischern den Mißgriff. Dies hier ist der mächtige Atlan, und ich bin sein Freund und Diener Razamon. Wir befanden uns auf dem Weg nach Orxeya am Rande des Blut-dschungels im Westen von Pthor.«

Atlan wunderte sich heimlich darüber, daß Razamon in den zehntausend Jahren nicht alles vergessen hatte. Aber noch mehr wun-derte er sich über seine Frechheit. Er log mit einer Selbstverständlichkeit, die fast erschüt-ternd wirkte.

Efoluzzio betrachtete Atlan mit Ehrfurcht. »Ein Sohn der Götter?« fragte er scheu. »Wir können nicht darüber sprechen«, gab

Razamon schnell Auskunft, ehe Atlan viel-

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leicht verneinen konnte. »Ein geheimer Auf-trag bindet uns. Dürfen wir deinen Namen erfahren, Häuptling, damit wir an oberster Stelle von deiner Klugheit berichten kön-nen?«

Efoluzzio fühlte sich von einer Woge der Glückseligkeit emporgehoben und sah alle befürchteten Schwierigkeiten, seine Zukunft betreffend, davonschwimmen. Nun hatte er es geschafft! Die Götter selbst waren ihm zu Hilfe geeilt.

»Efoluzzio, mächtiger Diener eines Gottes. Wirst du diesen Namen auch nicht verges-sen?«

»Niemals, Efoluzzio! Doch wir müssen noch über andere Dinge sprechen, und auch hier kannst du helfen. Am Strand wurde einer der Fischer von einem Ungeheuer entführt. Warum schickst du keine Männer aus, die ihm helfen?«

Efoluzzio wich förmlich zurück. »Das ist unmöglich! Noch niemals gab

Hammroon eine Beute wieder her, die er ein-mal in den Klauen hatte. Gemonio ist verlo-ren.«

»Hammroon?« Langatmig erklärte der Häuptling, wer

Hammroon sei, und betonte, daß es kein schrecklicheres Unglück als dieses Scheusal gäbe. Niemand würde es wagen, dieses Un-geheuer vom Berg Skolion anzugreifen oder gar zu vertreiben. Töten könne man es schon gar nicht.

»Wir würden euch dabei helfen«, lockte At-lan, der die Sprache des Kontinents Pthor er-lernt hatte, wenn auch nicht gerade den Dia-lekt der Guurpel. Aber sie verstanden ihn. »Gebt uns Waffen und ein paar tapfere Män-ner mit.«

Efoluzzio streckte abwehrend beide Hände von sich.

»Niemals, Sohn der Götter, wird sich je-mand bereit finden, dir auf den Berg Skolion zu folgen! Gemonio ist verloren, und keiner kann ihm helfen. Äußere andere Wünsche, wir werden sie erfüllen. Aber nicht diesen!« Er wechselte schnell das Thema. »In wenigen Tagen werden die Flugmaschinen aus Zbahn und Zbohr kommen, um Fische zu holen. Sie werden euch mitnehmen und zu eurem Ziel bringen. Vergeßt nicht zu erwähnen, wie gast-

freundlich wir euch bei uns aufgenommen haben, wenn ihr dort ankommt.«

Razamon unterdrückte eine unfreundliche Bemerkung. Am liebsten hätte er dem alten Heuchler eine Ohrfeige verabreicht, aber da-mit wäre nichts erreicht worden. Er fing einen warnenden Blick Atlans auf und grinste Efo-luzzio freundlich an.

»Wo können wir die Nacht verbringen?« fragte er.

»Das Haus neben dem meinen steht leer. Man wird euch Fischmehl und Krabben brin-gen, auch etwas zu trinken.«

»Fischmehl und ...?« Razamon verzog das Gesicht. »Wir sind hungrig und nehmen deine Gaben dankbar an. Deine Gastfreundschaft ist unvergleichlich. Wir werden sie lobend er-wähnen.«

Efoluzzio warf triumphierende Blicke um sich und stand dann auf.

»Folgt mir«, bat er und ging mit wackeli-gen Beinen voran.

Die Guurpel sahen ihnen schweigend und zweifelnd nach.

Irgend etwas stank mächtig, und es war nicht das Fischmehl in den Lagerhäusern ...

*

Nachdem sie einige getrocknete Krabben

heruntergewürgt und die Netzkleider angelegt hatten, die man ihnen brachte, zogen sich At-lan und Razamon in den kleinen Rundbau zurück. Vorsichtshalber unterhielten sie sich in terranisch, damit sie niemand belauschen konnte.

»Wieso hält mich der Häuptling für einen Sohn der Götter?«

Razamon lehnte sich mit dem Rücken ge-gen die bröckelige Lehmwand. Vom Eingang her fiel der schwache Schein eines Feuers in den stickigen Raum. Wenigstens war es nicht kalt.

»Du siehst nicht aus wie ein Techno, und die Mächtigen aus der FESTUNG hat auch Efoluzzio wohl noch nie gesehen. Warum also sollte er dich nicht für einen Gott halten? Wo es Ungeheuer gibt, da sind auch die hilf-reichen Götter nicht fern.«

»Ja, Ungeheuer! Was ist mit diesem Hammroon? Es kann sich der Beschreibung

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nach doch nur um einen ziemlich großen Bä-ren handeln. Mit dem sollte man nicht fertig werden?«

»Nicht so leicht, und die Guurpel schon erst recht nicht. Niemand wird uns helfen.«

»Aber wir brauchen das Parraxynt, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Und ganz ohne jeden Zweifel hat dieser Hammroon es zusammen mit Gemonio in die Berge ver-schleppt.«

Vor dem Eingang war ein schabendes Ge-räusch. Atlan legte den Finger auf die Lippen und schlich sich zu der offenen Tür vor. Dann packte er blitzschnell zu und zog einen Guur-pel in den Raum. Er hielt ihn fest, als Raza-mon ihn auszufragen begann.

Es stellte sich heraus, daß der junge Fischer gekommen war, um seine Hilfe im Kampf gegen Hammroon anzubieten. Er war ein gu-ter Freund Gemonios und wollte alles tun, um den Unglücklichen zu befreien.

»Oft läßt Hammroon seine Opfer noch ta-gelang am Leben«, versicherte er. »Er hält sie in seiner Höhle gefangen, bis der Hunger zu groß wird. Dann erst tötet er die Beute und verspeist sie.«

»Und wie willst du uns helfen? Du hast ge-hört, was euer Häuptling sagte.«

»Efoluzzio ist alt und feige«, schimpfte der Guurpel. »Er wird nie etwas unternehmen, das mit Gefahr verbunden ist.«

»Kannst du uns Waffen besorgen?« »Nicht nur das! Zehn andere Guurpel haben

sich bereiterklärt, euch und mich zu begleiten. Wir brechen morgen nach Sonnenaufgang auf. Ich heiße Kargio.«

»Kommt ihr uns abholen?« »Ihr braucht nur zu warten.« Er sah Atlan

und Razamon forschend an. »Warum eigent-lich wollt ihr Gemonio helfen? Ihr kennt ihn nicht.«

»Wir haben unsere Gründe«, wich Atlan einer direkten Antwort aus. »Aber ist es nicht allein wichtig, daß wir deinen Freund befreien und das Ungeheuer töten?«

»Ihr habt recht«, gab Kargio zu und verließ den Lehmbau.

Als sie wieder allein waren, knurrte Raza-mon:

»Na also, das klappt ja besser, als ich dach-te. Mit zehn Guurpel schaffen wir es viel-

leicht, den Eskirten zu überwinden. Aber viel-leicht finden wir das Parraxynt noch früher, wenn wir der Spur folgen. Dann ersparen wir uns die ganze Jagd.«

»Du vergißt Gemonio«, erinnerte ihn Atlan vorwurfsvoll.

»Nun ja, da hast du auch wieder recht«, gab Razamon zu.

Atlan wickelte sich in die Decken, die man ihnen gegeben hatte.

»Versuche zu schlafen, wir haben einen an-strengenden Tag vor uns.«

»Der heutige war schon anstrengend genug. Mir tun noch alle Knochen weh.«

Auch Atlan spürte seine Knochen, und vor allen Dingen die Stellen am Körper, die bei dem Schleifen durch den Sand am meisten gelitten hatten. Die Haut war abgeschürft worden, und als man sie kurz vor Erreichen der Siedlung noch ein Stück durchs Wasser gezogen hatte, tat das Salz ein übriges.

Aber das alles spielte nun keine Rolle mehr. Sie hatten Atlantis erreicht, und nichts würde sie daran hindern können, das Geheim-nis des sporadisch auf der Erde erscheinenden Kontinents zu ergründen und jene Mächte kennenzulernen, die dahinter steckten.

Razamons selbstgesteckten Ziele waren ähnlich. Sein Haß gegen jene, die Atlantis oder Pthor durch Raum und Zeit steuerten, um jeden Fortschritt aufstrebender Zivilisati-onen zu verhindern, war unbeschreiblich. Nur noch ein Teil seiner Erinnerung war erhalten geblieben, aber er wußte noch genug, um At-lan eine große Hilfe zu sein. Gemeinsam würden sie es schaffen.

Aber dazu gehörte das Bruchstück des Par-raxynts.

Sie mußten es wiederfinden, denn es war unersetzlich.

Atlan schloß die Augen und lauschte. Er konnte die ferne Brandung hören, die in der Bucht von Panyxan nicht so stark wie am of-fenen Strand war. Jenseits des Atlantiks lag die Welt der Menschen, jetzt unendlich fern und unerreichbar geworden. Von ihr war kei-ne Hilfe mehr zu erwarten.

Atlan und Razamon waren allein. Allein auf einer großen Insel im Meer, ein-

geschlossen von einer Energiebarriere und mit einer fremden, unbegreiflichen Zivilisation,

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die modernste Technik und primitivste Barba-rei nebeneinander duldete.

Allein auf einem Kontinent, der jeden Au-genblick wieder seine mysteriöse Reise durch die Dimensionen antreten konnte, von der es vielleicht keine Rückkehr mehr gab.

Wenigstens nicht für viele tausend Jahre.

2. Als Gemonio das Bewußtsein wiederer-

langte, wunderte er sich darüber, daß er noch lebte. Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt weit und stellte fest, daß es schon dun-kel geworden war. Er lag auf dem Rücken. Unter sich spürte er harten Fels.

Er lauschte. Nicht weit entfernt hörte er das Brechen trockenen Holzes. Das mußte Hammroon sein. Wenn er jetzt die Gelegen-heit nutzte, konnte er dem Ungeheuer entwi-schen ...

Aber er konnte weder die Arme noch die Beine bewegen. Wie angeleimt klebten sie an dem Felsblock, auf dem Gemonio lag. Der halbintelligente Hammroon hatte um Handge-lenke und Fußfesseln seines Gefangenen Stri-cke gebunden, an deren anderen Enden schwere Steine befestigt waren. Das Gewicht hielt den Unglücklichen fest.

Gemonio versuchte sich zu erinnern, was alles über das Monstrum berichtet wurde. Viel authentische Nachrichten gab es nicht, aber das wenige, das Gemonio wußte, war mehr als genug. Man hatte Knochenreste gefunden, oft noch unten am Strand. Meist jedoch wur-den die Opfer auf den Berg Skolion ver-schleppt.

Gemonio konnte wenigstens den Kopf so-weit drehen, daß er die nähere Umgebung betrachten konnte. Obwohl es dunkel war, genügte das Weiß des Schnees auf dem nahen Gipfel, ihn seinen Aufenthaltsort in groben Umrissen erkennen zu lassen.

Der Steinblock war nur einer von vielen auf dem kleinen Plateau, das auf der einen Seite von einem Abgrund und auf der anderen von einer Felswand begrenzt wurde. Darüber sah Gemonio die schwarze Öffnung einer Höhle. In Richtung Panyxan fiel ihm ein riesiger Haufen aufgeschichteter Felsbrocken auf, direkt am Rand des Plateaus.

Noch ahnte er nicht, zu welchem Zweck Hammroon diese gewaltige Pyramide errich-tet hatte.

Gemonio schloß schnell die Augen, als er das Ungeheuer kommen sah. In der Dunkel-heit wirkte die massige Gestalt doppelt groß und entsprechend furchterregend, wenn auch nur die Umrisse zu erkennen waren. Mit ei-nem verächtlichen Schnaufen schleuderte Hammroon die zerbrochenen Äste und Stäm-me auf den Felsboden, um sich dann seinem Gefangenen zu nähern.

»Du morgen gut schmecken«, kauder-welschte er mit tiefer, brummiger Stimme.

Gemonio hatte davon gehört, daß die Plage von Panyxan einige Brocken des Guurpeldia-lekts erlernt haben sollte. Viele Fischer hatten ihn rufen und schreien hören, wenn er am Strand stand und sie zum Kampf aufforderte, als sie das sichere Wasser nicht verließen.

Er öffnete die Augen und blickte in die schreckliche Fratze, die dicht über ihm schwebte. Der heiße Atem stank schlimmer als verfaulte Fische, die tagelang in der Sonne gelegen hatten. Aus dem Maul troff Speichel.

»Geh weg!« keuchte Gemonio verzweifelt und versuchte, sich von dem Felsblock zu rollen, um den Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Er schaffte es nicht. »Laß mich in Ruhe!«

Hammroon gab ein Geräusch von sich, das vielleicht ein Lachen bedeuten konnte. Sein ganzer Körper schüttelte sich.

»Ich Feuer mache, dann du warm«, ver-sprach er, aber es klang nicht gerade freund-lich und wohlwollend.

Er stampfte davon und benutzte einen von ihm selbst ausgetretenen Pfad, um hinauf in seine Höhle zu gelangen. Dort tappte er im Dunkeln herum, bis er endlich fand, was er suchte. Auf einem schmalen Felsvorsprung ertastete er den kleinen, metallischen Gegens-tand, der bei den vielen geheimnisvollen Din-gen in der Höhle gewesen war. Mit einem zufriedenen Grunzen machte er sich auf den Rückweg zum Plateau, wo er das Anmach-holz zurechtschichtete.

Gemonio hatte seine Befreiungsversuche inzwischen aufgegeben. Vielleicht schaffte er es über Nacht, wenn der Unhold schlief. Wenn er alle seine Kräfte auf den rechten

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Arm konzentrierte, war es unter Umständen möglich, ihn so oft hin und her zu bewegen, bis der Strick mit dem Steingewicht daran so durchgewetzt wurde, daß er riß. Der Rest würde dann nicht mehr so schwierig sein.

Interessiert sah er Hammroon zu, der nun vor dem geschichteten Holz hockte und einen nicht erkennbaren Gegenstand in den Tatzen hielt, die er geschickt zu benutzen verstand. Plötzlich schoß eine kleine grelle Flamme aus dem Gegenstand und entzündete den Holzsta-pel, der sofort lichterloh brannte.

»Feuer – gut«, grunzte Hammroon. Gemonio antwortete nicht. Wie kam das

Ungeheuer an das Werkzeug der Götter? Auch das Fernrohr, das er auf einem Felsen hatte liegen sehen, stammte aus dem Norden, vielleicht von den Technos.

Allmählich kroch die Wärme in Gemonios erstarrte Glieder. Sein Bezwinger, am ganzen Körper mit einem dichten Pelz bedeckt, hock-te vor dem Feuer und starrte in die züngeln-den Flammen. Ab und zu warf er seinem Ge-fangenen einen Blick zu und bleckte die Zäh-ne. Eine Unterhaltung kam nicht mehr zu-stande.

Endlich, es mußte schon Mitternacht sein, warf Hammroon noch ein paar dicke Holzstü-cke ins Feuer und stapfte dann hinauf in seine Höhle, nachdem er sich davon überzeugt hat-te, daß die Fesseln des Gefangenen noch in Ordnung waren.

Gemonio hörte ihn noch eine Weile rumo-ren, dann trat Stille ein. Wenig später schnarchte das Ungeheuer, als wolle es sämt-liche Bäume des Skolion zu Fall bringen.

Der Guurpel machte sich an die Arbeit. Unter Aufwendung aller Kräfte gelang es

ihm, die rechte Hand einige Zentimeter zu sich heranzuziehen dann wurde das Gewicht des an dem Strick hängenden Steins über-mächtig und zerrte die Hand zurück. Dabei rieb sich der Strick erwartungsgemäß an der scharfen Felskante.

Gemonio wiederholte das Spiel mehrmals, ehe er einsehen mußte, daß die Anstrengung zu groß war. Es würde Stunden dauern, wenn er das überhaupt durchhielt, bis der Strick riß. Aber die Gewißheit des morgigen Todes ver-lieh ihm ungeahnte Energien. Als das Feuer niedergebrannt war und die Wärmeabstrah-

lung geringer wurde, gab es plötzlich einen Ruck. Der rechte Arm wurde von dem Ge-wicht des Steins befreit und war frei.

Gemonio lag still und rührte sich nicht, a-ber der losgelöste Stein tat genau das Gegen-teil. Er polterte den Abhang hinab, prallte lautstark gegen Hindernisse und rollte weiter, bis sich das Geräusch ihm folgender Kleinla-winen in der Ferne verlor.

Atemlos lauschte Gemonio nach oben. Das Schnarchen Hammroons hatte aufgehört, sonst blieb es still. Dann raschelte Laub. Zweige knickten, als das Ungeheuer sich auf die andere Seite wälzte. Bald darauf begann es erneut zu schnarchen.

Gemonio verspürte eine ungeheure Erleich-terung. Die Angst, die ihm fast die Kehle zu-geschnürt hatte, löste sich wieder. Mit Hilfe der freien rechten Hand gelang es ihm, die anderen drei Steine auf den Felsblock zu zie-hen. Viel half das nicht, aber das nicht mehr vorhandene Gewicht an den Füßen und der linken Hand vermittelte die Illusion baldiger Freiheit.

Mit äußerster Vorsicht schob sich Gemonio bis zum rechten Rand des Felsblocks und tas-tete mit der freien Hand nach einem faustgro-ßen Stein, den er als Werkzeug benutzen wollte, um die anderen Stricke durchzuscha-ben. Er fand einen und rollte zurück.

Hammroon hatte ihm das Messer abge-nommen. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte er sich in wenigen Minuten befreien können. Das Klopfen mit dem Stein, der zum Glück eine scharfe Kante besaß, wäre zu ge-räuschvoll gewesen. Also blieb Gemonio nichts anderes übrig, als ihn vorsichtig auf den Stricken zu reiben, bis diese so weit zer-fransten, daß er sie zerreißen konnte.

Eine Stunde dauerte es, bis auch der linke Arm frei war.

Mit beiden Händen zur Verfügung, ging er nun daran, die Knoten der Fußfesseln zu lö-sen. Das war nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, denn Hammroon besaß un-vorstellbare Kräfte. Die Knoten waren derart fest, daß sie um keinen Millimeter nachgaben.

Im Osten kündigte ein schwacher Licht-schein den neuen Tag an, und noch immer war es Gemonio nicht gelungen, endgültig freizukommen. Oben in der Höhle hatte das

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Schnarchen aufgehört. In seiner Verzweiflung versuchte der Fischer es wieder mit dem Stein. Ohne Rücksicht auf den Lärm klopfte er damit auf den gespannten Strick, der sein rechtes Bein mit dem Stein verband. Zwi-schendurch lauschte er, jeden Moment bereit, in seiner Tätigkeit innezuhalten.

Das rechte Bein kam frei. Der Strick um das linke war halb durch, als

Hammroon im Höhleneingang erschien und zur aufgehenden Sonne hinüberblickte. Meer und Horizont waren in flammendes Rot ge-taucht.

Gemonio sah keine andere Möglichkeit mehr, als den schweren Stein, an den sein linker Fuß noch immer gefesselt war, in beide Hände zu nehmen und von dem Felsblock zu rutschen. Das Gewicht behinderte ihn, aber er mußte es in Kauf nehmen. Er preßte den Stein gegen die Brust und rannte zu dem Pfad, der vom Plateau aus den Hang hinab führte.

Er sah sich nicht mehr um, vernahm aber das wütende Aufbrüllen des Eskirten, der nun die Flucht bemerkt hatte. Die Angst beflügelte Gemonios Schritte, er fiel mehr als er lief den Pfad hinab, verfolgt von dem tobenden Hammroon, der schnell aufholte.

Gemonio wußte plötzlich, daß seine An-strengungen vergeblich gewesen waren. Hammroon hätte eine Stunde länger schlafen müssen ...

Abrupt blieb er stehen und gab auf. Tief unten, am Hang des Berges Skolion,

konnte er die noch schlafende Siedlung Pany-xan sehen. An einigen Stellen stieg noch Rauch von den nächtlichen Feuern auf. Ge-monios verzweifelte Hoffnung, einige Freun-de würden zumindest einen Befreiungsver-such unternehmen, hatte sich nicht verwirk-licht, nicht einmal Kargio war so mutig gewe-sen, die jungen und kräftigen Männer des Dorfes zusammenzutrommeln.

Hammroon hatte sich beruhigt, als er sich der Beute wieder sicher sein konnte. Als er den Entflohenen erreichte, packte er ihn samt des Steins unter seinen rechten Arm und trat den Rückweg zum Plateau an.

Achtlos setzte er ihn auf dem Felsblock ab und bereitete alles für das bevorstehende Festmahl vor.

Gemonio blieb ruhig setzen.

Sehnsüchtig sah er hinab auf die silber-rosa schimmernde Oberfläche des fremden Mee-res, das seine Rettung gewesen wäre.

Sein Blick fiel auf den flachen Stein neben der aufgeschichteten Pyramide. Auf ihm la-gen ein breitschneidiges Messer und das Fern-rohr.

Neue Hoffnung stieg in ihm auf.

* Die Sonne war schon aufgegangen, als At-

lan und Razamon von Kargio geweckt wur-den. Bei ihm waren die zehn versprochenen Guurpel, alle bis an die Zähne mit Knochen-harpunen, Steinbeilen und Messern bewaff-net.

»Wir können aufbrechen«, sagte Kargio. »Es werden noch mehr Männer mitkommen, Efoluzzio hat dazu seine Erlaubnis gegeben, weil einer von euch ein Göttersohn ist.«

Sie hatten auch Waffen für Atlan und Ra-zamon mitgebracht. Die beiden Männer wähl-ten jeder eins der stabilen Messer, die niemals aus einer Werkstatt der Guurpel stammen konnten. Wahrscheinlich hatten sie sie bei den sagenhaften Technos eingetauscht.

Efoluzzio erschien vor seinem Haus und winkte ihnen zu. Mit krächzender Stimme wünschte er ihnen Glück. Abseits erschienen andere Guurpel, und man sah ihnen an, daß sie alles andere als freudig gestimmt waren. Sie waren offensichtlich nicht damit einver-standen, daß man das Ungeheuer auf dem Berg Skolion reizte. Ihre unfreundlichen Bli-cke trafen den Häuptling mehr als die Frem-den und ihre freiwilligen Begleiter.

»Du kennst den Weg besser als wir, Kar-gio«, sagte Atlan, als der Guurpel zum Auf-bruch mahnte. »Geh du voran. Wir bleiben dicht hinter dir.«

Etliche hundert Meter vom Nordwestrand der Siedlung entfernt begann bereits der Hang des Skolion. Es gab einen schmalen Pfad, der aber schon sehr alt sein mußte und sicherlich nur selten benutzt wurde. Er war steil und schien direkt hinauf zur Baumgrenze zu füh-ren.

Efoluzzio sah den Teilnehmern der Expedi-tion nach, bis sie zwischen den verkrüppelten Baumgruppen und Büschen untertauchten,

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dann wollte er in sein Haus zurückkehren, wurde aber von einigen älteren Fischern daran gehindert.

»Warum hast du sie gehen lassen?« wollte einer wissen. »Du schickst sie in den Tod.«

Efoluzzio machte ein würdevolles Gesicht. »Der Sohn der Götter ist sehr mächtig, er

kann uns helfen. Aber wir müssen auch ihm helfen, und er will, daß Gemonio befreit wird.«

»Und dafür sollen zwanzig unserer besten Männer sterben?«

Efoluzzio streckte abwehrend beide Hände von sich, als wolle er diesen ungeheuerlichen Vorwurf regelrecht von sich schieben.

»Sterben? Wer spricht von sterben? Sie werden Hammroon töten und ewigen Ruhm ernten. Ich ginge mit ihnen, aber leider ...« Er deutete auf seine Beine. »Ich bin nicht mehr ganz in Form.«

Eine seiner beiden Frauen tauchte neben ihm auf. Sie hatte seine letzten Worte ver-standen und lachte laut auf.

»Er spricht die Wahrheit, Männer!« ver-kündigte sie bissig und warf ihm einen ver-ächtlichen Blick zu. »Das bist du wahrhaftig nicht mehr. Aber andere ins Verderben schi-cken, das kann er noch.«

»Halt den Mund, Hexe!« fuhr Efoluzzio sie wütend an und griff nach einem Ast, der ne-ben dem erloschenen Feuer lag.

Sie verschwand im Haus. Ehe jemand etwas sagen konnte, war plötz-

lich ein fernes Geräusch in der Luft, das nicht vom Meer kam. Vielmehr kam es vom Gipfel des Berges Skolion und war noch sehr weit weg. Es klang wie das Grollen eines Gewit-ters hinter dem Horizont oder weit draußen über dem Meer, und es kam schnell näher.

Efoluzzio kannte es, aber er wagte es nicht, seine Vermutung zu äußern. Blitzschnell beg-riff er, welche Konsequenzen das für ihn ha-ben würde, denn er ahnte die eigentliche Ur-sache.

Er selbst war die Ursache. »Lauft und bringt euch in Sicherheit!« rief

er, so laut er konnte, als er die wie erstarrt herumstehenden Männer und Frauen sah, die aus ihren Häusern gestürzt waren. »Eine Na-turkatastrophe! Von Skolion hat sich eine Felslawine gelöst und kommt herab.«

Da die Siedlung unmittelbar am Fuß des Berges lag, war das Unglück unvermeidbar. Die Felsbrocken würden bis in die Mitte des Dorfes rollen und die Häuser zerstören. Sie würden jeden zerschmettern, der sich ihnen in den Weg stellte.

»Ins Meer!« Die Guurpel schienen wie aus dem Schlaf

zu erwachen. Es kam Leben in sie, als sie Warnung und Rat begriffen hatten. Sie be-gannen in Richtung Strand zu laufen, um we-nigstens ihr Leben zu retten.

Auch Efoluzzio dachte an seine eigene Ret-tung. Ohne sich um seine Frauen zu küm-mern, stolperte er los.

Nach hundert Meter blieb er stehen und sah zurück.

Die Steinlawine kam geradewegs auf Pany-xan zu und hinterließ eine mächtige Staub-wolke, die sich nur langsam verbreitete und wieder bodenwärts senkte. Riesige Felsbro-cken eilten der eigentlichen Lawine voran, sie würden die Siedlung zuerst erreichen. Zugleich bahnten sie den nachfolgenden klei-neren Steinen einen Weg.

Efoluzzio sah die beiden Fremden und die zwanzig Guurpel den Hang hinabstürmen, von der todbringenden Lawine verfolgt. Der Felsteppich war inzwischen breiter und größer geworden, er ließ nicht viel Platz für eine si-chere Flucht.

Und dann erkannte Efoluzzio, daß er viel zu lange gewartet hatte.

Er konnte das Meer nicht mehr rechtzeitig erreichen.

*

Atlan blieb stehen, als er über sich das fer-

ne Donnern hörte. Razamon lauschte und sagte: »Wahrscheinlich Felsen, die sich gelockert

haben und nun das Rollen anfangen. Wir können von Glück reden, wenn sie nicht ge-rade den Pfad herabkommen.«

»Das sind mehr als nur ein paar Felsen.« Atlan sah die Guurpel fragend an, erhielt aber keine Bestätigung für seine Vermutung. »Das ist eine ganze Lawine. Los, zurück nach Pa-nyxan, hier gibt es keine Deckung, nicht ein-mal einen Überhang.«

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»Wenn es eine Lawine ist, so rast sie genau

auf Panyxan zu!« Atlan zögerte. Rechts und links des Pfades

waren tiefe Schluchten oder deckungsloses Gelände. Es gab nichts, das Schutz geboten hätte. Und hinab ließ sich leichter laufen als bergauf.

»Bringt euch in Sicherheit!« rief er und setzte sich bergab in Trab.

Die anderen folgten ihm, während das Donnern schnell näherkam.

Razamon lief dicht neben ihm. »Sie hat sich nicht von selbst gelöst«,

keuchte er. »Du meinst – Hammroon?« »Bestimmt! Die meisten Ungeheuer von

Pthor besitzen etwas Intelligenz. Hammroon hat uns gesehen und will uns vertreiben.«

Atlan wagte einen Blick zurück. Eine gewaltige Wolke aus Dreck und Ge-

steinsstaub kennzeichnete den Weg der herab-stürzenden Lawine, die auch durch Bäume und Sträucher nicht mehr aufgehalten werden konnte. Sie riß alles nieder, was sich ihr in den Weg stellte und vergrößerte sich dabei ständig. Zum Glück wurde sie aber langsa-mer, weil der Hang nicht mehr so steil abfiel.

Atlan schätzte, daß sie das Dorf noch recht-zeitig vor der Lawine erreichen konnten. Er rannte schneller.

Die Guurpel versuchten, das Tempo zu hal-ten und nicht zurückzubleiben. Ihre Schwimmhäute waren nicht für größere Spa-ziergänge auf felsigem Boden geeignet. Sie rissen auf und begannen zu bluten.

Endlich waren sie zwischen den ersten Häusern, die längst verlassen waren. Die Be-wohner hatten sich zum Glück schon lange in Sicherheit gebracht.

Das Donnern war noch ohrenbetäubender geworden, die größeren Felsen prallten kra-chend gegen Hauswände und rissen sie ein. Sie begannen, Atlan und seine Begleiter zu überholen.

»Hinter die Häuser legen!« rief Razamon. »Und verteilen!«

Die Lehmwände boten nur wenig Schutz, aber sie waren besser als nichts. Die Guurpel befolgten den Rat und waren im Nu wie vom Erdboden verschwunden. Atlan lag neben Razamon. Mit einem letzten Satz hatten sie

sich vor einem herbeistürzenden Felsblock in Sicherheit gebracht.

Beide waren von dem anstrengenden Lauf erschöpft.

Tanzend und hüpfend folgten die kleineren Steine den großen Brocken, die meist in den zusammengebrochenen Häusern stecken-geblieben waren. Atlan richtete sich auf.

»Da vorn ist der Häuptling! Er steht mitten auf der Straße!«

Razamon sprang auf die Füße. »Warte hier, ich hole ihn!« Sich immer wieder nach hinten umsehend,

rannte Razamon die Dorfstraße hinab und riß Efoluzzio im letzten Augenblick aus der Bahn eines herbeirollenden Felsens und rettete ihn so vor dem sicheren Tod. Er zerrte den Zö-gernden mit sich und brachte ihn zu Atlan.

»Die Gefahr ist bald vorüber, aber Efoluz-zio hätte es bald noch erwischt.« Er wandte sich an den alten Häuptling. »Wo sind die anderen geblieben?«

»Im Meer«, gab Efoluzzio weinerlich Aus-kunft. »Sie sind alle ins Meer gesprungen. Mein Haus ist zerstört worden ...«

»Das läßt sich wieder aufbauen«, herrschte Razamon ihn an. »Alles läßt sich wieder auf-bauen. Aber davon werden Tote nicht wieder lebendig ...«

In der Tat hatte es einige Tote gegeben, selbst einige Mitglieder der Expedition zur Befreiung Gemonios waren umgekommen. Auch Efoluzzios Frauen waren der Lawine zum Opfer gefallen, aber er zeigte sich nicht besonders beeindruckt davon. Seine Haupt-sorge galt dem zerstörten Haus.

Nach und nach kehrten die Guurpel aus dem Meer zurück. Sie beachteten Atlan und Razamon vorerst noch nicht, sondern unter-suchten die Schäden, die das Unglück ange-richtet hatte. Kargio und die restlichen jungen Männer waren plötzlich nicht mehr zu sehen.

»Es braut sich Unheil zusammen«, befürch-tete Razamon, mit den Verhältnissen noch durch seine lückenhafte Erinnerung mehr ver-traut als Atlan. »Die Guurpel haben etwas vor.«

Irgendwo war Geschrei, dann wurde es wieder still.

Atlan sah sich um. »Wo ist Efoluzzio eigentlich geblieben? Er

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war auf einmal verschwunden.«

»Keine Ahnung, vielleicht hat er Staatsge-schäfte.«

Es klang ironisch und war wohl auch so gemeint.

Atlan sah hinauf zum schneebedeckten Gipfel des Skolion.

»Was ist mit Gemonio? Was mit dem Par-raxynt? Ob uns jetzt noch jemand zu begleiten bereit ist?«

Sie erhielten die Antwort in Form einer Gruppe von mindestens hundert Guurpel, die sich ihnen in drohender Haltung näherten. Alle waren bewaffnet und machten grimmige Gesichter, soweit der Ausdruck ihrer Gesich-ter durch Atlan überhaupt gedeutet werden konnte.

»Ihr seid schuld!« lautete die Anklage, die ihnen von einem kräftig gebauten alten Guur-pel entgegengeschleudert wurde. »Keiner von euch ist ein Sohn der Götter, sonst hätte er das Unglück verhüten können. Efoluzzio war ein Narr, euch zu vertrauen. Die Weiber haben ihn davongejagt, und wenn wir ihn finden, töten wir ihn.«

Atlan nickte Razamon zu. Es war besser, wenn der Atlanter antwortete. Er selbst beo-bachtete jede Bewegung der Fischer.

»Woran sollen wir schuld sein?« fragte Ra-zamon. »An der Lawine? Sie wurde nicht durch erzürnte Götter, sondern von Hamm-roon ausgelöst. Er ist euer Feind, nicht wir, die wir euch helfen wollten.«

»Wenn es wirklich so ist, wie du sagst, dann ist das Unglück erst recht eure Schuld, denn ohne euch wäre Hammroon nicht er-zürnt worden. Wir werden euch gefangen-nehmen und den Technos, wenn sie kommen, zur Bestrafung übergeben.«

»Habt ihr einen neuen Häuptling, der das befiehlt?«

»Wir werden bald einen haben. Geht in das Haus zurück, in dem ihr geschlafen habt, und verlaßt es nicht mehr.«

Atlan sah Razamon fragend an. Sie konnten nicht gegen hundert Guurpel kämpfen, ohne mehrere von ihnen zu verletzen oder gar zu töten.

Razamon nickte ihm zu. Immer noch mit ihren Messern bewaffnet,

gingen sie in das von der Lawine verschonte

Haus. Vor den Eingang ließen sich drei Guurpel

nieder, um Wache zu halten.

3. Gemonios Hoffnung war nicht von langer

Dauer. Hammroon war zwar damit beschäftigt, er-

neut Holz zusammenzutragen, aber er ließ sein Opfer nicht aus den Augen. Alle zehn Minuten kletterte er auf den großen Stein ne-ben der Pyramide, nahm sein Weitauge und blickte in die Ebene hinab. Allem Anschein nach suchte oder wartete er auf etwas.

Das Messer, das er dabei auf dem Stein lie-gen ließ, war eine zu große Versuchung für Gemonio. Als Hammroon wieder einmal Ausschau hielt, nahm Gemonio seinen Stein, an den er noch immer gefesselt war, und rann-te auf den Block zu. Mit einem schnellen Griff hielt er das Messer in der Hand, aber der Eskirte hatte den erneuten Fluchtversuch be-reits bemerkt. Er ließ das Fernrohr einfach fallen und stürzte sich auf den Guurpel.

Gemonio, der sich über seine eigene Cou-rage zu wundern begann, floh nicht, sondern stellte sich zum Kampf, der wegen des hin-derlichen Steins schon vor Beginn verloren war.

»Ich werde dich töten!« rief er dem Unge-heuer entgegen, das seine Tatzen nach ihm ausstreckte – und stach mehrmals zu.

Mit einem wütenden Aufbrüllen zog Hammroon die blutenden Pranken zurück und betrachtete sie mit ungläubigem Staunen. Er hatte noch nie erlebt, daß sich ein Guurpel so wehrte.

Gemonio drang erneut auf ihn ein und rammte ihm das Messer bis zum Heft in den fleischigen Oberschenkel. Er ließ es stecken und wandte sich zur Flucht, in der verrückten Hoffnung, das Ungeheuer könnte ihm nun nicht mehr folgen.

Aber Hammroon ignorierte die Wunden und das Messer. Mit heiserem Brüllen rannte er hinter dem Flüchtigen her. Er hatte ihn schon nach wenigen Metern eingeholt und mit einem wuchtigen Schlag der rechten Tatze zu Boden geschleudert. Gemonio verlor sofort das Bewußtsein und fühlte nicht, wie er auf-

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gehoben und auf das Plateau zurückgebracht wurde.

Der Eskirte fesselte ihn diesmal wieder an allen vier Gliedmaßen denn er wußte, daß er sich nun längere Zeit nicht mehr um seinen Gefangenen kümmern konnte. Dann nahm er sein Weitauge vom Boden und stieg erneut auf seinen Aussichtsstein.

Die Gruppe der Guurpel, die von zwei Fremden angeführt wurde, war inzwischen weiter in seine Richtung vorgedrungen. Sie befand sich nun genau zwischen der Siedlung und dem Höhlenplateau. Günstiger hätte es gar nicht sein können.

Nun entfaltete Hammroon eine emsige Tä-tigkeit. Behende kletterte er an der Pyramide vorbei den Hang hinab und entfernte mit äu-ßerster Vorsicht einige Sperrsteine. Dann kehrte er auf das Plateau zurück und setzte einen Baumstamm als Hebel an. Als er sich dagegen stemmte, entsann er sich des Mes-sers, das noch immer im Oberschenkel steck-te. Mit einem bösartigen Knurren zog er es heraus, legte es auf den Stein und warf dem immer noch bewußtlosen Gefangenen einen haßerfüllten Blick zu.

Der würde nicht nur einmal, sondern hun-dertmal sterben!

Wieder stemmte er sich gegen den Hebel, diesmal mit aller Macht. Die ersten Steine kullerten herab und gaben die größeren frei. Nach wenigen Sekunden kam die ganze Py-ramide ins Rutschen und setzte sich dann in Richtung Panyxan in Bewegung. Niemand hätte sie jetzt noch aufzuhalten vermocht, auch Hammroon nicht, der den Baumstamm fallen ließ, nach seinem Weitauge griff und sich wieder auf den Aussichtsstein schwang, um die Wirkung seines Tuns zu beobachten.

Es trat genau das ein, was er sich erhofft und ausgerechnet hatte. Die Lawine donnerte unter einer gewaltigen Staubwolke zu Tal und vertrieb die Fremden und die Guurpel, die ihn angreifen wollten. Schließlich zerstörte sie noch fast die Hälfte der Häuser von Panyxan.

Die Guurpel würden es vorerst nicht mehr wagen, seinen Berg zu besteigen, und die bei-den Fremden schon gar nicht. Mit sich und seiner Welt zufrieden kehrte Hammroon zu seinem Gefangenen zurück.

»Du mir Hunger verdorben«, kauder-

welschte er schwer verständlich. »Ich dich erst morgen essen, dann wieder Hunger.«

Er überprüfte die Fesseln, verband sie zu allem Überfluß noch mit einigen schweren Felsbrocken in der Nähe und kletterte dann hinauf in seine Höhle, in der er verschwand.

So froh Gemonio auch über den Aufschub seiner Hinrichtung war, so sehr wünschte er sich aber auch, daß alles schon vorbei wäre.

Das Warten auf den Tod begann ihn zu zermürben.

*

Die Guurpel brachten ihnen wieder ge-

trocknete Krabben und lauwarmes Wasser. Sie aßen und tranken, obwohl ihnen davor ekelte.

»Lange bleibe ich hier nicht«, kündigte At-lan an und dachte an schlimmere Situationen, in denen er sich schon befunden hatte. Über-haupt erinnerte ihn alles an längst vergessen geglaubte Erlebnisse auf fremden Planeten, irgendwo in der Milchstraße. Die Parallele war nicht zu übersehen. »Wann können wir einen Fluchtversuch unternehmen?«

»Nicht vor der Nacht, Atlan.« Razamon kaute unlustig auf dem salzigen Krabben-fleisch herum. »Für Gemonio kommt ohnehin jede Hilfe zu spät, ihn retten wir nicht mehr. Aber wir brauchen das Parraxynt. Hoffentlich ging es bei der Gefangennahme des Guurpels nicht verloren.«

»Und wie stellen wir es an? Da sind Wa-chen vor dem Haus, und nachts werden sie noch mehr aufstellen.«

»Die erledigen wir ohne Schwierigkeiten, mein Freund. Die Situation ist für sie unge-wohnt und fremdartig. Wir fliehen in Rich-tung Skolion und klettern so hoch wie mög-lich, bevor es hell wird.«

Atlan widersprach nicht. Er hatte auch kei-ne bessere Idee.

Der Tag verging in öder Langeweile und Bruthitze. Einmal forderte Atlan die Wachen auf, frisches Wasser zu bringen, ein Wunsch, der sofort erfüllt wurde. Sonst kümmerte man sich nicht um sie. Man schien andere Sorgen zu haben.

Gegend Abend kehrte eine Gruppe Fischer mit reichlicher Beute in den Netzen zurück.

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Meist waren es nur kleine Fische, die sich trocknen und zu Mehl verarbeiten ließen. Die Technos würden zufrieden sein, wenn sie in den nächsten Tagen eintrafen.

Auch die beiden Gefangenen erhielten ih-ren Anteil, aber keiner von ihnen verspürte viel Appetit auf rohen Fisch. Außerdem hat-ten sie keinen wirklichen Hunger.

Als draußen die Lagerfeuer brannten, schlief Razamon. Später würde er Atlan ablö-sen, damit auch dieser einige Stunden ruhen konnte.

Er lauschte den Gesprächen, verstand aber nur die Hälfte des zischelnden Dialekts. Von gräßlichen Ungeheuern war die Rede, die in den Bergen hausen und jeden töten sollten, dem sie begegneten. Ehrfurchtsvoll sprach man von den Herren der FESTUNG, die noch nie jemand von ihnen zu Gesicht bekommen hatte. Selbst die allmächtigen Technos waren nichts als Diener der Herren der FESTUNG.

Atlan wurde aus den Geschichten nicht ganz schlau, aber das lag vielleicht auch dar-an, daß er nicht alles verstand. Razamon wür-de mehr damit anzufangen wissen.

Das mit Gemonio tat ihm leid. Er konnte sich gut vorstellen, welche Todesängste der unglückliche Guurpel ausgestanden hatte, ehe das Untier ihn umbrachte. Aber dann erinner-te er sich an das Parraxynt.

Sie mußten es finden, wenn sie dem Pfad von der Küste her auf den Skolion folgten. Vielleicht hatte Gemonio es dort verloren. Aber der Weg von Panyxan her war näher und würde Zeit einsparen.

Er weckte Razamon und flüsterte: »Sie werden allmählich müde, aber wir

warten besser noch ein paar Stunden, ehe wir fliehen. Die Wachen wurden gerade abgelöst, aber die neuen wirken nicht viel munterer. Sie scheinen getrunken zu haben.«

»Sie stellen ein betäubendes Gebräu her, und dann haben sie noch Räucherstäbchen, dessen Duft eine ähnliche Wirkung hervor-ruft. Ich wecke dich rechtzeitig.«

Atlan legte sich hin und war wenige Minu-ten später fest eingeschlafen.

*

Zwei Stunden nach Mitternacht versuchten sie es.

Atlan nahm sich den rechten, Razamon den linken Wächter vor. Es ging völlig lautlos, und der Guurpel in der Mitte wurde von selbst ohnmächtig und sank zu Boden, als er sah, was geschehen war.

Einige der Feuer vor den Häusern glimmten noch und wiesen ihnen den Weg. Ohne Schwierigkeiten fanden sie den Pfad wieder und folgten ihm. Oft wurden sie gezwungen, seitwärts auszuweichen, weil die Lawine Bäume umgerissen hatte und die zersplitterten Stämme unüberwindbare Hindernisse darstell-ten.

»Steil!« knurrte Razamon und deutete hin-auf zu dem matt schimmernden Schneefeld des Gipfels. »Und weit!«

»Wir müssen nur bis zur Baumgrenze, dann noch ein Stück durch Buschwald – so erklärte es mir Kargio.«

Sie sprachen nicht mehr, um ihre Kräfte zu schonen, und dann hörten sie dicht vor sich ein Geräusch. Ein Ast knackte, dann stöhnte jemand gottserbärmlich.

Atlan hatte das Messer gezogen. »Warte hier, ich sehe nach. Da ist jemand.« Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit

gewöhnt, und durch eine Wolkenlücke schien für kurze Zeit der Mond. Jede Deckung aus-nützend ging er weiter, bis er vor sich auf dem Weg eine Gestalt hocken sah. Die glit-zernden Schuppen verrieten den Guurpel.

Atlan näherte sich ihm langsam, bis er Efo-luzzio erkannte, dessen Netzgewand total von den Dornen des Unterholzes zerrissen worden war.

»Was machst du denn hier?« fragte er und steckte das Messer zurück in den Gürtel. Er drehte sich um. »Komm, Razamon, es ist nur Efoluzzio.«

Der Häuptling konnte seine Erleichterung nicht verbergen. Zuerst jammerte er zwar, als ginge es ihm an den Kragen, aber dann wurde er ruhiger.

»Sie haben mich aus dem Dorf gejagt, weil ich meine Frauen nicht rettete. Dabei wäre ich selbst bald von der Lawine begraben worden. Mein Haus ist zerstört worden – welches Un-glück!«

»Nun vergiß dein Haus, du wirst ein neues

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bekommen.«

»Ich kann nicht mehr nach Panyxan zurück ...!«

»Wir werden sehen.« Atlan wandte sich an Razamon. »Was machen wir mit ihm? Wir können ihn doch nicht einfach hier sitzen las-sen.«

Efoluzzio richtete sich auf und sagte mit zittriger Stimme:

»Ich komme natürlich mit euch, um Gemo-nio zu befreien! Wenn uns das gelingt, wer-den sie mich in Panyxan wieder zum Häupt-ling haben wollen.«

Das klang für Atlans Ohren zwar einleuch-tend, aber der alte Fischer würde für sie eine große Belastung sein. Doch zurücklassen konnten sie ihn auch nicht.

»Na gut, dann begleite uns. Aber wir haben nur wenig Zeit, wenn wir Hammroons Ver-steck vor Anbruch der Dämmerung erreichen wollen. Du wirst dich anstrengen müssen.«

»Ich fühle mich schon wieder kräftig ge-nug«, versicherte der Häuptling. Mühsam erhob er sich und lehnte jede Hilfe ab. »Ge-hen wir.«

Im Osten begann es schon zu dämmern, als sie eine Pause einschieben mußten. Nicht nur wegen Efoluzzio, der wieder zu jammern be-gonnen hatte. Auch Atlan und Razamon wa-ren erschöpft.

Die auffällige Felsbarriere, die Kargio er-wähnt hatte, obwohl er sie immer nur aus großer Entfernung gesehen hatte, lag noch fünfhundert Meter vor ihnen. Dahinter muß-ten das Plateau und die Höhle liegen, von der berichtet wurde. Dort sollte Hammroon hau-sen.

»Es wird zu hell«, befürchtete Razamon. »Wir werden uns kaum unbemerkt dem Ver-steck des Ungeheuers nähern können.«

»Wir haben keine andere Wahl. In zehn Minuten brechen wir auf.«

Sie lagen zwischen ein paar Büschen, die hier oben schon spärlicher wuchsen. Durch sie hindurch beobachtete Atlan die Barriere und die dahinterliegende Felswand mit dem Höhleneingang. Vom Plateau aus stieg eine dünne Rauchwolke in den dämmerigen Him-mel. Sie verriet ein nur noch glimmendes Feuer. Das wiederum ließ darauf schließen, daß Hammroon noch schlief.

Razamon mahnte: »Wir müssen weiter! Es wird hell.« Atlan drückte Efoluzzio auf den Stein zu-

rück, auf dem er gesessen hatte. »Du bleibst hier, Häuptling, das ist besser

für uns alle. Doch wenn du willst, kannst du langsam nachkommen, aber sei vorsichtig.«

Dem Guurpel fiel es erst gar nicht ein, zu protestieren. Er machte eine Geste des Ein-verständnisses und streckte die Beine von sich.

Atlan und Razamon aber drangen weiter nach oben vor. Es wurde immer schwieriger, einen Strauch oder einen großen Stein zu fin-den, hinter dem sie sich verbergen konnten. Die letzten hundert Meter gab es überhaupt keine Deckung mehr, und sie legten die ge-fährliche Strecke so schnell wie möglich zu-rück, bis sie endlich den Rand des Plateaus erreichten.

Das erste, was sie erblickten, war der auf dem Felsblock gefesselte Guurpel.

Hammroon war nicht zu sehen. Razamon zog sein Messer und huschte zu

dem Gefangenen, der nur Gemonio sein konn-te. Hastig durchschnitt er die Fesseln und hielt dem Überraschten den Mund zu, als er plötz-lich wach wurde und um sich zu schlagen begann.

Atlan sah die Bewegung aus den Augen-winkeln heraus.

Im Höhleneingang war Hammroon erschie-nen.

Die Beschreibung paßte genau auf einen übergroßen Bären. Das Untier zeigte sein Raubtiergebiß und stieß dann ein furchtbares Gebrüll aus. Hastig begann es, den Pfad her-abzulaufen, der zum Plateau führte.

»Kannst du laufen?« fragte Razamon den befreiten Gemonio.

Aber die Fesseln hatten dessen Blutkreis-lauf fast völlig abgeschnitten. Arme und Bei-ne waren noch steif.

»Bringt euch in Sicherheit!« flehte er. »Es müssen nicht noch mehr sterben.«

Er hatte die beiden Fremden wiedererkannt, die er am Strand gesehen hatte. Sein schlech-tes Gewissen rührte sich, darum riet er ihnen zur Flucht, ohne an sich selbst zu denken.

»Unten wartet Efoluzzio, nur ein paar Me-ter von hier. Versuche, zu ihm zu gelangen.

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Wir halten Hammroon auf.«

»Niemand kann ihn aufhalten ...« »Tu jetzt, was ich dir sage, Gemonio!« »Du kennst meinen Namen?« »Wir wollten dich mit Kargio befreien, aber

die Lawine kam uns dazwischen.« »Hammroon hat sie ...« »Ich weiß! Und nun geh endlich, sonst ist

es zu spät.« Gemonio ließ sich vom Block auf die Füße

gleiten und machte ein paar Schritte auf den Rand des Plateaus zu. Dann verschwand er.

Inzwischen hatte Hammroon den größten Teil des Weges von der Höhle herab zurück-gelegt.

»Das Parraxynt?« fragte Atlan. »Hat Ge-monio etwas gesagt?«

»Nein, aber es war nicht zu sehen. Er hat es also entweder verloren, oder es muß hier ir-gendwo sein.«

Atlan sah hinauf zur Höhle. »Ich glaube auch zu wissen, wo es ist.

Kannst du Hammroon von hier fortlocken, während ich hinauf zur Höhle laufe und sie untersuche?«

»Versuchen kann ich es ja ...« brummte Razamon wenig begeistert und zog sein Mes-ser. »Aber ich weiß nicht, wie schnell das Biest laufen kann. Ich muß auch an Efoluzzio und Gemonio denken.«

Atlan nickte ihm zu, denn für Worte blieb keine Zeit mehr. Der riesige Bär hatte das Plateau erreicht und stürzte sich auf die bei-den Männer, die seinen Gefangenen befreit hatten. Dabei riß er den Rachen weit auf, als wolle er seine Gegner mit Haut und Haar ver-schlingen. Die riesigen Pranken waren zum tödlichen Schlag erhoben.

Atlan und Razamon griffen von verschie-denen Seiten an, hielten sich dabei aber in respektvoller Entfernung. Mehrmals stachen sie mit den Messern zu, brachten dem Unge-heuer aber nur kleine Kratzer bei.

»Lenke ihn ab!« rief Atlan, als sie nichts er-reichten.

Razamon wagte einen Ausfall und stieß herzhafter zu als bisher. Sein Messer drang halb in den behaarten Arm ein und riß eine tiefe Wunde. Der Atlanter zog die Waffe so-fort zurück und wandte sich zur Flucht, denn Hammroon glaubte nun in ihm den gefährli-

cheren Gegner erkannt zu haben und griff ihn an, nicht mehr auf Atlan achtend.

Genau das war es, was dieser gewollt hatte. Mit wenigen Sätzen erreichte er den Pfad,

der hinauf zur Höhle führte. Während er ihm folgte, sah er hinab zum Plateau. Razamons Ablenkungsmanöver war zu einer wilden Flucht geworden, denn Hammroon folgte ihm dicht auf den Fersen. Weiter rechts kroch Gemonio auf die Büsche zu, hinter denen Efoluzzio hockte und dem Geschehen aus sicherer Entfernung zusah.

Als Atlan Razamon aus den Augen verlor, stand er auch schon vor der Höhle. Sie war ziemlich geräumig, schien aber keinen zwei-ten Ausgang zu haben. An den Wänden auf-gestapelt lagen Gegenstände, die nicht hierher paßten und auch nichts mit einem Ungeheuer zu tun hatten.

Atlan konnte bei einigen die Bedeutung und ihren Zweck nur erraten, aber ohne Zwei-fel handelte es sich zum Teil um technische Geräte und Gebrauchsgegenstände. Im Au-genblick war nicht viel damit anzufangen, aber vielleicht blieb später einmal Zeit, sich um den Inhalt der Höhle zu kümmern.

Sein Fuß stieß gegen einen Widerstand. Er bückte sich und hob das Parraxynt auf, das auf dem Boden lag. Gleichzeitig vernahm er das Triumphgeheul Hammroons.

Atlan lief es eiskalt den Rücken hinunter. Razamon ...? Das Gebrüll kam näher, Hammroon kehrte

zurück. Atlan eilte vor zum Höhleneingang. Er war

breit, aber der Pfad war nur schmal. Er ließ sich notfalls verteidigen, wenn man eine Waf-fe besaß. Aber nur mit einem Messer?

Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihm sein Extrasinn zu Hilfe und zeigte ihm ein Bild aus frischester Erinnerung. Es war ein Gegenstand, den er eben noch gesehen hatte.

Wo war ...? Richtig! Hammroon brüllte wieder, diesmal schon

merklich näher. Atlan sah ihn auf das Plateau laufen, in den Pranken ein Messer.

Razamons Messer? Schnell zog er sich in das Innere der Höhle

zurück und suchte den Gegenstand, den ihm sein Unterbewußtsein gezeigt hatte. Er lag

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mitten zwischen den anderen Sachen und war ihm nur deshalb aufgefallen, weil er eine ge-wisse Ähnlichkeit mit einem Energieprojektor zu haben schien.

Vorsichtig zog er das Ding hervor und be-trachtete es genauer.

Es war eine Spirale von der Länge eines Unterarms und schimmerte wie pures Gold. An dem einen Ende lief die Spirale konisch zu, und am dickeren Ende war ein kastenför-miges Gebilde mit einer druckknopfähnlichen Vertiefung.

Eine Waffe vielleicht ...? Viel Zeit blieb nicht mehr, den Gegenstand

genau zu untersuchen. Jetzt zählte jede Se-kunde.

Ohne lange zu überlegen, richtete Atlan das schmale Ende der Spirale gegen die Felswand und preßte den Daumen in die Vertiefung des Kästchens am anderen Ende.

Ein greller Energieblitz fuhr quer durch die Höhle und drang in die Felswand ein, ohne reflektiert zu werden. In dem Gestein war ein rundes Loch entstanden. Atlan ging hin und sah, daß die Ränder noch glühten.

Neue Hoffnung durchzuckte ihn, und er wußte, daß keine Zeit mehr zu verlieren war. Mit zwei Sätzen war er beim Höhleneingang, und er kam keine Sekunde zu früh.

Hammroon war nur noch wenige Meter entfernt. Er brüllte erneut auf, als er Atlan erblickte. Mit hoch erhobenen Pranken stürzte er vor, um den Eindringling mit einem Schlag zu zerschmettern.

Atlan zielte sorgfältig und betete, daß die Waffe mehr als einen Energieschuß besaß. Dann drückte er wieder in die Vertiefung.

Der grellweiße Strahl ging durch Hamm-roons massigen Körper hindurch, als stelle er kein Hindernis dar. Immer und immer wieder schoß Atlan, bis das Ungeheuer schließlich schwankend stehenblieb, langsam die Tatzen sinken ließ und damit über das versengte Fell und das hervorquellende Blut strich. Seine Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen, so als könne er nicht begreifen, was gesche-hen war. Dann sahen sie Atlan an. Erneut flammte tödliche Wut in ihnen auf.

Torkelnd bewegte Hammroon sich weiter, auf den Feind zu.

Abermals feuerte Atlan auf das Wesen, das

eigentlich schon längst hätte tot sein müssen, aber der Eskirte schien tausend Leben zu be-sitzen, vielleicht aber war es auch nur sein Haß, der ihn noch nicht stürzen ließ.

Im letzten Augenblick sprang Atlan beisei-te, huschte an Hammroon vorbei und rannte den Pfad hinab. Erst als er das Plateau er-reichte, hielt er an und drehte sich um.

Hammroon brauchte länger, um zu reagie-ren. Auch er hatte sich umgedreht und noch einige Schritte gemacht, war dann aber ste-hengeblieben. Noch einmal riß er das Maul auf, um seinen Kampfschrei in den beginnen-den Tag hinauszubrüllen, dann erloschen sei-ne Lebenslichter.

Mit einem dumpfen Krachen stürzte er auf den Pfad und begann, ihn herabzurollen. Sei-ne Pranken hatten nicht mehr die Fähigkeit, sich festzukrallen, und so landete der leblose Riesenkörper dicht vor Atlans Füßen auf dem flachen Plateau und blieb reglos liegen.

Atlan rannte hoch zur Höhle, holte das Par-raxynt und machte sich dann auf die Suche nach Razamon, den er nicht mehr lebendig anzutreffen fürchtete. Er folgte den deutlich sichtbaren Spuren bis hinter eine felsige Er-hebung – und fand ihn.

Der Atlanter war bewußtlos. Er hatte eine blutende Beule am Kopf. Sonst schien er un-verletzt zu sein. Atlan legte ihn über seine Arme und trug ihn hoch zum Plateau. Von links kam Efoluzzio angehumpelt, von Ge-monio gestützt.

»Hammroon ist tot! Hammroon ist tot!« ju-belte der Häuptling und umtanzte trotz seiner Gichtbeine den Leichnam des Gefürchteten. »Wir sind Helden!«

Gemonio starrte nur stumm auf seinen Pei-niger und gab keinen Kommentar. Seine Dankbarkeit war ehrlich.

Atlan kümmerte sich um Razamon, der allmählich wieder zu sich kam. Mit schmerz-haft verzerrtem Gesicht fragte er nur:

»Geschafft?« Atlan berichtete ihm kurz, was geschehen

war und deutete auf die Metalltafel, das Par-raxynt. Dann wandte er sich an Gemonio:

»Fühlst du dich wieder kräftig genug, ein wenig zu arbeiten?«

»Ich würde alles tun, was mir aufgetragen wird.«

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»Gut, wir werden dir später helfen. Wir

brauchen Holzstangen, um einen Schlitten oder eine Schleppe für Hammroons Leiche zu bauen. Deine Leute im Dorf sind sehr böse auf uns, Gemonio, weil sie uns die Schuld an der Lawine geben. Wenn wir ihnen Hamm-roon bringen, werden sie sich beruhigen.« Er streifte Efoluzzio mit einem Seitenblick. »Und für ihn dürfte es auch von Vorteil sein.«

»Wir sind Helden!« rief Efoluzzio mit neu-er Begeisterung aus.

»Schön, dann hilf Gemonio!« riet Atlan ihm.

Er untersuchte Razamons Beule nun genau-er, konnte aber keine ernsthafte Verletzung am Schädel feststellen.

»Wird schon werden«, tröstete er. »Wie hat er dich erwischt?«

»Er hat mich eingeholt, das ist alles. Ich versuchte, mit dem Messer zu stechen, aber er nahm es mir ab. Dann stürzte ich zu Boden und verlor das Bewußtsein. Mehr weiß ich nicht.«

»Er hat dich für tot gehalten, und das war dein Glück.«

Gemonio und Efoluzzio mußten weit berg-ab laufen, um das richtige Holz zu finden. Atlan kehrte noch einmal in die Höhle zurück, wo er genügend Stricke und sogar einige Nä-gel fand. Razamon stieg inzwischen auf Hammroons Aussichtsstein und sah in die Ebene hinab.

»Nimm das Fernrohr«, riet Atlan, als er auf das Plateau zurückkam. »Möchte wissen, wo-her das ganze Zeug stammt.«

»Kann sein, daß mal ein Zugor hier in der Gegend abstürzte, denn die Sachen könnten, so wie du sie schilderst, von den Technos stammen. Hammroon hat sie gefunden und in die Höhle geschleppt.«

»Nun ja, das wäre eine Erklärung.« Gemonio brachte die ersten Holzstangen. »Efoluzzio sammelt noch mehr und kommt

dann mit mir hoch.« Er sah Atlan an. »Ich habe euch noch nicht gedankt ...«

»Laß das, es ist überflüssig. Wir werden deine Hilfe auch noch nötig haben.«

Gemonio ging wieder, um Efoluzzio und den Rest Holz zu holen.

»Sie haben in Panyxan schon mit dem Auf-bau begonnen«, sagte Razamon von seinem

Steinblock her und setzte das Fernrohr ab. »Sie erwarten die Technos jetzt täglich. Das wird ein Freudenfest, wenn wir ihnen Hamm-roons Leiche bringen, nur weiß ich nicht ge-nau, was die Technos dazu sagen werden – und erst die Herren der FESTUNG.«

Seine Erinnerung verliert die bisher vor-handenen Lücken, dachte Atlan und suchte nach einem Stein, der als Hammer dienen konnte. Das ist gut so, denn wir werden es dann leichter haben.

»Wichtig ist für uns, was die Guurpel sa-gen«, meinte er.

Razamon nickte und setzte das Fernrohr wieder an.

Das Höhlenplateau lag nach Süden und er-hielt den ganzen Tag Sonne. Links war das Meer und davor Panyxan. Rechts und hinter dem Dorf begann das gewaltige Gebirge, das die Große Barriere von Oth genannt wurde.

Mit dem Fernrohr waren einzelne Gipfel gut zu erkennen, sie waren ausnahmslos mit Schnee bedeckt. Zwischen ihnen schoben sich Gletscher bis weit unter die Baumgrenze.

Razamon erinnerte sich, daß viele Ge-schichten über das Gebirge erzählt wurden. Zauberer sollten dort hausen, aber auch un-vorstellbare Ungeheuer und mordgierige Bes-tien, die sich gegenseitig das Leben schwer machten und nur dann zusammenhielten, wenn ein Fremder in ihr Hoheitsgebiet ein-drang.

Gemonio und Efoluzzio kamen mit dem restlichen Holz und halfen Atlan, den primiti-ven Schlitten zusammenzubauen. Obwohl sie ihn nicht durch Schnee oder über Eis ziehen konnten, würde der Transport des schweren Körpers von Hammroon nicht allzuviel An-strengung kosten, da es nur bergab ging.

Über dem Gipfel des rechts von Panyxan gelegenen Berges – Razamon wußte nicht, ob es der Io-Parth oder der Ziowarth war –, fie-len ihm ein halbes Dutzend dunkler Punkte auf, die dort kreisten. Die Vergrößerung des Fernrohrs reichte nicht aus, diese Punkte zu identifizieren, die sich deutlich von den Schneefeldern abhoben. Es konnten riesige Vögel sein, vielleicht aber auch Flugmaschi-nen.

Als Gemonio einen Augenblick von seiner Arbeit abließ, winkte ihn Razamon zu sich. Er

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reichte ihm das Fernrohr.

»Weißt du, was das ist?« Gemonio schwieg lange, dann gab er Ra-

zamon das Instrument zurück. »Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß

in der Barriere seltsames Leben existiert und daß kein Guurpel es jemals wagen würde, sie aufzusuchen. Wenigstens kein normal den-kender Guurpel. Es gibt immer Ausnahmen ...«

»Was willst du damit sagen?« drängte Ra-zamon, als Gemonio plötzlich schwieg.

Nach einigem Zögern erwiderte der Fi-scher:

»Ich glaube, daß Neugier eine Krankheit ist, und es hat schon neugierige Guurpel ge-geben. Es gibt viele alte Geschichten, die von Angehörigen meines Volkes berichten, die in die Berge zogen und nie mehr zurückkehrten. Einige aber kamen doch zurück, und was sie erzählten, war phantastisch und nicht zu glau-ben. Es soll in der Barriere nicht nur Zauberer und geheimnisvolle Mächte geben, sondern auch Völkerstämme, die jeden Eindringling sofort töten, wenn sie ihn fangen.«

»Völkerstämme ...?« »So wurde berichtet«, blieb Gemonio bei

seiner Behauptung. »Natürlich weiß niemand von uns, ob das die Wahrheit ist, denn keiner konnte es bisher beweisen. Wahr aber muß sein, daß in den Bergen grauenhafte Gefahren drohen.«

»Gehören diese dunklen Punkte über dem Gipfel auch dazu?«

»Ich weiß es nicht.« Razamon stellte keine Fragen mehr, und

Gemonio kehrte auf das Plateau zurück. Der Bau des Schlittens nahm mehr Zeit in An-spruch, als Atlan gerechnet hatte. Es war schon Nachmittag, als er mit Razamon erneut losging, um weiteres Holz zu holen. Der At-lanter berichtete ihm von seiner Beobachtung.

»Dunkle fliegende Punkte?« Atlan schüttel-te den Kopf. »Wenn man die Entfernung be-rücksichtigt, muß es sich um ziemlich große Objekte handeln, vielleicht um diese Zugors, die von den Guurpel erwähnt wurden. Aber warum kreisen sie scheinbar sinnlos um einen Berggipfel?«

Razamon zuckte die Schultern und schnitt einige biegsame Zweige aus den Büschen, um

sie gebündelt auf den Boden zu legen. Er blickte rein zufällig zu den Schneefeldern des Skolion hinauf.

»Was ist das, Atlan? Nebel?« Vom Gipfel des Skolion herab kroch eine

milchig undurchsichtige Nebelwand auf sie zu, langsam und drohend. Sie war immerhin noch ein bis anderthalb Kilometer entfernt und hatte gut fünfhundert Meter Höhenunter-schied zu überwinden, aber sie kam unauf-haltsam näher.

»Wenn wir uns nicht beeilen, schaffen wir es heute nicht mehr, nach Panyxan zu gelan-gen«, befürchtete Atlan voller Sorge. »Wir finden den Weg nicht, wenn wir nichts se-hen.«

»Der Pfad ...« »Ihn können wir nicht nehmen, weil er zu

steil ist. Du vergißt den Schlitten. Und der Pfad hinab zur Bucht, in der wir ange-schwemmt wurden, nutzt auch nichts, weil wir dann viel zu weit nördlich von Panyxan geraten. Vielleicht weiß Gemonio eine güns-tigere Möglichkeit.«

Sie nahmen ihre Bündel und machten sich an den beschwerlichen Aufstieg zum Plateau. Als sie dort ankamen, war die merkwürdige Nebelwand nur noch knapp achthundert Me-ter von ihnen entfernt.

4.

»Das ist kein richtiger Nebel«, sagte Ge-

monio, als sie ihn auf das Phänomen auf-merksam machten. »Wir haben ihn schon oft in den Bergen beobachten können, aber er verließ nie die Gipfelregionen. Wir kennen nur den Nebel, der vom Meer kommt. Dieser ist anders.«

»Was soll es denn sonst sein?« fragte Atlan verwundert.

Efoluzzio entsann sich seines Amtes als Häuptling.

»Zauber ist es, Magie! Man will uns ver-nichten!«

Atlan wischte die Behauptung mit einer Handbewegung fort.

»Unsinn! Wie sollte uns Nebel vernichten können? Er kann uns nur daran hindern, heute noch nach Panyxan zu gelangen, das ist alles. Gemonio, kennst du einen Weg zurück ins

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ATLAN 2 – König von Atlantis

Dorf? Die beiden bekannten können wir nicht nehmen.«

Der Schlitten war fast fertig, es fehlten nur noch einige Verstrebungen. Die Holzkufen waren schmal und würden gut über den felsi-gen Boden gleiten.

»Ich kenne keinen, aber wenn wir uns süd-lich halten, können wir die Richtung kaum verfehlen.«

Atlan sah nach Südwesten. »Die Sonne wird bald hinter der Barriere

verschwinden, dann wird es dunkel. Wir müs-sen die Nacht auf dem Plateau verbringen.«

Gemonio schüttelte sich. »Es birgt schlimme Erinnerungen für

mich.« »Du bist frei!« hielt Atlan ihm entgegen.

»Geh Holz sammeln, damit wir nicht zu frie-ren brauchen.«

»Jawohl, geh Holz sammeln!« rief Efoluz-zio ihm noch nach.

Sie bauten den Schlitten fertig und rollten dann mit gemeinsamen Kräften den schweren Körper Hammroons über Gleithölzer auf die Ladefläche. Mit Stricken banden sie ihn so darauf fest, daß er nicht herunterrollen konn-te.

Es dämmerte bereits, als die Nebelwand nur noch hundert Meter entfernt war. Razamon, der noch einmal mit dem Fernrohr zum Aus-sichtsstein gegangen war, kehrte mit nach-denklicher Miene zurück.

»Die fliegenden dunklen Punkte sind nicht mehr da, ich kann sie nirgendwo entdecken.«

»Vergiß sie!« riet Atlan und entzündete den kleinen Holzstoß vor der Höhle.

Razamon, der das Fernrohr noch immer in der Rechten hielt, ballte die Linke plötzlich zur Faust. Er trat auf Atlan zu und hielt sie ihm unter die Nase.

»So, vergessen soll ich sie? Ein guter Rat, wahrhaftig! Merk es dir, mein Freund, hier auf Pthor darf man niemals etwas vergessen, sonst lebt man nicht sehr lange – das weiß ich noch! Dieses verdammte Gebilde, das schon soviel Unglück über aufstrebende Zivilisation gebracht hat, ist voller Gefahren und unbe-kannter Drohungen. Diese dunklen Punkte über den Bergen können unseren Tod bedeu-ten.«

Atlan sah das verdächtige Glimmen in den

schwarzen, eng zusammenstehenden Augen und wußte, daß er den Bogen nicht überspan-nen durfte, wollte er nicht einen Wutausbruch mit verheerenden Folgen riskieren. Wenn Razamon von seinem bösen Unterbewußtsein überwältigt wurde, konnte er Freund und Feind nicht mehr unterscheiden.

»Ist ja schon gut, Razamon, ich habe es nicht so gemeint ...«

»Dann rede auch nicht so!« unterbrach ihn der Atlanter zornig. »Was weißt du denn schon von Pthor? Nichts, gar nichts! Nur das, was ich dir erzählte. Als wir aufbrachen, habe ich dich gewarnt. Ich habe dich auch vor mir gewarnt, Atlan! Sei also vorsichtig!«

»Wir wollen uns nicht streiten. Komm, setz dich, Razamon. Und sage uns, was die Punkte über dem Berg bedeuten könnten. Wir brau-chen dich und deine Erinnerung jetzt dringen-der als je zuvor.«

Das Glimmen in den schwarzen Augen er-losch langsam. Razamon setzte sich auf einen Stein im Höhleneingang. Der Schein des Feu-ers beleuchtete seine Gesichtszüge.

»Meine Erinnerung ...? Es könnten Vögel sein.«

Atlan warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Vögel? Das ist nicht möglich. Es gibt kei-

ne so großen Vögel. Bedenke die Entfernung ...«

Er schwieg, als er das Böse in Razamons Augen wieder erwachen sah. Unwillkürlich suchten seine Augen die Spiralwaffe, die auf einem schmalen Felsrand ruhte.

»Es gibt auch große Vögel!« sagte Raza-mon tonlos.

Gemonio legte Holz nach und kehrte in die Höhle zurück.

»Der Nebel hat uns in wenigen Minuten er-reicht.«

»Das Feuer wird ihn aus der Höhle fernhal-ten«, hoffte Efoluzzio. »Morgen werden wir als Helden in Panyxan einziehen.«

Eine andere Sorge schien er nicht zu haben. Atlan klopfte Razamon begütigend auf die

Schulter, erhob sich und trat hinaus auf den Feuerplatz vor der Höhle. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, aber die näherrü-ckende Nebelwand reflektierte den Schein des lodernden Feuers.

Die Sicht hinab zum Meer war frei. Dort,

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wo Panyxan liegen mußte, waren die winzi-gen Lichtpunkte von Lagerfeuern zu sehen. Sie konnten auch bei Nacht gute Wegweiser sein.

Vielleicht ist es ein Fehler, daß wir warten, dachte Atlan bei sich. Vielleicht hätten wir doch rechtzeitig aufbrechen sollen. Der Nebel hätte uns kaum eingeholt.

Aber nun war es zu spät dazu. Und wer weiß, es hätte ja auch sein können, daß im Fall des Aufbruchs der Nebel schneller ge-kommen wäre. Auf Pthor war sicher alles möglich ...

Er kehrte in die Höhle zurück. Gemonio hatte ein wenig in ihr herumgestöbert und Stoffetzen aufgetrieben, in die man sich wi-ckeln konnte, um die Kälte fernzuhalten, die sich schon bemerkbar machte. Erste Nebelfet-zen wehten unten über das Plateau. Sie be-gannen den Schlitten und Hammroons Leich-nam wie ein Leichentuch einzuhüllen.

Wortlos legte Razamon mehr Holz in das Feuer.

Atlan tastete sich an der Höhlenwand ent-lang, um einem Rat seines Extrasinns zu fol-gen, der sich wieder gemeldet hatte. Unter den vielen Gegenständen, die er gesehen hat-te, war auch einer, der nun von Nutzen sein konnte. Seine Hände fühlten ihn, als würden sie von der vergessenen Erinnerung gelenkt. Der Daumen drückte einen Knopf ein.

Es war eine kleine Lampe mit einem scharf gebündelten Lichtstrahl. Das Innere der Höhle wurde hell erleuchtet. Wahrscheinlich hatte Hammroon sie nie benutzt, dazu war er nicht intelligent genug gewesen.

»Solche kalten Lichter haben die Technos auch«, sagte Efoluzzio vom Eingang her. »Woher hast du es?«

Atlan kehrte zu den anderen zurück. Er setzte sich.

»Es lag in der Höhle, Efoluzzio. Und es liegt noch viel mehr hier herum. Hammroon hat es bewacht, ohne zu wissen, worauf er aufpaßte. Wir werden nie erfahren, wie das alles hierher kam, oder kannst du dich erin-nern, daß einmal ein Zugor hier abstürzte?«

»Nein, das kann ich nicht.« Das Plateau war durch die dichten Nebel-

schwaden hindurch noch kaum zu sehen. A-ber die milchigweiße Wand hielt nicht an,

sondern kroch weiter. Die Lagerfeuer von Panyxan wurden schwächer und erloschen im Dunst. Die Gipfel der Großen Barriere von Oth waren schon lange nicht mehr zu erken-nen.

»Morgen wird die Sicht wieder klar sein«, prophezeite Razamon. »Und wenn nicht, dann gehen wir trotzdem!«

Atlan nickte zustimmend. »Natürlich gehen wir, sonst verhungern

wir. Für eine anständige Mahlzeit wäre ich jetzt wirklich dankbar.«

»In Panyxan gibt es Fisch«, murmelte Efo-luzzio mit verzücktem Augenaufschlag.

Razamon warf ihm einen wütenden Blick zu, und Atlan befürchtete schon, daß der längst fällige Wutausbruch jetzt kam, aber zu seiner Erleichterung konnte sich der Atlanter noch einmal beherrschen und gab dem bösen Drängen seines Unterbewußtseins nicht nach.

»Ich schlage vor, wir halten abwechselnd Wache«, schlug er vor und deutete auf Atlan. »Willst du anfangen?«

»Ist mir recht. Ich wecke dich dann.« Sie wickelten sich in die gefundenen De-

cken und schwiegen. Atlan blieb dicht beim Feuer sitzen. Seine

Hoffnung bestätigte sich. Die Hitze trieb die heranschleichen den Nebelschwaden zurück und ließ sie nicht in die Höhle eindringen.

Es kam ihm fast so vor, als sei der Nebel ein denkendes Wesen, aber das war natürlich Unsinn.

Nach zwei Stunden weckte er Razamon.

* Am anderen Morgen betrug die Sicht kaum

zehn Meter. Alle Hoffnungen, daß sich der Nebel über

Nacht verziehen würde, hatten sich nicht er-füllt. Im Gegenteil: er war dichter geworden. Die Sonne kam nicht durch, und es blieb kalt. Es begann sogar zu nieseln. Hammroon auf dem Schlitten war nur als verschwommener Fleck zu erkennen.

Atlan legte die letzten Holzstücke aufs Feuer.

»Wir müssen aufbrechen, sonst schaffen wir es heute nicht mehr bis Panyxan. Vergeßt nicht, daß wir einen unbekannten Weg gehen

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müssen, falls wir überhaupt einen finden.«

»Immer bergab und nach Süden«, sagte Gemonio zuversichtlich.

»Ohne Sonne und Kompaß«, fügte Raza-mon sarkastisch hinzu.

»Was ist ein Kompaß?« fragte Efoluzzio, erhielt aber keine Auskunft.

Atlan wickelte die Spiralwaffe und das Par-raxynt in eine Decke. Um die Hände während des Abstiegs frei zu haben, befestigte er das Bündel auf dem Schlitten. Dann suchte er eine geeignete Stelle, an der man das Plateau ohne Komplikationen verlassen konnte.

Das starke Gefälle war ihr einziger Weg-weiser, nach ihm mußten sie sich richten, wenn sie nicht in die Schluchten im Westen oder im Osten des Berges stürzen wollten. Ihr Ziel lag genau im Süden, aber außer dem Hang selbst gab es keinen Anhaltspunkt.

Atlan und Razamon zogen den Schlitten, der sich nur schwer bewegen ließ. Die beiden Guurpel schoben am hinteren Ende, das aber auch nur so lange, bis Razamon wütend fest-stellte, daß Efoluzzio lediglich als Bremser gut sei. Sichtlich beleidigt trottete der Häupt-ling nach dem Verweis hinter dem Schlitten her, immer darauf bedacht, ihn nicht außer Sichtweite zu lassen.

Nach etwa einer Stunde hielt Atlan an. Das Gelände fiel etwas weniger steil ab, und um so langsamer waren sie vorangekommen. Felsbrocken und erste Baumgruppen zwangen sie immer wieder zu Umwegen. Links vor ihnen war die Sonne nur zu ahnen. Der Nebel war dort ein wenig heller.

»Dieser verdammte Hammroon!« schimpf-te Razamon und trat mit dem Fuß gegen den Schlitten. »Wir sollten ihn einfach hier liegen-lassen. Was schlagen wir uns nur mit diesem Satansbraten herum?«

»Es gibt viele gute Gründe«, versuchte At-lan, ihn zu beschwichtigen. »Wir brauchen das Wohlwollen der Guurpel, nachdem wir es bei ihnen verscherzt haben. Außerdem soll Efoluzzio wieder Häuptling werden, denn schließlich hat man ihn unseretwegen mit Schimpf und Schande davongejagt. Tut mir leid, Razamon, aber wir brauchen auch Hammroon, also können wir ihn nicht zurück-lassen. Zehn Minuten Pause, dann geht es weiter.«

Als sie auf den Steinen hockten und das schleifende Geräusch der Schlittenkufen nicht mehr zu hören war, unterbrach ein anderes Geräusch die plötzliche Stille. Atlan lauschte angestrengt in den Nebel hinein. Er war si-cher, etwas Ähnliches schon einmal gehört zu haben.

Es klang manchmal wie ein Krächzen, das näherkam und sich dann wieder entfernte. Dazwischen glaubte Atlan ein schrilles Pfei-fen vernehmen zu können, das abrupt endete und dann ebenso abrupt wieder einsetzte. Fast hörte es sich wie eine vom Wind zerrissene Melodie an.

An den Gesichtern seiner Begleiter sah At-lan, daß er sich nicht täuschte. Sie hörten es auch.

»Was kann das sein?« fragte er Gemonio. Der Guurpel machte eine Geste, die Ratlo-

sigkeit ausdrücken mochte. »Zauberei ...?« vermutete er. »Eine Melo-

die, die ich noch nie vernahm. Die Götter vielleicht ...«

»Sie werden uns verderben«, jammerte Efoluzzio, den alle Zuversicht verließ. »Wir haben sie erzürnt, weil wir auf den Berg stie-gen.«

»Unsinn!« wies Atlan ihn zurecht. »Es kann sich um eine völlig harmlose Er-

scheinung handeln. Vielleicht ist es nur der Wind, der sich in den nahen Schluchten fängt.«

»Wir müssen weiter!« mahnte Razamon besorgt.

Atlan nickte ihm zu und griff nach den Stricken.

*

Der Untergrund wurde wieder felsiger. Hier

fanden die Wurzeln der Büsche und ersten Bäume keinen Halt mehr, aber der Schlitten war auch leichter zu ziehen.

»Efoluzzio, du kannst wieder bremsen, sonst geht es zu schnell«, rief Razamon nach hinten.

Der Häuptling klammerte sich am Schlitten fest und ließ sich mitziehen. Es ging immer steiler bergab. Der Nebel wurde etwas durch-sichtiger, und das war ihr Glück.

Atlan sah es zuerst.

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»Anhalten!« rief er und stemmte sich mit

beiden Beinen gegen den Felsboden. »Ein Abgrund!«

Der Schlitten rutschte noch ein paar Meter weiter, aber dann gelang es den vereinten Kräften der vier Männer, ihn zum Stehen zu bringen. Keine Sekunde zu früh, wie sich so-fort herausstellte.

Der ohnehin recht steile Hang ging in eine Wand über, die senkrecht nach unten fiel. Die Tiefe der Schlucht war optisch nicht zu er-kennen, da auch hier der Nebel die Sicht be-hinderte. Razamon rollte einen Stein vor und ließ ihn in den Abgrund stürzen. Erst nach einer geraumen Weile war der Aufschlag zu hören.

Efoluzzio begann wieder zu jammern, hielt aber sofort den Mund, als Razamon ihm einen warnenden Blick zuwarf.

»Vielleicht ist die Schlucht nur kurz, und wir können sie umgehen«, schlug Gemonio vor, aber seine Stimme klang nicht sehr zu-versichtlich. »Alle Schluchten ziehen sich in Richtung Meer dahin.«

»Würde doch endlich der verdammte Nebel verschwinden!« fluchte Razamon. »Man sieht ja nichts.«

»Bergauf können wir den Schlitten nur ein kurzes Stück ziehen«, stellte Atlan nüchtern fest. »Ich schlage vor, wir lassen ihn hier ste-hen und suchen das Gelände erst einmal ab. Wenn wir einen Weg gefunden haben, holen wir ihn.«

»Wie sollen wir ihn wiederfinden?« fragte Gemonio.

Razamon deutete auf Efoluzzio. »Er soll hierbleiben. Wenn er uns rufen

hört, kann er antworten, dann haben wir die Richtung.«

»Ich bleibe nicht allein bei dem toten Hammroon!« wehrte sich der Guurpel ent-setzt.

»Und ob du bleibst!« fauchte Razamon ihn an. Lange würde er sich nicht mehr beherr-schen können. »Wir tun alles, damit du wie-der Häuptling wirst, und du rührst keinen Finger! Wenn du so weitermachst, kannst du allein sehen, wie du nach Panyxan kommst.«

Zögernd erklärte Efoluzzio sich schließlich einverstanden.

Razamon nahm die rechte, Gemonio die

linke Seite der Schlucht. Atlan ging genau in die entgegengesetzte Richtung. Seiner Mei-nung nach verlief der tiefe Graben nicht ge-nau von Nord nach Süd, sondern mehr schräg zum eigentlichen Berghang. Vielleicht ließ er sich umgehen, ohne daß man viel klettern mußte.

Auch ihm war schon der Gedanke gekom-men, den Schlitten einfach im Stich zu lassen, aber dann würde ihnen niemand glauben, daß Hammroon tot war, und ob man jemals die Leiche finden würde, war fraglich bei dem unübersichtlichen Gelände.

Wieder hörte er das seltsame Pfeifen, dies-mal schon näher. Dazwischen waren schrille Schreie zu hören, die aber wieder verstumm-ten.

Er war kaum fünfzig Schritte gegangen, als er abermals vor einem Abgrund stand. Es mußte sich um eine zweite Schlucht handeln, die fast parallel zur ersten verlief. Er folgte ihr nach rechts und war nicht sonderlich über-rascht, als er plötzlich auf einer dreieckigen Felsplatte stand.

Die beiden Schluchten vereinigten sich. Hier ging es nicht mehr weiter. Er mußte um-kehren.

Schritte näherten sich. Es war Gemonio. »Das also wäre es, Gemonio! Wir müssen

zurück, ob wir wollen oder nicht. Wenn wir nur wüßten, welche der beiden Schluchten die kürzere ist ...«

»Es ist schon Mittag. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Vielleicht hat Razamon etwas herausge-funden, er sucht ja weiter oben.«

Sie fanden den Schlitten wieder, ohne Efo-luzzio bemühen zu müssen. Der Häuptling saß auf einem Stein und starrte trübsinnig vor sich hin. Die Rückkehr der beiden Männer quittierte er mit einem erleichterten Seufzer.

»Ich habe große Flügel schlagen hören«, murmelte er.

Atlan vergewisserte sich: »Flügel? Bist du sicher?« »Bestimmt, ich täusche mich nicht!« Atlan mußte an die dunklen Punkte denken,

die Razamon über dem Berggipfel im Süden entdeckt hatte.

»Wann war das?« »Kurz, bevor ihr kamt. Ein Zauberer, der

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fliegen kann?«

Sie hörten Schritte. Razamons Umrisse schälten sich aus dem Nebel.

»Die Schlucht biegt hundert Meter von hier ab und wird flacher. Ich glaube, dort könnten wir sie überqueren.«

»Steil bis dorthin?« erkundigte sich Atlan. »Ziemlich, aber wir sollten es schaffen.« Sie berichteten ihm, was Efoluzzio inzwi-

schen erlebt hatte. Razamon schien nicht sehr überrascht zu sein.

»Natürlich ist das kein Zauberer, der flie-gen kann, sondern es sind wahrscheinlich Vögel oder riesige Vampire, die soll es ja in den Bergen geben. Sie dürften angriffslustig und hungrig sein. Aber in dem Nebel finden sie uns nicht.«

Der Gedanke an Vampire war alles andere als beruhigend. Das Plateau in Form eines Dreiecks bot nicht viel Fluchtraum, wenn sie wirklich angegriffen werden sollten.

»Los, weiter!« sagte Atlan und nahm die Stricke auf. »Efoluzzio, geh mit Gemonio nach hinten, und wehe, wenn du dich wieder zu drücken versuchst!«

Meter um Meter zogen und schoben sie den Schlitten bergauf am Rand der Schlucht ent-lang. Das schwere Gefährt ließ sich nur unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte von der Stelle bewegen. Selbst Efoluzzio hörte mit dem ewigen Jammern auf und strengte sich an. Er schien froh zu sein, den unheimlichen Ort verlassen zu können.

Der Nebel wurde noch lichter. Im Südwes-ten kam die Sonne als heller Lichtfleck zum Vorschein und wies ihnen die Richtung. Sie mußten bald wieder nach Süden abbiegen, um nicht zu sehr vom Weg abzukommen, aber da war vorerst noch die Schlucht.

Atlan bemerkte sehr bald, daß der Nebel nur nach oben hin dünner wurde, nicht aber in Bodennähe. Hier unten betrug die Sichtweite jetzt nicht mehr als zwanzig bis dreißig Me-ter.

»Gleich sind wir da«, stöhnte Razamon. »Dann geht es wieder bergab.«

Die Schlucht endete flach in einer schalen-förmigen Mulde, deren Ränder dicht mit nied-rigen Büschen bewachsen waren. Der gege-nüberliegende Rand lag tief unter dem jetzi-gen Standpunkt, war aber nur undeutlich

durch den Nebel zu erkennen. Sie fanden immer wieder Lücken zwischen

den Sträuchern, durch die sich der Schlitten bugsieren ließ. Nachdem sie die kleine Stei-gung auf der anderen Seite genommen hatten, hielt Atlan an und lauschte. Diesmal war es überdeutlich zu hören.

Die Töne wurden nicht durch den Wind hervorgerufen, der kühl und frisch vom Gipfel herabwehte. Sie wurden künstlich erzeugt, daran bestand für Atlan kein Zweifel. Raza-mon hielt den Kopf schief und lauschte, dann deutete er plötzlich nach oben.

Gegen den hellen verschwommenen Fleck der Sonne hoben sich dunkle Schatten ab, die näher kamen und dabei ins Riesenhafte wuch-sen. Es waren fünf oder sechs Stück. Die Be-wegung der gigantischen Flügel verriet, daß es sich nicht um die Fluggefährte der Technos handeln konnte.

Es waren Vögel, riesige Vögel. Oder Vampire? Atlan wußte, daß ihm keine Zeit mehr

blieb, die Spiralwaffe aus dem Bündel zu ho-len, das mit mehreren Stricken auf dem Schlitten befestigt war. Die Angreifer waren schon zu nah und stürzten sich nun mit durchdringendem Kreischen auf die vier Männer.

Razamon bückte sich und raffte ein paar Steine an sich, die er den Vögeln entgegen-schleuderte. Atlan folgte sofort seinem Bei-spiel, als kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, daß die Tiere zielbewußt angriffen. Das Pfeifen hatte aufgehört.

Efoluzzio rannte schreiend davon, von ei-nem der Vögel verfolgt. Er stolperte und fiel hin. Atlan sah voller Entsetzen, daß sich das Tier mit ausgestreckten Krallen auf dem Häuptling niederließ und mit dem Schnabel auf ihn einzuhacken begann.

Gemonio kam Atlan zuvor. Nur mit einem Stein bewaffnet, rannte er zu dem gestürzten Häuptling und begann, mit dem Stein auf den Rücken des Vogels einzuschlagen, der sofort von Efoluzzio abließ und sich dem neuen Gegner zuwandte. Aber der Guurpel war den Kampf gewohnt, wenn auch nur unter Was-ser. Geschickt wich er den Schnabelhieben aus und traf mehrmals die ungeschützte Brust, die sich rot zu färben begann.

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Efoluzzio zog seine Füße an und stieß kräf-

tig zu. Er traf den über ihm hockenden Vogel voll in den Bauch und schleuderte ihn einige Meter davon. Ehe Gemonio hinter ihm her sein konnte, erhob er sich schwerfällig und strich davon, nur langsam an Höhe gewin-nend.

Razamon und Atlan konnten sich der An-griffe erwehren. Zum Glück lagen genügend Steine herum, so daß kein Mangel an Muniti-on entstand; ein Hagel von gut gezielten Ge-schossen zwang die Vögel schließlich zum Abdrehen.

»Fast fünf Meter Spannweite!« keuchte Ra-zamon und setzte sich auf den Rand des Schlittens. »Wenn es doppelt soviel Vögel gewesen wären, hätten sie uns zerfleischt. Ein Glück, daß sie nicht intelligent sind, sonst wären sie anders vorgegangen und hätten uns einzeln geschnappt.«

»Ob sie wiederkommen?« fragte Atlan und bückte sich, um das Deckenbündel loszubin-den.

»Vorsicht!« rief Razamon in diesem Au-genblick. »Da sind sie schon wieder!«

Gleichzeitig war auch das Pfeifen wieder da, diesmal heller und durchdringender. Es kam von weiter unten, wo der Nebel noch zu dicht war, um etwas erkennen zu können. Aber er begann sich noch mehr zu lichten und nach oben zu steigen.

Im Pulk griffen sie diesmal an, als hätten sie Razamons Worte verstanden und beher-zigt. Efoluzzio und Gemonio wurden völlig ignoriert, alle sechs Vögel stürzten sich auf Razamon und Atlan.

Die beiden Guurpel schienen über sich hi-nauszuwachsen. Mit dem Mut der Verzweif-lung rannten sie herbei, um ihren Rettern zu helfen. Mit Steinen und Knüppeln, die unter den Büschen lagen, griffen sie die Vögel im Rücken an.

Es war Atlan sofort klar, daß die veränderte Taktik der Tiere nicht von ungefähr kam. Entweder besaßen sie in der Tat einen gewis-sen Grad von Intelligenz, oder sie waren dres-siert und erhielten entsprechende Anweisun-gen.

Das Pfeifen wurde so schrill, daß es in den Ohren schmerzte.

»Werdet ihr allein mit den Biestern fertig?«

fragte er und warf dem nächsten Vogel einen Stein an den Kopf. »Ich kümmere mich um das Pfeifen.«

»Das stammt von jemand, der die Vögel di-rigiert«, gab Razamon zurück. »Geh nur, wir halten sie in Schach!«

Atlan duckte sich unter zwei Angreifern hindurch und rannte am Rand der Senke ent-lang nach unten. Schon nach ein paar Dutzend Metern wurde aus der Senke wieder die Schlucht, deren Rand steil in die Tiefe abfiel. Und das Pfeifen wurde lauter.

Und dann sah Atlan den Mann dicht vor sich.

Er war nicht besonders groß und bis auf ei-nen Lendenschurz unbekleidet. Am Mund hielt er ein flötenähnliches Instrument, in das er hineinblies. Es erzeugte die schrillen und kurz abgehackten Töne. Ein grauer Bart reich-te ihm bis zur Brust hinab.

Atlan hatte sich hinter einen Felsvorsprung geduckt, um nicht sofort gesehen zu werden, aber es war ihm klar, daß er schnell handeln mußte, wenn er Razamon und die anderen entlasten wollte. Der Nebel war weiter gestie-gen. Er konnte die Gruppe weiter oben am Rand der Senke wieder sehen. Die Vögel grif-fen noch immer an. Einer allerdings schien ernsthaft verletzt worden zu sein, denn mit unregelmäßigen Flügelschlägen versuchte er zu entkommen, landete dann aber in einiger Entfernung ziemlich hart zwischen den Bü-schen.

Vorsichtig schlich Atlan weiter und be-schrieb einen Bogen, bis er von hinten an den Fremden herankam. Der war so mit seiner Flöte beschäftigt, daß er die Gefahr nicht be-merkte. Plötzlich legte sich ein kräftiger Arm um seinen Hals, während eine Hand ihm das Instrument abnahm.

Im ersten Augenblick war Atlan von der Härte und Kälte des Körpers überrascht, den der Fremde besaß. Aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Aus den Augenwin-keln heraus sah er, daß die Vögel mit dem Verstummen des Pfeiftons von ihrem Angriff abließen und davonflogen. Razamon warf ihnen noch ein paar Steine nach und kam dann zu Atlan gelaufen.

»Wen haben wir denn da?« fragte er und betrachtete den Gefangenen voller Staunen.

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»Rennt nackt hier in der Gegend herum und flötet ein Liedchen. Hat er etwas mit den Vö-geln zu tun?«

»Und ob!« Atlan reichte ihm die Flöte. »Damit scheint er sie dressiert zu haben.«

Auch Efoluzzio und Gemonio kamen her-bei. Auf Atlans Fragen hin erklärten sie über-einstimmend, den Mann noch nie gesehen zu haben.

»Überlaß ihn mir«, bat Razamon. »Viel-leicht versteht er mich.« Er wandte sich an den Alten, den Atlan noch immer gepackt hielt. »He, wer bist du? Warum hast du die Vögel auf uns gehetzt?«

Der Mann mit der grauen Haut reagierte nicht.

»Du sollst antworten!« fuhr Razamon ihn an und zog an seinem Bart. Atlan gab den Gefangenen frei, um Razamon mehr Spiel-raum zu lassen.

»Hast du verstanden? Rede, sonst versetze ich dir eine Tracht Prügel, du Zauberlehr-ling!«

Die Drohung löste die Zunge des alten Mannes.

»Niemand legt Hand an mich, ohne dafür schrecklich bestraft zu werden!« Er sprach einen schlecht verständlichen Dialekt, den Razamon jedoch ohne Schwierigkeiten verstand. Seine Stimme war ein wenig schrill und zittrig. »Ich bin der Vogelmagier, und man nennt mich auch den ›Steinernen‹. Laß mich los!«

»Sobald du uns alles gesagt hast«, ver-sprach Razamon. Er gab ihm die Flöte zurück. »Aber laß sie aus dem Mund, sonst geht es dir schlecht. Komm mit!«

»Wohin?« »Nur ein paar Meter, bis zum Schlitten.

Dort kannst du uns alles erzählen.« Er ging voran, die anderen folgten. »Schon mal etwas von ihm gehört, Gemo-

nio?« fragte Atlan erneut. »Es gibt viele Geschichten über Magier in

den Bergen, aber an den Vogelmagier kann ich mich nicht erinnern. Warum nennt er sich der Steinerne?«

»Seine Haut ist hart und kalt wie Stein, vielleicht deshalb.«

»Wir müssen ihn freilassen, denn Magier sind mächtig.«

»Damit er die Vögel erneut angreifen läßt? Ich bin sicher, er kann das auch, wenn wir ihm die Flöte abnehmen.«

»Wir können ihn doch nicht mit nach Pa-nyxan nehmen!«

»Warum nicht? Ein toter Hammroon und ein gefangener Magier – das wird unser An-sehen noch mehr festigen.«

Gemonio schien davon nicht so sehr über-zeugt zu sein.

Razamon drückte den Vogelmagier zu Bo-den und zwang ihn, sich zu setzen. Er stellte Fragen und erhielt auch Antworten, mit denen sich aber nicht viel anfangen ließ. Immerhin gab der Steinerne zu, aus der Barriere von Oth verjagt worden zu sein, weil er seine Zauber-kräfte nicht mit jenen der anderen Magier messen konnte. Sie alle waren mächtiger als er.

»Ich bin sehr friedfertig«, versicherte er. »Daß die Vögel euch angriffen, war ein Ver-sehen. Ich wußte ja nicht, wer ihr seid.«

»Du hättest ja vorher fragen können!« fauchte Razamon ihn an. »Und was wirst du jetzt tun? Hierbleiben?«

»Ich suche eine neue Heimat am Rand der Barriere. Ich sehe, daß ihr Hammroon getötet habt. Der Skolionberg ist wieder frei.«

»Du kennst das Ungeheuer?« wunderte sich Atlan, der allerdings nur die Hälfte von dem Gesprochenen verstand.

»Jeder kannte es. Die Nachricht von seinem Tod wird Freude hervorrufen, besonders bei den Küstenbewohnern, den Guurpel.«

Gemonio horchte auf. Er trat auf den Stei-nernen zu.

»Woher kennst du mein Volk? Wir haben nie deinen Namen gehört.«

»Ich bin ein Magier«, erwiderte der Alte mit Nachdruck. »Ein Magier weiß sehr viel.«

»Also: Hammroon ist tot, und nun willst du seinen Platz einnehmen?«

»Ich bin besser, als Hammroon es jemals war.«

Efoluzzio setzte sich dem Steinernen ge-genüber.

»Ich bin Efoluzzio, der Häuptling der Guurpel. Niemand wird dir verwehren, auf dem Berg Skolion zu wohnen, wenn du uns in Ruhe läßt. Aber ich warne dich! Solltest du dich mit deinen Vögeln in der Nähe von Pa-

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nyxan blicken lassen, jagen wir dich davon. Dafür bleiben wir dem Berg auch fern.«

Die Gesichtszüge des Alten blieben unbe-weglich.

»Meine neue Heimat wird der Berg sein«, versprach er feierlich.

Atlan sah hinab zum Meer. Die Siedlung war nicht zu sehen, weil ein Felsvorsprung die Sicht nach Süden versperrte. Die Sonne wanderte schon dicht über die Gipfel der Bar-riere dahin. In zwei oder drei Stunden wurde es schon wieder dunkel. Vielleicht konnten sie Panyxan bis dahin erreichen.

»Was also machen wir mit ihm?« fragte Razamon ärgerlich. »Ich bin dagegen, daß wir ihn einfach laufenlassen. Soll er uns beglei-ten, bis wir unten sind, dann kann er von mir aus verschwinden.«

Atlan wandte sich an den Alten. »Du hast es gehört, Magier. Du kommst mit

uns, dann lassen wir dich frei. Jetzt wäre es uns zu riskant.«

»Ihr mißtraut mir?« Atlan nickte. »Allerdings tun wir das. Ich hoffe, du bist

gut zu Fuß.« »Ich habe einen langen Weg hinter mir.« Razamon lachte grimmig, und in seinen

Augen funkelte es spöttisch. »Ich denke, du bist ein großer Zauberer.

Warum haben deine Vögel dich nicht getra-gen?«

Der Steinerne gab den Blick unbewegt zu-rück. Er blieb stumm.

»Dann also los!« befahl Atlan, der nicht noch mehr Zeit verlieren wollte. »Immer an der Schlucht entlang, dann können wir kaum fehlgehen. In zwei Stunden können wir unten sein.«

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Der Nebel war inzwischen längst verschwunden.

Atlan und Razamon zogen, Efoluzzio und Gemonio schoben wieder. Den Steinernen ließen sie vorangehen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Vögel hatten sich nicht mehr blicken lassen.

»Ich hätte die Spiralwaffe auspacken sol-len«, meinte Atlan zu Razamon, als sie ein Stück gegangen waren.

»Sie wäre nur hinderlich. Ich glaube auch nicht, daß wir sie noch brauchen. Sollte der

Alte wieder das Flöten anfangen, nehmen wir ihm das Ding einfach weg.«

Als sie den Felsvorsprung umrundeten, sa-hen sie weit unter sich Panyxan am Meer lie-gen.

Die Sonne berührte den höchsten Gipfel der Barriere.

5.

Eine Stunde später bog die Schlucht nach

Osten ab. Das Gelände wurde nun weniger gefährlich. Dafür wuchsen mehr Bäume und Sträucher, und einen Weg schien es noch im-mer nicht zu geben.

»Pause!« sagte Atlan und setzte sich auf den nächsten Stein.

Sie alle setzten sich. Der Steinerne war ein Stück weitergegan-

gen und blieb stehen. Er sah sich um, sagte aber nichts. Dann setzte auch er sich. Er starr-te eine Weile in Richtung Panyxan, dann sah er in die tiefe Schlucht hinab, die von nun eine andere Richtung einschlug.

»Verdammt anstrengend«, knurrte Raza-mon. »Und einen Hunger habe ich, das ist unbeschreiblich. Gibt es denn hier kein Was-ser?«

»Doch«, teilte Gemonio ihm mit. »Unten in der Schlucht.«

Es hätte genausogut auf dem Mond sein können. Niemand verspürte Lust, in die Schlucht hinabzusteigen Sie waren viel zu müde dazu.

Die Sonne war hinter der Barriere nun end-gültig verschwunden, aber es wurde noch nicht dämmerig. Lediglich über dem Horizont im Osten lag ein dunkler Streifen.

Der Steinerne saß auf einem Felsblock und spielte mit seiner hölzernen Flöte, die er un-schlüssig in den Händen hielt. Atlan beobach-tete ihn und erhielt den Eindruck, als ob der Alte sie wieder an den Mund setzen wollte. Aber er schien sich nicht schlüssig zu sein.

»Komm nur nicht auf dumme Gedanken!« warnte ihn Razamon.

»Nur eine harmlose Melodie«, gab der Steinerne zurück. »Sie hat nichts mit den Vö-geln zu tun, die ihr so fürchtet.«

»Traue nie einem Magier!« warnte Efoluz-zio ängstlich.

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ATLAN 2 – König von Atlantis

»Das tut auch keiner«, beruhigte ihn Raza-

mon. »Es sei denn, er will uns wirklich nur ein Liedchen vorspielen.«

»Ich kann auf den Kunstgenuß verzichten«, meinte Atlan. Er ließ den Alten nicht aus den Augen. »Außerdem hat er zur Genüge bewie-sen, daß er mit seinen Flötentönen tatsächlich etwas erreichen kann. Ich habe keine Lust, mich wieder mit den Vögeln herumzuschla-gen.«

»Dann pack endlich die Spiralwaffe aus«, riet Razamon, der sich allmählich zu ärgern begann. In den schwarzen Augen funkelte es wieder verdächtig. Der geringste Anstoß wür-de jetzt genügen, ihn explodieren zu lassen. »Wozu hast du sie eigentlich?«

»Schon gut«, beschwichtigte ihn Atlan. »Von mir aus laß ihn flöten. Hier liegen Stei-ne genug herum, um die Vögel zu vertreiben, sollten sie wiederkommen. Außerdem kennen wir nun die Ursache.«

»Eben!« Razamon winkte dem Steinernen zu. »Aber etwas Sanftes, nicht so ein schrilles Gequietsche wie vorhin! Wenn ich schon nichts zu essen habe, will ich wenigstens Mu-sik hören.«

»Die macht auch nicht satt!« meckerte Efo-luzzio.

Razamon warf ihm einen kurzen Blick zu, reagierte jedoch nicht.

Der Steinerne setzte seine Flöte an und blies hinein.

In der Tat entlockte er dem Instrument un-gemein zarte und weiche Töne, die sich zu einer harmonischen Melodie aneinander reih-ten. Razamon schien die Melodie zu kennen, denn er summte sie leise mit. Seine Erinne-rung schien bruchstückweise zurückzukehren.

Atlan beobachtete den nun klaren Himmel, konnte aber keine verdächtigen dunklen Punkte entdecken. Von den großen Vögeln war nichts zu sehen.

Es war eine ungemein einschmeichelnde Melodie, die nichts Unheimliches oder Dis-harmonisches an sich hatte. Sie hatte nicht das geringste mit den schrillen Pfeiftönen zu tun, mit denen der Magier seine Vögel dirigierte.

Beruhigt lehnte sich Atlan mit dem Rücken gegen den Stein und schloß die Augen, ob-wohl er das eigentlich nicht wollte. Er ließ das einfache Lied auf sich einwirken, und die

zärtlichen Töne des Musikinstruments began-nen ihn einzuschläfern.

Auch Razamon schien sich völlig dem Ge-nuß des Flötenkonzerts hinzugeben, das in der unwegsamen und wilden Umgebung etwas Unwirkliches an sich hatte. Er wiegte sich im Takt hin und her, nickte dem Steinernen hin und wieder anerkennend zu und schien die Gegenwart vergessen zu haben.

Auch Efoluzzio und Gemonio waren sicht-lich beeindruckt. Im Gegensatz zu Razamon saßen sie allerdings wie erstarrt auf ihren Plätzen, als könnten sie sich nicht mehr von der Stelle rühren. Es war, als würde die Me-lodie sie in Trance versetzen.

Dann, als der Steinerne eine kleine Pause machte, öffnete Atlan die Augen. Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, aber der dunk-le Himmelsstreifen im Osten war breiter geworden. Von der See her kroch die Dämmerung aufs Land zu. Sie mußte bald die unsichtbare Wand der terranischen Energiesperre überqueren.

Atlan spürte die Ruhe, die über ihn ge-kommen war. Am liebsten würde er hier sit-zen bleiben und nicht mehr aufstehen. Aber sie mußten ja heute noch nach Panyxan ge-langen oder wieder eine Nacht auf dem Berg verbringen.

Ja, warum eigentlich nicht? Was versäumten sie denn schon? »Spiel weiter!« rief Razamon dem Steiner-

nen zu. »Warum die Pause, Alter?« »Gemach, gemach!« Der Steinerne blickte

zu ihnen herüber. »Gefällt euch mein Spiel?« Seine Stimme war ruhiger geworden. Sie hat-te etwas Einschmeichelndes und Vertrauen-erweckendes bekommen, das vorher nicht vorhanden gewesen war. »Ihr wollt also ein zweites Lied hören? Gut, dann spiele ich euch das Lied der Barriere von Oth ...«

Atlan achtete nicht auf die Warnung seines Extrasinns. Irgend etwas zwang ihn, sie zu ignorieren. Auch als er aufstehen wollte, hatte er nicht die Kraft und den Willen dazu. Er blieb sitzen und schloß wieder die Augen, als die ersten Töne des neuen Liedes an sein Ohr drangen.

Er war in Sicherheit, und der Steinerne war ihr Freund. Er meinte es gut mit ihnen und würde ihnen helfen. Er meinte es auch gut mit

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den Guurpel, die von den Technos nur unter-drückt wurden, und ...

Abrupt hörte der alte Mann auf zu spielen. Er stand auf und näherte sich ihnen. Mit aus-druckslosem Gesicht betrachtete er sie, dann setzte er sich ihnen gegenüber auf einen fla-chen Stein. Die Flöte behielt er in der Hand.

»Eine schöne und seltsame Melodie, nicht wahr? Hat sie euch gefallen? Wollt ihr noch mehr hören?«

Razamon starrte ihn an, ohne sich zu bewe-gen. Lediglich um seinen Mund herum zuckte es, als wolle er sprechen, aber kein Laut kam über seine Lippen.

Der Alte fuhr fort: »Ihr seht also, daß ich mit meinen Liedern

noch viel mehr kann, als nur die Vögel her-beizuholen. Nun sitzt ihr dort und könnt euch nicht mehr bewegen, wenn ich es euch nicht erlaube. Aber keine Sorge, ich werde es euch bald erlauben, doch vorher müßt ihr mich anhören.«

Atlan bemühte sich, etwas zu sagen, aber seine Lippen waren wie erstarrt. Er brachte keinen Ton hervor. Er sah, daß auch die ande-ren sprechen wollten, jedoch stumm blieben wie er.

»Ihr werdet bald auch wieder sprechen können«, fuhr der Alte fort. »Ich bin ein guter Magier, aber den Tod kann ich auch nicht von euch abwenden. Ja, ihr werdet sterben, heute noch. Und ihr werdet euch selbst töten.«

Trotz der Starre, die seinen Körper befallen hatte, konnte Atlan klar und folgerichtig den-ken, wenn er auch nichts von dem begriff, was mit ihm und den anderen geschah. Die Töne der Flöte mußten eine Art hypnotische Wirkung ausüben, die nur von dem Alten wieder aufgehoben werden konnte. Er hatte sie in seiner Gewalt, und niemand vermochte etwas dagegen zu tun.

»Sicher wollt ihr wissen, was ich wirklich hier will und warum ich die Barriere von Oth verließ. Gut, ich werde es euch sagen: In den Bergen gibt es ehrgeizige und mächtige Zau-berer, wie ich schon erwähnte. Ich fühlte mich bei ihnen nicht wohl, um bei der Wahrheit zu bleiben, denn ich war nichts anderes als nur einer von vielen. Hier jedoch, hier kann ich ein König sein, weil ich der einzige Magier bin. Ich werde über die Guurpel herrschen,

was mit meiner kleinen Zauberflöte einfach ist.«

Efoluzzio quollen fast die Augen aus dem Kopf, als er das hörte. Sein vorgestülpter Mund schien nach Luft schnappen zu wollen, aber es wurde nur ein krampfhaftes Zucken daraus. Der Steinerne nickte ihm zu.

»Du willst mir etwas mitteilen? Gut, dann sprich!«

Und Efoluzzio konnte plötzlich wieder sprechen.

»Das darfst du nicht tun, mächtiger Zaube-rer! Du darfst mein Volk nicht noch mehr versklaven. Wir dienen den Technos und den Herren der FESTUNG. Sie würden mit dir zürnen ...«

»Warum sollten sie das? Die Guurpel wer-den auch in Zukunft die Nahrung aus dem Meer holen und abliefern. Wenn ich ihr Herr-scher bin, werden sie sogar noch mehr arbei-ten als bisher, und die Technos werden mir dankbar sein. Warum also sollte ich sie fürch-ten?«

Krankhafter Ehrgeiz also war es, was den Vogelmagier so denken und handeln ließ. Atlan wußte, daß es vergeblich sein würde, ihm seine Absichten ausreden zu wollen, aber es war wichtig, Zeit zu gewinnen.

»Ihr könnt jetzt alle sprechen«, teilte der Steinerne mit. »Es werden eure letzten Worte sein.«

»Warum sollen wir sterben?« fragte Atlan. »Und wie?«

»Ihr habt Hammroon getötet und so ge-zeigt, wie klug und stark ihr seid. Ihr seid gefährlich für mich. Die Schlucht hier ist tief und steil. Ihr werdet in sie hineinspringen.«

»Niemals!« brüllte Razamon und Atlan sah, daß er sich krampfhaft bemühte, auf die Beine zu kommen. Er konnte sie schon ein wenig bewegen, aber sie trugen ihn nicht. »Du bist wahnsinnig!«

»Ich bin der Steinerne«, berichtigte der Alte spöttisch und entlockte seiner Flöte ein paar beruhigende Tone. Razamon sackte sofort wieder in sich zusammen. »Nun, ihr könnt jetzt aufstehen und euch dem Abgrund nä-hern.«

Atlan beobachtete genau, was geschah. Als erneut die Melodie erklang, wurde auch er wieder von der totalen Starre gepackt. Aber

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wenn der Alte vorher Bewegungserlaubnis gab und dadurch zwangsläufig nicht auf sei-nem Instrument spielte, wurde der hypnoti-sche Zwang unterbrochen.

Vielleicht ließen sich diese wenigen Se-kunden nutzen.

Alle vier standen sie auf, aber der Steinerne blieb vorsichtig. Er behielt die Flöte im Mundwinkel, während er seine Befehle erteil-te, und nach jedem dritten oder vierten Wort blies er hinein, damit die Zauberkraft nicht erlahmte und die Gefangenen ihre Bewe-gungs- und Entschlußfreiheit nicht zurücker-langten.

»Bleibt dicht zusammen ... Pfiff ... und geht zum Abgrund ... Pfiff ... nicht so schnell ... Pfiff ... schön langsam ...«

Razamon warf Atlan in den Sekunden-bruchteilen, in denen er seinen freien Willen fühlte, einen fragenden Blick zu. Dann aber ging er schon wieder weiter wie eine Mario-nette oder ein aufgezogener Spielzeugroboter.

Der Rand des Abgrunds war nur ein paar Dutzend Meter entfernt.

Atlan war entsetzt über die Grausamkeit des Magiers. Seine vier Opfer wußten genau, was geschah. Ihr Verstand arbeitete klar wie immer, aber der Körper ignorierte alle ihre Befehle. Und die Pausen dazwischen waren viel zu kurz, um etwas Entscheidendes unter-nehmen zu können.

Fünf Meter vor Atlans Füßen lag ein faust-großer Stein.

Der Steinerne stand ein wenig links, etwa sechs oder sieben Meter entfernt. Zwei Meter hinter ihm war der Abgrund.

Atlan wußte, daß er blitzschnell handeln mußte. Der Stein mußte geworfen sein, ehe der Magier sein Instrument benutzen konnte. Zum Glück mußte er zwischendurch seinen Befehl wiederholen, denn nur die hypnotische Starre wirkte auf Dauer. Nicht aber die Be-wegungshypnose.

Noch zwei Meter. Nun kam es darauf an, daß der Steinerne

gerade in dem Augenblick, in dem Atlan den Stein erreichte, wieder sprach. In dieser einen Sekunde war der Bann wirkungslos und Atlan mußte sich bücken und den Stein aufheben und werfen.

Er konnte die Richtung seiner Füße nicht

beeinflussen, die ihn dem Rand des Abgrunds näher und näher trugen. Aber sie würden den Stein fast berühren.

Efoluzzio und Gemonio schienen jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben zu haben. Mit unbeweglichem Gesicht gingen sie me-chanisch auf den Rand der Schlucht zu.

Razamon hingegen versuchte wenigstens, seine Schritte auf den Magier zuzulenken, was ihm jedoch nicht gelang. Seine Bewe-gungen wurden dadurch eckig und unregel-mäßig. Aber er begriff, was Atlan vorhatte. Das hoffnungsvolle Funkeln in seinen Augen bewies es.

Und dann passierte alles in Bruchteilen von Sekunden.

Zwischen zwei Pfeiftönen schob der Vo-gelmagier den Befehl ein, schneller zu gehen und einen Anlauf zu nehmen. Entweder woll-te er den Satz nicht unterbrechen, oder aber er überschätzte die Wirkung seines Instruments. Er hatte es sogar aus dem Mund genommen. Als er es wieder zwischen die Lippen schob, war es zu spät.

Atlan hatte sich blitzschnell gebückt und den Stein aufgehoben. Noch während er den Arm zurückbog, riß der Magier erschrocken die Augen auf und blies auf seiner Flöte. Ein schriller Mißton erklang, dann traf ihn der mit aller Wucht geschleuderte Stein aus Atlans Hand am Kopf.

Der Kopf zersplitterte wie eine Marmorku-gel.

Razamon war im gleichen Augenblick vor-gehechtet, in dem Atlan geworfen hatte. Seine vorgestreckten Hände trafen den Rumpf des Zauberers mit voller Wucht und schleuderte ihn zurück. Noch während die Bruchstücke des Kopfes auf den Boden fielen, stürzte der Körper in den Abgrund hinein. Immer dann, wenn er aufschlug, klang es so, als träfe Fels mit Fels zusammen.

Dann wurde es still. Atlan riß Efoluzzio und Gemonio im letz-

ten Moment vom Rand der Schlucht weg. Bei ihnen wirkte die Hypnose länger.

Razamon bückte sich und hob ein Stück des Kopfes auf. Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Es ist Gestein, Atlan! Kein Fleisch und kein Blut, nur Stein!«

Atlan sagte: »Er nannte sich der Steinerne,

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nun wissen wir, warum. Vielleicht war er nicht einmal ein organisches Lebewesen.« Er schüttelte sich. »Ich bin froh, daß alles vorbei ist.«

»Woher weißt du, daß alles vorbei ist? Wo sind seine Vögel geblieben?«

»Vielleicht flogen sie zurück zu den Ber-gen, aus denen sie kamen. Die Flöte jedenfalls stürzte mit dem Magier in die Schlucht. Ich hätte sie mir eigentlich gern einmal angese-hen.«

Inzwischen hatten sich die beiden Guurpel erholt. Efoluzzio jammerte zwar und warnte vor der Rache der anderen Zauberer, denn in solchen Dingen, behauptete er, hielten sie zusammen. Gemonio nahm alles viel gefaßter auf und redete dem Häuptling gut zu.

Atlan selbst spürte erst jetzt die ungeheure Erleichterung, gleichzeitig setzte aber auch die Reaktion ein. Er mußte sich setzen.

Wenn der Steinerne nur ein durchschnittli-cher Magier war, wie er selbst zugegeben hatte, welche geheimnisvollen Mächte moch-ten dann wohl noch in der Barriere von Oth zu Hause sein?

»Wir müssen weiter, es wird bald dunkel!« mahnte Razamon zum Aufbruch. »Weiter rechts müßten wir eigentlich bald auf den Weg stoßen, der direkt nach Panyxan führt.«

»Die Lawine hat ihn zerstört«, erinnerte Efoluzzio. »Wir haben es ja selbst gesehen. Überall liegen Felsbrocken herum. Da kom-men wir mit dem Schlitten nicht weiter.«

»Wir gehen einfach geradeaus weiter, und wenn es dunkel wird, haben wir ja immer noch die Lampe, die wir in der Höhle fan-den.« Atlan deutete zum Schlitten. »Also worauf warten wir noch ...?«

Razamon ging noch einmal zurück zum Abgrund und stieß die steinernen Bruchstücke des Magierkopfs mit dem Fuß über den Rand in die Tiefe.

»Es ist besser, wenn alles dort unten liegt«, sagte er und nahm die Zugstricke des Schlit-tens in die Fäuste.

6.

Eine halbe Stunde später war es finster. Von Westen her war eine Wolkenwand he-

raufgezogen und verdeckte den Mond und die

Sterne. Man konnte die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Jeden Moment konnte es anfangen zu regnen.

Die Lampe, die Atlan in der Höhle gefun-den hatte, war nur von geringem Nutzen. Der Lichtschein reichte nur wenige Meter weit, dann wurde er von Felsblöcken oder Bäumen reflektiert. Mit dem schweren Schlitten ka-men sie nur mühsam Meter um Meter voran, aber so dicht vor dem Ziel wollten sie nicht aufgeben.

»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte Ge-monio immer wieder, obwohl von Panyxan nichts zu sehen war. Es schienen auch keine Lagerfeuer zu brennen.

»Wir schaffen es heute nicht mehr«, jam-merte Efoluzzio und deutete mit einer Hand hinauf in den schwarzen Himmel. »Die Fins-ternis haben uns die geheimen Mächte ge-schickt.«

»Ob Mächte, Zauberer oder Götter«, knurr-te Razamon verärgert, »das ist mir egal. Aber wenn es jetzt zu regnen beginnt, werden wir alle naß bis auf die Haut. Diese Netzhemden haben mehr Löcher als Stoff.«

»Uns macht die Nässe nichts aus«, stellte Gemonio egoistisch fest.

»Dann schwimmt doch nach Hause!« riet Razamon.

Atlan beteiligte sich nicht an den Ausei-nandersetzungen, die nichts einbrachten. Aber er verstand, daß sich Razamon ab und zu Luft machen mußte, wenn er nicht explodieren wollte. Deshalb ging die Reise auch nicht langsamer oder schneller vonstatten.

Es war ihm klar geworden, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatten. Die Behauptung, daß man nur einfach bergab gehen müsse, um ans Meer zu gelangen, stimmte nicht. Der Berg Skolion hatte schließlich Hänge in allen vier Himmelsrichtungen. Nach den Sternen konnte man sich nicht richten, solange sie unsichtbar blieben.

Es begann zu regnen. Zuerst fielen nur vereinzelte Tropfen, aber

dann brach ein Wolkenbruch hernieder, der im Nu jede kleine Senke in einen See ver-wandelte. Die Orientierung wurde nun un-möglich, und der Schlitten blieb stecken, so-bald die Kufen keinen Halt auf Felsgestein fanden.

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Razamon verfluchte die bösen Geister von

Pthor und verschonte auch die Götter nicht, was zu einem neuen Gejammer des Häupt-lings führte, der ihre Rache fürchtete.

Selbst mit der Lampe konnte Atlan keine zwei Meter weit sehen.

»Es hat keinen Zweck«, sagte er schließlich und hielt an. »Wir kommen nicht weiter, auch nicht ohne den Schlitten. Wir müssen warten, bis der Regen nachläßt. Naß sind wir ohnehin schon. Wenn es wenigstens eine Höhle gäbe, dann könnten wir Feuer machen und uns trocknen.«

»Hier unten sind keine Höhlen«, behauptete Gemonio, obwohl sie alle keine Ahnung hat-ten, wo ungefähr sie sich befanden. »Außer-dem finden wir kein trockenes Holz mehr.«

Razamon tippte Atlan gegen die Brust. »Wir müssen weiter! Einfach stehenbleiben

ist sinnlos.« »Umherirren auch!« Vielleicht wäre es jetzt wirklich zu einem

Streit zwischen Razamon und Atlan gekom-men, wenn in diesem Augenblick nicht ein gewaltiger und greller Blitz, der sekundenlang am Himmel entlangzuckte und die Landschaft trotz des Regenvorhangs fast taghell erleuch-tete, die Unterhaltung jäh unterbrochen hätte.

Vor ihnen breitete sich bis zum Horizont nicht etwa das Meer, sondern eine wellige Ebene aus. Die Sicht war besser, als sie hätte sein dürfen. Atlan vermutete, daß es nur auf dem Berg Skolion regnete.

»Kalmlech!« stieß Gemonio entsetzt her-vor.

Razamon warf ihm einen schnellen Blick zu und wollte etwas fragen, aber dann setzte seine Erinnerung wieder ein.

»Kalmlech liegt weit nördlich von hier! Du mußt dich irren!«

»Es ist die Richtung Kalmlech«, korrigierte sich Gemonio. »Das bedeutet, daß wir halb um den Berg herumgegangen sind. Panyxan und das Meer liegen auf der anderen Seite.«

Efoluzzio verlor nun endgültig die Nerven. Er warf sich in die nächste Pfütze und trom-melte mit beiden Fäusten in das aufspritzende Wasser. Dabei gab er jämmerliche Laute von sich, als sei seine letzte Stunde gekommen. Razamon hob ihn auf und gab ihm eine Ohr-feige.

»Halt den Mund!« schrie er ihn an. »Du machst uns noch alle verrückt. Was meinst du, Gemonio? Sollten wir weiter oder umkeh-ren?«

Der Guurpel überlegte, dann meinte er: »Wenn wir weitergehen und uns auf dieser

Höhenlage halten, gelangen wir wieder auf die Ost- und Südseite. Gehen wir aber bergab, wird der Umweg noch größer, weil wir den Skolion an seiner Basis umrunden müssen.«

Atlan wunderte sich über die Kenntnisse des Guurpels. Einen besonders intelligenten Eindruck hatte er bisher nicht gemacht. Aber er kannte den Berg besser als sie alle zusam-men. Seine Überlegung hätte allerdings auch bei einem ihm fremden Berg gestimmt.

Der Regen hatte merklich nachgelassen, aber es blieb dunkel.

»Also weiter!« entschied Razamon, als er Atlan im Schein eines Blitzes nicken sah. »Es wird bald Mitternacht sein ...«

Es war eine unbeschreibliche Anstrengung, den Schlitten über den aufgeweichten Boden zu bewegen. Nur felsiger Untergrund brachte ein wenig Erleichterung. Erschwerend war außerdem, daß sie sich auf gleicher Höhe zu halten versuchten und nicht bergab gingen.

Als es endgültig aufhörte zu regnen, wurde die Sicht etwas besser, auch wenn Mond und Sterne nicht zum Vorschein kamen.

Atlan blieb plötzlich stehen. »Da vorne ist Licht«, sagte er verwundert. Jetzt sahen es auch die anderen. Es war ein

schwaches, gelbliches Licht, das aus einer ovalen Öffnung im Fels fiel, der nach rechts ziemlich steil emporragte.

»Muß eine Höhle sein«, meinte Razamon unsicher. »Gemonio, du hast behauptet, hier gäbe es keine Höhlen.«

»Ich habe es nur vermutet. Aber was soll das Licht ...?«

»Vielleicht wohnt da jemand.« Efoluzzio flüsterte: »Ein anderer Magier, ein Zauberer, ein Un-

geheuer oder böse Geister ...« »Ruhe!« fauchte Razamon ihn an. »Macht doch nicht so einen Krach! Sehen

wir uns das lieber an. Den Schlitten lassen wir besser stehen, wir holen ihn später.«

Atlan behielt seine Lampe in der Hand, schaltete sie aber nicht ein. Razamon deutete

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wortlos auf das Bündel, in dem sich die Spi-ralwaffe befand, dann löste er die Stricke und nahm sie vom Schlitten. Er gab sie Atlan und erhielt dafür die Lampe.

»Wir sollten uns nicht um das Licht küm-mern«, riet Gemonio heiser.

»Efoluzzio hat recht. Außer bösen Geistern wohnt niemand auf dem Skolion. Und die helfen uns bestimmt nicht.«

Atlan ging voran. Mit der goldschimmern-den geheimnisvollen Waffe in den Händen fühlte er sich einigermaßen sicher, obwohl er berechtigte Zweifel daran hegte, ob er sie ge-gen Zauberer oder Geister wirkungsvoll ein-setzen konnte.

Der Lichtschein kam in der Tat direkt aus den Felsen, so als sei die Wand hohl. Die ova-le Öffnung lag in fünf Metern Höhe und blieb unerreichbar. Aber es mußte einen Eingang zu ebener Erde geben, wenn sich jemand im In-nern des Felsens aufhielt.

Vorsichtig umrundeten sie einen Vor-sprung, und als Razamon für einen Augen-blick die Lampe einschaltete, fiel ihr Schein auf eine reichlich verzierte Holztür, die im Fels eingelassen war.

»Also doch!« murmelte Atlan erleichtert. »Vielleicht ein Einsiedler, der sich hier nie-dergelassen hat.«

»Ein Zauberer!« befürchtete Efoluzzio. »Bestimmt ein Ungeheuer!« hauchte Ge-

monio. Razamon lachte leise. »Unsinn! Hier wohnt eine wunderschöne

Göttin!« Atlan nahm die Waffe in die Linke und

machte sich mit der Rechten an der Tür zu schaffen. Sie war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt, wie er gehofft hatte.

Vorsichtig drückte er sie auf.

* Er sah einen von Kerzen erleuchteten Raum

vor sich, der ihn an eine Kapelle erinnerte. Ein querliegender Felsblock am anderen Ende ähnelte einem Altar. Dahinter erblickte er eine Gestalt, die vom Schein der Kerzen nur mäßig angestrahlt wurde und daher nicht sehr deut-lich zu erkennen war.

Es war ein Mann, daran konnte kein Zwei-

fel bestehen. Er trug ein langes, weißes Hemd, das seinen Körper völlig verdeckte. Der weiße Vollbart reichte bis zum Strick um den Bauch, der das Gewand zusammenhielt. Die Zehenspitzen, die unter dem Hemd her-vorlugten, waren nackt.

Das Gesicht drückte Milde und Nachsicht aus, aber auch ein wenig Neugier. Auf der anderen Seite glaubte Atlan, in den zerfurch-ten Zügen und den klarblickenden Augen Weisheit und Wissen herauslesen zu können.

Also doch eine Art Einsiedler! Atlan ließ die Waffe sinken, während tau-

send Fragen durch sein Gehirn schossen. Er sah sich nach Razamon und den anderen um, konnte sie aber nirgends entdecken. Waren sie ihm nicht gefolgt?

»Sei willkommen, Atlan«, sagte der Alte mit feierlicher Stimme.

Atlan wußte, daß er eine unwirkliche und unmögliche Situation erlebte. Woher sollte der Einsiedler seinen Namen wissen, wenn er nicht gerade ein Telepath war? Aber hatte Razamon ihn nicht gewarnt, daß er auf dem Kontinent Pthor Gegebenheiten begegnen würde, die er nicht begreifen konnte?

»Wer bist du?« fragte er, ohne den Gruß zu erwidern.

»Du solltest es wissen, denn du hast mich gesucht.«

»Warum sind meine Gefährten zurückge-gangen?«

»Das sind sie nicht. Sie stehen neben dir, aber du kannst sie nicht sehen. Sie sehen auch uns nicht, denn sie existieren in anderen Ebe-nen, so wie auch ich gleichzeitig in anderen Ebenen existiere.«

»Wer bist du?« wiederholte Atlan seine Frage.

»Das, was du suchtest.« Wieder die gleiche Auskunft wie vorhin. Atlan unterdrückte seine Sorge um die

Freunde. Es waren nicht die Worte des Alten, die ihn beruhigten, sondern eine entsprechen-de Nachricht aus seinem Unterbewußtsein. Sie kam vom Extrasinn.

»Du bist nicht real!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Und wenn du meine eigenen Vorstellungen widerspiegelst, kannst du auch nur Fragen beantworten, deren Antwort ich bereits kenne. Du hast nur mein

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eigenes Wissen, mehr nicht.«

»Wußtest du das mit den verschiedenen E-xistenzebenen?«

»Ja, ich wußte es, nur konnte ich nicht ah-nen, daß es sie auch auf Pthor gibt. Meine Freunde sind bei mir, aber ich sehe oder fühle sie nicht. Das alte physikalische Gesetz, nach dem kein Körper dort sein kann, wo bereits ein anderer ist, bezieht sich nur auf einen Raum, auf eine Ebene.«

»Sehr richtig, Atlan. Und wenn du nun noch die seltsam anmutende Beziehung von Raum und Zeitverlauf hinzunimmst, sind alle Rätsel gelöst. Seit wir uns unterhalten, haben deine Freunde nicht einmal einen einzigen Atemzug getan.«

»Kennst du den Weg nach Panyxan?« wechselte Atlan das Thema.

»Ihr werdet ihn finden. Morgen ist es wie-der nebelig, aber ihr werdet ihn finden.«

»Wir wollten eigentlich keine Zeit mehr verlieren ...«

»Niemand kann etwas verlieren, das er nicht besitzt.«

Atlan wollte noch eine Frage stellen, aber in diesem Augenblick wurde es dunkel um ihn.

Er spürte plötzlich wieder die nasse Kälte der Nacht und den Wind, der von den eisigen Höhen des Berges Skolion kam.

*

Als Razamon dicht hinter Atlan durch die

Tür schritt, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Vor ihm war ein fürstlich eingerichte-ter Saal, mit dicken Teppichen ausgelegt und großen Gemälden an den Wänden und der Decke.

Doch das allein war es nicht, was ihn faszi-nierte.

Gegenüber der Tür, auf einem erhöhten Po-dest, stand ein goldener Thron, flankiert von zwei finsteren Gestalten mit blutigen Schwer-tern in den Händen. Sie trugen dunkle Rüs-tungen und geschlossene Visiere.

Auf dem Thron aber saß eine Frau mit wunderschönem Gesicht, das auch von dem grausamen Lächeln um den schmalen Mund nicht entstellt werden konnte. Sie sah Raza-mon abschätzend an, dann winkte sie ihm zu.

»Komm näher, ich empfange nur selten Be-sucher.«

Razamon rührte sich nicht von der Stelle. Er wußte besser als jeder andere, daß auf Pthor die unglaublichsten Sachen passieren konnten, aber daß er schon jetzt einer Göttin begegnen würde, damit hatte er nicht gerech-net, obwohl er es eben noch halb im Scherz behauptet hatte.

Seine Abstammung ließ sich nicht verleug-nen, das Blut seiner Ahnen war stärker als alles Vergessen. Es war auch stärker als zehn-tausend Jahre Erdendasein.

Er sank auf die Knie und berührte den Tep-pich mit seiner Stirn.

»Erhebe dich, es wird dir nichts gesche-hen.« Die Stimme des weiblichen Wesens war sanfter geworden. Sie klang nun fast lockend. »Du darfst nähertreten.«

Zögernd erhob sich Razamon und ging langsam auf den Thron zu. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er allein war. Atlan und die anderen waren verschwunden. Sie mußten sich zu-rückgezogen haben.

Vor dem Podest hielt er an. Er konnte sei-nen Blick nicht mehr abwenden, so sehr fas-zinierte ihn die Schönheit der Göttin. Sie war genauso, wie er sich immer eine Göttin vor-gestellt hatte.

Wäre sie doch nur eine Sterbliche gewesen ...

»Was würdest du dann tun?« fragte sie und lächelte, aber nicht mehr grausam wie zu Be-ginn, sondern lockend und verführerisch.

Razamon fühlte sich ertappt. Natürlich konnte eine Göttin Gedanken lesen, das hatte er beinahe vergessen. Die beiden Gestalten in den Rüstungen störten ihn. Als er wieder hin-sah, waren sie nicht mehr da. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Nun?« »Du bist schön«, sagte Razamon. Etwas

anderes fiel ihm nicht ein. Dann besann er sich. Eine Göttin lieben zu wollen, war ein Frevel, der nur durch den Tod gesühnt werden konnte. Gewaltsam zwang er sich dazu, an etwas anderes zu denken.

»Meine Freunde und ich haben uns verirrt, da sahen wir das Licht. Wirst du uns helfen, den Weg nach Panyxan zu finden?«

»Morgen findet ihr ihn, Razamon. Bis da-

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hin sei mein Gast.«

»Und meine Freunde?« »Sie sind gut aufgehoben, sorge dich nicht

um sie.« Obwohl er sich dagegen sträubte, konnte er

der Versuchung nicht widerstehen. Mit einem entschlossenen Schritt betrat er das Podest und näherte sich dem Thron.

Die Göttin blieb sitzen, streckte ihm aber die Hände entgegen.

»Ich bin sehr einsam«, sagte sie. Razamon nahm ihre Hände und küßte sie. Dann wurde es plötzlich dunkel. Er stand

unter dem wolkenverhangenen Nachthimmel und fror in seinen nassen Kleidern.

Im Osten begann es zu dämmern, und Ne-bel zog auf.

*

Gemonio trat durch die Tür und verlor so-

fort den Boden unter den Füßen. Er fiel einige Meter und landete in einem See, der zwischen mondbeschienenen Felsen eingebettet lag und mit glasklarem Wasser angefüllt war.

Das Wasser war nicht kälter als im Meer, aber es war nicht salzig. Gemonio stellte sich sofort auf Kiemenatmung um und suchte eine Stelle, an der er wieder ans Ufer klettern konnte. Aber die Felswände waren steil und glatt und boten keinen Halt.

Seine Hände tasteten nach dem Messer, während er zu begreifen versuchte, was ge-schehen war. Wo waren die anderen geblie-ben? Wenn auch sie in den See gestürzt wa-ren, hätte er sie bemerken müssen.

Er tauchte an den Felswänden entlang und stieg dann zur Oberfläche empor. Sie war glatt wie ein Spiegel, die einzige Unruhe stammte von ihm selbst. Klar und hell schien der Mond, die Wolken waren verschwunden. Die Gegend selbst hatte sich total verändert. Hier hatte es nie einen See gegeben.

Drüben auf der anderen Seite, wo sich der Mondschein im Wasser spiegelte, waren plötzlich Wellen. Dann tauchte ein riesiger dunkler Gegenstand aus der Tiefe auf und schwamm langsam auf Gemonio zu.

Den Guurpel durchzuckte ein eisiger Schreck. Aus diesem Felsenbecken gab es kein Entkommen, vielleicht erst bei Tages-

licht, wenn die Einzelheiten des Ufers besser zu erkennen waren. Der dunkle Gegenstand konnte nur der Kopf eines riesigen Ungeheu-ers sein, das in diesem geheimnisvollen See lebte und auf ahnungslose Opfer lauerte.

Ohne sich zu bewegen, sank er unter die Oberfläche bis hinab zum Grund. Seine Au-gen stellten sich um, er konnte gut sehen. Und er sah den riesigen Schatten über sich, dessen Umrisse die helle Oberfläche des Sees ver-dunkelten.

Seltsamerweise hatte das Ungeheuer fast die Formen Hammroons, was Gemonio dop-pelt erschreckte. Gab es einen zweiten Hammroon, der im Wasser lebte?

Er blieb auf dem felsigen Grund liegen und bewegte sich nicht. Vielleicht übersah ihn das Untier in der Finsternis und kehrte in seinen Schlupfwinkel zurück. Dann war er bis Ta-gesanbruch gerettet.

Wo waren nur Atlan, Razamon und Efoluz-zio geblieben? Trotz seiner eigenen schwieri-gen Lage begann er sich Sorgen um sie zu machen, aber dann kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.

Das Ungeheuer war nun genau über ihm und hielt an.

Als er herabzusinken begann, wurde es größer.

Gemonios Finger umspannten den Griff des Messers. Er war fest entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen und sich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. So leicht sollte Hammroon II ihn nicht be-kommen.

Er wartete, bis das Untier fast auf ihm lan-dete, ehe er sich abstieß und unter ihm davon-schoß. Noch ehe er seine Höchstgeschwin-digkeit erreichte, federte er den Stoß mit den vorgestreckten Händen ab und drehte sich um. Jetzt hatte er wenigstens den Rücken frei, denn hinter ihm war die Felswand.

Das Ungeheuer hatte die Flucht bemerkt und folgte ihm.

Jetzt sah Gemonio, daß es Hammroon doch nicht so sehr ähnelte, so als habe es sich in der Zwischenzeit verwandelt. Es hatte starke Flossen und einen kräftigen Schwanz. In dem aufgerissenen Fischmaul blitzten zwei Reihen scharfer und großer Zähne.

Es griff an.

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ATLAN 2 – König von Atlantis

Gemonio ergriff das Messer nun mit beiden

Händen, damit er es nicht verlieren konnte, stemmte sich mit den Füßen gegen die Fels-wand und erwartete den Gegner mit dem Mut der Verzweiflung.

Dann war das Ungeheuer dicht vor ihm. Gemonio stieß mit aller Kraft zu, und die

scharfe Spitze des Messers drang wider-standslos in das tückisch funkelnde Auge des Gegners.

Nicht nur das Messer, sondern auch die Hände und Arme fanden keinen Widerstand. Gemonio, von seinem eigenen Schwung mit-gerissen, glitt mitten durch das aufgerissene Maul durch den Körper des Ungeheuers hin-durch, das sich einfach in Nichts auflöste.

Fassungslos drehte Gemonio sich um, aber er konnte den Feind nicht mehr entdecken. Er war allein in dem See.

Und dann war er auch nicht mehr im See, sondern stand frierend in völliger Finsternis auf dem felsigen Pfad des Berges Skolion.

Die Wolken verdeckten den Mond und die Sterne wie zuvor.

*

Efoluzzio betrat die Höhle als letzter. Er wäre viel lieber draußen geblieben, aber

er fürchtete sich vor dem Alleinsein. Also folgte er den anderen, die aber vor seinen Au-gen verschwanden und den Blick in die nur durch eine Fackel erleuchtete Höhle freiga-ben.

Er hatte es ja gewußt! Ein Zauberer! Er trug einen langen schwarzen Mantel und

einen oben spitz auslaufenden Hut. In der Hand hielt er einen silbernen Stab, den er jetzt auf Efoluzzio richtete, der vor Schreck völlig erstarrt dastand und sich nicht mehr zu rühren vermochte.

»Willkommen, Häuptling Efoluzzio, Tap-ferster der Guurpel und Freund aller Schwa-chen. Was sind deine Wünsche?«

Es dauerte lange, ehe Efoluzzio begriff, daß er nicht sofort von einem Blitz erschlagen oder einem Vampir angefallen wurde. Trotz-dem konnte er nicht sprechen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Langsam nur begann das Blut in seinen Adern wieder zu zirkulie-

ren. »Nun sprich schon, Efoluzzio. Ich erfülle

dir alle deine Wünsche, denn ich bin ein gro-ßer Zauberer.«

»Wünsche ...?« kam es Efoluzzio mühsam über die spröden Lippen.

»Sicher, gute Zauberer erfüllen Wunsche, und ich bin ein guter Zauberer. Du hast doch immer gehofft, mal einem guten Zauberer zu begegnen, auch wenn du dich vor ihnen fürchtest.«

»Panyxan!« stotterte Efoluzzio. »Meine Freunde und ich wollen nach Panyxan, aber wir haben uns verirrt ...«

»Morgen wird euch jemand den Weg nach Panyxan zeigen, in aller Frühe schon.«

»Ich will wieder Häuptling sein!« stieß Efoluzzio hervor, der sich schnell zu erholen begann. »Sie haben mich davongejagt ...«

»Auch dieser Wunsch sei dir erfüllt. Wenn du in deine Stadt zurückkehrst, wird man dich mit allen Ehren empfangen. Nun überlege dir den letzten Wunsch gut, du hast nur noch die-sen einen.«

Efoluzzio hatte noch tausend Wünsche, a-ber die würde er sich später selbst erfüllen können, wenn er wieder in Panyxan und Häuptling war. Seine Neugier war größer.

»Ich möchte dich in deiner wahren Gestalt sehen«, sagte er.

Der Zauberer vergewisserte sich: »Ist das dein dritter Wunsch?« »Er ist es.« Der Zauberer schlug den Mantel zurück. »Dann sei er dir erfüllt, Efoluzzio ...« Der Guurpel wich einen Schritt zurück, als

er die silbernen Schuppen auf dem Körper des schrumpfenden Zauberers erblickte und das Gesicht sich veränderte.

Er stieß einen Schrei aus, als er plötzlich sich selbst erkannte, und dann versank um ihn herum alles in Finsternis.

Jemand trat aus dem Dunkel auf ihn zu. »Warum schreist du so, Efoluzzio?« fragte

Gemonio.

7. Sie warteten, bis der helle Streifen am Ho-

rizont den Tagesanbruch verkündete und es schnell heller wurde. Allerdings kam auch

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ATLAN 2 – König von Atlantis

Nebel auf. Die Sichtweite betrug knapp zwei Dutzend Meter.

Sie hatten einander ihre Erlebnisse erzählt, und wenn Gemonio und Efoluzzio auch wei-terhin an einen großen Zauber glaubten, so waren Atlan und Razamon da anderer Mei-nung. Sie beschlossen, später darüber zu spre-chen, wenn sie allein und ungestört waren.

Atlan vermutete, daß die Illusionen mit den Mitteln einer fortgeschrittenen Technik er-zeugt wurden, wenn er sich über den Zweck der Vorstellung auch nicht im klaren war. Vielleicht hatte man ihre Ankunft auf Pthor bereits bemerkt und ließ sie überwachen. Göt-ter, Priester, Zauberer und böse Ungeheuer – das alles mußte eine natürliche Erklärung ha-ben.

Aber nun ging es erst einmal darum, Pany-xan zu erreichen und ein wenig unterzutau-chen. Bei den Guurpel würden sie gut aufge-hoben sein.

Nach zwei Stunden machten sie Pause. At-lan schätzte, daß sie vielleicht drei Kilometer zurückgelegt hatten und sich wieder der Ost-seite des Berges näherten. Wenn dem aber so war, würden sie bald wieder abwärts gehen können, um das Meer und die Stadt zu errei-chen.

»Der Zauberer muß noch meinen ersten Wunsch erfüllen«, entsann sich Efoluzzio.

»Er wird sich von selbst erfüllen, sobald der Nebel verschwindet«, nahm Razamon ihm die Illusion. »Wenn die Sicht besser wird, finden wir Panyxan.«

Aber die Sicht wurde nicht besser, im Ge-genteil. Immer dichter kamen die Nebel-schwaden vom Berg herab und aus den Schluchten, die ihren Weg säumten. Selbst der helle Fleck, der den Standort der Sonne verriet, verschwand allmählich. Nun gab es auch keine Richtungsbestimmung mehr.

Atlan hatte sich abseits auf einen umge-stürzten Baumstamm gesetzt. Er konnte seine Begegnung mit dem geheimnisvollen Eremi-ten nicht vergessen. Jene Intelligenz, die alle vier Illusionen materiell erzeugt hatte, mußte sie heimlich überwachen und wollte sie viel-leicht nur an diese Tatsache erinnern. Aber warum?

Vielleicht würde es niemals eine Antwort darauf geben.

Vier verschiedene Illusionen, die jeweils die Wünsche und Ängste der vier Beteiligten widerspiegelte.

Das neue Atlantis – Pthor – würde noch mehr Geheimnisse bergen.

»Gehen wir weiter?« Razamon fragte es und riß Atlan aus seinen Gedanken. »Es muß schon Mittag sein.«

Atlan erhob sich. »Wenn der Nebel bleibt, müssen wir wohl.

Sonst sitzen wir den Rest des Tages und die nächste Nacht noch hier.«

»Der Zauberer hat mir versprochen, uns den Weg zu zeigen«, erinnerte Efoluzzio mit schriller Stimme.

In diesem Augenblick hörten sie dicht über sich Flügelschläge, die sich schnell näherten.

Atlan dachte sofort an die großen Vögel des Magiers, aber dann ließ er die schon erhobene Spiralwaffe wieder sinken. Die Schläge stammten von kleineren Flügeln. Sie künde-ten keine direkte Gefahr an.

Dann tauchten zwei dunkle Punkte im Ne-bel auf und senkten sich auf sie herab. Es wa-ren zwei etwa rabengroße Vögel, völlig schwarz und mit gelben, spitzen Schnäbeln. Sie verhielten sich friedfertig, umkreisten die Gruppe mehrmals, als suchten sie etwas, und ließen sich dann auf Atlans rechter und linker Schulter nieder.

Atlan rührte sich nicht, um die Tiere nicht zu erschrecken. Aber in diesen wenigen Se-kunden des absoluten Schweigens der anderen und der völligen Stille der Nebellandschaft tauchten Erinnerungen in ihm auf. Erinnerun-gen an die Sagenwelt Terras, die er schon vergessen zu haben glaubte.

Da war doch etwas mit zwei Raben ... rich-tig! Sie hießen Hugin und Munin, was soviel wie Gedanke und Erinnerung bedeutete, zu-sammengefaßt: Bewußtsein. Odin schickte Raben als Kundschafter aus, und wenn sie zurückkehrten, berichteten sie ihm die erkun-deten Geheimnisse.

Aber diese beiden Tiere hier konnten nur Zufall sein, die Erinnerung an die Edda war unsinnig. Auf der anderen Seite wußte Atlan von Razamon, daß der sporadisch auftau-chende und wieder verschwindende Kontinent Atlantis viele Spuren in der terranischen My-thologie hinterlassen hatte.

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Er wurde durch Efoluzzios Schrei in die

Wirklichkeit zurückgerufen. »Odin!« Der Guurpel, das bemerkte Atlan erst jetzt,

war in die Knie gesunken und beugte den Kopf bis zur Erde hinab, als wolle er ihn an-beten.

Was hatte er gerufen? Odin? Was konnte Efoluzzio von Odin wissen?

Was von den beiden Raben? »Steh auf, ich bin nicht Odin!« forderte At-

lan den Guurpel auf und nickte Razamon zu, ihm auf die Beine zu helfen. »Steh auf, wir müssen weiter!«

Die Raben erhoben sich mit leichtem Flü-gelschlag und landeten flatternd auf dem Schlitten. Dort blieben sie sitzen, als gäbe es für sie nichts Selbstverständlicheres.

Razamon stellte Efoluzzio auf die Füße. »Es ist ein Zeichen«, sagte er zu Atlan,

während Gemonio noch immer wie erstarrt auf seinem Stein saß. »Wir sollten es beach-ten.«

»Ein Zeichen?« »Sie werden uns den Weg nach Panyxan

zeigen, du wirst sehen. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Du vergißt, wo wir sind ...«

Als hätten die Raben die Worte verstanden, erhob sich einer von ihnen und strich in der bisherigen Marschrichtung davon. Noch ehe er im Nebel untertauchen konnte, kehrte er zurück und zog wartende Kreise über die Gruppe.

Atlan überwand seine gesunde Skepsis, die ihn daran hinderte, an Wunder und Zauberei zu glauben, zumindest nicht im Ernst. Für ihn gab es immer eine plausible Erklärung. Dies-mal allerdings fiel ihm keine ein.

Wortlos griff er nach den Zugstricken.

* Einer der Raben flog immer voran. Sie wechselten sich ab, kehrten aber immer

wieder zum Schlitten zurück, der nun leichter fortzubewegen war, weil es fast nur bergab ging. Durch den Nebel hindurch waren bereits von fern Geräusche zu hören, die nur aus Pa-nyxan stammen konnten. Da klapperten Ge-schirre, Rufe ertönten, und Steine wurden

zerschlagen, wahrscheinlich zum Bau neuer Häuser.

Dann erreichten sie den ausgetretenen Pfad, der vom Geröll befreit worden war.

Sie hatten es geschafft. Noch bevor sie jedoch den äußeren Rand

der Stadt erreichen konnten, erhoben sich beide Vögel gleichzeitig in die Luft, während der Nebel wich und in die Höhe stieg. Einmal umkreisten die Tiere die Gruppe, dann flogen sie krächzend davon und verschwanden zwi-schen den Schluchten und Bäumen des Ber-ges Skolion.

»Odin ...?« murmelte Efoluzzio scheu und streifte Atlan mit fast ängstlichen Blicken.

Mit letzter Anstrengung brachten sie den Schlitten durch die Straßen zu den Resten von Efoluzzios Haus zum Zentrum der Siedlung.

Aus den noch heilen Häusern kamen die Guurpel gestürzt, als sich die Kunde von der Rückkehr des Häuptlings und seiner Begleiter verbreitete. Aber die größte Sensation war natürlich der tote Hammroon.

Auf dem Platz vor Efoluzzios Hausruine hielten sie an. Um sie herum hatte sich ein dichter Ring neugieriger Guurpel gebildet, die ihre Arbeit im Stich ließen und sich überzeu-gen wollten, ob es denn nun wirklich wahr sei, daß Hammroon tot war.

Efoluzzio gewann mit jeder Sekunde an Selbstsicherheit. Er stolzierte umher wie ein Pfau und begann die Geschichte lautstark zu verkünden, wobei er nicht vergaß, seine eige-nen Verdienste besonders hervorzuheben. Er berichtete von dem heldenhaften Kampf ge-gen das Ungeheuer und von seinem unbe-schreiblichen Mut. Gönnerhaft fügte er dann noch hinzu, daß selbstverständlich auch Ge-monio und die beiden Fremden ihren Anteil an dem Sieg gehabt hätten.

Es dauerte nicht lange, bis alle Guurpel un-terrichtet waren.

Eine Gruppe älterer Männer zog sich zu ei-ner Beratung zurück, um die neue Lage durchzusprechen. Sie hatten Efoluzzio abge-setzt, und das war zu übereilt geschehen, wie sich nun herausstellte. Ihr Häuptling war ein Held, er hatte das bisher nur in übergroßer Bescheidenheit nicht gezeigt. Sie hatten ihn verkannt. Das war eine Sache, die wiedergut-gemacht werden mußte ...

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Der inzwischen neu ernannte Häuptling –

Efoluzzios Sohn war es nicht – erklärte, von den anderen dazu gezwungen, seinen freiwil-ligen Rücktritt. Heimlich war er darüber recht froh, denn wer konnte wissen, ob nicht eines Tages ein neues Ungeheuer auf dem Berg Skolion auftauchte, und dann wäre es seine Pflicht gewesen ...

Nein, dann lieber nicht Häuptling sein. Der Rat der Ältesten kehrte zum Dorfplatz

zurück und verkündete die frohe Botschaft, die mit allgemeinem Jubel aufgenommen wurde.

Efoluzzio hatte es nicht anders erwartet. Nun war auch die zweite Prophezeiung in Erfüllung gegangen, sein zweiter Wunsch hatte sich erfüllt.

Jene Frauen, die ihn vorher aus der Stadt verjagt hatten, drängten sich um ihn. Einige boten sich ihm als Nachfolger für die bei der Lawinenkatastrophe ums Leben gekommenen Häuptlingsfrauen an, aber Efoluzzio war klug genug, entsetzt abzulehnen. Noch war er nüchtern.

Atlan und Razamon nahmen die Spiralwaf-fe und die Lampe vom Schlitten und zogen sich in ihre alte Unterkunft zurück, nachdem sich die inzwischen dort eingezogenen Guur-pel entfernt hatten. Sie konnten den Platz ü-bersehen und auch alles hören, was dort ge-sprochen wurde.

Efoluzzio verlor keine Minute, seine erste Amtshandlung durchzuführen. Für den heuti-gen Tag verkündete er Arbeitsfreiheit und ordnete Vorbereitungen für ein großes Fest am Abend an. Er bestimmte lediglich ein Dutzend Guurpel dazu, unverzüglich mit dem Wiederaufbau seines Hauses zu beginnen.

Mit lauten Freudenrufen verlief sich das Volk der Fischer, nachdem der getötete Hammroon davongeschleppt worden war. Wahrscheinlich würde man ihn irgendwo ein-graben.

Razamon zog die neuen Netzkleider an, die man ihnen gebracht hatte. Die alten waren naß und zerfetzt.

»Was nun, Atlan? Wir werden bald weiter-ziehen müssen. Ewig können wir nicht in Pa-nyxan bleiben.«

»Zumindest ein paar Tage müssen wir das. Unsere Ankunft auf Pthor ist nicht unbemerkt

geblieben. Man hat sich bereits um uns ge-kümmert, wenn auch mit Mitteln, die mir un-erklärlich sind. Die Geschichte mit den beiden Raben und dem Ausruf Efoluzzios ›Odin!‹ ist mir ein Rätsel. Es gibt keine rationale Erklä-rung dafür.«

»Nicht direkt, aber doch indirekt.« »Was willst du damit sagen, Razamon?« Der Atlanter lehnte sich bequem mit dem

Rücken gegen die harte Lehmwand des primi-tiven Hauses. Durch den stets offenen Ein-gang konnte er das lebhafte Treiben draußen auf dem Platz beobachten, ohne sich von der Stelle rühren zu müssen.

»Ich erwähnte dir gegenüber schon oft ge-nug die Zusammenhänge zwischen dem, was ich noch in jener Zeit vor zehntausend Jahren weiß und dem, was die Sagen und Mytholo-gien der Menschheit berichten. Sie konnten nur entstehen, weil Pthor sogenannte Helden und Zauberer, aber auch gräßliche Ungeheuer aus dem Bereich seines Wölbmantels entließ, um auf der Erde Verwirrung zu stiften, bevor der Kontinent wieder zwischen den Dimensi-onen untertauchte. Ich wurde damals, wie du ja weißt, zur Bestrafung auf der Erde zurück-gelassen und alterte nicht mehr. Ich konnte die Geschichte der Menschheit über die Jahr-tausende hinweg beobachten und mußte stets unter anderen Namen leben, weil ich unsterb-lich geworden war. Aber ich durfte niemals entscheidend eingreifen.«

Atlan mußte an seine eigene Vergangenheit denken. Auch er war unsterblich und lebte seit zehntausend Jahren und mehr auf der Er-de.

Die Menschheit hatte seit dem letzten Ver-schwinden von Atlantis zwei Unsterbliche unter sich gehabt, und außer vagen Berichten und unglaubwürdigen Sagen hatte es nie ei-nen Beweis dafür gegeben.

»Trotzdem erscheint es mir merkwürdig, daß auf der Erde bekannte Sagengestalten hier und jetzt wieder auftauchen.«

Razamon nickte. »Das ist in der Tat seltsam und unerklär-

lich. Vielleicht handelt es sich um Duplos. Auch das soll es geben. Oder um die selben Helden und Götter, die lediglich vorher in einer anderen Ebene existierten. So wäre ihre Rückkehr zu erklären.«

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Atlan zuckte die Schultern. Er sah hinaus

auf den Platz. »Um ehrlich zu sein, ich habe Hunger. Wir

haben seit ein paar Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen.«

»Heute abend ist ein Fest«, erinnerte ihn Razamon. »Man wird uns nicht verhungern lassen. Hoffentlich ist Efoluzzio nicht der irrigen Meinung, ein Odin brauche nichts zu essen.«

Als es zu dunkeln begann, leuchteten die ersten Lagerfeuer rund um den Platz auf. Rie-sige eiserne Kessel wurden über die Flammen gehängt. Allmählich verbreitete sich ein appe-titanregender Duft in der ganzen Siedlung und drang auch bis in Atlans und Razamons Lehmhütte.

»Riecht gut«, erklärte der Atlanter. »Eine Mischung aus Fleisch und Fisch. Sind wohl wieder auf der Jagd gewesen.«

Atlan war es völlig egal, was er zwischen die Zähne bekam, solange es nur genießbar war.

Dann kam Efoluzzio selbst, um sie abzuho-len. Sie erhielten einen Ehrenplatz an seiner Seite, und auch Gemonio saß am selben Feu-er.

Als die Guurpel dann noch riesige Krüge mit einem berauschenden Getränk herbei-schleppten und Räucherstäbchen verteilten, erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt.

Die Fleischbrühe, von den Frauen zuberei-tet, schmeckte ausgezeichnet. Auch die Fi-sche, am Spieß gebraten, fanden reißenden Absatz und wurden allgemein gelobt. Später gab es braungegrillte Steaks und andere Herr-lichkeiten wie Fischmehlkuchen und ... ja, und immer mehr von dem alkoholhaltigen Gebräu.

Razamon trank, als habe er drei Wochen lang in der Wüste gelebt, ohne einen Tropfen Wasser auch nur zu sehen. Auch Atlan hielt fleißig mit, denn das Zeug hatte einen umwer-fenden Wohlgeschmack, und das, wie sich später herausstellte, im wahrsten Sinne des Wortes.

So gegen Mitternacht spürte Atlan, daß es genug sei. Ihm wurde fast übel, wenn er die tanzenden Guurpel an sich vorüberhuschen sah, und er konnte den einen nicht mehr von dem anderen unterscheiden. Efoluzzio hatte

sich schon längst in das Haus einer der ledi-gen Frauen zurückgezogen, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Gemonio sang mit schriller Krächzstimme Loblieder auf das Volk der Fischer, bis er plötzlich einfach um-fiel und liegenblieb. Seinem Gestammel war nur noch zu entnehmen, daß ihm Hammroons Fleisch gut gemundet habe.

Langsam brannten die Feuer nieder. Razamon stieß Atlan in die Seite. »Ich glaube, jetzt reicht es. Ich will schla-

fen.« »Dann gehen wir doch.« Sie halfen sich gegenseitig beim Aufstehen

und schwankten dann quer über den Platz in ihr Haus.

»Bei allen Göttern und guten Geistern von Pthor«, stammelte Razamon und rülpste. »So voll war ich seit mehr als zehntausend Jahren nicht mehr ...«

»Ich auch nicht«, gab Atlan zu und schlief sofort ein.

»Der kann auch nichts vertragen«, murmel-te Razamon und drehte sich auf die andere Seite.

Eine Sekunde später schnarchte er wie eine ganze Kompanie Soldaten nach einem Fünf-zigkilometermarsch.

*

Atlan war im ersten Augenblick sicher zu

träumen, als er Stimmen hörte, die einen an-deren Dialekt als die Guurpel sprachen. Au-ßerdem waren diese Stimmen härter und be-fehlsgewohnter. Sie kamen von draußen, vom Platz.

Sein Kopf brummte wie ein Bienen-schwarm und schmerzte bei jeder noch so geringen Bewegung. Trotzdem kroch er bis zu Razamons Lagerstatt und weckte ihn. Es dau-erte eine Weile, bis der Atlanter zu sich kam und begriff, wo er überhaupt war.

»Mann, ist mir schlecht ...!« »Reiß dich zusammen, Razamon! Draußen

sind Fremde!« Razamon stöhnte und murmelte: »Fremde ...? Was wollen denn die hier?«

Plötzlich schien seine Erinnerung zurückzu-kehren. »Fremde? Das können nur die Tech-nos sein! Sie sind also eingetroffen! Komm,

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die sehen wir uns an ...«

Mit Atlans Hilfe stand er auf und rückte die Netzkleider zurecht. Mit der Hand kämmte er sich die wirren Haare aus dem Gesicht.

Sie gingen durch die Tür und standen vor dem Haus.

Etwa zwei Dutzend muskulöse und groß-gewachsene Männer in braunen Lederrüstun-gen entstiegen schalenförmigen Fahrzeugen und herrschten die überall noch halb schla-fenden Guurpels an, um sie zu wecken. Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich vor und traten mit ihren hochschäftigen Stiefeln nach allem, was sich bewegte oder eben noch nicht bewegte.

»Benehmt euch anständig, verdammte Brut!« Razamon wurde von ehrlichem Zorn überwältigt und taumelte auf die Fremden zu.

»Benehmt euch oder verschwindet!« Atlan sah, daß zwei Männer gleichzeitig

nach stabförmigen Gegenständen griffen, die in ihren Ledergürteln steckten. Die trichter-förmigen Mündungen richteten sich auf ihn und Razamon.

Atlan streckte beide Hände aus. »Nicht!« rief er und duckte sich, um dem

erwarteten tödlichen Energiestrahl zu entge-hen.

Aber er sah nur ein blasses Flimmern, und dann spürte er, wie er haltlos zu Boden stürz-te. Er wußte nur noch, daß man ihn nicht ge-tötet, sondern nur betäubt hatte.

Er war in der Gewalt der sagenhaften Technos von Pthor.

ENDE

Weiter geht es in Band 3 von König von Atlantis mit:

Der Gralshüter von Gorrick von H. G. Ewers

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2005, eine Lizenzaus-gabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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