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Abb. 1: Vorschlag einer radikalen Erneuerung der Berliner Altstadt, Ludwig Hilberseimer, nach 1928 Berlin – Stadt ohne Altstadt Vom gestrigen Berlin existieren kaum noch Relikte, die vom früheren Alltag künden. Wie keine andere deutsche Stadt ist das Zentrum des Reiches zum Vineta unser Tage geworden, von den Fluten des Vergessens überspült und nur bei seltenen Gelegenheiten schattenhaft zu erkennen. Nahezu nirgendwo in Europa ist der Bruch zwischen Einst und Jetzt derart anschaulich und schwerwiegend wie bei dieser Metropole. Günter Kunert, 2004 Das vormoderne Berlin ist heute weithin vergessen. Dass es ein Berlin vor der Ankunft der Hohenzollern gab, vor dem Bau einer Zwingburg und eines Schlosses, ist aus dem Stadtgedächtnis getilgt. Die Berliner Mitte – der bereits im Mittelalter bebaute, gut einen Kilometer Durchmesser (100 Hektar Fläche) aufweisende Stadtkern, der andernorts Altstadt heißt – ist städtebaulich ein Extremfall, auch im Weltmaßstab: Ein Fall wie Königsberg bzw., auf dem anderen Ende der Skala, wie Prag oder Venedig. Von den um 1840 vorhandenen ca. 1.500 Bauten des Stadtkerns sind nur noch zwölf, darunter fünf Kirchen, erhalten, aus der Bauepoche 1840-1945 stammen ca. 39 Gebäude. Alle anderen Bauten gehören der Nachkriegszeit an. Berlin war im Mittelalter keine Stadt von europäischer Bedeutung: Das Ausmaß Berlins, seine bescheidenen Kirchen, Rathäuser, Marktplätze und Klosteranlagen zeugen davon, dass Berlin nur wenig vom Fernhandel profitierte. Es gab keine „heiligen“ Gebäude in der Altstadt, die, wie etwa das Brandenburger Tor, als unverzichtbar und unangreifbar galten: Zumindest auf dem Papier wurden alle Gebäude schon einmal von irgendeinem eifrigen Politiker oder Planer abgerissen, selbst die Kirchen. Brandenburg an der Havel, die Mutterstadt Berlins, ist in seinem städtebaulichen Grundriss wie in seinen prägenden Bauten weitaus prächtiger, und erst recht die Großmutterstadt Berlins, Magdeburg. Die neuzeitlichen Landesherren schämten sich daher für die überkommene Altstadt. Die königliche Residenzstadt, die Hauptstadt des Kaiser- und des Dritten Reichs und die sozialistische Hauptstadt, sie alle erschienen als unvereinbar mit dieser Altstadt. Und heute? Die großen Auseinandersetzungen um den Städtebau seit dem Fall der Mauer konzentrierten sich auf Projekte außerhalb der Altstadt: auf Potsdamer Platz, Pariser Platz und Alexanderplatz. Lediglich der Umbau des Marx-Engels-Schloss-Platzes hat die Gemüter bewegt, vor allem zugunsten des Palastes der Republik. Gegenwärtig soll nun an seiner Stelle ein Bau mit den Barockfassaden des abgebrochenen Schlosses entstehen. Die mangelnde Begeisterung für diesen Neubau ähnelt eher einer Art Duldungsstarre. Noch größer ist das Desinteresse der Öffentlichkeit an der Rekonstruktion des Petriplatzes, des Molkenmarktes und des Klosterviertels. Lediglich die Gestaltung des großen Freiraums zwischen Fernsehturm und Spree hat bislang einige Aufmerksamkeit erregt. Die Altstadt war und ist bislang kein Ort, der zur Identität Berlins einen Beitrag zu leisten imstande scheint.

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Abb. 1: Vorschlag einer radikalen Erneuerung der Berliner Altstadt, Ludwig Hilberseimer, nach 1928

Berlin – Stadt ohne Altstadt

Vom gestrigen Berlin existieren kaum noch Relikte, die vom früheren Alltag künden. Wie keine andere deutsche Stadt ist das Zentrum des Reiches zum Vineta unser Tage geworden, von den Fluten des Vergessens überspült und nur bei seltenen Gelegenheiten schattenhaft zu erkennen. Nahezu nirgendwo in Europa ist der Bruch zwischen Einst und Jetzt derart anschaulich und schwerwiegend wie bei dieser Metropole.

Günter Kunert, 2004

Das vormoderne Berlin ist heute weithin vergessen. Dass es ein Berlin vor der Ankunft der Hohenzollern gab, vor dem Bau einer Zwingburg und eines Schlosses, ist aus dem Stadtgedächtnis getilgt. Die Berliner Mitte – der bereits im Mittelalter bebaute, gut einen Kilometer Durchmesser (100 Hektar Fläche) aufweisende Stadtkern, der andernorts Altstadt heißt – ist städtebaulich ein Extremfall, auch im Weltmaßstab: Ein Fall wie Königsberg bzw., auf dem anderen Ende der Skala, wie Prag oder Venedig. Von den um 1840 vorhandenen ca. 1.500 Bauten des Stadtkerns sind nur noch zwölf, darunter fünf Kirchen, erhalten, aus der Bauepoche 1840-1945 stammen ca. 39 Gebäude. Alle anderen Bauten gehören der Nachkriegszeit an. Berlin war im Mittelalter keine Stadt von europäischer Bedeutung: Das Ausmaß Berlins, seine bescheidenen Kirchen, Rathäuser, Marktplätze und Klosteranlagen zeugen davon, dass Berlin nur wenig vom Fernhandel profitierte. Es gab keine „heiligen“ Gebäude in der Altstadt, die, wie etwa das Brandenburger Tor, als unverzichtbar und unangreifbar galten: Zumindest auf dem Papier wurden alle Gebäude schon einmal von irgendeinem eifrigen Politiker oder Planer abgerissen, selbst die Kirchen. Brandenburg an der Havel, die Mutterstadt Berlins, ist in seinem städtebaulichen Grundriss wie in seinen prägenden Bauten weitaus prächtiger, und erst recht die Großmutterstadt Berlins, Magdeburg. Die neuzeitlichen Landesherren schämten sich daher für die überkommene Altstadt. Die königliche Residenzstadt, die Hauptstadt des Kaiser- und des Dritten Reichs und die sozialistische Hauptstadt, sie alle erschienen als unvereinbar mit dieser Altstadt. Und heute? Die großen Auseinandersetzungen um den Städtebau seit dem Fall der Mauer konzentrierten sich auf Projekte außerhalb der Altstadt: auf Potsdamer Platz, Pariser Platz und Alexanderplatz. Lediglich der Umbau des Marx-Engels-Schloss-Platzes hat die Gemüter bewegt, vor allem zugunsten des Palastes der Republik. Gegenwärtig soll nun an seiner Stelle ein Bau mit den Barockfassaden des abgebrochenen Schlosses entstehen. Die mangelnde Begeisterung für diesen Neubau ähnelt eher einer Art Duldungsstarre. Noch größer ist das Desinteresse der Öffentlichkeit an der Rekonstruktion des Petriplatzes, des Molkenmarktes und des Klosterviertels. Lediglich die Gestaltung des großen Freiraums zwischen Fernsehturm und Spree hat bislang einige Aufmerksamkeit erregt. Die Altstadt war und ist bislang kein Ort, der zur Identität Berlins einen Beitrag zu leisten imstande scheint.

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Entstehung und Stagnation der Altstadt Die mittelalterliche Doppelstadt Berlin-Cölln entstand vermutlich kurz vor 1200 – im Zuge der hochmittelalterlichen deutschen Ostexpansion – an einem Spreeübergang im Bereich der heutigen Mühlendammbrücke. Beide Städte waren zunächst recht klein. Cölln blieb eine kleine Stadt mit eigenem Rathaus und eigener Kirche, während Berlin noch im 13. Jahrhundert nach Norden verdoppelt wurde. Daher beherbergte Berlin zwei Kirchen und auch zwei Marktplätze. Zwischen der alten und der erweiterten Stadt verlief die neue Hauptstraße des mittelalterlichen Berlins, die Oderberger bzw. Georgenstraße (heute Rathausstraße). An der Kreuzung von Georgen- und Spandauer Straße lag – wenig repräsentativ, da es auf einen Vorplatz verzichten musste – das Rathaus. Die bescheidene Bedeutung Berlins vor dem 30jährigen Krieg zeigt sich nicht nur an der geringen besiedelten Fläche (Köln am Rhein war mit 400 Hektar gut vier Mal so groß) und den Bauten dieser Zeit, sondern auch an den Stadtansichten und Stadtplänen, die uns überliefert sind. Der erste Stadtgrundriss entstand erst im 17. Jahrhundert. Er wurde von Johann Gregor Memhardt um 1652 gezeichnet und zeigt Berlin im Wesentlichen immer noch so, wie es schon im 13. Jahrhundert ausgesehen hat. Die einzige große Veränderung betraf die nördliche Spreeinsel, wo sich nunmehr der Herrschaftssitz des Kurfürsten erstreckte. Die engste Definition der Berliner Altstadt entspricht der auf das Mittelalter zurückgehenden Doppelstadt ohne das Schlossareal im Norden Cöllns. Die weiteste Definition der Altstadt schließt alle Teil des historischen Berlins ein, die von den barocken Befestigungsanlagen des 17. Jahrhunderts umschlossen waren: also auch die Schlosslandschaft, die ersten Stadterweiterungen nach dem Dreißigjährigen Krieg, den Friedrichswerder und den Stadtteil Neucölln am Wasser sowie die heutige Museumsinsel. Die Ausstellung „Berlins vergessene Mitte“ orientiert sich an einem pragmatischen Altstadtbegriff. Sie versteht unter Altstadt die Fläche zwischen Spreekanal und Stadtbahntrasse, also den mittelalterlichen Kern zuzüglich des Nordens der Spreeinsel und des östlichen Befestigungsgeländes. Die so umrissene Fläche lässt sich unter heutigen Gesichtspunkten gut von den umliegenden jüngeren Stadtteilen abgrenzen und als Stadtkern begreifen.

Abb. 2: Mittelalterlicher Stadtkern vor dem Bau der Befestigungsanlagen, Memhardt-Plan von Berlin, 1652

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Abb. 3: Geplanter Grundriss der barocken Befestigung mit den Grundrissen der Vorderhäuser des Stadtkerns. Umzeichnung eines Plans aus den Lindholzschen Papieren, um 1657/58

Abb. 4: Mittelalterlicher Stadtkern innerhalb der Befestigungsanlagen, Ausschnitt aus dem Vogelschauplan von Johann Bernhard Schultz, 1688

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Altstadt im Abseits Nach dem Ende des 30jährigen Krieges, 1648, gewann Berlin an Bedeutung – als Hauptstadt einer der neuen aufsteigenden Mittelmächte. Dem Brandenburgischen Kurfürsten gelang es 1701, die Preußische Königswürde zu erringen. Diese neue Rolle musste durch eine städtebauliche Aufwertung der Residenzstadt in Szene gesetzt werden. Mit dem Bau des barocken Schlosses erhielt Berlin erstmals einen überregional präsentierbaren Bau. Doch eine Residenzstadt erforderte mehr, sie erforderte insbesondere die Anlage einer Prachtstraße, die zum Schloss führte, ja sie erforderte die Unterordnung der gesamten Stadt unter das Schloss. Um 1700 stellte sich daher die zentrale Frage: Welche Straße sollte die neue Prachtstraße werden? Zunächst einmal schien die Antwort klar: Die wichtigste Straße des mittelalterlichen Berlin, die Oderberger bzw. Georgenstraße, die dem Einzug des in Königsberg zum König gekrönten Friedrich I. als Bühne diente und daher den Namen Königstraße erhielt, war die geborene Prachtstraße. Schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann der Umbau der alten mittelalterlichen Hauptstraße zur neuen Prachtstraße, die alte Lange Brücke wurde durch eine neue steinerne ersetzt, deren Mitte die Reiterstatue des Großen Kurfürsten, des Wegbereiters des Aufstiegs Preußens, markierte. Diese Vision ist uns in einer Ansicht von Jean Baptiste Broebes um 1702/02 überliefert. Doch der Prozess der Unterordnung von Alt-Berlin unter das Schloss erwies sich als nicht durchführbar.

Abb. 5: Vision einer Ostausrichtung des Berliner Schlosses, Jean Baptiste Broebes, um 1702/03

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Abb. 6: Vision einer Südausrichtung des Berliner Schlosses von,Jean de Bodt oder Johann Friedrich Eosander von Göthe, um 1706 Ab 1706 wurde eine weitere Variante erwogen: Das Schloss sollte nach Süden, in Richtung Alt-Cölln orientiert werden, was die Breite Straße zur neuen, wenngleich kurzen Prachtstraße gemacht hätte. Diese Variante liegt uns ebenfalls in einer Ansicht vor, deren Autor entweder Jean de Bodt oder Johann Friedrich Eosander von Göthe war. Aber auch diese Option wurde nicht weiter verfolgt. Faktisch setzte sich eine dritte Variante durch, der schrittweise Ausbau der in einem spitzen Winkel auf die Nordseite des Schlosses treffenden Allee Unter den Linden zur neuen Prachtstraße des preußischen Königtums. Das hatte Folgen für die Altstadt, sie rückte hinter das Schloss, in dessen Schatten, und verlor an Aufmerksamkeit. Alle neuen staatlichen Bauten wurden nun im Westen des Schlosses errichtet. Da die wichtigsten Stadterweiterungen ebenfalls, wie fast überall in Europa, im Westen erfolgten, geriet die Altstadt langsam in eine gewisse Randlage. Das begann schon in der Zeit des Großen Kurfürsten: Im Westen wurde zuerst der Friedrichswerder bebaut, dann entstanden die Dorotheenstadt und die Friedrichstadt – drei Stadtteile, die nach und nach zum Standort von ausgelagerten höfischen Einrichtungen wie Zeughaus, Oper sowie der Akademie der Künste und der Wissenschaften wurden. Im späten 18. Jahrhundert begann mit der Frühindustrialisierung eine Entwicklung, die Berlin zur größten und wichtigsten Stadt der Welt nach Paris und London machen sollte. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der deutschsprachige Raum spät, aber eindrucksvoll zu einem großteils geeinten, wissenschaftlich, wirtschaftlich und militärisch äußerst erfolgreichen Nationalstaat. Als Hauptstadt Preußens, des führenden Teilstaates, wurde Berlin hinsichtlich seiner Größe und Bedeutung in die Spitzengruppe der Weltstädte katapultiert. Die Berliner Altstadt wirkte im Vergleich mit den alten Weltstädten sehr bescheiden. Der gegenläufige Prozess – frühe Blüte und lange Stagnation– hingegen ließ eindrucksvolle Altstädte wie Venedig, Prag, Brügge oder Neapel entstehen und konservierte sie. Weg mit der Altstadt! Kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich zwar nicht die Geringschätzung, aber der Umgang mit Altstadt. Während diese bis dahin im Schatten der Entwicklung lag, wurde sie jetzt Gegenstand von großen Erneuerungsprojekten. Dazu gehörten insbesondere die ganze Häuserblöcke einnehmenden Neubauten des Stadtgerichts, der Börse und des Rathauses. Die Stimmung dieser Jahre fand ihren idealtypischen Ausdruck in den Worten des Berliner Schriftstellers und Journalisten J. Heinrich Bettziech, der 1846 unter seinem Pseudonym Beta äußerte: „Überdenkt und überschaut die gewaltigen Elemente des Wachstums und der

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Zukunft Berlins, und es wird euch wie die Notwendigkeit eines logischen Schlusses klar werden, daß Berlin die erste und mächtigste Stadt und Cultusstätte der Zukunft werden muß. Meilenweite Städte werden einst zu Berlin gehören. [...] Die Stadt ist gelichtet und geweitet und es finden sich grüne, blühende Räume für Glückliche mitten zwischen den Häusern [...] und die stinkenden Engpässe der Fischerbrücke und des Bullenwinkels und die Hölle werden nicht mehr sein“ (aus: „Die Physiologie Berlins“, 1846, varia). Bettziechs Altstadt-Eschatologie sollte sich bekanntlich im Laufe der nächsten 130 Jahre erfüllen. Der Berliner Stadtumbau des 19. Jahrhunderts weist übrigens mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten mit dem Stadtumbau in Paris und Wien auf. In beiden genannten Städten war der Staat, nicht die Stadtverwaltung, die treibende Kraft des Umbaus; die Umbauten begannen schon in den 1850er Jahren und dienten der Verschönerung wie Aufwertung der Städte. In Berlin begann der Magistrat erst um 1880, getrieben von der Missachtung der existierenden Altstadt, mit einer radikalen Modernisierung, die unter dem Deckmantel verkehrstechnischer Verbesserung mit zahllosen Straßendurchbrüchen und -verbreiterungen die Zerstörung der historischen Substanz verfolgte. In den 1880er Jahren wurde als wichtigstes und verlustreichstes dieser Projekte eine neue Straße durch den Norden Alt-Berlins gebrochen, die Kaiser-Wilhelm-Straße, in etwa die heutige Karl-Liebknecht-Straße. Zur gleichen Zeit wurde die Stadtbahn auf dem ehemaligen barocken Befestigungsgraben angelegt. Beide Projekte brachten nicht die erhoffte Sanierung und Belebung der Altstadt.

Abb. 7: August Orth: Plan zur radikalen Umgestaltung der nördlichen Altstadt, in vereinfachter Form später realisiert

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Abb. 8: Plan des Durchbruchs der Kaiser-Wilhelm-Straße, April 1889 (LAB, Pr.Br.Rep.30 Bln C, Nr. 18274)

Abb. 9: Bau der Kaiser-Wilhelm-Brücke und der Kopfbauten an der Burgstraße, 22. Juni 1887, © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Sign IV 83/335 V Hermann Rückwardt (1845-191) Der Grundriss der Altstadt erfuhr bis zum Ersten Weltkrieg zahllose weitere Gassen- und Straßenaufweitungen. Der städtebaulich bedeutendste Eingriff in die Struktur der Altstadt neben der Kaiser-Wilhelm-Straße war der 1886-1895 ausgeführte Umbau des beidseitig bebauten Mühlendamms zur Mühlendammbrücke, der langfristig den Durchbruch der achtspurigen Grunerstraße durch die südliche Altstadt in den 1960er Jahren bedingte.

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Abb. 10: Mühlendamm und Umgebung mit Neuplanung, um 1888 (Ausschnitt aus der Karte Umgestaltung von Alt-Berlin; BERICHT ÜBER DIE GEMEINDEVERWALTUNG 1889, S. 44-45) Abb. 11: Umbau des Mühlendamms, um 1890

Abb. 12: Durch die Verbreiterung der Rosenstraße motivierter Abbruch des 31 Häuser umfassenden Häuserblocks zwischen Neuer Friedrich-, Kloster- und Rosentraße, 2.11.1894 (Georg Bartels; LAB, F Rep. 290, Nr. 61-3170)_

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Abb. 13: Großflächiger Abriss im Nikolaiviertel für das Kaufhaus Spandauer Straße (Foto Georg Bartels), 1899 [Nachrücker Nr. 2] (LAB, F Rep. 290, Nr. 61-3872) Im gesamten Stadtkern entstanden zwischen 1890 und 1910 große Gebäudekomplexe, die vor allem von der Kommune Berlin selbst, aber auch vom Groß- und Einzelhandel sowie von staatlichen Gerichten genutzt wurden, während die staatlichen Ministerien und hochrangigen Kulturinstitutionen weiterhin westlich des Stadtkerns zu finden waren.

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Abb. 14: Die Altstadt vor dem Ersten Weltkrieg, Straube-Plan (Ausschnitt), 1910 (Rechte: LAB) Auch im Rahmen des Wettbewerbs Groß-Berlin 1908/1910 wurden neue Visionen einer Monumentalstadt vorgelegt, die die Altstadt in Frage stellten. Neben weiteren Straßendurchbrüchen wurden einige Monumentalbauten empfohlen, vor allem in der südlichen Altstadt. Dabei war die Kernstadt um 1910 bereits in baulicher wie funktionaler Hinsicht modernisiert, monumentalisiert und ästhetisiert – wie die meisten europäischen Großstadtkerne dieser Zeit. Von den noch knapp 700 Gebäuden der Altstadt stammte ca. ein Drittel aus dem Mittelalter oder der Frühen Neuzeit. Der fein austarierte Schwebezustand zwischen Tradition und Moderne hat allerdings in der Weimarer Republik als angeblich fauler Kompromiss fast nur Verachtung, ja Hass, auf sich gezogen. Insbesondere zwischen 1929 und 1933 wurden radikale Pläne zum Ausbau der Straßen und einer Kahlschlagsanierung der südlichen Altstadt erarbeitet, deren Umsetzung allerdings politisch und ökonomisch scheiterte. Aber auch wenn Inflation und Weltwirtschaftskrise die Eiferer bremsten – zu Hunderten wurden Grundstücke aufgekauft und ihre Unterhaltung vernachlässigt. Und der mangelnde Erhaltungszustand war nach einigen Jahren in vielen Fällen wiederum Grund genug für den Abriss.

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Abb. 15: Offizieller Plan zur radikalen Umgestaltung der südlichen Altstadt (Ausschnitt), nicht realisiert, April 1930 (Archiv Bodenschatz)

Abb. 16: Radikaler Erneuerungsplan für die Altstadt, Ludwig Hilberseimer, nach 1928 (zit. nach MICHELIS 1986, S. 21)

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In der nationalsozialistischen Zeit sollte das Berliner Zentrum grundsätzlich neu gestaltet werden. Das neue Hauptzentrum war westlich der Friedrichstadt vorgesehen, entlang der neuen Nord-Süd-Achse. Im Zuge des Ausbaus der Ost-Achse sollte die alte Kaiser-Wilhelm-Straße aufgeweitet und als bandartige Bresche ohne Bezug zur Altstadt monumentalisiert werden. Abb. 17: Plan „Ostdurchbruch“, 1939 [Nachrücker Nr. 6] Großdia in Farbe liegt vor Zudem war geplant, den lange vorgesehenen Umbau der südlichen Altstadt endlich in Angriff zu nehmen. 1935 begann die nächste große Zerstörungswelle. Während der Ausbau der Ostachse über erste Ansätze nicht hinauskam, erfolgte ein flächenhafter Abriss des südlichen Alt-Berlin im Zuge der sogenannten Sanierung des Rolandufers – ein Umbau, der bis heute wenig bekannt ist. Abb. 18: Plan Rolandufer („Mühlendam-Gelände“), 1936 geändert 1937 [Nachrücker Nr. 6] Großdia in Farbe liegt vor

Abb. 19: Vogelschauansicht der umfassenden Umgestaltung der südlichen Altstadt im Bereich des Molkenmarktes, partiell realisiert. Ausschnitt aus dem Entwurf eines Altstadtforums unter maßgeblicher Beteiligung von Felix Unglaube, Juli 1935 (Quelle: LAB, F Rep. 270, Nr. A 5914) In diesem Kontext wurde auch das kaiserzeitliche Ensemble der neuen Mühlendammbrücke abgebrochen, zunächst aber nur eine Not-Ersatzbrücke errichtet. Auch der bedeutendste Platz des mittelalterlichen Berlin, der Molkenmarkt, und die beiden östlich angrenzenden Häuserblöcke verschwanden. Im Bereich des Nikolaiviertels war eine Art Altstadtmuseum mit historischen Gebäuden vorgesehen, die anderen Orts abgebrochen worden waren. Diese Planung wurde aber nicht umgesetzt. Abb. 20: Lageplan der musealen Neugestaltung des Nikolaiviertels mit erweitertem Mühlendamm, neuer Münze und Altstadtforum, um 1937 ((wie Berlin auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum, S. 93 unten, liegt in Farbe – Großdia - vor)) [Nachrückerliste Nr. 9]

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Abb. 21: Umbau des Mühlendamms (Foto Max Krajewsky), 1937 (SSM Berlin, Nr. ...) Eine Folge der NS-Planung war die funktionale Verödung des südlichen Alt-Berlin, vor allem aber die perspektivische Zerstückelung Alt-Berlins in drei Streifen – den Restbereich nördlich der Ost-Achse (heute Karl-Liebknecht-Straße), den (heute grüngeprägten) Freiraum zwischen der Ost-Achse und dem neuen Hauptstraßenzug Mühlendamm, Spandauer Straße, Königstraße (heute Rathausstraße) sowie den Bereich von Alt-Berlin südlich der Rathausstraße. Diese Dreiteilung hat ihre Entsprechung in Alt-Cölln: einen zur Bedeutungslosigkeit modernisierten Südteil (Fischerkiez), einen öffentlichen Mittelteil (Breite Straße, Brüderstraße und Schlossplatz) sowie einen kleinen Nordteil. Allerdings beherbergt der Norden Cöllns mit der Museumsinsel eines der bedeutendsten Museumsquartiere der Welt – auch dieses gehört zum Berliner Stadtkern. Im Bombenkrieg und Straßenkampf der letzten Tage vor Kriegsende wurden zahllose Häuser der Altstadt schwer beschädigt oder ganz zerstört. Alle Grundstücke mit mehr als 50 Prozent Beschädigung wurden vom Magistrat abgeräumt, die Witterungseinflüsse der ersten Nachkriegsjahre taten ein Übriges, so dass ab 1948 nur noch einige wenige Altbauten als hohle Zähne auf den weiten Rasenflächen der ehemaligen Altstadt standen.

Abb. 22: Die Altstadt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, alliiertes Luftbild (Ausschnitt), 22.3.1945

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Abb. 23: Schrägluftbild der östlichen Altstadt von Süden vor Beginn des Aufbaus des Sozialistischen Stadtzentrums, Lothar Willmann, Januar 1965 Nach der Ausrufung des östlichen Teils von Berlin zur Hauptstadt der DDR wurde die Ruine des Stadtschlosses gesprengt, zugleich aber nach Moskauer Vorbild eine vereinfachende, monumentalisierende Rekonstruktion des Altstadtgrundrisses erwogen. Die Pläne für ein Hochhaus in den Fußstapfen des Schlosses wurden nicht realisiert. Zwischen 1945 und 1965 wurde im gesamten Stadtkern, außer dem Marx-Engels-Lenin-Institut (ausgeführt als Staatsrat, heute Privatuniversität) und einem kleinen Gebäude in der Klosterstraße, kein einziges Gebäude neu errichtet. Ernsthafte Wiederaufbaubestrebungen, Pläne und Gutachten gab es in den Jahren 1954 bis 1958 für den Fischerkiez. Abb. 24: Vorschlag zum Wiedeaufbau der Fischerinsel, 1954 [Nachrücker Nr. 11; Großdia liegt vor] Ab Ende der 1950er Jahre wurde um ein neues städtebauliches Konzept für das Zentrum gerungen. Weiterhin gab es Vorschläge für ein zentrales Hochhaus, aber nunmehr in einer städtebaulichen Form, die auf die immer noch beachtlichen Reste der Altstadt weniger Rücksicht nahm. Eine radikale Alternative brachte der Ost-Berliner Chefarchitekt Hermann Henselmann ins Spiel. Er schlug vor, statt eines Hochhauses einen Fernsehturm als neues, die Stadtsilhouette beherrschendes Element zu setzen – als Zeichen des im Sozialismus entfesselten wissenschaftlichen Fortschritts. Dieses Projekt war ein radikaler Vorläufer der neuen Gestaltung der ehemaligen Altstadt von Berlin, die in den Jahren 1965 bis 1974 nach dem städtebaulichen Entwurf eines Kollektivs im Stadtbauamt unter Leitung von Peter Schweizer realisiert wurde. Die gravierendsten Eingriffe in die Altstadt nach 1945 waren der Durchbruch der achtspurigen Grunerstraße vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz und der Bau von sechs Hochhäusern anstelle des größten noch zusammenhängenden Altstadtbereichs, des Fischerkiezes.

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Abb. 25: Zentrum ohne Altstadt, dafür mit einem Turm der Signale und Schnellstraßenkreuzen: Projekt von Hermann Henselmann, um 1959 (AIV Städtebau, S. 204 unten)

Abb. 26: Städtebaulicher Entwurf zur Neugestaltung der Mitte Ost-Berlins von Peter Schweizer, Dorothea Tscheschner, Hubert Martinetz und Hans Gericke, Dezember 1960 Aber nicht nur die DDR verabschiedete sich in dieser Zeit endgültig von der Altstadt, auch der Westen orientierte auf ein geschichtsloses neues Berlin. Im Rahmen des Internationalen

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Städtebaulichen Wettbewerbes Hauptstadt Berlin 1957/58 war die Altstadt ebenfalls als wenig wertvoll eingeschätzt worden. Das betraf die Ausschreibung wie die abgegebenen Entwürfe, etwa den Entwurf von Hans Scharoun und Wils Ebert.

Abb. 27: Zentrum ohne Altstadt: Vorschlag von Hans Scharoun und Wils Ebert im Rahmen des Internationalen Wettbewerbs Hauptstadt Berlin (2. Preis), 1958 Als Resümee gilt es festzuhalten, dass Altstadtfeindschaft und Verkehrswahn der Stadtväter und Stadtplaner zwischen 1840 und 1975 zum heutigen Zustand geführt haben, nicht Krieg und Sozialismus. Die moderne Stadtplanung schuf erst die Voraussetzungen für den Automobilverkehr, auf den zu reagieren sie vorgab. Her mit der Altstadt – oder lieber doch nicht? In den 1980er Jahren – gefördert durch die 750-Jahrfeier Berlins im Jahre 1987 – wurde die Altstadt zumindest partiell rehabilitiert und erfuhr eine neue Wertschätzung. Diese harte Wende im sozialistischen Städtebau zeigte sich eindrucksvoll im Bau des neuen Nikolaiviertels. Dieses Viertel – der im Krieg weitgehend zerstörte älteste Bereich von Berlin – wurde in freier Form neomittelalterlich rekonstruiert.

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Abb. 28: Aufsetzen der Turmhelme der Nikolaikirche, 20. August 1982 (LAB, F Rep. 290, Nr. 66-697) Mit dem Marx-Engels-Denkmal wurde 1984 ein Denkmalkomplex für die Vordenker des Sozialismus auf dem großen Freiraum zwischen Palast und Fernsehturm errichtet, die zwar die Ideologie des Sozialismus erzählt, sie aber nicht mehr monumental inszeniert.

Abb. 29: Marx fliegt heran (Foto Sybille Bergemann), um 1984

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Nach dem Fall der Mauer zog zunächst die westliche Peripherie des historischen Zentrums alle Aufmerksamkeit auf sich: Potsdamer Platz und Pariser Platz, aber auch die Friedrichstraße. Bald setzte der Streit um den Wiederaufbau des Schlosses ein, dessen spektakulärer Ausgangspunkt 1993 die Errichtung der Stofffassaden des Barockbaus war. Dagegen blieb die sonstige ehemalige Altstadt im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das änderte sich nur wenig, als das höchst umstrittene Planwerk Innenstadt 1996 vorgestellt wurde. Nach einer heftigen Kritik der Planung für den großen Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree wurde diese zurückgezogen, und das Areal fand allenfalls als Hinterland des neu beplanten Alexanderplatzes etwas Beachtung. Als Spätfolge des Planwerks soll in Kürze eine kritische Rekonstruktion des so genannten Klosterviertels und der Breiten Straße inklusive Petrikirchplatz erfolgen. Doch beide Bebauungspläne erregen wenig öffentliches Interesse. Auch die politische Entscheidung gegen Ende des Jahres 2008, das geplante Humboldt-Forum nach Plänen des italienischen Architekten Franco Stella in Erinnerung an das zerstörte Stadtschloss neu zu errichten, stimulierte lediglich eine Fachdebatte. Selbst die Provokation des ehemaligen Senatsbaudirektors Hans Stimmann, der sich in einem 2009 publizierten Buch für eine kritische Rekonstruktion des so genannten Marienviertels auf dem großen Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree einsetzte, fand in der breiteren Öffentlichkeit zwar Interesse, aber keine wirkliche Begeisterung oder Ablehnung. Auf der fachpolitischen Ebene erhielt sie allerdings bald eine Antwort durch seine Nachfolgerin, die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. Im November 2009 präsentierte sie einige städtebauliche Ideen renommierter Fachleute – visionär, traumhaft, ja übertrieben, so der Kommentar der Senatsbaudirektorin selbst, ein Schritt, der den Kopf frei machen und zugleich die öffentliche Debatte beflügeln sollte. Die zum Teil schon in den 1990er Jahren entwickelten Ideen ignorierten allerdings die vielfach gebrochene Vergangenheit dieses ältesten Teils Berlins – vor allem die Jahrhunderte vor der Herrschaft der Hohenzollern und die Jahrhunderte im Schatten des Schlosses. Sie präsentierten jeweils nur eine einzige Großidee für den Riesenraum und orientierten damit nicht nur auf einen monofunktionalen, weiterhin isolierten und introvertierten Stadtraum, sondern auch auf eine ausgewählte soziale Gruppe. Eine einzige Funktion aber – ob Grün, Versammlungsplatz, Wassersport oder Archäologie – ist diesem Orte nicht angemessen. Für einen neuen Respekt vor einer 800jährigen Geschichte Dass Berlin heute keine Altstadt mehr hat, ist angesichts der langen Vorgeschichte der Ablehnung der Altstadt nicht weiter verwunderlich, ja sogar verständlich. Denn das herrschende Berlin hat sich über ein Jahrhundert lang seiner bescheidenen Altstadt geschämt und entsprechend agiert. Das heißt aber nicht, dass das städtebauliche Ergebnis des rabiaten Umgangs mit der Altstadt vor allem seit der NS-Zeit zustimmungspflichtig ist. Vor diesem Hintergrund ist vielmehr ein städtebauliches Konzept für den Stadtkern gefragt, das der besonderen, einmaligen Geschichte des Ortes gerecht wird. Ein städtebauliches Konzept, kein archäologisches Konzept! Ein Konzept, das die Geschichte weder versenkt noch zupflastert. Insbesondere darf der riesige Raum künftig nicht einer einzigen Idee unterworfen werden. Was bis heute eigentlich kaum realisiert wird, ist die Zeitspanne, die wir aus unserem Stadtgedächtnis getilgt haben. Das bescheidene mittelalterliche Berlin existierte gut 400 Jahre – bis zum 30jährigen Krieg. Das ist eine Zeitspanne, die länger ist als die Zeit nach Ende des 30jährigen Krieges bis heute. Die Berliner Stadtgesellschaft muss sich ihrer gesamten Geschichte stellen, nicht nur der Geschichte der letzten 300 oder 150 Jahre oder womöglich nur der letzten 50 Jahre. Dass bedeutet auch: Erinnerung an frühere Altstadtgrundrisse und Rekonstruktion des einen oder anderen Stadtraums – zuallererst des Molkenmarktes, des Zentrums von Alt-Berlin, und des Bereichs um die 1964 abgerissene Petrikirche, des Zentrums von Alt-Cölln. Das heißt nicht notwendig: bauliche Rekonstruktion des großen

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Freiraums. Das heißt aber auf alle Fälle, diesen Freiraum nicht als Solitär, als introvertierte rechteckige Insel zu sehen, sondern als Teil einer Altstadt, die als Ganzes erinnert und begriffen werden muss. Zu einem geschichtsbewussten Umgang mit der Vergangenheit gehört selbstverständlich auch die Beachtung der Nachkriegszeit mit ihren großräumigen Setzungen.

Abb. 30: Schrägluftaufnahme des Stadtkerns von Philipp Meuser, 2008 Der Wert des vormodernen Stadtgrundrisses und der nachmodernen Setzungen ist vornehmlich ein historischer, kein ästhetischer. Nicht die Großartigkeit des vormodernen Berlins legitimiert die Erinnerung, sondern seine Historizität. Das gilt auch für die Hinterlassenschaften der DDR-Zeit, mit Ausnahme des Fernsehturms. Die Instrumentalisierung der Stadtvergangenheit, die ihren Wert aus sich selbst bezieht und nicht aus ihrer Großartigkeit, dient paradoxerweise wiederum ästhetischen Zwecken. Das heißt, für die künftige Innenstadtgestaltung ist die ältere Stadtgeschichte kein Selbstzweck, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung, um zu lebendigen und schönen Stadträumen zu gelangen. Allein die Stadtgeschichte hat – wenn man sie ernst nimmt –, die Fähigkeit, die aktuellen Grundrissfindungen mit nicht-willkürlichen Unregelmäßigkeiten, mit Varianten und Versprüngen anzureichern. Es existiert kein einziges profanes bürgerliches Bauwerk aus dem Mittelalter mehr, an dem sich die Erinnerung an die vormoderne Stadt festmachen könnte. Auch deswegen ist der historische Stadtgrundriss von überragender Bedeutung. Denn in ihm und den Zuschnitten der einzelnen Parzellen ist noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts die mittelalterliche Geschichte der Stadt ablesbar.

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Abb. 31: Die Berliner Altstadt, Ausschnitt aus dem Sineck-Plan, 1856 Alle historischen Unregelmäßigkeiten haben eine Bedeutung und erzählen Geschichten, die anders als die Säulen und Sprenggiebel der Architektur der 1980er Jahre nicht post-modern sind, sondern pre-modern. Im Unterschied zu den historischen Bezügen der postmodernen Architektur richtet sich ein geschichtsbewusstes Vorgehen nicht vornehmlich auf die Architektur, sondern auf den Städtebau, und außerdem ausschließlich auf den konkreten Ort und nicht auf den Typus der deutschen oder gar europäischen Stadt. Ziel ist also keine postmodern-kritische, sondern vielmehr eine reflexiv-historische und zugleich zukunftsfähige Rekonstruktion – ohne Auslöschung späterer Entwicklungsphasen. Literaturliste: Harald Bodenschatz: Altstadt. Geschichte und Stadtplanung, in: Die Alte Stadt 29 (2002), S. 8-17. Ders.: Citybildung und Altstadterneuerung in der Kaiserzeit, in: Gerhard Fehl/Juan Rodriguez-Lores

(Hgg.), Stadt-Umbau. Die planmäßige Erneuerung europäischer Großstädte zwischen Wiener Kongreß und Weimarer Republik (Stadt Planung Geschichte, Bd. 17), Basel 1995, S. 227-237.

Ders.: Die Planungen für die „Weltstadt Berlin“ in der Weimarer Republik, in: Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte? Historische, städtebauliche und architektonische Wurzeln des Stadtzentrums, hg. von Helmut Engel und Wolfgang Ribbe, Berlin 1993, S. 143-159.

Ders.: Platz frei für das neue Berlin! Geschichte der Stadterneuerung in der „größten Mietskasernenstadt der Welt“ seit 1871 (Studien zur neueren Planungsgeschichte, Bd. 1), (Habil. TU Berlin 1986) Berlin 1987.

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Ders./ENGSTFELD/SEIFERT 1995 Harald Bodenschatz mit Hans-Joachim Engstfeld und Carsten Seifert: Berlin auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum, hg. von der Architektenkammer Berlin, Hamburg 1995.

Benedikt Goebel: Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum. Planungs-, Bau- und Besitzgeschichte des hisotrischen Berliner Stadtkerns im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2003.

Ders.: Die Grunerstraße in Berlin. Planung, Bau und aktuelle Rezeption im Planwerk Innenstadt, in: Holger Barth (Hg.), Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR, Berlin 1998, S. 99-108.

Abbildungsliste: Abb. 1: Vorschlag einer radikalen Erneuerung der Berliner Altstadt, Ludwig Hilberseimer, nach 1928 Abb. 2: Mittelalterlicher Stadtkern vor dem Bau der Befestigungsanlagen, Memhardt-Plan von Berlin,

1652 Abb. 3: Geplanter Grundriss der barocken Befestigung mit den Grundrissen der Vorderhäuser des Stadtkerns.

Umzeichnung eines Plans aus den Lindholzschen Papieren, um 1657/58 Abb. 4: Mittelalterlicher Stadtkern innerhalb der Befestigungsanlagen, Ausschnitt aus dem Vogelschauplan von

Johann Bernhard Schultz, 1688 Abb. 5: Vision einer Ostausrichtung des Berliner Schlosses, Jean Baptiste Broebes, um 1702/03 Abb. 6: Vision einer Südausrichtung des Berliner Schlosses von,Jean de Bodt oder Johann Friedrich Eosander

von Göthe, um 1706 Abb. 7: August Orth: Plan zur radikalen Umgestaltung der nördlichen Altstadt, in vereinfachter Form später

realisiert Abb. 8: Plan des Durchbruchs der Kaiser-Wilhelm-Straße, April 1889 (LAB, Pr.Br.Rep.30 Bln C, Nr. 18274) Abb. 9: Bau der Kaiser-Wilhelm-Brücke und der Kopfbauten an der Burgstraße, 22. Juni 1887, © Stiftung

Stadtmuseum Berlin, Sign IV 83/335 V Hermann Rückwardt (1845-191) Abb. 10: Mühlendamm und Umgebung mit Neuplanung, um 1888 (Ausschnitt aus der Karte Umgestaltung von Alt-

Berlin; BERICHT ÜBER DIE GEMEINDEVERWALTUNG 1889, S. 44-45) Abb. 11: Umbau des Mühlendamms, um 1890 Abb. 12: Durch die Verbreiterung der Rosenstraße motivierter Abbruch des 31 Häuser umfassenden Häuserblocks

zwischen Neuer Friedrich-, Kloster- und Rosentraße, 2.11.1894 (Georg Bartels; LAB, F Rep. 290, Nr. 61-3170)_

Abb. 13: Großflächiger Abriss im Nikolaiviertel für das Kaufhaus Spandauer Straße (Foto Georg Bartels), 1899 [Nachrücker Nr. 2] (LAB, F Rep. 290, Nr. 61-3872)

Abb. 14: Die Altstadt vor dem Ersten Weltkrieg, Straube-Plan (Ausschnitt), 1910 (Rechte: LAB) Abb. 15: Offizieller Plan zur radikalen Umgestaltung der südlichen Altstadt (Ausschnitt), nicht realisiert, April

1930 (Archiv Bodenschatz) Abb. 16: Radikaler Erneuerungsplan für die Altstadt, Ludwig Hilberseimer, nach 1928 (zit. nach MICHELIS 1986,

S. 21) Abb. 17: Plan „Ostdurchbruch“, 1939 [Nachrücker Nr. 6] Großdia in Farbe liegt vor Abb. 18: Plan Rolandufer („Mühlendam-Gelände“), 1936 geändert 1937 [Nachrücker Nr. 6] Großdia in Farbe liegt

vor Abb. 19: Vogelschauansicht der umfassenden Umgestaltung der südlichen Altstadt im Bereich des

Molkenmarktes, partiell realisiert. Ausschnitt aus dem Entwurf eines Altstadtforums unter maßgeblicher Beteiligung von Felix Unglaube, Juli 1935 (Quelle: LAB, F Rep. 270, Nr. A 5914)

Abb. 20: Lageplan der musealen Neugestaltung des Nikolaiviertels mit erweitertem Mühlendamm, neuer Münze und Altstadtforum, um 1937 ((wie Berlin auf der Suche nach dem verlorenen Zentrum, S. 93 unten, liegt in Farbe – Großdia - vor)) [Nachrückerliste Nr. 9]

Abb. 21: Umbau des Mühlendamms (Foto Max Krajewsky), 1937 (SSM Berlin, Nr. ...) Abb. 22: Die Altstadt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, alliiertes Luftbild (Ausschnitt), 22.3.1945 Abb. 23: Schrägluftbild der östlichen Altstadt von Süden vor Beginn des Aufbaus des Sozialistischen

Stadtzentrums, Lothar Willmann, Januar 1965 Abb. 24: Vorschlag zum Wiedeaufbau der Fischerinsel, 1954 [Nachrücker Nr. 11; Großdia liegt vor] Abb. 25: Zentrum ohne Altstadt, dafür mit einem Turm der Signale und Schnellstraßenkreuzen: Projekt von

Hermann Henselmann, um 1959 (AIV Städtebau, S. 204 unten) Abb. 26: Städtebaulicher Entwurf zur Neugestaltung der Mitte Ost-Berlins von Peter Schweizer, Dorothea

Tscheschner, Hubert Martinetz und Hans Gericke, Dezember 1960 Abb. 27: Zentrum ohne Altstadt: Vorschlag von Hans Scharoun und Wils Ebert im Rahmen des

Internationalen Wettbewerbs Hauptstadt Berlin (2. Preis), 1958 Abb. 28: Aufsetzen der Turmhelme der Nikolaikirche, 20. August 1982 (LAB, F Rep. 290, Nr. 66-697) Abb. 29: Marx fliegt heran (Foto Sybille Bergemann), um 1984 Abb. 30: Schrägluftaufnahme des Stadtkerns von Philipp Meuser, 2008 Abb. 31: Die Berliner Altstadt, Ausschnitt aus dem Sineck-Plan, 1856